Der Affektbegriff in der Musik des Barock von Alexa Eicken - copyright, 2000

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Der Affektbegriff in der Musik des Barock

                   von

              Alexa Eicken
               copyright, 2000
Inhaltsverzeichnis

Kapitel                                                        Seite

EINLEITUNG                                                      2

I.   URSPRUNG UND GESCHICHTE DES AFFEKTBEGRIFFS                 4

     1. Der Affektbegriff in der Musik der Antike               4

     2. Der Affektbegriff in der Musik des Mittelalters         6

     3. Der Affektbegriff in der Musik der Renaissance          7

II. AFFEKTERREGUNG ALS ZIEL DER MUSIK IM BAROCK                 9

III. MEDIZINISCH-PHYSIOLOGISCHE ERKLÄRUNG DER AFFEKTERREGUNG
     DURCH MUSIK IM BAROCK                                      18

IV. KOMPONIEREN IM DIENSTE DER AFFEKTERREGUNG                   26

     1. Allgemeines zum Kompositionsprozess im Barock           26

     2. Kompositorische Mittel zur Affekterregung               29
        a. Tonart                                               30
        b. Taktart und Rhythmus                                 33
        c. Intervalle                                           35
        d. Dissonanzen und harmonisches Gefüge                  39
        e. Figuren                                              42

SCHLUSSBETRACHTUNG                                              48

LITERATURVERZEICHNIS                                            50

                                          1
EINLEITUNG

„Die Affektenlehre in der Musik des Barock” – auf den ersten Blick vielleicht
ein trockenes Thema. Doch was verbarg sich vor 300 Jahren hinter dem Wort
„Affekt”, weshalb ist es nicht nur aus rein historischem, sondern gerade aus
musikalischem Interesse heraus sinnvoll, sich im 21. Jahrhundert mit einem
solchen Thema zu befassen?

Ein Musiker1 stößt unvermeidlich auf den Begriff „Affekt”, zumindest aber auf
die Satz- oder Vortragsbezeichnung „Affetuoso”, wenn er sich mit Barockmu-
sik beschäftigt. Zunächst wird der Unwissende seine allgemeinen Sprach-
kenntnisse heranziehen und hierunter etwa „ausdrucksstark” oder „leiden-
schaftlich” verstehen und gegebenenfalls versuchen, ein Musikstück des Ba-
rock in seinem individuellen Sinne leidenschaftlich zu interpretieren. Viel-
leicht versteht er auch unter dem Begriff „Affekt” in Anlehnung an den heuti-
gen Sprachgebrauch etwas „Affektiertes”, Künstliches, Geziertes. Doch die-
se Erklärungsansätze greifen viel zu kurz und können in die Irre führen. Denn
bei näherer Beschäftigung mit dem Thema wird deutlich, dass der Affektbe-
griff ein bedeutender Schlüssel zum Verständnis der Barockmusik überhaupt
ist. Mehr als drei Jahrhunderte trennen uns von dem Entstehen dieser Musik,
unser komplettes Denken, unsere Lebensweise, unsere Umwelt haben sich
grundlegend gewandelt (so wie sich eben auch die Bedeutung des Begriffs
„Affekt” verändert hat). Daher können wir einige Aspekte dieser Musik rein
intuitiv nicht mehr begreifen. Die Bemühungen um die historische Auffüh-
rungspraxis bezeugen das Interesse, der historischen Realität der jeweiligen
Entstehungsepoche von „alter” Musik näherzukommen, sie so weit wie mög-
lich zu verstehen und so ihrem Wesen „gerechter” zu werden.2 In diesem Sin-
ne ist es unabdingbar, dass ein Interpret Kenntnisse vom Affektbegriff in der
Barockmusik hat, will er ein solches Stück „angemessen” spielen.

Der Begriff des „Affekts” hat in der Barockzeit bereits eine lange Geschichte
hinter sich. Schon aus der griechischen Antike ist pathos (später latinisiert:
affectus) im Zusammenhang mit Musik belegt. Daher wird im ersten Teil dieser
Arbeit ein kurzer Blick zurück geworfen auf das Verhältnis Musik und Affekt in
der Antike, im Mittelalter und schließlich in der Renaissance. Hierbei sei be-
reits einleitend gesagt, dass der Affektbegriff des Barock auf dem der Re-
naissance aufbaute. War das höchste Ziel einer Komposition der Renais-
sance, den „Affektgehalt“ eines (meist religiösen) Textes in Musik umzuset-
zen, den Affekt also darzustellen, so gingen die Menschen des Barock einen

1   Selbstverständlich ist hiermit nicht nur der männliche Teil der Musikerschaft gemeint, sondern die Be-
zeichnung fungiert als geschlechtsneutrale Berufsbezeichnung. Im folgenden sind mit den männlichen
Bezeichnungen immer die weiblichen Entsprechungen miteinbezogen. Leider bietet die deutsche Spra-
che m. E. keine adäquate Möglichkeit, explizit beide Geschlechter anzusprechen, ohne langatmig zu
werden.
2   Siehe z. B. Frotscher, Gotthold, Aufführungspraxis alter Musik, Neuausg. Wilhelmshaven 1971

                                                   2
entscheidenden Schritt weiter: Zusätzlich sollte der Zuhörer durch die Musik
in den dargestellten Affekt versetzt werden. Um einem Missverständnis vor-
zubeugen: „Affekt“ ist während des gesamten hier behandelten Zeitraumes
niemals als etwas Individuelles, Subjektives, Persönliches des Interpreten
oder Ausführenden zu verstehen, sondern als ein den Zeitgenossen wohlver-
trauter, typisierter, „objektivierter“ Gemütszustand des Menschen allgemein.
Welche Affekte es laut Zeitgenossen gab und wie sie diese in Bezug zur Musik
setzten, wird im 2. Teil der Arbeit beantwortet. Aus diesem Themenkomplex
ergibt sich die Frage: Gab es Versuche, das Gedankengebäude einer
zwangsläufigen Wirkung von Musik auf den Zuhörer rational, „naturwis-
senschaftlich“ zu untermauern, zu begründen, wie Musik angeblich durch be-
stimmte Gestaltungsmittel genormte Affekte bei jedem Menschen in glei-
cher Weise hervorrufen kann? Im 3. Teil dieser Arbeit gehe ich daher auf die
mdizinisch-physiologische Erklärung der Affekterregung durch Musik ein, die
auf René Descartes zurückgeht.

In einem letzten Kapitel werde ich der Frage nachgehen, wie vor diesem
theoretischen Hintergrund ein Komponist des Barock seine Musik schrieb.
Musste er laut Aussagen von Zeitgenossen selbst während des Komponierens
den Affekt, den er musikalisch ausdrücken wollte, empfinden? Welche kom-
positorischen Mittel zur Affektdarstellung und -erregung standen ihm zur Ver-
fügung?

Diese Arbeit kann selbstverständlich nur einen groben Querschnitt zu den an-
geschnittenen Themenkomplexen bieten. Zu weitergehenden Fragen sei auf
die Literatur verwiesen. Weder eine Spezifizierung nach Früh-, Hoch- und
Spätbarock, noch nach länderspezifischen Eigenheiten ist hier möglich. Au-
ßerdem verzichte ich auf konkrete musikalische Beispiele, da sie in der Lite-
ratur zahlreich zu finden sind. Dieser Überblick soll einen Einstieg in das Thema
der barocken Affektenlehre ermöglichen, die konkrete Werkarbeit erfordert
an manchen Stellen sicherlich ein weitergehendes Literaturstudium. Der
Überblick muss auch deswegen relativ allgemein gehalten werden, da eine
geschlossene Affektenlehre im Barock nicht existierte. So ist der Begriff „Af-
fektenlehre” in den zeitgenössischen Quellen nicht ein einziges Mal belegt.
Wie diese Arbeit jedoch zeigen wird, besteht unter den meisten Theoretikern
und Lehrmeistern eine grobe Übereinkunft darüber, was unter dem Begriff Af-
fekt verstanden wurde, dass die Affekterregung das wichtigste Ziel der Mu-
sikausübung war und mit welchen kompositorischen Mitteln dieses Ziel er-
reicht werden konnte. Daher ist es im Nachhinein durchaus legitim, von einer
mehr oder weniger einheitlichen Lehre über den Affekt in der Barockzeit zu
sprechen.3 Bleibt man allerdings näher an den Quellen der Zeit, ist es ad-
äquater, vom Affektbegriff im Barock zu sprechen.

3   Siehe Kretzschmar, Hermann, Allgemeines und Besonderes zur Affektenlehre (I), in: Jahrbuch der Mu-
sikbibliothek Peters 1911, Reprint Vaduz 1965, S. 63: „Das Recht, von einer Affektenlehre im 18. Jahrhun-

                                                   3
I. Ursprung und Geschichte des Affektbegriffs

I.1. Der Affektbegriff in der Musik der Antike

Bereits die alten Hochkulturen befassten sich mit der Wirkungsmacht von
Musik, mit den Gefühlsregungen oder Affekten, die Musik bei Menschen her-
vorruft. Die griechische Antike verstand unter dem Begriff „Affekt” (griech.:
pathos) eine „unselbständige Folgeerscheinung einer außer ihm liegenden
Ursache”, eine „menschliche Seelenbewegung”, welche zwangsläufig folgt
und mit Lust oder Leid verbunden ist.4 Affekt bedeutete ein eher passives
Erleiden und Befallensein.5 Seit den Pythagoreern6 wurde die Zwangsläufig-
keit der Wirkung damit begründet, dass die Bewegung des Kosmos und die
der Menschenseele auf den gleichen harmonischen Zahlenproportionen be-
ruhen. Die Musik ist durch ihr Zahlenprinzip Abbild der Weltordnung, nimmt
aber umgekehrt auch Einfluss auf das Gemüt und den Charakter der Men-
schen. Für Platon (ca. 428 - 348 v. Chr.) ergab sich daraus für die Musik eine
wichtige Funktion im Bereich der Jugenderziehung und der Bewahrung oder
Wiederherstellung der inneren Ordnung im Staat.7 Der Musiker hatte diejeni-
gen musikalischen Tonordnungen auszuwählen, die die zunächst ungeordne-
ten Bewegungen des Hörers zum Guten (für den Staat) lenkten.8 Demnach
schrieben bereits die Griechen bestimmten Tonarten, Rhythmen und Klang-
farben bestimmte Wirkungen zu. Platon ließ von den griechischen Tonarten
nur das „tapfere” Dorische und das „besonnen-maßvolle” Phrygische für den

dert zu sprechen, kann hiernach nicht bestritten werden, wofern sich nachweisen läßt, daß die Theore-
tiker der Zeit vom Affekt handeln, daß sie seine Berücksichtigung verlangen und lehren. Ob diese Lehre
ein vollständiges, geschlossenes System bilden, oder ob sie nur aus Ansätzen besteht, ist dabei eine
Frage für sich. Es ist genug, wenn die Lehrbücher den Affekt für eine wichtiges und wesentliches Glied
des musikalischen Organismus erklären.”
4   Siehe Serauky, Walter, Affektenlehre, in: Die Musik in Geschichte und Gegenwart (MGG), hrsg. v .
Blume, Friedrich, Kassel/Basel 1949-53, Bd. I, Sp. 113.
5   Siehe Dammann, Rolf, Der Musikbegriff im deutschen Barock, 2. unv. Aufl. Köln 1984., S. 217. Seit Se-
neca wird der griechische Begriff „pathos” mit Lateinisch „affectus” (von afficere = hinzutun, antun)
oder auch „passio” übersetzt.
6   Pythagoreer sind die Anhänger der von Pythagoras (570 - 497/6 v. Chr.) gegründeten religiös-
politischen Gemeinschaft in Unteritalien. Die strengen Vorschriften des Pytagoreerbundes beruhen auf
der Annahme, dass das Ziel des Menschen im Nachvollzug der göttlichen Weltordnung bestehe und
dass diese mathematischer Natur sei; siehe Meyers Taschenlexikon, Mannheim/ Leipzig/ Wien/ Zürich
1996, Bd. 9, S. 2751.
7   Siehe Braun, Werner, Affekt, in: Die Musik in Geschichte und Gegenwart (MGG), hrsg. v. Ludwig Fin-
scher, Kassel/Stuttgart 1994, Bd. 1, Sp. 32. Zarlino, Gioseffo, Theorie des Tonsystems, Das erste und zwei-
te Buch der Istitutioni harmoniche (1573), aus dem Italienischen übersetzt, mit Anmerkungen, Kommen-
taren und einem Nachwort versehen von Michael Fend, erschienen in der Reihe Europäische Hoch-
schulschriften, Frankfurt 1989, S. 18, berichtete 1573: „[Die alten Pythagoreer lernten], daß durch
musikalische Klänge frevelhafte Neigungen sich verlieren. [...] Der Pythagoreer Damon gewöhnte eini-
ge Jünglinge, die dem Wein und Luxus verfallen waren, durch seinen Gesang daran, mäßig zu trinken
und ein anständiges Leben zu führen .“
8   Siehe Thieme, Ulrich, Die Affektenlehre im philosophischen und musikalischen Denken des Barock,
Vorgeschichte, Ästhetik, Physiologie, Celle 1984, S. 5.

                                                    4
musikalischen Jugendunterricht zu.9 Das Lydische lehnte er wegen seines
weichlichen Charakters ab.10 Die Musik wurde dort als Gefahr gesehen, wo
sie aus den alten, strengen Ordnungen ausbrach und sich zu neuen Formen
und zu unkontrollierbarem Subjektivismus erweiterte. Zählte Platon noch vier
Affekte, nämlich Lust, Leid, Begierde und Furcht, so unterschied Aristoteles
(384 - 322 v. Chr.) bereits zwischen elf Affekten, die alle aus einer Mischung
der Hauptaffekte Lust und Leid/Unlust zustande kamen: Begierde, Zorn,
Furcht, Mut, Neid, Freude, Liebe, Hass, Sehnsucht, Eifersucht und Mitleid.11 Ari-
stoteles’ Kunstanschauung basierte auf der Theorie der Mimesis, der Lehre
von der Nachahmung der Natur in der Kunst. So würden in der Musik durch
die allgemein gültigen Wirkungsweisen der Rhythmen und Tonskalen ver-
schiedene „Charaktere” oder Gemütszustände nachgezeichnet. Aristoteles
sah in den Affekten grundsätzlich eine zwangsläufige und naturgegebene
Regung.12 Die Musik ist laut Aristoteles in einzigartiger Weise fähig, den Ideal-
zustand innerer Zufriedenheit (Eupathie) herbeizuführen und zu erhalten. Für
die Jugenderziehung ließ Aristoteles nur noch das Dorische gelten, er stand
jedoch dem musikalischen Genuss grundsätzlich aufgeschlossen gegenüber
und rechtfertigt ihn dadurch, dass die Musik seelisch labile Menschen durch
ihre „orgiastische” Wirkung in einem Reinigungsprozess (Katharsis) zu festigen
und die Gefühle wieder auszugleichen vermochte.13 Die Musik wurde aber
nicht nur als Jugenderzieher und „Seelenreiniger“ hochgeschätzt, sondern
fand auch bei Kriegsvorbereitungen Einsatz. Bevor die Heere aufeinander
losgingen, versetzte die entsprechende Musik diese in leidenschaftliche
Kampfbereitschaft.14

Völlig gegen das Erleben jeglicher Affekte wandte sich die griechische
Denkschule der Stoiker. Diese sahen in den Affekten Störungen der Seelenru-
he, eine Krankheit, die es zu heilen galt. Die Affekte bewirkten ein richtungs-
loses Bewegtwerden und Umhergetriebensein, sie seien demnach vernunft-

9   Siehe Braun, a.a.O., Sp. 33. Hierbei dürfen die griechischen Tonarten nicht mit den späteren Kirchen-
tonarten verwechselt werden: Das Dorische begann bei den Griechen auf e (später auf d), das Phry-
gische auf d (später auf e) und das Lydische auf c (später auf f).
10 Kretzschmar bringt in diesem Zusammenhang den plakativen Begriff der Tonpolizei (a.a.O.,

S. 64): „Die eigentliche Heimat der Affektenlehre ist das griechische Altertum, das in seiner Lehre vom
Ethos in der Musik gewissermaßen eine Tonpolizei ausgebildet hatte, die schon die bloßen Tonarten auf
ihren sittlichen Einfluß prüfte.”
11 Siehe Thieme, a.a.O. Diese Einteilung ist bis in das 18. Jh. hinein wirksam geblieben, die Elfteilung w a r

nahezu sakrosankt.
12 Siehe Dammann, a.a.O., S. 217.

13 Siehe ders., a.a.O. und Braun, a.a.O., Sp. 33.

14 Siehe Zarlino, a.a.O., S. 20, der belegt, dass diese Tradition sich bis in die Renaissance hielt: „Der äu-

ßerst strenge Lykurg, König der Lakedämonier, lobte die Musik in seinen besonders strengen Gesetzen
auf das höchste. Denn er wußte sehr wohl, daß sie im Krieg für den Menschen sehr nützlich und not-
wendig ist. Daher gingen seine Heere (wie Valerius erzählt) nie in den Kampf, ohne vorher vom Klang
der Pfeifen erhitzt und angespornt zu sein. Diese Sitte hat man auch noch in unseren Zeiten beibehalten.
Denn wenn zwei Heere einander gegenüberstehen, so wird das eine den Feind nicht eher bestürmen,
als es vom Klang der Trompeten und Trommeln, oder einer anderen Art Instrument, angestachelt wur-
de.“

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und naturwidrig15. Die Stoiker strebten daher die Überwindung der Affekte,
die Affekttötung, die Affektlosigkeit an (stoische Apathie).16

Die hier lediglich angeschnittenen altgriechischen Vorstellungen zum Thema
Wirkung von Musik und Affekt bildeten die Grundlage für das barocke Musik-
verständnis und die Vorstellungen ihrer Wirkungsweise. Doch zunächst wurde
der Affektbegriff christlich eingefärbt.

I.2. Der Affektbegriff in der Musik des Mittelalters

Eine wichtige Quelle zur Reflexion über Musik und deren Wirkung aus der Zeit
der Epochenwende Spätantike/Frühmittelalter ist Augustinus (354 - 430 n.
Chr.), der antikes und christliches Denken miteinander verband. Die Schön-
heit des Erklingenden beruhe auf der von Zahlenproportionen geschaffenen,
vernunftgemäßen Ordnung der (Klang-)Erscheinungen. Wenn der menschli-
che Geist diese Zahlenordnung erkenne, durch die die Welt als Schöpfung
Gottes geordnet sei (Musik ist also Abbild der Weltordnung), so werde der
Mensch auf Gott ausgerichtet.17 An anderer Stelle schrieb Augustinus, dass
geistliche Gesänge in Freude versetzen, Wut bändigen, zum Weinen oder zur
Buße führen könnten. Das Wort Gottes müsse aber immer den Vorrang vor
der Wirkung der Musik haben. Nur wenn die Wirkung der Worte durch den
Gesang gesteigert werde, sei die Musik zulässig.18 Stand in der griechischen
Antike noch die Jugenderziehung, die Festigung des Staates oder die Ka-
tharsis als Funktion von Musik (durch die Erregung von Affekten) im Mittel-
punkt, so wurden diese im Christentum ersetzt durch das Lob Gottes. Das Ziel
von Musik war es, die Harmonie der Proportionen in der Schöpfung Gottes in
einer ebenfalls möglichst vollkommenen, zahlenmäßig proportionierten Mu-
sik nachzubilden. Das Proportionen- und Zahlendenken basierte auf dem der
Antike: Der Verwandschaftsgrad von Intervallen bestimmte sich entspre-
chend der Proportionen ihrer Schwingungszahlen. Dabei galt die Einfachheit
der Proportion als Kriterium für den Konsonanzgrad. Konsonant waren die Ok-
tave (mit 1 : 2), die Quinte (mit 2 : 3) und die Quarte (mit 3 : 4). Die übrigen
wurden aus diesen dreien abgeleitet und galten aufgrund ihrer komplizierte-
ren Zahlenproportionen als dissonant.19 Die Einteilung eines Intervalls in kon-
sonant oder dissonant hatte demnach nicht das Geringste mit dem Hörer-
lebnis zu tun, sondern wurde rein rational, intellektuell-theoretisch begründet.
Das sollte sich zunächst auch im Barock nicht ändern.

15   Siehe Dammann, a.a.O., S. 217.
16   Siehe Thieme, a.a.O., und Braun, a.a.O., Sp. 34.
17   Vergl., Antonius, De musica IV, nach Thieme, a.a.O., S. 6.
18   Siehe ebd.
19   Zu diesem Thema siehe Dammann, a.a.O., Kap. 1 „Der Begriff musikalischer Ordnung“, S. 23-92.

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Auch Boethius (480 - 524 n. Chr.) verband antikes und christliches Denken: Er
teilte die Musik in drei Bereiche ein: die Musica mundana (Sphärenharmonie,
Ordnung des Kosmos), Musica humana (Spiegelung der Musica mundana im
Menschen, Leibseelenharmonie) und Musica instrumentalis (sinnlich wahr-
nehmbare, klingende Musik, Geschenk Gottes an den Menschen).20 Die Tradi-
tion ging durch die Wirren der Völkerwanderung u. a. über Isidor von Sevilla
(7. Jh.) in das lateinische Mittelalter über, in dem Musik immer als Abbild oder
Symbol kosmischer oder göttlicher Ordnung galt. Der niederländische Kom-
ponist und Theoretiker Johannes Tinctoris (1435 - 1511) ist als wichtiger Zeit-
zeuge des Spätmittelalters mit seiner Schrift „Complexus effectuum musi-
ces” von 1473/74 überliefert. In dieser ersten systematischen Abhandlung
zum Thema Wirkungsweisen von Musik griff Tinctoris auf Mythen, Dichter und
die Bibel zurück und fasste die alltäglichen und wunderbaren Wirkungen von
Musik zusammen:

      „Sie zerstreut die Melancholie, mildert die Härte des Herzens, erhebt zur Ek-
      stase oder zu frommer Kontemplation, reizt zum Übermut oder stimmt zur
      Besonnenheit.”21

Wie Aristoteles und später die barocken Musikschriftsteller verwies Tinctoris
auf die therapeutische Wirkung von Musik.22 Er dokumentierte mit seinem
Werk die bestehende Gültigkeit des althergebrachten Satzes: „Musica mo-
vet affectus.”23

I. 3. Der Affektbegriff in der Musik der Renaissance

Nach 1450 begannen sich in der Musik neue Anschauungen und umwälzende
Gestaltungsabsichten durchzusetzen. Das Trivium, der grammatisch-literari-
sche Teil des spätantiken Fächerkanons (Dialektik, Grammatik und Rhetorik),
wurden aufgewertet, das Quadrivium hingegen (mathematische Disziplinen:
Arithmetik, Geometrie, Astronomie und Musik) büßte an Bedeutung ein. Die-
ser Vorgang war auch für die Musik richtungsweisend und wurde durch den
Humanismus, dessen Folgen und Ursachen das Gefüge des musikalischen
Spätmittelalters aufhoben, begünstigt. In der Renaissance begann sich der
Mensch nicht mehr als viator mundi, als Wanderer, Pilgerer auf der Welt,

20 Siehe Thieme, a.a.O., S. 7.
21 Siehe Dahlhaus, Carl, Musikästhetik, Laaber Verlag 31986, S. 31.
22 Zu diesem Thema siehe auch Kapitel III. dieser Arbeit.

23 Siehe Thieme, a.a.O., S. 8. – Laut Dammann, a.a.O., S. 219, runden die Effectus Musicae das Bild einer

musikalischen Ontologie ab, in der die heidnischen Erfahrungen der griechisch-römischen Antike mit
christlichen Glaubenswerten vermischt werden. Diese „moralitas” der Musik sei ein harmonistisches
Fazit, das mit Tinctoris seinen praktisch längst fälligen mittelalterlichen Abschluss erhielt.

                                                   7
sondern als faber mundi, als Gestalter derselben zu verstehen.24 Er begriff
sich immer mehr als Individuum und erkannte die Möglichkeit, sich aus eige-
ner Kraft und durch das Studium antiker Philosophie fortzuentwickeln. Das ge-
samte musikalische Denken wurde humanisiert. Anstelle der mittelalterlichen
Werte von numerus und proportio bezogen sich nun die theoretischen und
kompositorischen Interessen auf ein neues Ideal: auf den vorgegebenen Text
als maßgebliches Gedankengefüge.25 Somit wandelte sich auch das Affekt-
verständnis.26 Denn Gegenstand der Musik in der Renaissance stellte immer
mehr der affektbewegte Mensch dar, dessen Leidenschaften nicht ausgerot-
tet, kaum gemäßigt, sondern als „extreme Lagen der menschlichen Seele“
musikalisch dargestellt werden sollten. Das Nützlichkeitsdenken der alten Ef-
fectus musicae wurde somit eingeschränkt und überwunden. Den „affectus
zu exprimiren” (Wortlaut aus den Quellen der Zeit) hieß, die in der Textvorla-
ge der Musik objektivierten Affekte mit kompositionstechnischen Mitteln
darzustellen. Dazu wurde die Figurenlehre ersonnen.27 Es ging nicht mehr nur
um die deklamatorisch „richtige” Wiedergabe der Wörter, sondern darum,
die im Text verankerten Affektgehalte zu verdeutlichen.28 Das Madrigal des
16. Jahrhunderts mit seiner musikalischen Textauslegung ist eine Keimzelle
der barocken Stilabsicht. Bezeichnenderweise ist im Zusammenhang mit der
Instrumentalmusik aus dem 16. Jh. keine Quelle erhalten, die von „affectus
exprimere“ reden würde, denn das Bezugsobjekt ist der Text, dessen Affekt
musikalisch verständlich dargestellt werden soll.29 In der gesamten hier be-
handelten Zeit ging es dabei nie um den „Ausdruck“ von Empfindungen einer
empirischen Einzelperson, sondern immer um die „Darstellung” des Affektes
als eines allen bekannten Typus.30

24  Siehe Liptow, Wilma, Versuch einer Verifizierung der Affektenlehre an ausgewählten Opern Hän-
dels, Hausarbeit zur Staatl. Prüfung f. Musikschullehrer und selbständige Musiklehrer, unveröff., Düssel-
dorf 1991, S. 8.
25 Siehe Dammann, a.a.O., S. 219.

26 Siehe Braun, a.a.O., Spalte 37.

27 Siehe auch Kap. IV.2.e. dieser Arbeit.

28 Siehe Thieme, a.a.O., S. 8. Es wurde unterschieden zwischen der res und der verba. Vincenzo Galilei

riet 1581 in seinem „Dialogo della musica antica e della moderna“ entschieden davon ab, eine Text
nach einzelnen Wörtern abzusuchen, die sich musikalisch ausdrücken ließen, da ein solches Aneinander-
reihen von auskomponierten Begriffen nicht den eigentlichen Textsinn wiedergeben könne (siehe
Dammann, a.a.O., S. 108)
29 Siehe ebd., S. 219. Dammann stellt einige Theoretikeraussagen des 16. Jh.s vor, S. 219-221.

30 Siehe Thieme, a.a.O., S. 9 und Dammann, a.a.O., S. 234-236, der einen kleinen Exkurs zu den Begriffen

„Ausdruck“ und „Darstellung“ bringt.

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II.   AFFEKTERREGUNG ALS ZIEL DER MUSIK IM BAROCK

Die Übergänge zwischen Renaissance und Barock sind wie bei allen Epo-
cheneinteilungen selbstverständlich fließend und ereigneten sich in den ver-
schiedenen Teilen Europas zu unterschiedlichen Zeitpunkten.31 Die Musik des
Barock (etwa 1600 bis 1750) zeichnete sich durch eine Weiterentwicklung
des Affektbegriffes der Renaissance aus. Als Grundlage für die Musik blieb
das Ziel bestehen, einen im Text vorgegebenen Affekt darzustellen, dem Zu-
hörer verständlich zu machen. Darauf aufbauend stellten Theoretiker und
Komponisten im Barock die Forderung, die Musik müsse diesen Affekt darüber
hinaus im Zuhörer erregen. Dies ist ein ganz bedeutender Schritt weiter hin zur
Humanisierung der Musik. Bezog sich die Musik in der Renaissance auf
menschliche Gemütsbewegungen, die es darzustellen galt, kommt die Ba-
rockmusik ohne den Menschen als Zuhörer gar nicht mehr aus. Außerdem
gewann die Instrumentalmusik mehr und mehr an Bedeutung, deren End-
zweck ausschließlich die Affekterregung des Zuhörers war. Um mit Dammann
zu sprechen:

      „Der im Aufbruch befindliche Komponist [des Barock] will mehr. Er geht
      noch einen Schritt weiter auf dem Weg, der hinab von den musikalischen
      Ewigkeitsbezügen zum Menschen führt als einem neuen Daseinsgrund des
      Kunstwerks. [...] Das Hören im Zeitalter des Barock begnügt sich nicht mehr
      mit der musikalischen demonstratio, repraesentatio oder significatio ei-
      ner bildstarken und affekthaltigen Sprachvorlage. Der Komponist dieser
      neuen Epoche will den Menschen in einen typischen Erregungsstand stei-
      gern. Er ist bestrebt, den Hörer ‚außer sich‘ zu bringen. Das ‚Vorstellen‘ der
      Affekte geschieht daher mit einer alle gewohnten Maßverhältnisse spren-
      genden Wucht.”32

Um diesen bedeutsamen Schritt nachvollziehen zu können, ist ein Blick auf
die Rezeption von antiken Autoren hilfreich: In Florenz bildete sich Ende des
16. Jh.s die „Florentiner Camerata”, ein Kreis aus Gelehrten, Philosophen,
Dichtern und Musikern. Ihr Ziel war es, die antike Einstimmigkeit zugunsten der
Textverständlichkeit wiederzubeleben und den Affekt des Textes mit einer
Musik darzustellen, die den Hörer überwältigt.33 Die Florentiner Camerata be-

31  Siehe ebd., S. 237, schreibt zur Epochengrenze: „Stilistisch beginnt dieses große Zeitalter in Italien
gegen 1600 mit der Monodie. Gleichfalls vertretbar ist es, den Ansatz im Generalbaß zu erblicken. Eine
weitere Grenzbestimmung des Epochenanfangs besagt: der musikalische Barock bricht an mit der
Oper.”
32 Siehe ebd., S. 221f.

33 Siehe ebd., S. 104. Als gedanklicher Vorläufer, der erstmals einigermaßen ausführliche Formulierungen

zur Affektenlehre bietet, kann in einigen Punkten Zarlino gesehen werden, denn er versuchte, die Be-
dingungen zu rekonstruieren, unter denen die Musik wirken konnte, wie es aus der Antike überliefert
war. Damit transformierte er das Thema einer traditionell beschaulichen Erzählung zum Programm einer
zukünftigen Musik (siehe Kommentar bei Zarlino, a.a.O., S. 218f.).

                                                   9
rief sich in diesen Forderungen auf Berichte von der aufwühlenden Wirkung
antiker Tragödien auf die Zuschauer. Sie unternahm Versuche, im neuen, af-
fektgeladenen, monodischen Stil zu komponieren.34 Bei diesen Werken ge-
wann die Verknüpfung von Musik mit theatralischen Szenen zunehmend an
Bedeutung. Die Entstehung der Oper als neuer Gattung war eine Konsequenz
aus dem Bemühen, die antiken Tragödien nachzuahmen und somit dem Text
eine möglichst affektvolle Darstellung zu bescheren. Diese neue Hinwendung
zu einer emotional überwältigenden Musik musste naturgemäß eine Befrei-
ung vom traditionellen Regelsystem und eine Erweiterung der musikalischen
Mittel (v. a. der Harmonik) mit sich bringen. Auf die kompositorischen Mittel,
derer sich die Barockmusiker bedienten, um diese Außenwirkung von Musik zu
erzielen, wird an späterer Stelle eingegangen.35

Doch zunächst zu der Frage: Wie wurde der Begriff „Affekt” in Bezug auf Mu-
sik im Barock überhaupt definiert? Die kürzeste Antwort lautet Kretzschmar
zufolge: Gar nicht.36 Offensichtlich handelte es sich hierbei um einen allge-
mein verstandenen, genau definierten Terminus, so dass sich eine Erläuterung
für die Zeitgenossen erübrigte. Fest steht, dass es sich nicht um Gefühle einer
Einzelperson handelte, die ihrem subjektiven Inneren Ausdruck verlieh, son-
dern um einen Typus, der im Systemganzen der naturphilosophischen Anthro-
pologie verankert war. Er erscheint als ein in deutlichen Umrissen fixierter
Gegenstand, den es in stilisierter und überhöhter Pose darzustellen galt.37 Die
Musikwirklichkeit des Barock kannte also scharf konturierte, übergangslose,
nicht zerfließende, typische Grundaffekte. Aus heutiger Sicht mutet zunächst
eigentümlich an, dass dabei ein enger Zusammenhang zwischen den Affek-
ten und der Ratio bestand. Das musikalische Darstellen der Affekte erfolgte
rational, objektiv und typisch.38 Hiermit fand das ansonsten Leidenschaftlich-
Bewegte, Affektbestimmte und zur Maßlosigkeit Neigende des Barockmen-
schen seine Begrenzung und Ordnung im Typischen und Rationalen. Die bis in
den Bereich ekstatischer Selbstaufgabe mögliche Steigerung des Affiziert-
seins beim Hörer gewann im rationalen Ordnungszwang des Gehörten ein
Gegengewicht und einen objektiven Halt.39 Dabei durfte die Schönheit der
Musik auch bei der Darstellung trauriger Affekte nicht preisgegeben werden,

34 Giulio Caccini, Mitglied der Florentiner Camerata, schrieb in der Vorrede zu „nuove musiche” (1602)
ausdrücklich, das Ziel beim Gesangsvortrag sei „cantare con affetto” (Serauky, a.a.O., Sp. 116).
35 Siehe Kap. IV. dieser Arbeit.

36 Siehe Kretzschmar I, a.a.O., S. 63ff. Die Erklärungen, die sich finden, bleiben an der Oberfläche, und

es werden wiederum nicht definierte Begriffe verwendet, so etwa bei Mattheson, Johann, Der voll-
kommene Kapellmeister, 1739, Faksimile Nachdruck in der ersten Reihe der Documenta Musicologica,
hrsg. v. Margarete Reimann, 31980, I. Teil, 3. Kap. § 52, S. 15: „[...] so viel aber muß [der Kapellmeister]
dennoch unumgänglich davon wissen, daß die Gemüthsneigungen der Menschen die wahre Materie
der Tugend, und diese nichts anderes sey, als eine woleingerichtete und klüglich-gemäßigte Ge-
müthsneigung.”
37 Siehe Dammann, a.a.O., S. 222.

38 Zur Frage, ob der Komponist beim Schaffensprozess den darzustellenden Affekt auch selbst erfahren

musste, um affektgeladene Musik zu schreiben, siehe Kap. IV.1. dieser Arbeit.
39 Siehe Dammann, a.a.O., S. 296.

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d. h. es ging nie um eine naturalistische Schilderung der Affekte, sondern um
eine idealtypische Stilisierung.

In den Quellen sind unterschiedliche Einteilungen von Affekten zu finden, ih-
nen allen liegt aber die grobe Zweiteilung Lust und Unlust bzw. Freude und
Traurigkeit zugrunde.40 Weit verbreitet war eine Elfteilung der Affekte, ge-
nauso oder ähnlich wie sie bereits Aristoteles vorgenommen hatte (s. o.). So
finden sich in dem Traktat „Theatrum affectuum humanorum” (1717) des Je-
suiten Franz Lang die elf scholastisch kanonisierten Affekte: Ira (Zorn), Fuga
(Flucht/ Schnelligkeit), Timor (Furcht), Odium (Hass), Tristitia (Traurigkeit), De-
speratio (Verzweiflung), Desiderium (Verlangen), Audacia (Mut), Amor (Lie-
be), Gaudium (Freude), Spes (Hoffnung).41 Eine Achtteilung findet sich bei At-
hanasius Kircher (1601 - 1680), einem Jesuiten, der 1650 in seinem gewichti-
gen Werk „Musurgia universalis” ein ganzes Kapitel (7. Buch, IIIa pars, Cap. 6)
der Affektenlehre widmete. In seinem über 1000 Seiten starken Kompendium
bietet er das gesamte musikpraktische und -theoretische Wissen seiner Zeit
enzyklopädisch auf Latein dar.42 Die musikalisch darstellbaren Affekte sind
ihm zufolge: Amoris (Liebe), Luctus seu Planctus (Trauer und Wehklagen),
Laetitia et Exultationis (Freude und freudige Erregung), Furoris et Indignationis
(Wut und Entrüstung), Comiserationis et Lacrymarum, Timoris et Afflictionis
(Furcht und Bedrängnis), Praesumptionis et Audaciae (Erwartung/Hart-
näckigkeit und Mut) sowie Admirationis (Bewunderung).43 Die übrigen mögli-
chen Affekte oder Affektkombinationen sind laut Kircher auf diese acht zu-
rückzuführen.

René Descartes (1596-1650) teilte die Affekte (passions) in seinem bahnbre-
chenden Werk über die Affekte „Les passions de l’âme” (1649) in sechs
Grundaffekte ein44: Verwunderung (admiration), Liebe (amour), Hass (haine),
Verlangen (désir), Freude (joie) und Trauer (tristesse).45 Dabei übernahm er
nur einen Teil des scholastisch-thomistischen Affektkanons und bot eine stark
verästelte und detailliert durchgliederte Systematik der Affekte.

Claudio Monteverdi (1567-1643), der als erster die „Affektmusik” (Musica pa-
thetica) programmatisch formulierte und verwirklichte, unterschied nur zwi-

40 Siehe ebd., S. 234.
41 Siehe ebd., S. 233. Thomistisch sind es 6 passiones concupiscibles (amor, odium, desideratio, fuga,
gaudium, tristitia) und 5 passiones irascibles (spes, desperatio, audacia, timor, ira).
42 Im Gegensatz zu Descartes (s. u.) zeichnet sich Kirchers Arbeit (Kircher, Athanasius, Musurgia uni-

versalis, Rom 1650) durch die harmonistisch-koordinierte Gedankenfülle aus, so Dammann, a.a.O., S.
216, der einen Großteil seiner Affektuntersuchung auf diesem Werk aufbaut.
43 Zit. nach ebd., S. 320f.

44 Mit Descartes wurde zum ersten Mal eine groß angelegte und systematisch ausgebaute Abhand-

lung über die Affekte verfasst. Auf dieses Traktat mit seinem „naturwissenschaftlich”-rationalistischen
Ansatz ging auch der medizinisch-physiologische Erklärungsversuch für das zwangsläufige Hervorrufen
von Affekten durch Musik zurück, siehe auch Kap. III. dieser Arbeit.
45 Siehe Serauky, a.a.O., Sp. 113.

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schen drei menschlichen Seelenlagen (passioni): humiltà, temperanza und
ira. Diesen einzelnen Affekten entsprechend verwendete er drei verschie-
dene Stile, wobei er sich selbst als Schöpfer des stile concitato sah, mit dem
er als erster Komponist den Affekt Zorn im „Combattimento de Tancredi e
Clorinda” 1624 musikalisch darstellte.46

Johann Mattheson (1681-1764) ging in seinem 1739 erschienenen Werk „Der
vollkommene Kapellmeister” in einem eigenen Kapitel auf die musikalische
Affektenlehre ein.47 Er erwähnte eine Vielzahl von Affekten, wobei er häufig
Gegensatzpaare bildet, die auf die Grundaffekte Freude – Traurigkeit zurück-
zuführen sind. Er erläuterte u. a. die Affekte Liebe, Begierde, Traurigkeit, Freu-
de, Stolz, Demut, Hartnäckigkeit, Zorn, Eifer, Rache, Wut, Grimm, Hoffnung,
Verzweiflung und Furcht.48 Affekte können auch aus verschiedenen Grundaf-
fekten zusammengesetzt sein, so z. B. die Eifersucht, die durch eine Kombina-
tion von brennender Liebe, Mißtrauen, Begierde, Rache, Traurigkeit, Furcht
und Scham entsteht. Der Affekt „Mitleid” besteht aus den Grundaffekten
Liebe und Traurigkeit.49 Mattheson unterschied darüber hinaus zwischen „gu-
ten” und „schlechten” Affekten, wobei letztere gezügelt werden müssten.50

Auf ganze 27 Affekte brachte es Marpurg in seinem „Unterricht vom Rezita-
tiv” (1762), in denen er gleichzeitig eine Anweisung gab, wie die jeweiligen
Affekte zu vertonen waren.51 Seiner Affekteinteilung liegen ebenfalls die
zwei Grundtriebe des Vergnügens und Missvergnügens zugrunde.

Diese Aufzählung von verschiedenen Kategorisierungen der Affekte ließe
sich noch fortsetzen, doch würde dies den Rahmen dieser Arbeit sprengen.
Als Fazit bleibt festzuhalten, dass in der Barockzeit Zahl und Benennung der
Affekte von Quelle zu Quelle durchaus schwankten, grundsätzlich aber die
Vorstellung von Affekten als feststehende, typische Gemütsbewegungen
des Menschen an sich Allgemeingut war. Einigkeit herrscht in den Quellen

46 Siehe Liptow, a.a.O., S. 12. Dieser stile concitato besteht aus schnellen Tonwiederholungen, die

sich bis ins Tremolo steigern, sowie harten Dissonanzen, die z. T. gegen die Regeln der Zeit verstießen.
47 Siehe Mattheson, a.a.O., I. Teil, 3. Kap., S. 9 - 20.

48 Siehe ebd., I. Teil, 3. Kap., S. 18f.

49 Siehe ebd., I. Teil, 3. Kap., § 76 und § 81, S. 19.

50 Siehe ebd., I. Teil, 3. Kap., § 54, S. 15.

51 Siehe Kretzschmar, Allgemeines und Besonderes zur Affektenlehre (II), in: Jahrbuch der Musikbiblio-

thek Peters 1912, Reprint Vaduz 1965, S. 71f. Marpurg zählte einfache und zusammengesetzte Affekte
auf: Traurigkeit, Freude, Zufriedenheit, Reue, Hoffnung, Furcht/ Angst/ Bangigkeit, Verlangen, Zweifel-
mut, Kleinmütigkeit, Liebe, Haß, Mitleid/Erbarmen, Eifersucht, Zorn, Ehrliebe, Schamhaftigkeit,
Mut/Herzhaftigkeit/Entschlossenheit/Unerschrockenheit/Standhaftigkeit, Vermessenheit/Verwegen-
heit/Stolz/Aufgeblasenheit,        Bescheidenheit/Demut,    Freundlichkeit/Gütigkeit/Wohlgewogenheit/
Gunst/Huld..., Rache/Rachbegierde/Verwünschen/Verfluchen/Wut..., Kaltsinn/Gleichgültigkeit/Un-
dank, Unschuld, Lachen/Scherzen, Ungeduld/schmerzhafte Unruhe, Schadenfreude/Verspottung.

                                                  12
darüber, dass Musik Affekte darstellen und beim Zuhörer erregen soll. Hierzu
werden im Folgenden ebenfalls einige Quellen beispielhaft herangezogen52.

Joachim Burmeister (1564 - 1629), ein humanistischer Gelehrter, verfasste
drei Werke über die Musiklehre seiner Zeit. In seiner „Musica poetica” von
1606 forderte er, ein Text solle mit Hilfe der musikalischen Rhetorik so vertont
werden, dass die Musik die Seele des Zuhörers errege.53

Johann Mattheson ging in seinem bereits genannten Werk ebenfalls auf die
gewünschte Wirkung der Musik auf den Zuhörer ein:

      „Weil inzwischen das rechte Ziel aller Melodie nichts anders seyn kan, als
      eine solche Vergnügung des Gehörs, dadurch die Leidenschafften der
      Seele rege werden: so wird mir ja niemand dieses Ziel treffen, der keine Ab-
      sicht darauf hat, selber keine Bewegung spüret, ja kaum irgend an eine
      Leidenschafft gedenckt; [...] Wird er aber auf eine edlere Art gerühret, und
      will auch andre mit der Harmonie rühren, so muß er wahrhaftig alle Nei-
      gungen des Herzens, durch blosse ausgesuchte Klänge und deren ge-
      schickte Zusammenfügung, ohne Wort dergestalt auszudrucken wissen,
      daß der Zuhörer daraus, als ob es eine wirckliche Rede wäre, den Trieb,
      den Sinn, die Meinung und den Nachdruck, mit allen dazugehörigen Ein-
      und Abschnitten, völlig begreifen und deutlich verstehen möge.54

      „[...] welche Umstände dennoch zur Deutlichkeit und Erregung der Lei-
      denschaften unentbehrlich sind.”55

Johann David Heinichen (1683 - 1729) veröffentlichte 1728 sein Werk „Der
General-Bass in der Komposition”. Darin erläuterte er, dass die Musik ebenso
wie die Rede Emotionen auslösen solle. Diese Bewegung der Gemüter sei
„wahrere Endzweck der Musik”.56

Johann Joachim Quantz (1697 - 1773) wandte sich mit seiner Flötenschule
„Versuch einer Anweisung die Flöte traversière zu spielen” von 1752 an den
ausführenden Musiker und wies an vielen Stellen darauf hin, dass Ziel der Mu-
sik sei, den Zuhörer zu rühren:

52 Einen Überblick über die entsprechenden Quellen bringt Dammann, a.a.O., S. 225f. – allerdings ohne

deutsche Übersetzung der meist auf Latein verfassten Quellen.
53 Siehe ebd., S. 103f.: „ad animos hominum cordaque in varios motus flectenda.”

54 Siehe Mattheson, a.a.O., II. Teil, 12. Kap. §31, S. 207f.

55 Siehe ebd., II. Teil, 12. Kap. § 37, S. 209.

56 Siehe Heinichen, Johann David, Der General-Baß in der Komposition. Musicalisches Raisonnement

vom General-Baß und der Musik überhaupt, 1728, neu verlegt: Hildesheim/New York, 1969, S. 1 - 94,
nach Liptow, a.a.O., S. 19.

                                                 13
„[...] Weil nun die Musik die Leidenschaften bald erregen, bald wieder
      stillen soll.”57

      „Ein Redner und ein Musikus haben sowohl in Ansehung der Ausarbeitung
      der vorzutragenden Sachen, als des Vortrages selbst, einerley Absicht zum
      Grunde, nämlich: sich der Herzen zu bemeistern, die Leidenschaften zu
      erregen oder zu stillen, und die Zuhörer bald in diesen, bald in jenen Affect
      zu versetzen.”58

      „Die [...] größte Schönheit [der Kadenzen] besteht darinn, daß sie als et-
      was unerwartetes den Zuhörer in eine neue und rührende Verwunderung
      setzen, und die gesuchte Erregung der Leidenschaften gleichsam aufs
      höchste treiben sollen.”59

      „Wer diese Kunst recht ergründen kann, dem wird es nicht leicht an dem
      Beyfalle der Zuhörer fehlen, und sein Vortrag wird also allezeit rührend
      seyn.”60

Diese Beispiele sollen genügen, um zu illustrieren, dass das Hauptziel des
Komponisten der musica pathetica der Barockzeit war, beim Zuhörer be-
stimmte Affekte zu erregen. Dabei lag einem Musikstück normalerweise ein
Grundaffekt zugrunde, neben dem es laut Mattheson „streitende Vorgänge”
und ausdrückliche Gegensätze geben konnte (besonders im B-Teil einer Da
Capo-Arie). Dies resultierte aus einem Schwanken innerhalb des Affekts; so
war beim Affekt Hoffnung etwa ein Widerstreit zwischen Angst und Zuver-
sicht zu finden.61 Auch das Thema einer barocken Sonate etwa bestand
durchaus aus kontrastierenden Motiven, es war aber immer ein Grundaffekt
auszumachen, die unterschiedlichen Motive zeigten verschiedene Facetten
eines Affekts. Quantz, dessen Flötenschule bereits am Ende der Barockzeit
stand, ging auch auf verschiedene Affekte ein, die ein Stück hatte oder ha-
ben konnte. Diese Vermischung der Affekte innerhalb eines Stückes ent-
spricht bereits dem galanten Stil, der die spätbarocke Musik mit ihrer Forde-
rung von der Einheit des Affekts ablöste.62

57 Siehe Quantz, Johann Joachim, Versuch einer Anweisung die Flöte traversière zu spielen, Reprint der

Ausgabe Berlin 1752, Kassel 1992, VIII. Hauptstück § 16, S. 81.
58 Siehe ebd., XI. Hauptstück §1, S. 100.

59 Siehe ebd., XV. Hauptstück § 18, S. 157.

60 Siehe ebd., XI. Hauptstück § 16, S. 108.

61 Siehe Liptow, a.a.O., S. 18f.

62 Siehe Quantz, a.a.O., XI. Hauptstück § 15, S. 107: „Der Ausführer eines Stückes muß sich selbst in die

Haupt- und Nebenleidenschaften, die er ausdrücken soll, zu versetzen suchen. Und weil in den meisten
Stücken immer eine Leidenschaft mit der anderen abwechselt; so muß auch der Ausführer jeden Ge-
danken zu beurtheilen wissen, was für eine Leidenschaft er in sich enthalte, und seinen Vortrag immer
derselben gleichförmig machen.” Siehe auch Thieme, a.a.O., S. 13.

                                                   14
Es schließt sich die Frage an: Wie konnte ein bestimmter, mit Musik darge-
stellter Affekt genau diesen im Zuhörer hervorrufen? Die Musiklehre des Ba-
rock schloss mit ihrer Erklärung an uralte Überlieferungen an und sprach von
der Analogie, von dem natürlichen, zwangsläufigen Wirkungszusammenhang
zwischen einer musikalischen Bewegung (motus hamonicus) und einer Bewe-
gung im Menschen (motus animae).63 Grundlage für diese aufeinander ab-
gestimmten Vorgänge waren die gleichen Zahlenverhältnisse. Maßgerechte
Proportionen regieren die Bewegungen der Seele und der Musik in gleicher
Weise. Aus ihrer theoretischen Kompetenz heraus erforschte und erörterte
die barocke Ars musica als geschichtlich zuständige Disziplin diese magi-
schen Wirkungsverhältnisse. Dafür wurden auch die fabulösen Berichte her-
angezogen, die der griechisch-mythologischen und alttestamentlichen
Überlieferung entstammen. Exemplarisch sei Gioseffo Zarlino (1517 - 1590) zi-
tiert:

      „Im Meer ersten gibt es Sirenen. Wenn man den Schriftstellern glauben
      darf, so werden sie den Seefahrern, die ihnen zuhören, zum Verhängnis;
      denn von ihren Klängen gerührt und vom Schlaf überwältigt, verlieren sie
      das, was allen Lebewesen das Wertvollste ist.”64

      „Linos und Orpheus [standen] bei den Alten in großem Ansehen. Beide
      waren von göttlicher Herkunft. Mit ihrem lieblichen Gesang, so erzählt
      man, versüßten sie nicht nur die menschlichen Seelen, sondern auch die
      wilden Tiere und die Vögel. Sie bewegten, was am wunderbarsten zu be-
      richten ist, die Steine von ihrem angestammten Ort, und sogar Flüsse
      wanderten in ihr Bett zurück.”65

Besonders der Orpheus-Mythos galt im Barock als stärkstes Beweismittel für
die Wirkungsgewalt der Musik. Daher erstaunt es nicht, dass dieser Stoff von
verschiedenen Barockmusikern verarbeitet wurde – besonders bekannt
Monteverdis Oper „Favola d‘Orfeo” von 1607. Für die Theoretiker der Ba-
rockzeit waren diese altverbrieften Zeugnisse ein willkommener „Beweisge-
genstand”, den sie nunmehr „naturwissenschaftlich” unterbauten.66 Der Kom-
ponist konnte mit der Affektbereitschaft des Hörers rechnen, mit seiner spon-
tanen Reaktion und Schwingungsfähigkeit. Der Hörer musste nicht erst hinein
genommen werden in ein sich immanent entwickelndes Geschehen, da er
der vorgetragenen Musik nicht reflektierend oder genießend gegenüber-

63  Siehe Dammann, a.a.O., S. 223.
64  Siehe Zarlino, a.a.O., S. 16.
65 Siehe ebd., S. 17.

66 Hier verweist Dammann, a.a.O., S. 223, darauf, dass die logische Strenge eines Gedankenganges

blitzartig unterbrochen wurde. „Urplötzlich wendet sich der Blick auf autoritätsstarke Stellen mytholo-
gischer Art. (Das hinderte freilich nicht, die konsequente Beweisführung an irgendeinem Punkt wieder
aufzunehmen.) Überhaupt erfolgte der Wechsel im Argumentationsstil des Barock unvorbereitet
schroff und der neueren Denkgewohnheit fremdartig.”

                                                  15
stand, ihm also geistige Distanz fehlte.67 Das Übertragungsprinzip der musika-
lisch dargestellten Affekte auf den Menschen wurde etwa von Kircher ver-
glichen mit zwei haargenau gleich gestimmten und räumlich nicht zu weit
entfernten Saiteninstrumenten.68 Wird eine Saite eines Instruments gezupft,
erklingt auf dem anderen, unberührt gebliebenen Instrument der vollkom-
men gleiche Ton. In diesem Sinne ist auch der Zuhörer „schwingungsbereit”
und durch die analoge Wesensbeschaffenheit mit der Musik (beide sind vom
Gesetz der Zahl konstituiert) fähig, genau denselben Affekt zu durchleben,
wie ihn die Musik darstellt. Dies soll an dieser Stelle als grobes Erklärungsmu-
ster genügen. Kapitel III. geht der Frage auf den Grund: Der Exkurs in die musi-
kalische Physiologie des Barock setzt an bei der bisher dargestellten Ebene
der Wirkung von Musik auf die menschliche Seele und dringt bis in die Tiefen
der barocken Erkenntnisse zur „naturwissenschaftlichen” Funktionsweise des
Menschen vor.

Nachdem nun – wenn auch nicht abschließend – geklärt ist, wieso Musik
überhaupt auf den Menschen in ganz bestimmter Weise wirken konnte,
bleibt noch die Frage offen, mit welchem Ziel die Affekte beim Zuhörer her-
vorgerufen werden sollten. Grundsätzlich stimmten die Autoren darin über-
ein, dass die Musik und durch sie das kontrollierte Durchleben von Affekten
positiv auf die Tugendhaftigkeit des Zuhörers wirken sollte. Der Komponist
wollte die Affekte schüren und wieder stillen, d. h. auch die eher negativ
belegten Affekte wie Neid oder Hass sollten in einem bestimmten Umfeld
durchlebt werden, wodurch das Verlangen des Zuhörers nach dem Durchle-
ben dieser Affekte in der „wirklichen” Welt gestillt wurde. Da der Mensch des
Barock bestrebt war, seine in affektbestimmten Extremen hin- und herbe-
wegte seelische Situation in der Balance zu halten, half ihm dieses Vorführen
und Erleben der Affekte, da sie dadurch letztlich gemäßigt wurden – so zu-
mindest das Gedankengebäude im Barock.69 Wenigstens theoretisch schloss
das Barockzeitalter damit an jahrhundertealte Anschauungen der Katharsis
an (s. o.). Zarlino schrieb dazu Folgendes:

        „Daher sollte man sich vom Jünglingsalter an um sie [die Musik] Mühe ge-
        ben. Sie kann nämlich in uns eine neue und gute Gesinnung bewirken,
        sowie uns Sitten geben, die zur Tugend führen. Sie vermag auch einen
        Charakter hervorzubringen, der der Glückseligkeit teilhaftig werden
        kann.”70

Besonders um die Tugend bedacht war Mattheson, der den Zweck von Musik
als „Zuchtlehre” bezeichnete:

67   Siehe ebd., S. 222.
68   Siehe ebd., S. 248.
69   Siehe ebd., S. 218.
70   Siehe Zarlino, a.a.O., S. 19f.

                                           16
„Zwar ist es an dem, daß diejenigen unter der Affecten, welche uns von
        Natur am meisten anhangen, nicht die besten sind, und allerdings be-
        schnitten oder im Zügel gehalten werden müssen. Das ist ein Stück Sitten-
        lehre, die ein vollkommener Ton-Meister auf alle Weise inne haben muß,
        will er anders Tugenden und Laster mit seinen Klängen wol vorstellen, und
        dem Gemüthe des Zuhörers die Liebe zu jenen, und den Abscheu vor die-
        sen geschickt einflössen. Denn das ist die rechte Eigenschafft der Music,
        daß sie eine Zucht-Lehre vor andern sey.”71

In seinem 1691 veröffentlichten Pamphlet von „der edlen Musikkunst Würde,
Gebrauch und Mißbrauch etc.” schrieb Werkmeister zur Funktion der Musik,
sie erwecke die Herzen zur Andacht und inniglichen Freude, zur Traurigkeit
und ähnlichen Affekten. Sie stille die Unruhe des Gemütes, sie gürte und
schränke die ausschweifenden Sinne ein, sie zähme die wilden Gedanken
und ziehe des Menschen Sinne von den auswendigen Dingen ab.72 An ande-
rer Stelle formulierte er ähnlich: „die Musik ist dazu geordnet/ die Bewegun-
gen des Gemüths zu erregen/ zu bessern/ zu ändern und zu stillen.”73

Aus heutiger Sicht ist schwer vorstellbar, wie die Barockmusik konkret auf
den Zuhörer gewirkt hat. Man fragt sich, ob die Zuhörer wirklich „außer sich”
gerieten, wenn sie bestimmte, nach den Maßstäben der musica pathetica
gelungene Kompositionen hörten. Ein Blick in die Quellen zeigt uns, dass be-
sonders bei der neu entstehenden und schnell in Mode geratenden Gattung
Oper die Außenwirkung von Musik enorm war. Dies erklärt sich auch dadurch,
dass die Entstehung der Oper im Wiederaufleben des Tragischen aus der An-
tike lag. Tragisch war Situation, tragisch waren die Helden, tragisch blieb der
Ausgang. Dies stellte an den barocken Komponisten die Anforderung, be-
sonders ausdrucksstarke Musik zu schreiben, starke Affekte bei dem Hörer zu
erregen. Dieser wurde vom dargestellten Affekt unmittelbar ergriffen und mit
großer Heftigkeit erregt, wenn die Ausführenden den Affekt überzeugend
darzustellen wussten. Die Reaktion konnte zu einer so starken physischen Be-
wegung wachsen, dass der Zuhörer ins Klagen und Weinen ausbrach. Der Äu-
ßerungsdrang war explosiv. Die musica pathetica provozierte ein geradezu
ekstatisches Verhalten. So schilderte Kircher Folgendes:

        „Was aber die Scenische Comödien-Musik noch heutigs Tags zu Rom vor
        Wunder-Würckungen habe/ das ist nicht zu schreiben: die Bewegung ist
        oftmals so groß und hefftig/ daß die auditores überlaut anfangen zu

71   Siehe Mattheson, a.a.O., I. Teil, 3. Kap. § 54, S. 15.
72   Siehe Kretzschmar I, a.a.O., S. 66.
73   Siehe Werckmeister, zit. nach Dammann, a.a.O., S. 226.

                                                   17
schreien/ seufzen/ weinen/ sonderlich in casibus tragicis, daß auch in die-
      sem Stück die heutige Music der alten (= der Antike) nichts bevor gibt.”74

Anderen Quellen zufolge habe das Anhören einer Passionsmusik die Hörer „ih-
re heißen Tränen auszustürzen gereizet und gezwungen”.75 Hinweise dieser Art
bestätigen, dass die musikalische Affektdarstellung ihren Wirkungserfolg
beim Zuhörer nicht verfehlte.

An dieser Stelle soll der Frage nachgegangen werden, wie die Erklärung der
Wirkungsweise von Musik genau aussah. Über das Bild der beiden Gitarren,
von denen nur eine gezupft wird, die andere aber mit dem gleichen Ton mit-
schwingt, hinaus, existierte im Humanismus ein immer weiter erforschtes Ge-
dankenbild, wie der Mensch physiologisch und psychologisch funktionierte.

74 Siehe Kircher, Musurgia universalis, S. a546, nach Hirsch, Andreas, der Kircher in Teilen übersetzte und

1662 in Schwäbisch-Hall veröffentlichte, S. 134, zit. nach Dammann, a.a.O., S. 228.
75 Siehe ebd.

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III.   MEDIZINISCH-PHYSIOLOGISCHE ERKLÄRUNG DER AFFEKTERREGUNG
       DURCH MUSIK IM BAROCK

Das Barockzeitalter war die Epoche des Rationalismus, ein Zeitalter, „in dem
die Vernunft, welche sich in der Renaissance mündig erklärt hatte, ihren Sie-
geszug antrat und in dem die Mathematik als eine jenseits nationaler und in-
dividueller Besonderheiten stehende, prinzipiell jedem zugängliche und ein-
sichtige Wissenschaft von höchster Allgemeingültigkeit das Ideal aller Er-
kenntnisse bildete. Wenn wir in der Mathematik eine Methode unantastbarer
Beweisführung besitzen – so fragt man, – warum soll es dann nicht möglich
sein, die menschliche Gesamterkenntnis, also alle anderen Wissenschaften
[...] auf eine ähnliche Grundlage zu stellen?“76 Wissenschaftliche und umfas-
sende Welterklärung aus dem Geiste der Mathematik und Mechanik galt als
das Wesen und „Programm“ der Epoche. Es bestimmte alle wissenschaftli-
chen Disziplinen und leitete auch in der Geschichte der Medizin, der Anato-
mie und Physiologie ein neues, entdeckungsreiches Kapitel ein. Für das euro-
päische Denken der Neuzeit besonders folgenreich war die Philosophie des
bereits mehrmals erwähnten Universalgelehrten René Descartes.77 Er wagte
als erster den Gesamtentwurf einer umfassenden Welterklärung nach ma-
thematischen und mechanischen Prinzipien. Sie umspannte und durchdrang
alle wissenschaftlichen Disziplinen. Charakteristisch für Descartes und seine
Zeit war die Vorstellung der Welt als Maschine; auch Tier- und Menschenkör-
per wurden als Automaten aufgefasst. Gott erschien als ihr „genialer“ Kon-
strukteur.78

Für die rationalistische Begründung der Affektenlehre – die körperlichen
Grundlagen von Hörvorgang und psychischen Prozessen – sollen hier exem-
plarisch für das Denken der Barockzeit Descartes‘ Schriften untersucht wer-
den. Seine Darstellungen bildeten auch im 18. Jh. nicht nur die Grundlage für
die physiologischen Erklärungen in musiktheoretischen Schriften, sondern
auch Ausgangspunkt einer deterministischen Kompositionslehre. So riet etwa
Mattheson seinem Leser, sich mit den Schriften Descartes‘ zu befassen.79 In
fast allen Schriften Descartes‘ ist zu unserem Thema reiches Material zu fin-

76 Störig, Hans-Joachim, Kleine Weltgeschichte der Philosophie, Stuttgart 1974, S. 216, zit. nach Thieme,

a.a.O., S. 15.
77 Zu seinem wichtigen Standardwerk „Les passions de l’âme“ siehe auch die Einführung (S. XV - XCVIII)

in: „Die Leidenschaften der Seele, Französisch - Deutsch, hrsg. u. übersetzt v. Klaus Hammacher, Ham-
burg 21996.
78 Siehe ebd., S. 18.

79 Siehe Mattheson, a.a.O., I. Teil, 3. Kap. § 51: „Die Lehre von den Temperamenten und Neigungen,

von welchen letztern Cartesius † absonderlich deswegen zu lesen ist, weil er in der Music viel gethan
hatte, leisten hier sehr gute Dienste, indem man daraus lernet, die Gemüther der Zuhörer, und die klin-
genden Kräffte, wie sie an jenen wircken, wol zu unterscheiden.“

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