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SONDERHEFT SOMMER 2021 WARUM KÜRZERE KONTRAST.AT ARBEITSZEITEN GUT FÜR ALLE SIND. 4 TAGE 3 TAGE ARBEIT FREI
„THE TIMES THEY ARE A-CHANGIN’“ BOB DYLAN SINGER -SONGWRITER, LITERATUR-NOBELPREISTRÄGER 2 – 4 TAGE ARBEIT
DIE ZEITEN ÄNDERN SICH. AUCH BEI DER ARBEIT. Ein Ende der Corona-Krise ist in Sicht. Plan- aber von den Menschen geschultert. Früher ten die Politiker und die Experten im letzten hat er in acht Stunden acht Aufzüge warten Jahr von Tag zu Tag, wird es nun Zeit, über die müssen, heute müssen es 16 sein, erzählt der weitere Zukunft nachzudenken. Die große Fra- Aufzugswart Ossi. In der Reportage „Stress“ ge ist: Baut man die Wirtschaft einfach wieder (→ Seite 6) sehen wir uns an, wie das Arbeiten dichter geworden ist - und ob alle Branchen auf, wie sie war, oder nutzen wir die Chance auf davon gleichermaßen betroffen sind. Neues. Versuchen wir, besser zu werden? Platz für mehr Gerechtigkeit, für fairere Verteilung, BEI VOLLEM LOHN für mehr Umwelt- und Klimaschutz war im Wegen der Verdichtung der Arbeit in den letz- ten Jahrzehnten und der Massenarbeitslosig- „alten System“ genug da. keit durch die Corona-Krise ist jetzt der ideale Zeitpunkt für die Verkürzung der Arbeitszeit, erklärt Gewerkschaftspräsident Wolfgang Der EU-Recovery Plan sieht für Österreich 3,3 Katzian. Das Interview auf → Seite 38. Dass Mrd. Euro vor. Hier zu Lande wird er weitge- man kürzere Arbeitszeiten nicht unbedingt hend für die Finanzierung bereits beschlos- mit der Wochenarbeitszeit erreichen muss, sener Projekte hergenommen. Besondere zeigen uns die Kollektivverträge in der priva- Weitsicht oder gar Kreativität zeigt die Regie- ten Branche. → Seite 42. rung damit nicht. Dass das auch anders geht, sieht man in anderen europäischen Ländern. Warum kürzere Arbeitszeiten zu mehr Ge- schlechtergerechtigkeit führen, erzählt uns die SPANIEN TESTET DIE 4-TAGE-WOCHE Volkswirtin Katharina Mader. → Seite 42. Beispielsweise in Spanien, wo die Regierung In welchem Verhältnis Arbeitszeiten und Kli- damit unter anderem ein Projekt, in dem man ma stehen, hat die Soziologin am Boston Col- die 4-Tage-Woche testet, finanziert Landes- lege, Juliet Shor, erforscht und uns ein Inter- weit werden Unternehmen unterstützt, die view gegeben. → Seite 60 ihren Mitarbeitern mehr Freizeit geben - bei gleichem Einkommen. Die sozialistische Re- ALTE LÜGEN gierung unter Sanchez folgt damit vielver- Die Argumente der Gegner einer Arbeitszeit- sprechenden Versuchen rund um die Welt. verkürzung haben sich allerdings in den letz- Selbst viele Unternehmer berichten von ihren ten hundert Jahren kaum geändert. Obwohl Erfolgen mit kürzeren Arbeitszeiten. Wir ha- ihre Argumente jedes Mal wieder von der Ge- ben vier von ihnen interviewt. → Seite 50. schichte Lügen gestraft wurden, bleiben ÖVP Politiker bei ihrer Erzählung. Welche das ist WIR LEISTEN MEHR und warum sie einfach nicht stimmt, erfährst Die Produktivität steigt seit Jahrzehnten. Ein du ab → Seite 24. Teil davon ist neuen Technologien geschul- det. Während ein Briefverkehr früher Tage Wir wünschen Dir viel Spaß beim Lesen! gebraucht hat, können dieselben Informatio- nen heute in Minuten, zumindest in Stunden, Deine Kontrast.at-Redaktion ausgetauscht werden. Der andere Teil wird 3 TAGE FREI – 3
INHALT 4 TAGE ARBEIT - 3 TAGE FREI „ALLEINE DAS WORT MILLIARDÄR FINDE ICH PERVERS“ Der Schauspieler Manuel Rubey ist neuerdings auch Autor. Uns erzählt er über sein Buch, seine Vorstellung von Gerechtigkeit und wie sich 20 Stunden Ar- beit die Woche und trotzdem genug Geld für ein gutes Leben für alle ausgehen könnte. Seite 30 IN DIESEN BRANCHEN WIRD KÜRZER GEARBEITET Die wöchentliche Arbeitszeit ist seit jeher stark umkämpft. Doch viele Ar- beitgeber kennen die Symbolkraft der Arbeitszeit und blockieren die Ver- kürzung mit allen Mitteln. Doch es gibt auch andere Möglichkeiten, die Arbeitszeit zu verkürzen. Seite 42 SEIT 100 JAHREN DIE GLEICHEN LÜGEN Die ÖVP wehrt sich gegen die Arbeits- zeitverkürzung – seit über 100 Jahren. Geht es nach den Christlichsozialen WANN WENN NICHT und den Industriellen-Vertretern, JETZT? wäre es nie zu kürzeren Arbeitstagen gekommen. Hätten sich Gewerkschaf- Die Gewerkschaft hat ein Konzept ten und Arbeitnehmer nicht gegen sie vorgelegt, wie wir mit kürzeren Ar- durchgesetzt, würden die Menschen in beitszeiten der Massenarbeitslosig- Österreich noch immer 12, 14 oder gar keit entgegenwirken können. Der 16 Stunden am Tag arbeiten – und das Gewerkschaftspräsident Wolfgang an sechs Tagen die Woche. Seite 22 Katzian erklärt im Interview, wieso die Debatte gerade in der Krise wichtig ist. Seite 38 ARBEITSZEITEN DER BLAUE WELTWEIT MONTAG Wo wird wie viel gearbeitet? Welches Drei Tage Wochenende? Keine Erfin- Land arbeitet am Meisten, welches am dung der Neuzeit. Bereits im Mittel- Wenigsten. Seite 20 alter machten ganze Gilden Montags blau. Seite 18 4 – 4 TAGE ARBEIT
INHALT „WENN FRAUEN MEHR VERDIENEN SOLLEN, BRAUCHEN WIR DIE 30-STUNDEN-WOCHE“ Frauen verdienen in Österreich fast 20 Prozent weniger als Männer, erhalten um 41 Prozent weniger Pension und übernehmen einen Großteil der un- bezahlten Arbeit im Care-Bereich. Seit der Corona-Krise hat sich diese Mehr- fachbelastung weiter verstärkt. Wie die Chance auf eine gerechtere Gesell- schaft mit einer Arbeitszeitverkür- STRESS zung zusammenhängt, erklärt Öko- nomin Katharina Mader. Seite 42 Arbeiten trotz Krankheit, die Mittagspause durcharbeiten und am Abend noch das Kursbuch für die berufliche Weiterbildung aufschlagen. Die Arbeitswelt scheint so hoch getaktet zu sein wie noch nie. Die Kon- trast-Reportage zeigt einen Einblick in verschiedene Arbeitswelten. Von der Pflegerin bist zur Bankerin: Die Anforderungen an die Mitarbeiter stie- gen quer durch alle Branchen. Den Stress ertragen die Menschen dabei meist auf eigene Kosten. Seite 6 DIESE UNTERNEHMEN WENIGER ARBEIT. PROFITIEREN WENIGER CO2 VON KÜRZEREN Der Klimawandel bleibt eine der größ- ARBEITSZEITEN ten Bedrohungen für unser Zusam- menleben, trotz Corona. Die Ökonomin Natürlich wollen alle Arbeitnehmer und Soziologin Juliet Schor beschäf- kürzere Arbeitszeiten, aber ist das für tigt sich damit, wie die Klimakrise die Unternehmen leistbar? Die Ant- mit der Arbeitszeit zusammenhängt. wort ist eindeutig: Ja. Nicht nur Stu- Das Ergebnis: Wenn wir klimaneut- dien zeigen, dass die Produktivität bei ral leben wollen, müssen wir die Pro- kürzeren Arbeitszeiten steigt. Auch duktivitätsgewinne in Freizeit für die IMPRESSUM: medieninhaber, herausgeber und Unternehmer berichten ihren Erfolgen ArbeitnehmerInnen umwandeln. verleger: Kontrast.at, SPÖ Parlamentsklub, 1017 mit der Arbeitszeitverkürzung. Seite 50 Seite 60 Wien; Redaktion: Jakob Zerbes, Alina Bachmayr- Heyda, Gerald Demmel, Patricia Huber, Lena Krainz, Marco Pühringer. Redaktionsassistenz und Korrektorat: Claudia Binder, Tanja Reisinger, Ute Schellner. Konzept und Gestaltung: Jakob Zerbes. Cover-Gestaltung: Jakob Zerbes. Druck: Druckerei Hans Jentzsch & Co GmbH Scheydgasse 31, 1210 Wien Ein besonderer Dank gilt all unseren Interview- partnern, ohne die dieses Heft nicht möglich ge- wesen wäre. Wir wünschen viel Spaß beim Lesen! 3 TAGE FREI – 5
STRESS Arbeiten trotz Krankheit, die Mittagspause durcharbeiten und am Abend noch das Kursbuch für die berufliche Weiterbildung aufschlagen. Der Arbeitswelt scheint so hoch getaktet zu sein wie noch nie. Die Kont- rast-Reportage zeigt einen Einblick in verschiedene Arbeitswelten. Von der Pflegerin bist zur Bankerin: Die Anforderungen an die Mit- arbeiter stiegen quer durch alle Branchen. Den Stress ertragen die Menschen dabei meist auf eigene Kosten. Irgendetwas läuft schief in Österreichs Alltag ist in vielen Branchen auf die Pflege, dem Finanzwesen, dem Mar- Arbeitswelt. Letztes Jahr mussten 14 Minute getaktet. 15 Minuten hat eine keting und der Aufzugs-Montage. Alle Prozent der Beschäftigten Schlaf- und mobile Pflegerin, um sich um einen sind sich einig: Der Zeitdruck führt Beruhigungsmittel nehmen, 6 Pro- Diabetes-Patienten zu kümmern. 30 dazu, dass sie ihren Beruf nicht mehr zent leistungssteigernde Substanzen, Minuten darf ein Monteur brauchen, so machen können, wie sie das gerne um mit ihrem Job klarzukommen. Je- um einen Aufzug zu warten und ein würden. der kennt jemanden, der schon mal ein Essenslieferant, der 10 Minuten zu Burnout hatte. Die Menschen schlafen spät kommt, kriegt schlechte Bewer- schlechter und werden öfter krank – tungen. HEUTE MACHT EIN MONTEUR IN trotzdem gehen sie zur Arbeit: Drei 8 STUNDEN NICHT MEHR 8 WAR- Viertel aller Arbeitnehmer nehmen Wir suchen nach der Antwort darauf, TUNGEN, SONDERN 16. Schmerzmittel, um trotz gesundheit- warum die Arbeitswelt so stressig licher Beeinträchtigungen in die Ar- sein muss und ob das einmal anders Die Suche beginnt im Cafe Groiss- beit gehen zu können. Trotzdem oder war. Wir haben Menschen getroffen, böck in Wien Favoriten. Der Aufzugs- gerade deswegen sind die Österreicher die ihren Beruf lieben und dennoch techniker Ossi Rosenitz sitzt an einem so produktiv wie nie. Der berufliche an den Anforderungen leiden - in der Ecktisch und trinkt einen Verlänger- 3 TAGE FREI – 7
VERDICHTUNG ten. Die Konditorei scheint aus der Zeit gefallen. Hier stapeln sich Krap- fen und Mehlspeisen in einem Flair wie vor 30 Jahren - verspiegelt, ver- goldet und freundlich. Alles erinnert an eine andere Zeit, von der Rosenitz zu berichten weiß. Was sich seitdem geändert hat? „Der Kunde war König, jetzt ist er eher Mittel zum Zweck - und der Zweck ist der maximale Pro- fit“, erzählt Rosenitz. Ossi, wie er sich selbst nennt, ist nicht auf den Mund gefallen. Er ist „goschert“, wie man in Wien sagt und legt sich auch gern mit dem Management an, wenn es nö- tig ist. Diese Vorliebe hat er zu seinem Beruf gemacht: Er ist mittlerweile Be- triebsrat bei ThyssenKrupp Elevators. Auf die Frage, was sich die Arbeiter „Vor fünf Jahren durfte eine Wartung noch eine Stunde dauern, vor zwei Jahren dann nur mehr eine drei- viertel Stunde und heute müssen wir in einer halben Stunde fertig sein“, sagt der Aufzugstechniker Ossi wünschen, bekommt man ausnahms- Rosenitz. (Symbolbild) weise eine knappe Antwort: „Wert- schätzung“. Das klingt kitschig, aber Rosenitz sagt es ehrlich. Er und seine Kollegen sind Profis, sie können schon an den Geräuschen eines Lifts erah- PFLEGEN IM AKKORD nen, wo ein Fehler liegen könnte. Bei „Ich denke da an meinen Vater. Der der Beschreibung seiner Arbeit ver- Doch es ist nicht nur die Pflege von hatte 100 Kilo und hat sehr gerne ge- wendet er Fachbegriffe wie ein Medi- Aufzügen, bei der gespart und be- badet. Das wäre sich mit ihm nie aus- ziner und ist verwundert, wenn man schleunigt wird. Sie trifft auch die gegangen“, erzählt Eva Scherz, die ihm nicht mehr folgen kann. Doch das Pflege von Menschen. In manchen Chefverhandlerin der Gewerkschaft Management scheint von der Arbeit Bundesländern sind Tätigkeiten in der für die Kollektivverträge der Pflege- am Feld, wie Rosenitz die Aufzugs- mobilen Pflege bis auf die Minute ge- und Sozialberufe. wartungen nennt, wenig zu verstehen. nau festgelegt. 15 Minuten stehen für Sie sehen Zahlen und sie sehen Opti- den Besuch bei einem Patienten mit Eine Pflegeassistentin in der mobi- mierungsbedarf. „Das Management Diabetes, der eine Spritze braucht, len Pflege hat ein Einstiegsgehalt von hat einfach die Zeit verkürzt, die eine zur Verfügung. Einmal in der Woche 2.100 Euro brutto. Die meisten arbei- Aufzugswartung dauern darf. Heute darf ein Patient ein Vollbad nehmen. ten aber nur 25 Stunden und kommen macht ein Monteur in 8 Stunden nicht 11 Minuten hat die Pflegerin dafür – 11 nicht einmal auf 1.300 Euro netto im mehr 8 Wartungen, sondern 16. „Das Minuten, um einen alten Menschen in Monat. Den Beruf macht man nicht des geht sich kaum aus. Die haben ja keine die Wanne zu heben, seine Haare zu Geldes wegen. Pfleger oder Pflegerin Ahnung“, sagt Rosenitz. waschen, ihn wieder rauszuheben und wird, wer gerne für Menschen da ist, abzutrocknen. wer ihnen helfen will, wenn sie nicht Die Taktung, die Verdichtung ihrer Arbeit, dass keine Zeit mehr für einen Scherz mit dem Kunden ist, das macht Rosenitz und seinen Kollegen zu „Eine Pflegerin war so lange bei ihren Patienten, schaffen - und schadet auch der Be- wie sie von ihnen gebraucht wurde.“ ziehung zu den Kunden. 8 – 4 TAGE ARBEIT
NACHGEFRAGT 3 von 4 Arbeitnehmern nehmen Schmerzmittel, um in die Arbeit „OHNE LEBENSNOT WÄREN DIE MEISTEN LEUTE AUCH NICHT gehen zu können. UNTÄTIG.“ Robert Pfaller ist ein österreichischer Phi- losoph und lehrt an der Kunstuniversität Linz. In seinem Buch „Wofür es sich 6 Prozent nehmen leistungs- zu leben lohnt“ von 2011 geht er der steigernde Substanzen, um mit Frage nach, warum in unserer Kultur ihrem Job klarzukommen. der Zugang zu Glamour und Genuss so oft versperrt ist und was sich hinter den vielen Verboten bezüg- lich Rauchen, Alkohol, Essen oder schwarzem Humor verbirgt. Wollen die Menschen überhaupt weniger arbeiten? 14 Prozent der Beschäftigten Das hängt davon ab, ob sie in ihrer nehmen Schlaf- und Beruhigungs- Existenz bedroht sind oder nicht. mittel. Wer derzeit nicht wie ein Verrückter arbeitet, ist seinen Job meist schnell los. Ohne Lebensnot wären die meis- Was fehlt uns in der Arbeit mitt- ten Leute auch nicht untätig. Aber sie lerweile? Wie bekommen wir das würden dann eher Dinge tun, die sie zurück? selbst als sinnvoll erleben und die für die Allgemeinheit nützlicher – oder Ruhe. Muße. Die Möglichkeit, die zumindest weniger schädlich – sind Dinge ordentlich zu machen. Die als viele der aktuell von ihnen gefor- Leute leiden ja nicht, weil sie faul derten Tätigkeiten. wären und nicht arbeiten wollten. Nein. Sie leiden, weil sie bei all der Was macht der steigende Arbeits- Hetzerei ihre Arbeit nicht mehr so druck mit den Menschen? machen können, wie sie gemacht gehört. Viele erstklassige Ärzte zum Ohne die kleinen „Riten der Unter- Beispiel kündigen ihre Jobs, weil sie brechung“ wie zum Beispiel die Kaf- sagen, unter diesem gewaltigen öko- fee- oder Rauchpausen oder die Feste nomischen Zeitdruck können sie in der Firma werden die Menschen nicht abeiten; da muss es zu Fehlern verrückt. Sie brennen aus. Wenn sie kommen. nicht mehr unterbrechen können, dann arbeiten sie auch viel schlech- ter. Denn dann können sie sich auf nichts mehr richtig konzentrieren. 3 TAGE FREI – 9
VERDICHTUNG Bei Unilever werden jetzt „Resilienztrainings“ für Mitarbeiter angeboten, die unter dem steigenden Arbeitsdruck und der permanenten Umstrukturierung leiden. mehr alleine für sich sorgen können. mehr so machen, wie man das richtig man gut geliefert hat und die Zahlen „Die Pflegerinnen leiden enorm unter findet: „Niemand wird Pflegerin, um stimmen, heißt das nicht, dass es gut dem Zeitdruck, sie wollen mehr auf die einen Rekord im Bettenüberziehen genug war. Man muss sich ständig Menschen eingehen als sie dürfen. Die oder Windelwechseln aufzustellen - fürchten, vor der Übernahme an der machen den Beruf ja, weil ihnen der das macht man wegen der Beziehung Börse, vor Stellenabbau und so wei- Kontakt zum Menschen wichtig ist“, und den sozialen Rückmeldungen. ter.“ Trotz guter Ergebnisse schrumpft erzählt Scherz. Natürlich merken die Die reine Ausrichtung aller Arbeit an in Wiesingers Betrieb das Personal. Pflegerinnen, wie schlecht die knappe betriebswirtschaftlichen Kennzah- Jedes Jahr um 10 Prozent, die Arbeit Zeit für ihre Klienten ist: Für viele älte- len hat enorme Auswirkungen auf die bleibt aber gleich - die Umsätze stei- re Menschen sind sie der einzige Kon- Arbeitsidentität der Leute“, schildert gen sogar. Weltweit hat Unilever in den takt zur Außenwelt. Sie gut zu pflegen der Ökonom Georg Hubmann, der sich letzten 10 Jahren seine Mitarbeiter um und zu betreuen, heißt mehr, als Men- am Linzer Jahoda Bauer Institut mit rund 20.000 Personen reduziert. Die schen möglichst effizient zu waschen Arbeitsverdichtung und beruflichen Umsätze sind um 7 Milliarden (!) ge- und zu füttern. Früher habe es oft gar Identitäten beschäftigt. stiegen. Die österreichische Nieder- keine zeitlichen Vorgaben gegeben, lassung ist nur ein kleines Rädchen erzählt Scherz. „Eine Pflegerin war so „Bezifferte Welt“ nennt das der So- im Gesamtkonzern, der alleine letztes lange bei ihren Patienten, wie sie von ziologe Colin Crouch, wenn die Arbeit Jahr 51,9 Milliarden Umsatz mach- ihnen gebraucht wurde.“ Da hatte man so überwacht wird, dass jede Leistung te. Von der Zentrale werden Vorgaben auch manchmal Zeit, gemeinsam alte messbar und vergleichbar sein muss. gemacht, damit die Wachstumsziele Fotos anzuschauen oder Karten zu Zeit- und Mengenvorgaben bei Kun- erreicht werden. Die Vorgaben setzen spielen, „Das kann man sich heute gar denkontakten, Vertragsabschlüssen, Menschen, die die meisten Mitarbei- nicht mehr vorstellen“, sagt Scherz. Aufzugswartungen und Patienten. ter nie zu sehen bekommen - trotzdem Grundsätzlich ist nichts schlecht da- bestimmen sie über 8 Stunden ihres NEGATIVE FOLGEN FÜR DIE ran, die Leistung zu messen, aber die Tages bis ins kleinste Detail. BERUFSIDENTITÄT Frage ist: Wer legt die Leistungspara- meter fest? Letztlich sind es weder die Fragt man Roswitha Wiesinger da- Der Philosoph Robert Pfaller sieht Beschäftigten, noch die Kunden, son- nach, was sie von Arbeitszeitverkür- darin ein allgemeines Phänomen in dern die Aktionäre und das Manage- zung hält, ist sie grundsätzlich dafür, einer Arbeitswelt, die maximal auf Ef- ment. Die Qualität der Dienstleistung erklärt aber gleich: „Es wäre alleine fizienz getrimmt ist: „Nicht weil die leidet dann unter dem Druck mög- schon eine massive Arbeitszeitverkür- Leute faul sind oder nicht arbeiten lichst hoher Profite und Dividenden. zung, wenn es bei uns keine Überstun- wollen. Nein, sie leiden, weil sie bei all den mehr geben würde.“ 50 Stunden der Hetzerei ihre Arbeit nicht mehr so KRISENSTIMMUNG, AUCH WENN und mehr sind bei den Kundenbetreu- machen können, wie sie gemacht ge- DIE UMSÄTZE STIMMEN ern und Marketing-Fachleuten bei hört,“ sagt er im Interview. Unilever in Österreich keine Selten- „Bei uns ist permanent Krisenstim- heit. Die jungen Mitarbeiter, die noch Wenn die eigene Arbeit in knapp be- mung, auch wenn die Umsätze stim- Kraft haben, geben viel, um aufzustei- messene Zeitabschnitte zerhackt men“, sagt Roswitha Wiesinger vom gen. Sind sie oben, haben sie sich für wird, kann man seinen Beruf nicht Lebensmittelkonzern Unilever. „Wenn den Betrieb oft verausgabt. 10 – 4 TAGE ARBEIT
NACHGEFRAGT „RESILIENZTRAININGS“ FÜR MITARBEITER Bei Unilever werden jetzt „Resilienz- trainings“ für Mitarbeiter angeboten, die unter dem steigenden Arbeits- druck und der permanenten Umstruk- turierung leiden. Ein Coaching, um besser mit den Effizienzanforderun- gen umgehen zu können. „Das kann schon helfen, damit ich mich nicht „IN WIRKLICHKEIT ARBEITEN IMMER zu sehr reinsteigere“, sagt Wiesin- ger. „Aber gegen zu viel Arbeit hilft das nicht“. Auf eine Anfrage bei Uni- lever zu den Resilienztrainings wurde WENIGER MITARBEITER IMMER MEHR“ so reagiert: „Leider müssen wir Ihnen eine Beantwortung Ihrer Fragen aus Ilse Fetik ist Betriebsrätin bei der Erste Bank. Kapazitätsgründen absagen“ - die Sie erzählt aus ihrer Branche. Personalknappheit scheint auch die Presseabteilung zu treffen. Wie haben sich die Mitarbeiterzahlen Wie spürt man diesen wachsenden in der Bankbranche in den letzten 10 Druck konkret? Die Unilever-Mitarbeiter in Österreich Jahren verändert? betreuen unter anderem Großkunden, Ich bin 1976 eingetreten. Ich habe auf doch einen Vertreter bekommen die Vor 10 Jahren arbeiteten rund 80.000 einer Schreibmaschine einen Brief Kunden nur mehr selten zu Gesicht. Menschen im Banksektor – heute verfasst und bis darauf eine Ant- „Früher sind wir zum Kunden gefah- sind es um 5.000 weniger. Doch das wort gekommen ist, ist meist eine ren, haben dort beraten und Lösungen ist nur ein Teil der Wahrheit: Vie- Woche vergangen. Ich konnte mich gesucht, haben eine Beziehung auf- le arbeiten in Teilzeit oder befinden einer Tätigkeit nach der andren wid- gebaut. Heute muss ich dem Kunden sich in Vorpensionslösungen – in men. Heute schreibt man Mails an den Webshop näher bringen und so Vollzeitäquivalenten sind es also hunderte von Leuten, alle erwarten Zeit sparen“. Oft ist der einzige di- deutlich weniger. sich binnen Sekunden Antworten. rekte Kontakt von Unilever-Mitarbei- Gleichzeitig hat sich in der Erste Man erlebt einen permanenten Auf- tern mit Käufern erst, wenn es Prob- Bank Österreich die Zahl der Kunden gabenwechsel, man erledigt Dinge leme oder Unzufriedenheit gibt, sonst wesentlich erhöht, bei einer nahezu gleichzeitig, man ist ständig Reizen läuft fast alles elektronisch. „Das ist gleichbleibenden Anzahl an Kunden- ausgesetzt, die du entweder bewusst natürlich belastend und frustrierend. beratern. Das verdichtet natürlich die wegdrücken oder verarbeiten musst. Eigentlich will jeder Außendienst- Arbeit enorm. Das setzt einen massiv unter Druck. mitarbeiter eine gute Beziehung zum Kurz gesagt: Immer weniger Mitar- Da ist es verständlich, dass die Leute Kunden, aber diese Anerkennung fällt beiter arbeiten immer mehr. mehr Freizeit als Ausgleich brauchen. weg“. Überlastung und gesundheitli- Manche flüchten in eine Auszeit, an- che Probleme nehmen auch bei Unile- Was macht das mit den Menschen? dere werden krank oder wechseln den ver zu, wie Wiesinger berichtet. Beruf. Bei uns gibt es einige Modelle Immer mehr Menschen möchten zur Arbeitszeitverkürzung, die sehr Wer viel mehr Arbeit in weniger Zeit über Umfang, Lage und Verteilung gut genützt werden. Die Leute kön- unterbringen muss, will zumindest ihrer Arbeitszeit selbst bestimmen. nen ein Baby- oder Pflegesabbatical selbst entscheiden, wann genau er Auch weil sie sich durch den massi- machen, können ihre Gehälter un- diese Arbeit erledigt. Das hat die Be- ven Druck immer fremdbestimmter term Jahr reduzieren und sich damit triebsrätin der Erste Bank, Ilse Fetik fühlen. selbst längere Pausen ermöglichen beobachtet. Der massive Druck und und so über ihre eigene Arbeitszeit das hohe Arbeitspensum machen die freier bestimmen. 3 TAGE FREI – 11
VERDICHTUNG © Erste Bank / Daniel Hinterramskogler „DER KONKURRENZKAMPF UND PREISKAMPF HABEN VIELES RUINIERT.“ Wie hat sich die Arbeit in den letzten ständig nur um Gewinnmaximie- 10 Jahren verändert? rung. Früher konnte man als Mon- teur freier arbeiten und hatte mehr Das Management hat einfach die Zeit Zeit die Kunden zu betreuen. Heute verkürzt, die eine Aufzugswartung ist alles sehr knapp und die Bezie- dauern darf. Vor fünf Jahren durfte hung zum Kunden mehr eine Zweck- eine Wartung noch eine Stunde dau- beziehung. ern, vor zwei Jahren dann nur mehr eine dreiviertel Stunde und heute Was hat sich genau geändert? müssen wir in einer halben Stun- de fertig sein. Jetzt macht ein Mon- Die Hausmeister haben mich früher teur in 8 Stunden eben nicht mehr 8 vor den Wartungen angerufen, was Wartungen, sondern 16. Es gibt aber ich mitnehmen soll zur Wartung: Konkurrenzfirmen, da haben Mon- Einen Türgummi oder ein Drahtglas. teure nur mehr 15 Minuten für eine Heute fährt man hin, muss für alles Aufzugstechniker Ossi Rosenitz Wartung. einen Bericht schreiben, ein Angebot stellen und einen neuen Termin aus- Warum ist das so? machen. Alles muss am Handy ein- getragen und dokumentiert werden. Der Konkurrenzkampf und Preis- Da war das Arbeiten früher schon be- kampf haben vieles ruiniert. Es geht friedigender. 12 – 4 TAGE ARBEIT
Aber solange das nicht kommt, muss Früher wurde die Aufzugswartung, sie als Betriebsrätin durch flexible Montage und Herstellung in Öster- Modelle mehr Auszeiten ermöglichen. reich gemeinsam bilanziert. Es war ein profitables Geschäft. Doch die Zentra- Diese Auszeiten sind dringend nötig, le setzte sich höhere Ziele, trennte die denn obwohl die Anzahl der Kunden Produktion von der Montage und War- bei der Ersten Bank ebenso gestiegen tung. Am Papier war das Werk plötzlich ist wie der Umsatz, sind die Mitarbei- nicht mehr gewinnbringend, 300 Mit- ter immer weniger geworden. „Das ist arbeiter verloren ihren Arbeitsplatz. ganz einfach: Immer weniger Leute ThyssenKrupp Elevators kümmerte haben immer mehr Arbeit“, sagt Fe- sich in Österreich fortan nur noch um tik. Das bestätigt auch ein Blick in die die Montage und auch hier wurden Bilanzen des Konzerns: 2013 baute der die Gewinnziele erhöht und damit das Konzern 3.711 Stellen ab. Der Umsatz Tempo von Rosenitz und seinen Kol- hat sich seitdem um über zwei Milliar- legen. Solche Entscheidungen werden den Euro erhöht, der Gewinn hat sich heute kaum noch hinterfragt. Es reicht auf das 24-Fache gesteigert. nicht gewinnbringend zu arbeiten - man muss gewinnbringender arbei- Ossi Rosenitz, Eva Scherz, Roswitha ten als anderswo. Alles muss schnel- Wiesinger und Ilse Fetik berichten ler und effizienter passieren. Dieser alle Ähnliches. Sie arbeiten in bei- ständige Optimierungsdruck hat sich spielhaften Betrieben für ihre Bran- mittlerweile auch abseits der großen che. Die Arbeitsverhältnisse sind bei börsennotierten Konzerne durchge- Arbeit sehr fremdbestimmt. Um das ihnen nicht schlechter als in anderen setzt. Selbst der österreichische So- auszugleichen, flüchten viele in die Firmen. Überall gibt es immer weni- zialstaat blieb nicht verschont. Anders individuelle Arbeitszeitverkürzung ger Zeit, um immer mehr Arbeit zu lässt es sich nicht erklären, dass eine - etwa ins Sabbatical, in die Pflege- erledigen. Wer in Österreich arbeitet, Pflegerin nur 11 Minuten Zeit hat, um eine Menschen zu baden. Das ist ganz einfach: Immer weniger Leute haben immer mehr Arbeit. karenz oder in die Teilzeit. Die Erste ist heute um rund 30 Prozent produk- Bank bietet ihren Mitarbeitern vie- tiver als noch vor 20 Jahren. In einer le flexible Arbeitszeitmodelle, die Arbeitsstunde wird also um fast ein auch gerne in Anspruch genommen Drittel mehr erledigt als früher - oft werden, erzählt Fetik. Etwa auch ein von überarbeiteten, ausgelaugten Be- Rechtsanspruch auf die 4-Tage Wo- schäftigten. Trotzdem bleibt die Ar- che. Über 30 Prozent der Erste Bank- beitzeit gleich. Das Tempo geben Ma- Mitarbeiter sind in Teilzeit, Tendenz nagement und Aktionäre vor. Am Ende steigend. Allerdings sind all diese Mo- des Tages wird über das Arbeitsleben delle mit Gehaltseinbußen verbunden. vieler anhand von Kennzahlen für we- Manche können ihre Gehälter wäh- nige entschieden. Das ThyssenKrupp rend des Jahres reduzieren und sich Werk in Gratkorn in der Steiermark damit selbst längere Pausen ermög- musste beispielsweise 2009 schlie- lichen. Fetik wünscht sich „natürlich“ ßen. Dort wurden die Aufzüge gebaut, eine generelle Arbeitszeitverkürzung die Rosenitz und seine Kollegen mon- anstelle von individuellen Lösungen. tierten. Der Grund für die Schließung: 3 TAGE FREI – 13
EINE KURZE GESCHICHTE DER ARBEIT 2,6 MIO. — 5.000 V. CHR. Mit dem Fortschritt mussten die Menschen immer weniger arbeiten? Das stimmt nicht. NUR 4 STUNDEN AM TAG Erst mit der Industrialisie- Forscher gehen davon aus, dass in der Alt- und rung begann das stete und Jungsteinzeit die Menschen im Schnitt nur etwa vier Stunden pro Tag gearbeitet haben. Je nach lange Arbeiten. Erst im klimatischen und saisonalen Bedingungen variierte letzten Jahrhundert konnten der zeitliche Aufwand für die Nahrungsbeschaffung die Arbeitszeiten reguliert zwischen 2 und 6 Stunden täglich. und langsam verkürzt werden. 40.000 V. CHR. © Griffith University/ Maxime Aubert Archäologen haben in einer Höhle in Indonesien antike Gemälde mit Jagdsze- nen gefunden. Mit über 40.000 Jahren gelten sie als älteste Höhlenkunst der Menschheit und sind vermutlich noch vor den berühmten Höhlenmalereien in Spanien und Frankreich entstanden. STEINZEIT 1000 V. CHR 14 – 4 TAGE ARBEIT
500 V. CHR. — 500 N. CHR. MUSSE FÜR DIE EINEN In der griechischen Antike galt Muße Muße wird damals nicht als arbeitsfreie und Ruhe als erstrebenswertes Ideal, Zeit verstanden -, Muße ist vielmehr im Gegensatz zu körperlicher Arbeit. erfüllte, mit wichtigen Aufgaben erfüllte Letzteres mussten rechtslose Sklaven Freizeit. Die Muße ist eine Art schöp- und als minderwertig betrachtete Hand- ferischen Aktivität. Das Nichtstun wird werker übernehmen. Der Philosoph nicht verteidigt. Aristoteles schrieb dazu: „Darum nennen wir alle Handwerke ba- nausisch, die den Körper in eine schlech- te Verfassung bringen, und ebenso die Lohnarbeit. Denn sie machen das Denken unruhig und niedrig.“ ARBEITSETHIK FÜR DIE ANDEREN Im antiken Rom und Griechenland wurde allerdings ge- nauso eine hohe Arbeitsmoral gepredigt: Bei den Bauern, Tagelöhnern, Sklaven, aber auch bei den kleinbürgerlichen Handwerkern und Händlern. 700 V. CHR. Die Schule von Athen ist ein Fresko des Malers Raffael, das dieser allerdings erst 1510 bis 1511 schuf. »Arbeit macht ja reich die Männer an Herden und Habe. Im Zentrum des Bildes stehen Platon und Aristoteles. Fleißige Arbeit macht dich auch den Ewigen werter Und den Menschen dazu, sie hassen ja müßige Leute. Arbeit bringt keine Schande, die Faulheit aber bringt Schande.« Hesiod ANTIKE 0 500 3 TAGE FREI – 15
„Die Uhr, nicht die 200 N. CHR. — 700 N. CHR. Dampfmaschine ARBEIT IST SÜHNELEISTUNG ist das entscheidende Mit der Ausbreitung des christlich- Gerät der Moderne“ jüdischen Glaubens wurde ab dem Historiker Lewis Mumford. 5. Jahrhundert Arbeit neu bewertet: als Sühneleistung für den Sünden- fall, weshalb geistige und körperliche Arbeit positiv belegt wurden. 500 N. CHR. — 1.500 N. CHR. ARBEITEN NACH DER SONNE Bevor es in Europa zur Industriel- Stunden pro Jahr gelegen sein len Revolution kam, gab es meist könnte, gleich oder gar weniger keine exakte Trennung zwischen als heute. Das Arbeitstempo war Arbeits- und Freizeit, denn es ebenso langsam. wurde weder nach Arbeitszeit entlohnt, noch war eine räumli- Zwar wurden in Benediktiner che Trennung von Wohn- und Ar- Klöstern nach dem Leitspruch beitsort weit verbreitet. Es ging in „Ora et labora“, Bete und arbeite erster Linie um den Lebenserhalt zunehmend Sand-, Sonnen- oder und nicht um Profitmaximierung. Wasseruhren verwendet, das Sekunden und Minuten waren neue Zeitgefühl und mechanische nicht messbar, vielmehr orien- Uhren sollten in den kommenden tierte man sich an „natürliche Jahrzehnten jedoch den Alltag Uhrzeiten“, wie den Sonnenauf- breiter Bevölkerungsschichten gang und -untergang. Im Winter neu bestimmen. 8, im Sommer bis zu 16 Stunden, wobei aufgrund von Pausen und vielen Feier- und Festtagen die Jahresarbeitszeit bei 1.400–2.000 SPÄT- MITTEL- ANTIKE ALTER 600 1500 16 – 4 TAGE ARBEIT
EINE GESCHICHTE DER ARBEIT 1750 — 1900 16 STUNDEN AM TAG 85 STUNDEN IN DER WOCHE Mit der Ausbreitung großer Fabriksan- Profit umwandeln. Mitte des 19. Jahr- lagen, elektrischem Licht und mecha- hunderts wurden bis zu 16 Stunden nischer Uhren kam die kapitalistische täglich gearbeitet, bis zu 85 Stunden pro Arbeitsweise. Anfang des 19. Jahrhun- Woche. Die Subsistenzwirtschaft wurde derts dehnte sich der Arbeitstag zu- zunehmend zurückgedrängt. Auch in der nehmend aus. Damit wollten die Unter- Landwirtschaft nahm durch Agrarrefor- nehmer das in Maschinen und Fabriken men und Mechanisierung Produktions- investierte Kapital möglichst schnell in und Nutzenmaximierung zu. Coalbrookdale by Night. Coalbrookdale gilt als eine der Geburtsstätten der industriellen Revolution, da hier der erste mit Koks gefeuerte Hochofen betrieben wurde. Ölgemälde von Philipp Jakob Loutherbourg. INDU- 1900 BIS HEUTE DIE 40 STUNDEN WOCHE STRIAL- Im Laufe des 20. Jahrhunderts wurden von den ArbeiterInnen schrittweise Arbeitszeitverkürzungen erkämpft: ISIER- 1885 der 11-Stundenarbeitstag 1919 der 8-Stundenarbeitstag 1959 die 45-Stundenwoche 1975 die 40-Stundenwoche. UNG Seitdem gilt in Österreich eine gesetzliche Normalarbeitszeit von 8 Stunden täglich bzw. 40 Stunden pro Woche. In vielen Fachgewerk- schaften konnten seitdem Arbeitszeitverkürzungen auf 38 oder 38,5 Stunden erzielt werden. 1800 1950 3 TAGE FREI – 17
DER BLAUE MONTAG DER BLAUE MONTAG Seit dem 14. Jahrhunderts war es im den, hielten sich viele nicht daran. Erst Handwerk üblich, montags nicht zu ar- mit der Industriellen Revolution kam es beiten. Nachdem es aufgrund der Pest endgültig zu einem Ende dieser Tradition. zu einem Arbeitskräftemangel kam, er- Heute erinnert noch der freie Montag in kämpften die Handwerker statt einer Museen, bei Friseuren und Gasthäusern Lohnerhöhung eine Arbeitszeitverkür- daran. zung. Der freie Montag setzte sich in Breslau 1392, 1410 in Prag und neun Jahre Woher die Redewendung „blauer Mon- später schließlich in Wien durch. Immer tag“ kommt, ist nicht gesichert. Es exis- wieder wurde er verboten und von Re- tieren unterschiedliche Hypothesen. Eine gierenden kritisiert. Friedrich der Große weitverbreitete These ist, dass der Be- schrieb 1783 dazu, „diesen Unfug [abzu- griff aus dem Färberwesen vom „blau- stellen]“, da dies „Armuth bringet“. Ge- machen“ entstanden sei. Bei der Blau- sellen hätten „an allen Montagen eben- färbung werden die Stoffe in einer letzten so fleißig und lange, als in den übrigen Phase an der Luft getrocknet. Dabei ent- Werktagen zu arbeiten.“ An das kaiserli- steht durch Oxidation letztlich das Blau. che Verbot hielt sich jedoch nur eine Min- Weil die Blaufärber in dieser Phase mit derheit. der Arbeit pausieren mussten, wäre aus dem technischen Vorgang des Blauma- In Österreich gab es zeitweise auch einen chens ein allgemeinsprachlicher Aus- blauen Dienstag, gegen den im auslau- druck für „Nichtstun“ entstanden. Zu- fenden 18. Jahrhundert ein Verbot erlas- dem solle Montag der typische Tag für sen wurde. Obwohl den Gesellen Strafen dieses Blaumachen gewesen sein. drohten und Denunzianten belohnt wur- 18 – 4 TAGE ARBEIT
INTERVIEW „ES SOLLTE KEIN CEO DAS 50-FACHE EINES NORMALEN ANGESTELLTEN VERDIENEN.“ INTERVIEW MIT ALFONS HAIDER Wie wichtig ist Freizeit für Ihren Arbeiten wir zu viel oder zu wenig? Bescheid weiß. Aber sicherlich sind Erfolg? Menschen, in Pflegeberufen, medizi- Zu viel ist es meistens, wenn die Ar- nisches Personal, oder auch Kinder- Natürlich ist ein gesundes Verhältnis beit keine Freude macht, oder einen gartenpädagogen für das, was sie leis- von Arbeit und Freizeit wichtig. Bei körperlich überanstrengt. Ich habe ten müssen, unterbezahlt. mir als Schauspieler und Moderator das Glück, einen Beruf zu haben, den habe ich selten eine tägliche Routine - ich als Berufung und als Geschenk Welcher Beruf ist Ihrer Meinung nach meistens wechseln Tage oder Wochen sehe. Trotzdem sind manche Tage nur am stärksten überbezahlt? mit höchster Belastung mit Zeiten stressig - vom Fototermin zur Pres- ohne Job. Zeiten, in denen ich meine sekonferenz, weiter zu eine Theater- Es wird in verschiedenen Berufen Batterien wieder aufladen kann und probe und dazwischen Autogramme Spitzenverdiener geben, die ein ho- muss. Ein fixer Bestandteil ist dann geben. Also bei mir gibt es definitiv hes Gehalt wirklich verdienen - aber Sport: während des Lockdown im beides: zu viel und zu wenig! es sollte in einem halbwegs gerechten Frühjahr bin ich täglich meine 8-10 km Verhältnis stehen. Es sollte ein CEO in Wien durch die Bezirke gegangen. Welcher Beruf ist Ihrer Meinung nach eines Unternehmens nicht das 50-fa- Sonst brauche ich das Fitness Center am stärksten unterbezahlt? che eines normalen Angestellten ver- so notwendig wie Luft zum Atmen. Die dienen. Bewegung macht meine Kopf frei und Ich traue mich kein Urteil zu geben, meinen Körper fit für die Arbeit. weil ich sicher nicht über alle Berufe und deren Umstände und Bezahlung 3 TAGE FREI – 19
2500 Stunden 2350 Stunden 2200 Stunden 2050 Stunden 1900 Stunden WO WIE VIEL 1750 Stunden GEARBEITET 1600 Stunden WIRD. 1450 Stunden 1300 Stunden 1950 1951 1952 1953 1954 1955 1956 1957 1958 1959 1960 1961 1962 1963 1964 1965 1966 1967 1968 1969 1970 1971 1972 1973 1974 1975 1976 1977 1978 1979 1980 1981 ARBEITSSTUNDEN Costa Rica 2212,38 Irland 1745,68 Malaysia 2238,27 IM JAHR Dänemark 1400,38 Island 1493,37 Malta 2040,03 2017 Deutschland 1353,89 Israel 1920,61 Mexico 2255 Ecuador 1701,36 Italien 1722,61 Myanmar 2437,86 Argentinien 1691,54 Estland 1856,68 Japan 1738,36 Neuseeland 1752 Australien 1731,49 Finnland 1659,28 Kambodscha 2455,55 Niederlande 1430,02 Bangladesch 2232,35 Frankreich 1514,14 Kanada 1696,46 Nigeria 1827,24 Belgien 1544,27 Griechenland 2016,9 Kolumbien 1997,75 Norwegen 1417,47 Brasilien 1709,49 Großbritannien 1670,27 Kroatien 1834,93 Österreich 1613,05 Bulgarien 1643,55 Hongkong 2185,58 Lettland 1874,6 Pakistan 2096,14 Chile 1974 Indien 2117,01 Litauen 1844,02 Peru 1932,46 China 2174,35 Indonesien 2024,29 Luxemburg 1518,86 Philippinen 2148,56 20 – 4 TAGE ARBEIT
1982 1983 1984 1985 1986 1987 1988 1989 1990 1991 1992 1993 1994 1995 1996 1997 1998 1999 2000 2001 2002 2003 2004 2005 2006 2007 2008 2009 2010 2011 2012 2013 2014 2015 2016 2017 Polen 2028,5 Südkorea 2063,33 WER AM KÜRZESTEN WER AM LÄNGSTEN Portugal 1863,17 Taiwan 1990,32 ARBEITET TOP 10 ARBEITET TOP 10 Rumänien 1806 Thailand 2185,45 Deutschland 1353,89 Kambodscha 2455,55 Russland 1974 Tschechien 1776,16 Dänemark 1400,38 Myanmar 2437,86 Schweden 1609,29 Türkei 1832 Norwegen 1417,47 Mexiko 2255,00 Schweiz 1589,68 Ungarn 1937,33 Niederlande 1430,02 Malaysien 2238,27 Singapur 2237,73 Uruguay 1552,35 Island 1493,37 Singapur 2237,73 Slowakei 1745,23 USA 1757,23 Frankreich 1514,14 Bangladesch 2232,35 Slowenien 1655,09 Vietnam 2169,59 Luxemburg 1518,86 Costa Rica 2212,38 Spanien 1686,5 Zypern 1783,52 Belgien 1544,27 Südafrika 2209,09 Sri Lanka 1923,94 Uruguay 1552,35 Hongkong 2185,58 Südafrika 2209,09 Schweiz 1589,68 Thailand 2185,45 3 TAGE FREI – 21
SEIT 100 JAHREN DIE GLEICHEN LÜGEN ------ WIE DIE ÖVP SEIT 1919 KÜRZERE ARBEITSZEITEN 22 – 4 TAGE ARBEIT VERHINDERT
Die ÖVP wehrt sich gegen die Arbeitszeitver- kürzung – seit über 100 Jahren. Geht es nach den Christlichsozialen und den Industriellen-Ver- tretern, wäre es nie zu kürzeren Arbeitstagen gekommen. Hätten sich Gewerkschaften und Arbeitnehmer nicht gegen sie durchgesetzt, würden die Menschen in Österreich noch immer 12, 14 oder gar 16 Stunden am Tag arbeiten – und das an sechs Tagen die Woche. 1885 trat der 11-Stunden-Tag wirken. Trotzdem: Heute wird mit einer 60-Stunden-Woche in Österreich soviel gearbei- an maximal sechs Arbeitsta- tet, wie kaum in einem ande- gen in Kraft. In den nächsten ren Land in Europa – nur in Jahrzehnten wurde die Nor- Malta und Zypern wird noch malarbeitszeit auf 8 Stunden mehr gearbeitet. 2018 erließ an fünf Tagen die Woche ge- die schwarz-blaue Bundesre- senkt. gierung unter Sebastian Kurz sogar noch eine Arbeitszeit- Seit 1885 hat sich die Welt verlängerung: Sie ermöglicht verändert, auch bei der Arbeit. eine 60-Stunden-Woche Die Gegenargumente sind - die sonst nur in Ausnah- auch im Jahr 2020 die glei- men erlaubt war. Hierzulande chen wie damals. werden etwa 260 Millionen Überstunden geleistet. Pro IN ÖSTERREICHH WIRD ÜBER- Jahr. 15 Prozent oder 40 Mio. DURCHSCHNITTLICH VIEL Stunden werden davon nicht GEARBEITET bezahlt. Gute Gründe, um über die Arbeitszeit zu reden. Seit 45 Jahren ist die gesetz- Doch es scheitert an der ÖVP. liche Arbeitszeit in Österreich Sie ist – wie die letzten hun- nicht mehr gesenkt wor- dert Jahren – dagegen - und den. Trotz stark gestiegener das mit immer den gleichen wirtschaftlicher Leistung. In Argumenten. manchen Branchen konnten sich die Arbeitnehmer durch- Wir haben uns diese Argu- setzen und in den Kollektiv- mente angesehen, und einem verträgen verbesserungen er- Realitätscheck unterworfen: 3 TAGE FREI – 23
LÜGE 1: „Es ist nicht der richtige Zeitpunkt!“ Das häufigste Argument der ÖVP gegen eine 4-Tage Woche ist der Zeitpunkt. Gerade jetzt, in Zeiten der Co- rona-Krise, könne man wirklich nicht über eine Ver- kürzung der Arbeitszeit nachdenken, sagen sie. Doch „Jetzt ist nicht das richtige Timing, ein Blick in Parlamentsreden und Wortmeldungen von um eine Arbeitszeitverkürzung zu ÖVP-Politikern aus den letzten 100 Jahren zeigt: Hätten diskutieren.“ Österreichs Arbeitnehmer auf den Zeitpunkt gewartet, der für die ÖVP und Unternehmervertreter der richtige ÖV P -A R B E I T S M I N I S T E R I N C H R I S T I N E A S C H B AC H E R für kürzere Arbeitszeiten gewesen wäre, hätten sie heu- 14. Juli 2020 te wohl noch den 12-Stunden-Tag und die 6-Tage-Wo- che. ÖVP und Industrielle haben in einem Punkt Recht: Es gibt keinen naturgegeben Zeitpunkt für eine gesetzliche Reduktion der Arbeitszeit. Arbeitszeitverkürzungen kündigen sich nicht magisch an, fallen nicht vom Himmel. Fast alle „Sie wissen selbst, wie schwer uns diese Arbeits- Reduktionen mussten der ÖVP und den Wirt- zeitverkürzung zumindest in der heutigen schaftsvertretern schwer abgerungen werden Situation treffen würde.“ – mit Demonstrationen, Streiks, Protesten und ÖVP-ABGEORDNETER KARL MARBERGER Volksabstimmungen. 12. Dezember 1968 Zur 40-Stundenwoche 24 – 4 TAGE ARBEIT
LÜGE 2: Kein Unternehmen bleibt in Österreich Auch die Drohung, dass Unternehmen land nicht mehr die Konkurrenz des vor kürzeren Arbeitszeiten und „teu- Auslandes vertragen, so tritt mit der reren Arbeitnehmern“ ins Ausland Schädigung der Industrie auch eine fliehen würden, gibt es schon länger Schädigung im Verdienst der Arbeiter als die Globalisierung. Die Abwande- ein.“ rungs-Angst ist seit über hundert Jah- Dass Unternehmen Österreich nicht ren ein beliebtes Argument gegen fast den Rücken kehren, ist für viele Ex- jede Verbesserung für Arbeitnehmer. perten und Expertinnen klar: Die hohe Das ist bei der Arbeitszeitverkürzung Qualifikation, die gute Infrastruktur nicht anders. und hohe Lebensqualität ziehen Fir- men seit Jahrzehnten an und bleiben Dieser Meinung waren nicht nur die ein wesentlicher Standortfaktor: Einer Verkürzung der Arbeitszeit Vertreter der Wirtschaft, sondern so- steht der neue Arbeitsminister Martin gar der Deutsche Kaiser. 1890 war sich Wilhelm II. sicher, dass besse- „In Österreich liegt die Arbeitszeit für Vollzeitbeschäftigte im europäischen Kocher negativ gegenüber und lehnt re Arbeitsbedingungen die deutsche Spitzenfeld. Im europäischen Ausland sie mit altbekannten Argumenten ab. Industrie ruinieren und nicht mehr wird fast überall kürzer gearbeitet. Die Eine Arbeitszeitverkürzung „erhöht konkurrenzfähig mit dem Ausland ewige Drohung einer Standortverlage- die Lohnkosten“ und „wäre schlecht machen würden: „In wirtschaftlicher Beziehung ist zu erwägen, dass durch rung gehört übrigens zu den übelsten Methoden, um die eigenen Interessen für den Standort“. eine zu weitgehende Arbeiter-Schutz- auf Kosten der arbeitenden Bevölke- ÖV P -A R B E I T S M I N I S T E R M A RT I N K O C H E R gesetzgebung eine unverhältnismäßi- rung durchzusetzen“, sagt AK-Wirt- 14. Jänner 2021 ge Belastung der deutschen Industrie schaftsexperte Matthias Schnetzer zu gegenüber der ausländischen herbei- der Diskussion. geführt und die erstere in dem Wett- bewerb im Weltverkehr beeinträchtigt Die Konkurrenz aus dem Ausland kann wird. (…) Wird auf dieser Bahn weiter man als Argument gegen eine Arbeits- fortgeschritten, und kann Deutsch- zeitverkürzung nicht gelten lassen. „Alle weiteren Schritte zur Verkürzung der EXPORTQUOTE Arbeitszeit oder die Einführung der Fünftage- Einführung der woche und so weiter wären – ich bitte das zu 40-Stunde-Woche bedenken! – ein tödlicher Schlag gegen unse- 2,5% re Fremdenverkehrswirtschaft, die ja – und das muß man immer bedenken – in immer 2,0% schärfer werdendem Konkurrenzkampf mit dem Ausland steht.“ ÖVP-ABGEORDNETER FRANZ DWORAK 1,5% 14.12.1959 60 62 64 66 68 70 72 74 76 78 80 82 84 86 88 90 92 94 96 98 00 02 04 06 Zur 45-Stundenwoche In Österreich wurde auch nach der Einführung der letzen Arbeitszeitverkürzung mehr exportiert. Die Konkurrenz aus dem Ausland kann als Argument also nicht herhalten. 3 TAGE FREI – 25
LÜGE 3: Woher die Fachkräfte für die offenen Stellen nehmen? Obwohl Konservative gerne behaupten, eine Arbeitszeit- reduktion würde „Arbeitsplätze vernichten“, bringen sie gerne auch das gegenteilige Argument: Dass es nicht genü- gend qualifizierte Personen gibt, um die neu geschaffenen Stellen zu besetzen. Es stimmt: Es gibt in gewissen Sparten in Österreich zu wenige Fachkräfte – etwa in der Pflege. Daran ändern al- lerdings lange Arbeitszeiten nichts. Im Gegenteil: Firmen, die Probleme haben, gut ausgebildete Fachkräfte anzuwer- „Das Thema der fehlenden Fachkräfte ben, setzen seit Jahren auf besser Arbeitsbedingungen um Fachkräfte zu bekommen und zu halten – auch auf kürzere ist etwas aus dem Fokus gerückt, aber Arbeitszeiten. Etwa die hochtechnologisierte Chemie- und es wird uns wieder einholen. Stahlindustrie, die zum Teil eine 32-Stunden-Woche hat. Worüber ich gar nicht reden will, Auch der Osttiroler Seifenhersteller „Brüder Unterweger“ ist eine Arbeitszeitverkürzung.“ tut das: HARALD MAHRER 4. Juli 2020 „Mittlerweile stellt sich heraus, dass nicht nur das Geld allein der ausschlaggebende Punkt ist, um sich irgendwo zu bewerben, sondern durch- aus auch die verfügbare Freizeit“, ist sich Chef Michael Unterweger sicher. „Durch dieses An- gebot finden wir eine ausreichende Zahl an guten Mitarbeitern, vor allem auch höhe qualifizierte Mitarbeiter.“ „Wenn man die Arbeitsmarktvorausschauen kennt, so weiß man, daß in Zukunft in erheb- lichem Ausmaß mehr Facharbeiter gebraucht Auch in der Arbeiterkammer weiß man um solche Bemü- werden – und das auch ohne Arbeitszeitver- hungen: „Branchen wie Tourismus oder Pflege könnten für kürzung und ohne Volksbegehren über die viele an Attraktivität gewinnen, wenn die Arbeitszeit ver- Arbeitszeitverkürzung“ kürzt werden würde. Manche Unternehmen werben bei- ÖVP-ABGEORDNETER ARTHUR MUSSIL spielsweise schon jetzt mit einer 6. Urlaubswoche nach 26. MÄRZ 1969 einem Jahr Betriebszugehörigkeit, um qualifizierte Fach- Zur 40-Stundenwoche kräfte in das Unternehmen zu werben“, erklärt Ökonom Schnetzer. „Auch wenn zur Lösung des Fachkräftemangels andere Maßnahmen deutlich wichtiger sind, etwa Investi- tionen in berufliche Aus- und Weiterbildung.“ 26 – 4 TAGE ARBEIT
LÜGE 4: Wer soll das bezahlen? Für Unternehmen würde es eine un- leistbare Mehrbelastung darstellen, Das angekündigten Unternehmer- wenn für die gleichen Löhne weniger sterben oder ein Produktionsein- gearbeitet würde. Eine Kostenexplo- sion und ein Rückgang der Produktion bruch lassen sich historisch nicht wären die Folge – der Untergang aller belegen – im Gegenteil. Unternehmen, sind sich ÖVP und In- „Würde die Arbeitszeitreduktion ab dustrielle sicher. In den vergangenen Jahrzehnten ha- 2020 eingeführt werden, gingen über ben sich die Unternehmer allerdings 3 Jahre rund 81,3 Mrd. Euro an Wert- Auch hier zeigt die Geschichte, dass die einen immer größeren Anteil aus den schöpfung verloren. Das können wir Befürchtungen in der Vergangenheit umsonst waren. Die österreichische steigenden Erträgen der Firmen ge- nommen. Die Arbeitnehmer haben uns nicht leisten.“ Textilindustrie, die sich vehement immer weniger von dem gesehen, was HARALD MAHRER gegen die Einführung des 11-Stunden- sie erwirtschaftet haben. Das zeigt 4. Juli 2020 Tages eingesetzt hat, verarbeitete 1913 sich in der Lohnquote, die langfristig 24 Mal mehr Baumwolle als noch 1841. gesunken ist und der Gewinnquote, Von einem Produktionseinbruch auf- die gleichzeitig gestiegen ist. Wäh- grund der Arbeitszeitverkürzung 1885 renddessen mussten wir uns anhö- kann keine Rede sein. ren, dass sich Unternehmen arbeit- nehmerfreundliche Maßnahmen nicht Noch auffälliger hat sich die ökono- leisten können. mische Lage nach der etappenweisen Einführung der 40-Stunden-Woche Die Lohnquote ist langfristig gesun- „Eine Verkürzung der Arbeitszeit um nur eine 1969 entwickelt. Das Wirtschafts- ken und die Gewinnquote gestiegen. Stunde bedeutet einen Produktionsausfall von wachstum der 1970er Jahre mit jähr- Dabei weiß man, dass kürzere Arbeits- etwa 7 Mrd. Ein wesentlich verringertes Sozial- lichen Wachstumsraten von fünf bis zeiten die Konzentration und Produk- produkt oder eine verminderte Zuwachsrate sieben Prozent konnte Österreich bis tivität der Mitarbeiter fördern. Sie wären die unausbleiblichen Folgen.“ heute nie wieder erreichen. reduzieren Arbeitsunfälle und auch Krankenstände, weil Mitarbeiter sel- INDUSTRIELLENVEREINIGUNG 1968 gegen die 40-Stunden-Woche Darüber hinaus wurde ab den 1960er tener psychisch und körperliche über- Jahren nicht nur mehr produziert, lastet sind. Das betont auch AK-Wirt- auch die Lohnstückkosten haben sich schaftsexperte Schnetzer, gibt aber zu in der österreichischen Industrie au- bedenken: „Es ist früher gezeigt worden, daß durch die ßerordentlich günstig entwickelt. Im Abkürzung der Arbeitszeit von 12 auf 11 Stunden eine Verminderung der Production um 6 bis Vergleich zu den anderen Ländern, die damals schon in der EU waren, ver- „Eigentlich ist die zentrale Frage 7 Percent eintreten muß. […] Auf eine mittel- zeichnete Österreich zwischen 1964 weniger, was der Wirtschaft schadet, große Spinnerei-Unternehmung mit jährlichen und 1997 jährlich einen Lohnkosten- sondern was gut für die Menschen Erzeugungskosten von 200.000 fl. bedeutet vorsprung von 0,8%. ist. Dabei spielen wirtschaftliche dies eine jährliche Mehrbelastung um vier- bis Interessen natürlich eine Rolle, aber sechstausend Gulden.“ eben nicht ausschließlich“. VEREIN D. ÖSTERR. BAUMWOLLSPINNER 1888 3 TAGE FREI – 27
LÜGE 5: Arbeitszeitverkürzung nicht während einer Krise! Auch die wirtschaftliche Gesamtlage muss immer wieder als Argument herhalten, wenn ÖVP und Industrielle Arbeitszeitverkürzungen verhin- dern wollen. Denn diese sei nur in Zeiten starker Konjunktur möglich. „Als Wirtschaftsministerin spreche ich Tatsächlich findet in der jetzigen Wirtschaftskrise eine massive Arbeits- zeitreduktion statt, um Arbeitsplätze zu retten: In Form von Kurzarbeit. mich ganz klar gegen Arbeitszeitver- „Natürlich ist eine Arbeitszeitverkürzung in Zeiten hohen Produktivi- kürzung aus, denn die Unternehmen tätswachstums einfacher, aber gerade die aktuell hohe Arbeitslosigkeit jetzt zu belasten, wo sie in einer so verlangt nach innovativen Modellen für eine bessere Verteilung der Er- schwierigen Phase sind, wäre nur kon- werbsarbeit zwischen Arbeitsuchenden und Überlasteten“, erläutert Schnetzer. Und er fügt hinzu: „Genauso wichtig wäre auch eine bessere traproduktiv und würde weder den Aufteilung der unbezahlten Haus- und Betreuungsarbeit zuhause, die in Arbeitsplätzen helfen noch den Mit- der aktuellen Krise deutlich zugenommen hat.“ arbeiterinnen und Mitarbeitern.“ ÖV P - W I RT S C H A F T S M I N I S T E R I N M A RG A R E T E S C H R A M B Ö C K 1 4. Juli 2020 „Weder eine Arbeitszeitverkürzung noch eine Erhöhung des Mindesturlaubs auf fünf Wochen ist bei anhaltend schwacher Konjunktur den österreichischen Unternehmen zuzumuten.“ FRANZ BURKERT 2. August 1978 „Mehr Urlaub, kürzere Arbeitszeit, höherer Lohn werden aus einer Wirtschaft nur heraus- zuholen sein, sei sie privat oder verstaatlicht, wenn diese Wirtschaft blüht. Im letzten aber heißt es doch, zu existieren, konkurrenzfähig zu bleiben, zu leben, und das kann man nur, wenn man arbeitet.“ ÖVP-BUNDESRAT HANS BÜRKLE 15. Mai 1964 Gegen die 40-Stunden-Woche 28 – 4 TAGE ARBEIT
Schreckgespenst Arbeitszeitverkürzung Die Geschichte zeigt, dass die Argu- Die Frage ist, wer von diesem Fort- mente vor allem dazu dienen, Angst zu schritt profitiert. Spätestens seit den schüren und jede Verbesserung für Ar- 1990er Jahren hinken die Löhne der beitnehmer als unmöglich darzustel- steigenden Produktivität hinterher. len. Doch der befürchtete Untergang Es wird zwar schneller, besser und hat sich nicht bewahrheitet. Die öster- mehr produziert, aber die Löhne stei- reichische Volkswirtschaft hat sich in gen nicht entsprechend mit. Auf der jedem Fall gut entwickelt, trotz – oder anderen Seite sieht man, dass sich die gerade wegen – der historischen Ar- Eigentümer in den vergangenen Jahr- beitszeitverkürzungen: Wirtschafts- zehnten immer mehr aus den Gewin- wachstum, Exporte und Produktivität nen sicherten. Es wäre höchste Zeit, sind über die Jahre stetig gestiegen. mit einer Arbeitszeitverkürzung eine Bei der Arbeitsproduktivität liegt Ös- faire Aufteilung dieses gemeinsam er- terreich im EU-Schnitt im Spitzenfeld wirtschafteten Fortschritts zu errei- vor Industrienationen wie Frankreich, chen. Deutschland, Italien oder Großbritan- nien. Ausschlaggebend dafür sind vor allem die qualifizierten und motivier- ten Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. 3 TAGE FREI – 29
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