Virtual Reality im Vertrieb - "Guten Tag, ich habe Ihren Blog gelesen" S. 25 - No. 1 - Katalog der Deutschen Nationalbibliothek

Die Seite wird erstellt Michael Merz
 
WEITER LESEN
Virtual Reality im Vertrieb - "Guten Tag, ich habe Ihren Blog gelesen" S. 25 - No. 1 - Katalog der Deutschen Nationalbibliothek
No. 1
                                                 Sommer 2017
                       ePaper für modernes Vertriebsmanagement

Virtual Reality
im Vertrieb
„Guten Tag, ich habe
Ihren Blog gelesen“
S. 25

Urs Meier im
Interview
S. 29

Stresslevel im
digitalen Vertrieb
S. 39
Virtual Reality im Vertrieb - "Guten Tag, ich habe Ihren Blog gelesen" S. 25 - No. 1 - Katalog der Deutschen Nationalbibliothek
EDITORIAL

Liebe Leserinnen und Leser,

die Digitalisierung hat kaum einen Wirtschaftszweig so hart getroffen
wie den Nachrichtenmarkt. Sicher geglaubte Einnahmequellen und
damit mitunter fürstliche Gehälter waren Anfang der 2000er quasi
über Nacht versiegt. Dazu kam ein sich veränderndes Konsumenten-
verhalten: Alles muss sofort und überall verfügbar sein. Droht dem
Vertrieb ein ähnliches Schicksal? Eher nicht (S. 20, 57 & 61).

Doch der Siegeszug des Digitalen verändert seine Rahmenbedin-
gungen. Mit den unwiderstehlichen Argumenten einer direkten
Kommunikation und verringerter Wartezeiten bietet die Digitalisie-
rung dem einzelnen Vertriebler aber auch neue Möglichkeiten (S.24
& S. 52). Und dank Virtual- & Augmented Reality lassen sich auch die
größten Produkte beim Kunden erlebbar machen (S. 7).

Vertriebler müssen sich also entscheiden, wer sie in der digitalen
Welt sein wollen. Pioniere oder Nachzügler? Eine einfache Entschei-
dung im Großen, auf die viele schwierige Entscheidungen im Kleinen
folgen. Wie aus vielen kleinen, richtigen Entscheidungen ein gelun-
genes Ganzes entsteht, das weiß Ex-Fifa-Schiedsrichter Urs Meier
aus eigener Erfahrung (S. 28). Mit ihm haben Sie ohnehin mehr
gemeinsam, als Sie bislang vielleicht geglaubt haben. Aber lesen Sie
selbst.

Ihr

Norbert P. Wessendorf
Managing Editor Business Developer

                                                                       2
Virtual Reality im Vertrieb - "Guten Tag, ich habe Ihren Blog gelesen" S. 25 - No. 1 - Katalog der Deutschen Nationalbibliothek
INHALTSVERZEICHNIS

                       BERATEN & VERKAUFEN
        29 Auf eine Halbzeit mit Urs Meier

01/2017
THEMA: Digitaler Vertrieb

Mein Bester Ratschlag ....................... 5                                      Vertriebler sucht Einkäufer mit
Was Pokémon Go den                                                                   großem Budget ............................................. 54
Vertrieb gelehrt hat ................................. 7                             Big Data ist noch kein Thema
Deutschlands erster Digital-                                                         im Vertrieb ........................................................... 58
Pionier ....................................................................... 15   Wir müssen Kundenbedürf-
Lehrstunde bei den jungen                                                            nisse noch besser kennen .............. 63
Wilden ........................................................................ 21   Die Topseller von morgen ............... 78
„Guten Tag, ich habe Ihren                                                           WANTED! Vertriebsmanager &
Blog gelesen“.................................................... 25                 Vertriebsstrukturen ................................. 79
Auf eine Halbzeit mit                                                                Nach der Datenflut kommt die
Urs Meier................................................................ 29         Klagewelle ............................................................ 84
Kosten gespart und Stress-                                                           Dealer der Ausgabe ................................. 88
level erhöht ........................................................ 39
Die Baustelle in Deutschlands
Vorzeigebranche .......................................... 44
Gut angezogen im Büro - trotz                                                        Verbandsseiten ...........................................            68

eCommerce ......................................................... 49               Impressum .........................................................   89

                                                                                                                                                             3
Virtual Reality im Vertrieb - "Guten Tag, ich habe Ihren Blog gelesen" S. 25 - No. 1 - Katalog der Deutschen Nationalbibliothek
Virtual Reality im Vertrieb - "Guten Tag, ich habe Ihren Blog gelesen" S. 25 - No. 1 - Katalog der Deutschen Nationalbibliothek
DURCHSTARTEN

                  Mein bester Ratschlag
                  Ob Einsteiger oder gestandener Vertriebler: einen guten
                  Ratschlag kann jeder gebrauchen. Deshalb haben wir in der
                  Community nachgefragt, welchen Ratschlag Vertrieblerinnen
                  und Vertriebler zu welchem Zeitpunkt von wem erhalten
                  haben – und warum dieser Ratschlag der Beste war.

                                        D     en Preis kannst du später immer noch senken.
                                              Ihn später zu erhöhen ist fast unmöglich.
                                        Konzentriere Dich darauf, Deinen Preis durchzu-
                                        setzen‘, riet mir mein Mentor John Lefor vor zehn
Foto: Ingo Dahm

                                        Jahren.
                                        Dr. Ingo Dahm, CEO von New Web Technology

                     Z   uhören und verstehen – und möglichst
                         wenig selber reden. Denn im Vertrieb ist
                     entscheidend zu verstehen, dass verschiedene
                     Kunden fast nie die exakt gleichen Wünsche und
                                                                                                Foto: Puma

                     Erwartungen haben.
                     Silja Hintz ist Head of Sales DACH bei Puma

                                        K     eine Angst vor Herausforderungen oder
                                              davor, dass etwas nicht auf Anhieb klappt.
                                         Gelingt es einmal nicht gleich, ist es wichtig, sich
                                         gleich wieder aufs Pferd zu setzen.
Foto: Wrike

                                         Jana Metz, Teamlead int. Vertrieb bei Wrike.

                                                                                            5
Virtual Reality im Vertrieb - "Guten Tag, ich habe Ihren Blog gelesen" S. 25 - No. 1 - Katalog der Deutschen Nationalbibliothek
DURCHSTARTEN

                                                      W
Fotocredit: DEIN MÜNCHEN e.V.

                                                             enn du redest, wiederholst du nur, was
                                                             Du schon weißt‘, erklärte mir mein erster
                                                      Manager. ,Wenn du zuhörst, lernst du vielleicht
                                                      etwas über den potenziellen Kunden, der dir
                                                      gegenüber sitzt.‘
                                                      Thomas Koenen, Sales Director CEE bei Rich Relevance

                                   G    rößenwahnsinnig, Genial, Gierig‘. Ein Zitat
                                        von Dieter Nass, meinem ersten Coach
                                   in meiner beruflichen Laufbahn. Es gibt viele
                                   andere Komponenten, die für den Erfolg eine
                                   Rolle spielen. Aber man muss sich selber

                                                                                                                 Fotocredit : Jaewoo Hyun
                                   eingestehen und auch nach außen hin
                                   kommunizieren, dass man weltweit der oder
                                   die Beste ist.
                                   Jaewoo Hyun, Sales Director bei Accenture.

                                                      E     in Freund hat mir damals empfohlen, als Soft-
                                                            ware-Vertriebsmann zu starten. Das war die
Fotocredit: Qualtrics

                                                      beste Entscheidung meines Lebens. Ein besonderes
                                                      Highlight ist für mich, dass man als Vertriebler sehr
                                                      viele Freiheiten genießt: Ob ich erfolgreich bin und
                                                      einen hohen Verdienst habe, hängt alleine von mir
                                                      ab.
                                                      Wolfgang Sölch ist Head of Enterprise Sales Central
                                                      Europe bei Qualtrics

                                                                                                             6
Virtual Reality im Vertrieb - "Guten Tag, ich habe Ihren Blog gelesen" S. 25 - No. 1 - Katalog der Deutschen Nationalbibliothek
DURCHSTARTEN

                                                                        Fotocredit: Niantic Inc.
Was Pokémon Go den
Vertrieb gelehrt hat
Immer mehr Unternehmen erkennen das Potenzial von
Virtual- und Augmented Reality für den Vertrieb. Aber werden
sie in Zukunft zum Standard im Verkaufsgespräch?

AUTOR: Florian Sturm

Vor einem Jahr, am 6. Juli 2016, veränderte Dennis Hwang ein Stück
weit die Welt. An diesem Mittwoch veröffentlichte er mit seinem Team
der US-Softwarefirma Niantic das ortsbasierte Smartphone-Spiel
Pokémon Go. Innerhalb kürzester Zeit brach die App alle Rekorde.
Auch wenn der ganz große Hype inzwischen vorüber scheint, wurde
das Thema Augmented Reality damit über Nacht salonfähig. Bis heute
wurde das Spiel weltweit über 750 Millionen Mal heruntergeladen.
Was als bloßer Zeitvertreib für die digitale Generation begann, avan-
cierte mittlerweile zum Milliardenmarkt. Auch die Vertriebsbranche
hat das gigantische Potenzial von Augmented und Virtual Reality (AR,
VR) inzwischen erkannt.

                                                                    7
Virtual Reality im Vertrieb - "Guten Tag, ich habe Ihren Blog gelesen" S. 25 - No. 1 - Katalog der Deutschen Nationalbibliothek
DURCHSTARTEN

Tatsächlich habe der Rummel um Pokémon Go das AR-Thema ins
Bewusstsein einer breiten Öffentlichkeit gerückt, sagt Martin Wild,
Chief Digital Officer von MediaMarktSaturn. Deswegen sei aktuell
der perfekte Zeitpunkt, die Thematik wieder afzugreifen, führt er mit
Hinblick auf die im Mai gestartete HoloTour weiter aus.
In 20 ausgewählten deutschen Märkten haben Kunden die Möglich-
keit, einen Blick in das „Shoppingerlebnis der Zukunft“ zu werfen:
Ausgestattet mit der HoloLens, einer AR-Brille von Microsoft, werden
die Kunden vom Avatar Paula durch (reale) Saturn-Märkte geführt
und erhalten zusätzliche, digitale Informationen zu drei unterschiedli-
chen Produkten (Samsung S8, Microsoft Surface Pro4, Dyson Big Ball
Allergy). Die HoloTour sei zunächst ein erster Test der Technologie, so
Wild, doch das Feedback sei derart positiv, dass bald ähnliche interak-
tive und personalisierte Shopping-Lösungen präsentiert würden.

Das Auge geht auf Reisen

Bekannt wurden Virtual und Augmented Reality in der Spiel- und
Unterhaltungsbranche: Mittels bestimmter Hardware, beispielsweise
einer VR-/AR-Brille, dem Smartphone oder Tablet, wird die Realität
entweder mit akustischen/visuellen Elementen angereichert (AR),
oder aber der Nutzer taucht komplett ab in eine virtuelle Realität,
die komplett losgelöst ist vom eigentlichen Hier und Jetzt (VR). Beide
Ansätze bieten zahlreiche Vorteile für den Vertrieb, weiß Anett
Mehler-Bicher. Die Marketingexpertin forscht an der Hochschule
Mainz in den Bereichen E-Business und Augmented Reality. „Mit AR
und VR lässt sich die sogenannte Time-to-Content minimieren – der
Käufer erhält also schneller und zielgerichteter relevante Informati-
onen. Außerdem können Erklärungsprozesse automatisiert und opti-
miert werden.“

Martin Kühne, Digital Business Strategy/Customer Experience von
Audi, hebt einen weiteren Aspekt hervor. Der Automobilhersteller
nahm als erstes deutsches Unternehmen den Abzweig in Rich-
tung VR/AR – und positionierte sich damit vor allem gegenüber der

                                                                         8
Virtual Reality im Vertrieb - "Guten Tag, ich habe Ihren Blog gelesen" S. 25 - No. 1 - Katalog der Deutschen Nationalbibliothek
DURCHSTARTEN

Konkurrenz auf der Überholspur. Über seine VR -Technologie bietet
Audi derzeit mehr als 50 verschiedene Automodelle mit Millionen
möglicher Ausstattungsvarianten an. „Bisher kann kein Händler
seinem Kunden diese Vielfalt [mit klassischen Mitteln] vorführen“,
erklärt Kühne. Kurz gesagt: minimaler Platz und ständige Verfügbar-
keit des kompletten Portfolios – inklusive jener Produkte, die noch in
der Entwicklungs- oder Testphase sind.

                                                                                        Fotocredit: Saturn

Saturn bietet in 20 ausgewählten Märktern Besuchern einen Rundgang mit AR-Brille.

Statt die unterschiedlichen Modelle im Prospekt zu betrachten, blickt
der Kunde durch eine Datenbrille wie die HTC Vive oder Oculus Rift
und sieht sich sofort am Steuer seines (virtuellen) Traumwagens: Wie
ist der Blick vom Fahrersitz? Helles oder dunkles Leder? Welches Info-
tainment-System möchte ich und wie soll das Auto lackiert werden?
Fragen, die sonst mühsam – und wenig anschaulich – im Bera-
tungsgespräch erörtert werden, sind durch die neue Technik beinahe
greifbar.

Obwohl inzwischen auch BMW, Hyundai, Toyota und Co. ihren poten-
ziellen Kunden mit VR und AR begegnen, geht bislang kein Hersteller
das Thema so ganzheitlich an wie Audi. Im Februar 2014 eröffnete am
Berliner Kurfürstendamm die Audi City – der erste volldigitale

                                                                                    9
Virtual Reality im Vertrieb - "Guten Tag, ich habe Ihren Blog gelesen" S. 25 - No. 1 - Katalog der Deutschen Nationalbibliothek
DURCHSTARTEN

Flagshipstore in Deutschland. Statt dutzender Präsentationsfahr-
zeuge gibt es zahlreiche (interaktive) Präsentationsflächen. Emotio-
nalität und Storytelling stehen im Vordergrund; die PS-Zahl unter der
Motorhaube allein zählt schon lange nicht mehr.

Das neue Auto sehen können

Aber warum nehmen gerade die Automobilhersteller eine führende
Rolle bei diesen Vertriebsstrategien ein? Beim Kauf, insbesondere von
komplexen, erklärungsbedürftigen und hochpreisigen Gütern, steht
ein Aspekt stets im Vordergrund: möglichst wenig Risiko. Ein Gesetz,
das so alt ist wie der Tauschhandel selbst. Und je mehr Informati-
onen ich vorab über ein Produkt, dessen Qualität, Performance und
dem damit verbundenen Gefühl habe, desto geringer die Gefahr eines
Fehlkaufs.

Wissenschaftler legen in einem aktuellen Forschungsbericht zudem
nahe, AR-Nutzer hätten ein Gefühl von physischer Kontrolle über ein
Produkt, dass sie noch gar nicht gekauft haben – und das wiederum
erhöhe die Kaufabsicht. Eine These, die auch vom amerikanischen, auf
experimentelles Verkaufsmarketing spezialisiertes Marktforschungs-
institut Interactions gestützt wird. In einer Umfrage gaben 72 Prozent
der über 1.000 Befragten an, bereits spontan ein Produkt gekauft
zu haben, weil es mit AR-Tools beworben oder präsentiert wurde.
Außerdem seien 40 Prozent der Käufer bereit, mehr für ein Produkt zu
zahlen, wenn es mit AR erlebbar ist.

Hilf mir, Hologramm!

Philipp Rauschnabel, Marketingprofessor der amerikanischen
Universität Michigan-Dearborn, weist darüber hinaus auf ein
weiteres Vertriebsargument hin, das neben der Markenbildung
und dem positiven Image, das sich ein Unternehmen aufbaut,
häufig übersehen wird: den Aspekt der After-Sales-Betreuung. So
ließe sich bei komplexen Produkten mittels AR beispielsweise ein

                                                                    10
DURCHSTARTEN

Servicetechniker im Sichtfeld einblenden, der bei der Wartung oder
Reparatur hilft.
Mit der Möglichkeit, Leute unabhängig von Zeit und Raum an einen
Ort zu transportieren, wie es bislang nicht möglich war, sieht Oliver
Wöhler, Sales Manager der Datenbrille HTC Vive, im Tourismusbe-
reich großes VR-Potential. So könnten insbesondere Reisebüros
davon profitieren, ihre Kunden mittels Datenbrille vorab einen Blick
in die Kreuzfahrtkabine oder das Urlaubsziel auf Kreta, den Male-
diven oder New York werfen zu lassen.

Thomas Cook war im Januar 2015 das erste Tourismusunter-
nehmen, das bewusst auf die VR-Technik setzte, um mit möglichst
realen, 360-Grad-Darstellungen Lust auf den Urlaub zu machen.
Inzwischen sind 880 Reisebüros in Deutschland, Großbritannien
und Belgien mit Datenbrillen ausgestattet. Diese seien, so Carsten
Seeliger, Geschäftsführer Vertrieb, eCommerce, Marketing und
Service von Thomas Cook, „ein weiteres Instrument für unsere
Mitarbeiter, den Kunden im Beratungsgespräch realistische und
authentische Einblicke eines Hotels, einer Destination oder eines
Ausflugs zu geben und bilden eine digitale Ergänzung zum Katalog.

Die zunehmende Verbreitung von AR- und VR-Brillen – das Umfrag-
einstitut Statista erwartet einen Anstieg im weltweiten Verkauf von
AR-Brillen von 100.000 Stück (2016) auf 27,3 Millionen Exemplare
bis 2021 – wird auch dem Vertrieb helfen, ein derzeit noch akutes
Problem anzugehen: mangelnde Akzeptanz bei den Anwendern.
„Bislang scheuen sich viele Nutzer, gerade von VR-Brillen, diese
Technologie bereitwillig zu nutzen“ erklärt Mehler-Bicher. Diesen
Eindruck teilt auch Philipp Rauschnabel. AR und VR seien sowohl
technisch als auch in Bezug auf die Akzeptanz – auf Unternehmen-
sebene und beim Nutzer (Vertriebler und Kunde) – aktuell in etwa
dort, wo sich mobile Devices in den 1990er Jahren befunden hätten.
„Auch Datenschutz und Datensicherheit bergen noch Risiken, da wir
im Gegensatz zu den meisten anderen Technologien nicht nur in die
Privatsphäre des Nutzers eingreifen, sondern auch jener Menschen,

                                                                        11
DURCHSTARTEN

die sich zufällig im Trackingbereich von Kameras und Sensoren
befinden“, so Rauschnabel.

Was ich sehe, kaufe ich

Ein weiterer Grund, warum viele Unternehmen dem Einsatz von VR
und AR skeptisch gegenüberstehen, ist die schwierige Messbarkeit
des Erfolgs. Werden dank virtueller oder angereicherter Realität
tatsächlich mehr Autos oder Kreuzfahrtreisen verkauft als vorher?
Steigende Absatzzahlen konkret auf die neue Technik zurückzuführen,
ist aktuell nicht möglich. Aber, so Audi-Mann Kühne, die Kunden
gäben im Schnitt 500 Euro mehr für die Ausstattung aus, wenn sie
diese vorab mit VR- oder AR-Technik selbst erleben konnten. Und
Kreuzfahrtinteressenten buchen häufiger die teurere Außenkabine,
nachdem sie diese mittels VR-Brille selbst betreten haben.

Welchen Stellenwert die digital angereicherte Realität zukünftig im
Vertrieb einnehmen wird, zeigte sich Anfang Juni auf der Augmented
World Expo (AWE) in Kalifornien, der weltgrößten Messe für AR
und VR. Das Team rund um die österreichischen AR-Software-Ent-
wickler Wikitude war ebenfalls vor Ort und erhielt eine Auszeich-
nung für seine Instant-Tracking-App, die Grundlage sein wird für
ein noch schnelleres, reibungsloseres und lebensechteres AR-Er-
lebnis, beispielsweise für augmentierte Produktkataloge bei Ikea,
SayDuck oder Roomle. Wenn Technologieriesen wie Google, Apple
und Facebook in AR investieren, werde sich der Markt nachhaltig
verändern, erklärt Paula Monteiro, Wikitude Marketing Director: „Wir
erwarten, dass der Vertrieb langfristig die wichtigste Industrie für
AR- und VR-Anwendungen wird. 2020 soll in diesem Bereich bereits
eine Milliarde Dollar investiert werden, um derartige Lösungen im
Vertrieb und e-Commerce zu ermöglichen.“

Dirk Schart war ebenfalls auf der AWE zu Gast. „Man spürte deut-
lich, dass die Ankündigungen der großen Technologieunternehmen
die Branche vorantreiben“, so der Marketingchef der Münchner

                                                                   12
DURCHSTARTEN

Firma Reflekt, die sich auf die Erstellung von AR- und VR- sowie
Mixed-Reality-Inhalten spezialisiert hat und bereits Lösungen für
BMW, Audi und Hyundai/BASF entwickelt hat. Im internationalen
Vergleich sieht Schart deutsche Unternehmen sehr gut positioniert.

AR & VR bald Standardwerk

Mit Ausnahme des US-amerikanischen Technik-Gurus Robert Scoble
sind alle Experten, mit denen wir gesprochen haben, einer Meinung:
VR und AR Reality haben bereits einen relevanten Stellenwert in
zahlreichen Branchen und werden – so wie einst Website und Smart-
phone – in den nächsten Jahren zu einem selbstverständlichen
Vertriebskanal avancieren – wenn auch für jeweils unterschiedliche
Produktbereiche: Während es beim Verkauf von Autos oder Reisen
besser funktioniert, mittels VR komplett in eine eigene Welt einzutau-
chen, will man das neue Sofa oder die Küche lieber inmitten des
eigenen realen Umfelds betrachten.

Trotzdem: Ganz ohne Fleisch und Blut werde der Verkaufsprozess auch
zukünftig nicht funktionieren, prophezeit Interactions-Präsident
Bharat Rupani. Dafür sei die menschliche Interaktion einfach zu wichtig.
Und das ist ein Erfahrungswert, der nicht so schnell verfliegen wird
wie der Hype um das bislang erfolgreichste AR-Spiel aller Zeiten.

                                                                      13
DURCHSTARTEN

                                                                         Fotocredit: Otto-Pressebild
Deutschlands erster
Digital-Pionier
Er gehört zu den reichsten Männern Deutschlands und machte
das Familienunternehmen zu einem der Weltmarktführer.
Michael Otto ist ein Macher. Und ein großer Visionär.

AUTORIN: Britta Schmeis

Michael Otto ist wohl das, was man sich gemeinhin unter einem
hanseatischen Kaufmann vorstellt: bescheiden, bodenständig,
zurückhaltend. Er fällt nicht mit exzentrischen Hobbies auf oder einem
ausschweifenden Lebensstil. Michael Otto ist Mahner, Stifter, Mäzen,
Umweltschützer, Versandhausunternehmer, einer der reichsten
Männer Deutschlands und er ist vor allem ein Pionier.

Als andere noch in ihre Röhrenfernseher schauten und zum
Umschalten vom Sofa aufstehen mussten, dachte er schon über
interaktives Fernsehen nach. Wenig später führte er für seinen
Versandhandel Shopping per CD-Rom ein, 1995 ging der Otto
Versand online. „Er hat sehr früh verstanden, dass sich die

                                                                    15
DURCHSTARTEN

Vertriebswege fundamental ändern“, sagte einmal Freund und
Verleger Hubert Burda über ihn. Im vergangenen Jahr erhielt
Michael Otto den von der Telekom und der Wirtschaftswoche
verliehenen Sonderpreis „Digitalisierungsmacher“. Mit Amazon und
Alibaba gehört die Otto Group inzwischen weltweit zu den größten
Online-Händlern.

Geboren 1943 im westpreußischen Kulm wächst Michael Otto in
Hamburg auf. Bitterarm seien sie gewesen, als sie nach dem Krieg
in Hamburg landeten, erinnert sich Otto. Früh habe er sich mit aller-
hand Gelegenheitsjobs durchgeschlagen. „Ich glaube, das war gut
und wichtig für mich und hat mein späteres unternehmerisches
Handeln stark beeinflusst“, sagt Otto. Es dürften aber auch seine
Eltern gewesen sein, die ihm Mut und unternehmerisches Gespür
mit auf den Weg gegeben haben – ebenso wie seinen vier Geschwi-
stern: Frank ist schillernder Medienunternehmen in Hamburg,
Alexander führt das ECE-Immobilienunternehmen, Schwester

                                                                 Anzeige

                                                                     16
DURCHSTARTEN

Ingvild Goetz ist Kunstsammlerin, Katharina Otto-Bernstein Regis-
seurin. Sie alle verbinden Kunst und Kommerz – auch das ein Erbe
des Vaters.

Ausbildung fernab des väterlichen Unternehmens

Werner Otto gründet 1949 einen Schuhversand. Der erste Katalog
mit 28 Modellen ist noch handgebunden und mit eingeklebten Fotos.
Doch schon wenig später steigt er zur Gallionsfigur des Wirtschafts-
wunders auf. Das Versandhaus wächst stetig, nimmt neue Produkte
in die Palette, geht mit der Zeit. 1964 sind Bestellungen per Telefon
möglich.

Michael Otto macht Abitur, danach absolviert er eine Banklehre in
München, studiert dort und in Hamburg Volkswirtschaft, arbeitet als
selbständiger Immobilienmakler, promoviert. Nur kurze Zeit später,
1971, tritt er in das Unternehmen seines Vaters ein, übernimmt
den Vorstandsbereich Einkauf Textil, dem er eine neue Organisati-
onsstruktur gibt. Der Familienunternehmer setzt auf Innovationen,
technischer wie struktureller Art. Zehn Jahre später übernimmt er die
Führung der Otto Gruppe. Beherzt setzt er auf weltweite Expansion,
trimmt das Unternehmen auf Schnelligkeit und Kundenfreundlichkeit.
In den 80ern wird Otto zum weltgrößten Versandhaus.

Ende der 80er-Jahre versucht sich der umtriebige Unternehmer
zusammen mit Time Warner in Florida am interaktiven Fernsehen.
„Da dachte ich, das ist der Distanzhandel der Zukunft“, erinnert sich
Michael Otto. Das Projekt scheitert, doch es öffnet ihm die Augen für
die Bedeutung des E-Commerce, der sich dank des Internets schon
bald sehr viel einfacher, schneller und kostengünstiger betreiben
lässt. Otto ist der nationalen Konkurrenz damit um Längen voraus.
Kontinuierlich setzt die Otto Group auf die digitale Transformation.
Das Unternehmen führt die virtuelle Anprobe ein, entwickelt Bestell-
möglichkeiten im Internet, auf Tablets, auf dem Smartphone. Inzwi-
schen erwirtschaftet es 90 Prozent seines Umsatzes online. Doch der

                                                                    17
DURCHSTARTEN

stationäre Handel bleibt, ebenso der Katalog als „Ort der Inspiration“.
Er sehe die Zukunft in der Vernetzung von stationärem und Online-
Handel, erklärte Otto unlängst. Zu der Otto Group gehören neben
zahlreichen Onlineshops wie bonprix und myToys auch Einzelhandels-
ketten wie Sportscheck und Manufactum, darüber hinaus der zweit-
größte deutsche Paketzusteller Hermes.

Umweltschutz als Unternehmensziel

Für ihn und in seinem Unternehmen geht die digitale Veränderung
mit dem Kulturwandel einher. Otto muss und will flexibel reagieren
können, führt flache Hierarchien ein, setzt auf Teamarbeit, die Bürof-
lächen sind offen gestaltet, lassen Kommunikation zu. „Das ist eine
ganz wichtige Voraussetzung, um die Digital Natives, die wir dringend
in den Unternehmen brauchen, zu gewinnen“, sagt Otto, der 2007
seinen Vorstandsvorsitz aufgab und seitdem die Geschicke des Unter-
nehmens als Vorsitzender des Aufsichtsrats mit bestimmt.

                                                                                                  Fotocredit: Otto-Pressebild

Unternehmensgeschichte: Links der erste Katalog von 1950, rechts der heutige Online-Shiop.

Michael Otto übernimmt Verantwortung für sein Unternehmen und
seine Mitarbeiter, für die Gesellschaft und die Umwelt. Bereits in den
80er-Jahren verankert er den Umweltschutz als Unternehmensziel,
1993 gründet er die nach ihm benannte Stiftung, die sich für den
Schutz und Erhalt der Lebensgrundlage Wasser einsetzt. Er initiiert

                                                                                             18
DURCHSTARTEN

das Hamburger Hauptschulmodell, ein Konzept, das Schülern den
Übergang in eine berufliche Ausbildung erleichtern soll, er hat zahl-
reiche Ehrenämter, unterstützt Hamburger Museen und spricht sich
für gerechte Besteuerung aus. „Wenn einer gut verdient, kann er auch
mehr zahlen“, sagte er in einem Interview mit dem „Stern“. Seinen
Kindern hat er all das mit auf dem Weg gegeben: Sohn Benjamin
arbeitet im Familienunternehmen, Tochter Janina lebte einige Zeit in
Afrika und engagiert sich in der Entwicklungshilfe.

Michael Otto ist kein Bewahrer, er ist ein Erneuerer und Visionär. Bei
der Verleihung des Digital Champions Award sagte er: „Ich soll Digitali-
sierungsmacher der deutschen Wirtschaft sein? Ich hätte mich wohler
gefühlt, wenn ich den besten Preis für den besten Digitalisierungser-
möglicher erhalten hätte.“ Ein Statement, das viel über den Menschen
und Unternehmer Michael Otto erzählt.

                                                                      19
STEUERN & ENTSCHEIDEN

Lehrstunde bei den jungen
Wilden
Der moderne Kunde nutzt digitale Kanäle, um eigenständig
Produkte zu recherchieren und schreibt lieber E-Mails, als dass
er Telefongespräche führt. Startups sind mit diesem
kundenverhalten groß geworden. Für den klassischen
Vertrieb gibt es hier noch etwas zu lernen.

EIN GASTBEITRAG VON: MARIO PUFAHL

Mehr als die Hälfte aller deutschen Unternehmen nutzen gemäß einer
IDG Studie bereits ein CRM-System. Oftmals werden die CRM-Sys-
teme von den Nutzern jedoch als zusätzliches Management-Kontrol-
linstrument oder zusätzlichen Administrationsaufwand angesehen.

Entsprechend düster sieht die CRM-Realität in Deutschland aus:
Excel-Tabellen sind immer noch präferiert, Cloud ist sowieso böse.
International hingegen gehört schon längst zur Best Practice,
                                                                                                           Fotocredit: Thinkstock/dima_sidelnikov

Startups haben digitalen Vertrieb in ihrer DNA. Der klassische Vertrieb kann hier noch viel lernen.

                                                                                                      21
STEUERN & ENTSCHEIDEN

CRM- und Marketing Automation-Systeme aus der Cloud zu
verknüpfen, um Kundendaten ganzheitlich zu dokumentieren, auszu-
werten und anzuwenden.
Der IDG-Studie zufolge ist für 43 Prozent aller Unternehmen die
Beseitigung von Datensilos die größte Herausforderung. Doch ich
gehe noch einen Schritt weiter und behaupte, dass nicht nur Daten-
silos, sondern auch IT- und Wissenssilos dazu beitragen, dass der
digitale Vertrieb nicht in der digitalen Transformation mithalten kann.

Großunternehmen wünschen sich Innovation und
Flexibilität – Startups leben diese einfach

Nicht zuletzt wegen der limitierten Ressourcen und überschaubaren
Größe haben Startups einen ganzheitlichen Ansatz in der Kundenkom-
munikation, der Marketing und Vertrieb enger verknüpft als es traditi-
onell üblich ist. Hilfreich ist natürlich, dass häufig auf dem „Greenfield“
(als ohne Bestandssysteme) neue Lösungen aufgebaut werden.

                                                                      Anzeige

                                                                         22
STEUERN & ENTSCHEIDEN

Entscheidend ist aber: Startup-Mitarbeiter sehen die Digitalisierung
als „Produktivitätsbooster“ und nicht als Administrationsmonster und
Management-Kontrollsystem. Diese Systeme werden somit in der
Regel agil und konsequent an den Nutzerbedürfnissen entlang aufge-
baut. Die Diskussionen, dass alte Funktionalitäten auch in das neue
System müssen, gibt es hier nicht. Alles, was keinen Nutzen bringt,
fällt einfach weg. So einfach ist das.

Zusätzlich werden die Kommunikationskanäle für den Vertrieb
genutzt, die die oftmals jungen Mitarbeiter auch privat nutzen.
Entsprechend hat sich das sogenannte „Social Selling“ in den letzten
Jahren als Wunderwaffe entpuppt, bei der attraktive Leads und
Entscheider auf sozialen Netzwerken identifiziert und direkt vom
Vertriebsmitarbeiter kontaktiert werden.

5 Startup-Best Practices für den digitalen Vertrieb

1    Marketing und Sales verfolgen gemeinsame Ziele: Je enger
   . Marketing und Vertrieb zusammenarbeiten, desto qualitativ
hochwertiger können Leads generiert und betreut werden.

2     Social Selling ergänzt klassische Vertriebskanäle: Die sozialen
    . Netzwerke (Xing, LinkedIn, Facebook) bieten durch die Fülle der
Informationen, die jedes Profil preisgibt, eine neue Art der Kunden-
akquise. Relevante Kontakte (CxOs, Manager, Entscheider) können so
direkt identifiziert und von einzelnen Vertriebsmitarbeitern persön-
lich kontaktiert werden. Der Datenschutz wird respektiert, aber mit
Augenmaß im Sinne des Unternehmens ausgelegt.

3     Kundenverhalten wird durch Customer Analytics gemessen: In
    . Kombination mit einem Marketing Automation-System lassen
sich Reaktionen auf E-Mails, Social Media-Nachrichten sammeln und
auswerten. Die Kaufbereitschaft, aber auch bevorzugte Kommuni-
kationskanäle und Inhalte können so dokumentiert und im Vertrieb
effektiv eingesetzt werden.

                                                                       23
STEUERN & ENTSCHEIDEN

                           4    Prozesse werden agil erprobt und optimiert: Startups sind
                              . mutiger in ihrer Herangehensweise und probieren sich häufiger
                           aus (nicht zuletzt, weil ihre Infrastruktur und Prozesse nicht so
                           komplex wie in Großunternehmen sind). Strategien werden also nicht
                           monatelang geplant, ausgerollt und beibehalten, sondern werden
                           mit der agilen Methode kurzfristig erprobt, um bei Erfolg ganzheitlich
                           implementiert zu werden. So lassen sich neben den bewährten Stra-
                           tegien immer wieder neue Wege austesten, um Leads und Kunden zu
                           betreuen.

                           5     CRM-Systeme sind maximal integriert: moderne, integrierte
                               . CRM-Anwendungen sorgen dafür, dass nicht nur die
                           Kundendaten und die entsprechenden Kaufphasen, sondern das
                           ganzheitlich Kundenverhalten dokumentiert und in den Vertriebs-
                           strategien berücksichtigt werden kann. Dies ermöglicht eine relevan-
                           tere Kommunikation und eine höhere Erfolgswahrscheinlichkeit für
                           Kaufabschlüsse.

                           Grossunternehmen können somit von Startups in Bezug auf CRM
                           lernen, dass die Projekte schlanker werden müssen und sich zu 100
                           Prozent an den Bedürfnissen der Nutzer orientieren.

                                                      Autor

                                                      Mario Pufahl ist Buchautor, Dozent und
                                                      Vorstand der ec4u expert consultung
                                                      AG sowie Experte für Performancestei-
                                                      gerung im Vertrieb, Vertriebscontrolling
Fotocredit: Mario Pufhal

                                                      und CRM.

                                                      Mehr Informationen unter ww.ec4u.com
                                                      oder www.pufahl.net.

                                                                                                 24
BERATEN & VERKAUFEN

                                                                         Fotocredit: Thinkstock/ Ildo Frazao
„Guten Tag, ich habe Ihren
Blog gelesen“
Facebook, YouTube und ein eigener Blog gehören nicht zum
klassischen Werkzeug eines B2B-Vertrieblers. Die Trend-
erscheinung „Personal Branding“ könnte das ändern. Denn es
winken Expertenstatus und Umsatzzuwächse.

AUTOR: David Krenz         HÖRBAR AUF:

Sebastian Koch ist die Nummer eins. Wer im Netz nach einem Tuto-
rial für „Skoda Connect“ sucht, einer digitalen Assistenz im Auto,
dem zeigt Google als obersten Eintrag Kochs Blog „skoda-portal.de“.
Der heute 33-Jährige ging damit vor sechs Jahren online, nach seiner
Verkäuferausbildung in einem Skoda-Autohaus in Siegen, in dem er
bis heute arbeitet. „Alle meine Kollegen hatten einen Kundenstamm.
Ich hatte nichts“, erzählt er. In Internetforen für Skodafahrer sah er
hunderte offene Fragen. „Also habe ich mein Blog gestartet. Um Hilfe-
stellungen zu geben. Mehr war erst mal nicht dahinter.“
Ohne es zunächst zu ahnen, schuf er eine Marke und feilte mit jedem
Beitrag an ihr. Die Marke heißt: Sebastian Koch, Skoda-Experte.

                                                                    25
BERATEN & VERKAUFEN

Damit fand der Autoverkäufer aus dem bodenständigen Siegerland
früh zu einem Thema, das die Sales-Profession bewegt: Personal
Branding, der Vertriebler als Marke. Verführerisch leicht scheint der
Einstieg, weil jeder die nötigen Tools bereits privat beherrscht: E-Mail,
Messenger, Social Media.

Der Eindruck täuscht. Ist der Personal Brand eine Skulptur, steht am
Anfang ein grober Stein. Große Fragen stellen sich, manche muten
philosophisch an: Wer bin ich? Auch lauern Gefahren: mit unbedachten
Posts Shitstorms zu ernten, Geld für falsche Technik und schlecht
gewählte Domains rauszuwerfen, oder trotz immensen Aufwands in
digitaler Versenkung zu verharren.

Wer die Herausforderungen meistert, dem winken neue Wege. „Man
kann Reputation aufbauen, sich als Experte positionieren, wird in der
Presse erwähnt, für Vorträge gebucht“, sagt Ibrahim Evsan, Berater
für Digitalisierung in Unternehmen. Wer Wissen teilt, macht sich für

                                                                     Anzeige

                                                                        26
BERATEN & VERKAUFEN

die Zielgruppe interessant. Auch könne man Branchentreiber sein,
neue Begriffe besetzen. So steht der Name Matthias Gröbner für das
Thema „Digitale Versicherungen“ und wenn es darum geht, sich von
einem „Eingeborenen“ die wundersame Welt des Internets erklären
zu lassen, fällt vielen seit jeher Sascha Lobo ein. „Ich kann eine
Premiumstellung aufbauen“, sagt Evsan. „Je besser ich digital darge-
stellt bin, je mehr Menschen mir folgen, desto höher ist mein Preis.“
Twitter-Follower als harte Währung, also? „Absolut“, sagt er. „Ein
Meinungsbildner hat einen Preis.“

                                                                                   Fotocredit: Sebastian Geisheimer

Skoda-Experte Sebastian Koch an seinem Arbeitsplatz im Authohaus in Siegen.

Nicht nur Dienstleister, die von Honoraren leben, profitieren von
einem Personal Brand. Auch der Produktvertrieb. Schließlich kauft
jeder lieber gern bei Fachleuten.Das erfuhr auch Sebastian Koch:
Nach einem halben Jahr im Netz kamen erste Leser als Neukunden
ins Geschäft. „Sie stellten Fragen zur Ausstattung, genau im Wort-
laut meines Blogs“, sagt er. Allerdings flogen sie ihm nicht einfach zu.
Für Antworten und Beiträge investiert er eine Stunde täglich, meist
auch am Wochenende. „Die Arbeit ist schon immens“, sagt er. Lange
machte er das nach Feierabend. Weil Koch inzwischen zweifacher
Familienvater ist, wollte er das Bloggen zu Jahresbeginn einstellen.
Der Chef bat ihn, weiterzumachen, künftig in der Arbeitszeit. Ibrahim

                                                                              27
BERATEN & VERKAUFEN

Evsan schätzt, dass 90 Prozent für ihre Arbeit am Personal Brand vom
Arbeitgeber bezahlt werden.

In ihren Workshops säßen inzwischen viele Mitarbeiter von Mittel-
ständlern, sagt Liane Lahl, Gesellschafterin von „Fortis PR“. Die
Münchner Agentur berät im Personal Branding. „Vielen ist erst mal zu
vermitteln, dass Social Selling nicht pures Verkaufen bedeutet, sondern
Kommunikation über Inhalte“, sagt sie. „Platte Ansprachen kommen
nicht an. Man braucht Content.“ Zum Beispiel eine hochwertige Studie,
die man für seine Follower auswertet und zur Verfügung stellt.

Die Leistungen der Agentur und ihrer Mitbewerber reichen vom Kurz-
workshop, der lehrt, ein digitales Profil aufzubauen, bis zur Gesamt-
betreuung inklusive des Schreibens der Social-Media-Posts, nicht
jeder Experte besitzt Schreibtalent. Zu Beginn jeder Beratung werden
mit dem Kunden elementare Fragen geklärt: Wofür er steht, was und
wen er erreichen will, welche Geschichte er zu erzählen hat. Wer die
Antworten verinnerlicht, verzettelt sich nicht und schafft auf Dauer
einen erfolgreichen Brand.

Für Sebastian Koch hieß es damals Versuch und Irrtum. Er probierte
Instagram, „das sich vielleicht besser für jemand eignet, der Lambor-
ghinis verkauft“, wechselte die Ansprache von „Du“ auf „Ihr“. Nie feilen
musste er an der Auswahl seiner Themen – sie kommen verlässlich
zu ihm. „Höre ich zweimal die gleiche Frage, recherchiere ich bis ins
Detail. Ohne Blog würde ich mich nie so vertiefen.“ So bleibt er am
Ball, sammelt Expertenwissen – von dem dann auch der Kunde im
Geschäft profitiert.

                                                                      28
BERATEN & VERKAUFEN

                                                                         Fotocredit: Laci Perenyi
Auf eine Halbzeit mit Urs Meier
Ob Zinedine Zidane oder Michael Ballack: Jeder musste gehorchen,
wenn Urs Meier zur Pfeife griff. Heute hält der ehemalige Fifa-
Schiedsrichter Vorträge über genau das: Entscheiden in schwierigen
Situationen. Wir sprachen in 45 Minuten mit ihm über die Höhepunkte
seiner Laufbahn, das Land mit den schmackhaftesten Rasen und
seine eigene Karriere als Vertriebler.

AUTOR: Norbert Wessendorf

Business Developer: Herr Meier, was war die schwierigste Entschei-
dung in Ihrer Laufbahn als Schiedsrichter?
Urs Meier: Da muss ich kurz überlegen. Also eigentlich war die
schwierigste Entscheidung, den richtigen Zeitpunkt für das Ende
meiner Karriere zu finden. Da hatte ich am längsten mit zu tun. Die
Entscheidungen auf dem Fußballplatz waren für mich nie schwierig.
Da war für mich immer relativ klar, was zu tun ist.

BD: Was hat Ihnen die Entscheidung, aufzuhören, leichter gemacht?
UM: Ich hatte mir ursprünglich gesagt, die Weltmeister-
schaft 2002 mache ich noch und dann ist Schluss. Während der

                                                                    29
BERATEN & VERKAUFEN

Weltmeisterschaft habe ich aber gemerkt, dass da noch viel Freude
und Herzblut ist. So wurde es 2004, denn da war ja noch die Europa-
meisterschaft. Danach sollte Schluss sein. Es kam aber etwas
anders. Mit der Kampagne der Engländer, da konnte ich nicht einfach
aufhören. Dann hätte es geheißen, da ist er schwach geworden. Also
musste ich noch ein halbes Jahr anhängen – und das war auch gut so.

BD: Sie sprechen das Viertelfinale England gegen Portugal an. Nach
einem nichtgegeben Tor in der 90. Minute fühlten sich viele englische
Fans um ihr EM-Glück betrogen. Es gab sogar Morddrohungen gegen
Sie. Das hat den öffentlichen Druck, der auf Schiedsrichtern lastet,
sicherlich nur erhöht. Auch Vertriebler stehen oft unter Druck, da von
ihrer Leistung im Verkauf alles abhängt. Wie sind Sie mit diesem
Leistungsdruck umgegangen?
UM: Indem ich den Druck nie angenommen habe. Es gibt zwei
Arten von Druck: Den Erwartungsdruck von außen, den die Heim-
mannschaft oder das Heimpublikum versucht aufzubauen. Und es
gibt den Druck, den man sich selbst macht: Das ist jetzt ein großes
Spiel, da muss alles klappen, sonst ist meine Karriere gefährdet
und ich kriege keine solchen Spiele mehr. Oder die Frage, wie stehe
ich nachher in der Öffentlichkeit da? Da sollte man sich nicht zu
große Gedanken machen, sondern es auf die Seite schieben. Es ist
wichtig mit positiven Bildern in diese Spiele rein zu gehen und nicht
mit negativen. Man sollte mit der Einstellung in ein Spiel gehen: Ich
bin jetzt einer der besten Schiedsrichter der Welt und habe es mir
verdient, dieses Spiel zu pfeifen. Und nach dem Spiel werden die
Zuschauer zufrieden sein mit dem Spiel.

Das ist immer meine Art gewesen. Ich bin ein sehr positiver Mensch
und sehe immer nur das positive. Das erleichtert einem die Sache
ungemein. Ich weiß von Kollegen, die nur durch das Aufgebot für ein
wichtiges oder schwieriges Spiel kaum mehr schlafen konnten und
nur noch von Druck sprachen. Das war mir total fremd.

                                                                     30
BERATEN & VERKAUFEN

BD: Hatten Sie denn vor diesen Spielen ein Ritual? Etwa Glückssocken,
die Sie am Morgen des Spiels angezogen haben?
UM: Mein Ritual begann schon am Abend vor dem Spiel beim
Einschlafen. Bei den internationalen Spielen unter der Woche habe
ich im Hotelzimmer immer dieselben Bilder im Kopf gehabt: Schluss-
pfiff, beide Mannschaften kommen zu mir und bedanken sich,
umarmen sich gegenseitig, die Zuschauer stehen auf und applau-
dieren und gemeinsam laufen wir unter den Zuschauern in die Kata-
komben. Dann hatte ich noch ein Ritual direkt vor dem Spiel beim
Einlaufen. Ich habe immer gesagt: Ich darf nichts als Ritual haben,
was ich vergessen kann. Viele meiner Kollegen hatten einen Socken,
ein Badetuch oder Amulett. Wenn das aber fehlt, ist die Aufregung
groß. Was ich also gemacht habe, war folgendes: Beim Warmlaufen
vor dem Spiel gab es eine Phase, in der ich zwei, drei Minuten für
mich war. Dann habe ich ein Stück Rasen ausgerissen, daran gero-
chen und auch draufgebissen, um so eine Verbindung zum Rasen
herzustellen. Dann habe ich mir wieder vorgestellt, was für ein
schönes Spiel es sein wird. Und dann habe ich den Rasen mit Power
fortgeworfen und gesagt: So, jetzt geht es los.

BD: Gab es da einen Rasen, der besonders gut geschmeckt hat?
UM (lacht): Ja, meistens waren es die Rasen in den unteren Liegen,
die nicht groß mit Pestiziden bearbeitet wurden. Die Rasen in den
großen Stadien waren meistens nicht sehr angenehm. Da konnte ich
schmecken, dass viel Chemie im Spiel war. In der Türkei waren die
Rasen eigentlich immer am besten. Denn dort haben sie die Halme
immer lang wachsen lassen. Sie wollten nicht die schnellen Spiele –
vor allem nicht, wenn sie gegen die Engländer gespielt haben.

BD: Stichwort Türkei: Die Spiele dort sind oft von Emotionen und großer
Leidenschaft geprägt und bisweilen auch sehr hitzig. Sie haben in einem
Interview erzählt, dass Sie sich immer auf die kulturellen Begeben-
heiten und Unterschiede vorbereitet haben, bevor sie ein Spiel gepfiffen
haben. Gab es da bestimmte Mannschaften und Spieler, auf die Sie sich
besonders intensiv vorbereiten mussten?

                                                                      31
BERATEN & VERKAUFEN

UM: Wenn Du die Mentalität nicht kennst, dann wird es schwierig,
die Spieler richtig anzusprechen. Je schlechter ich die Kulturen
kannte, desto mehr habe ich versucht, mich auf die Kulturen einzu-
stellen. Ich hatte in der Anfangsphase meiner Karriere den Vorteil,
dass wir immer viele kleine Länderspiele hatten. Wir hatten Türk
Aarau, Mladost Aarau, das war ein jugoslawischer Verein, und Espa-
gñol Aarau. Später habe ich gemerkt, dass die großen Mannschaften
genau die gleiche Mentalität hatten, wie die aus Aarau. Die türkische
Nationalmannschaft hat eigentlich genau die selbe Mentalität
gehabt wie Türk Aarau in der zweituntersten Liga.

Was ich aber nicht gekannt habe, war Südkorea. Ich hatte mich zwar
mit der Kultur dort auseinander gesetzt, war dann aber trotzdem
überrascht. Es kam auf dem Platz überhaupt keine Reklamation.
Keine Reaktion auf eine Entscheidung. Und das irritiert unglaublich.
Wenn du jetzt einen Elfmeter gibst oder einen Freistoß kurz vor dem
Strafraum, dann erwartest du Reaktionen von den Spielern. Aber
da kam nichts. Beim zweiten Spiel, Südkorea gegen Deutschland,
da wusste ich es, da war es dann auch einfacher. Man muss sich
im Vertrieb auch auf die Firmenkultur einstellen, dass man da nicht
überrascht wird.

BD: Was war Ihnen denn lieber? Viele Einwände oder besser gar keine
Reaktion?

                                                                 Anzeige

                                                                    32
BERATEN & VERKAUFEN

UM: Für mich ist Fußball ein Sport mit Emotionen. Wenn keine
Emotionen von den Spielern kommen, dann fehlt da was. In diesen
90 Minuten muss etwas passieren. Ich hab das gern gehabt, damit
umzugehen. Die 22 verschiedenen Charaktere auf dem Platz richtig
anzusprechen, das war eine Herausforderung, die mir Spaß gemacht
hat. Aber dafür muss man sich eben auch entsprechend vorbereiten.

                                                                                                  Fotocredit: DOMENICO STINELLIS

Immer auf Ballhöhe und nah am Geschehen: Hier hilft Urs Meier dem damaligen Kapitän der
italienischen Nationalmannschaft, Fabio Cannavaro, während der Europameisterschaft 2004 in
Portugal wieder auf die Beine.

BD: Gab es da auch einzelne Spieler, auf die Sie sich besonders vorbe-
reitet haben? Ich denke da zum Beispiel an einen Gennaro Gattuso vom AC
Mailand, der auf dem Platz vielleicht nicht die angenehmste Person war.
UM: Ja, die gab es. Aber Gattuso ist ein Spieler gewesen, mit dem
habe ich nie Probleme gehabt. All diese harten, aber fairen Spieler
muss man wie jeden anderen Spieler behandeln. Wer mit Vorurteilen
in ein Spiel geht, der ist nicht mehr neutral. Vor jedem Spiel beginnt
es wieder bei null. Sonst nimmt das Umfeld das auch wahr und dann
wird es für den Schiedsrichter ganz schwierig. Aber Gattuso war ein
harter Spieler, so ein richtiger Terrier. Gleichzeitigt war er für mich
nicht unfair. Er ist zum Beispiel nicht mit offener Sohle reingerutscht.

                                                                                             33
BERATEN & VERKAUFEN

Der Fuß war immer am Boden. Für mich war klar: So lange er das fair
und hart macht, ist das Fußball. Und jede Mannschaft braucht einen
solchen Spieler.

BD: Was bedeutet das für einen Vertriebler in der Vorbereitung?
UM: Bei all der Vorbereitung sollte man sich eine gewisse Unbefan-
genheit bewahren. Denn wenn Du rein gehst und Entscheidungen
auf Grundlage von Vorurteilen triffst, sind sie beeinflusst. Wenn sie
beeinflusst sind, gerade als Schiedsrichter, dann schlägt das immer
auf einen zurück. Das bedeutet für den Vertriebler: Auch wenn mit
dem Kunden mal etwas vorgefallen ist, positiv oder negativ, immer
wieder zu versuchen, wertfrei in eine Verhandlung zu gehen.

BD: Jetzt sind wir schon beim Verkaufsgespräch angelangt. Schieds-
richter wie auch Vertriebler genießen eine gewisse Autorität und sollten
beim Spieler oder Kunden auch eine Vertrauensperson sein. Wie sollte
man auftreten, um dieser Rolle gerecht zu werden?
UM: Ich denke, man sollte sich immer auf Augenhöhe begegnen.
Wenn ich jetzt den Fußball nehme: Zu meiner Zeit haben noch der
dicke Ronaldo, Ronaldinho und Zidane gespielt. Aber ob Müller,
Meier oder Huber: Ich habe jedem Spieler gezeigt, dass ich ihm auf
Augenhöher begegne. Du hast jetzt keinen Vorteil, weil du Zidane
heißt, aber auch keinen Nachteil, weil du Huber heißt. Wenn die das
spüren, dann habe ich die Achtung von beiden. Das ist der Schlüssel
für langfristigen Erfolg.

BD: Eine weitere Parallele zwischen dem Beruf als Schiedsrichter und
als Vertriebler sind digitale Hilfsmittel. Macht für Sie die Torkamera die
Aufgabe des Schiedsrichters schwieriger, weil sie eventuelle Fehlentschei-
dungen aufdeckt?
UM: Bei der Torkamera ist es eine ganz klare Erleichterung. Wenn
der Ball um ein paar Zentimeter hinter der Linie ist und dann heraus-
geschlagen wird, dann wusstest du ganz genau: Das hat jetzt die
ganze Welt gesehen und du hast falsch entschieden. Da hatte man
vor jedem Spiel den Gedanken: Hoffentlich passiert das nicht. Dieser

                                                                        34
BERATEN & VERKAUFEN

Unsicherheitsfaktor ist jetzt weg. So kann sich der Schiedsrichter auf
andere Situationen konzentrieren.

BD: Würden Sie das gleiche über den Videobeweis sagen, den viele
fordern?
UM: Das kann ich nicht genau sagen. Bei einem Tor kann man immer
sagen: Das ist ein Tor oder nicht. Handspiele, Foulspiele und Abseits-
situationen sind nicht immer eindeutig. Auf dem Platz hat man eine
andere Wahrnehmung, als vor dem Bildschirm. Wenn der Schieds-
richter dann vom Videoschiedsrichter überstimmt wird, dann musst
du vielleicht 70 Minuten mit dem Bewusstsein weiterpfeifen, etwas
falsch gemacht zu haben. Ich bin also nicht überzeugt, dass das die
ganz große Hilfe ist.

BD: Wie sind Sie im Nachgang an ein Spiel mit Fehlentscheidungen
reagiert?
UM: Indem ich offensiv damit umgegangen bin. Wenn ich einen
Elfmeter gegeben habe, war ich mir sicher, dass es einer war. Wenn
ich vom Platz kam und an der Reaktion der Journalisten sehe,
dass es vielleicht keiner war, muss ich mir vor meinem Statement
anschauen, was die Leute im Fernsehen gesehen haben. Wenn es
dann kein Elfmeter war, dann muss ich mich hinstellen: Verdammt
noch mal, aus meiner Optik habe ich eine Berührung gesehen, aber
auf den Fernsehbildern war es kein Elfmeter. Dann muss ich klar
sagen: Das war keiner. Und dann fürs nächste Mal mein Stellungs-
spiel verbessern, damit ich solche Situationen besser einschätze.
Also die Fehler zugeben und nichts beschönigen. Ausflüchte interes-
sieren kein Schwein.

BD: Man muss all seine Entscheidungen also verkaufen können. Vor und
während Ihrer Karriere als Schiedsrichten waren Sie auch im Vertrieb
tätig.
UM: Ja, ich habe ein Unternehmen für den Vertrieb von Haushalts-
und Küchengeräten mit 25 Mitarbeitern aufgebaut. Ich brauchte
die Freiheit, um meine Tätigkeit als Schiedsrichter möglichst

                                                                     35
BERATEN & VERKAUFEN

professionell gestalten zu können. Deswegen musste ich mein
eigener Chef sein. Innerhalb kürzester Zeit war ich viertgrößter
Miele-Händler in der Schweiz.

BD: Wie haben denn Kunden reagiert, wenn Urs Meier im Verkaufsge-
spräch vor ihnen stand?
UM: Am Anfang war ich natürlich noch nicht so bekannt, da habe
ich noch in der vierten Liga in der Schweiz gepfiffen. Aber später hat
es mir sicherlich einige Türen geöffnet, wenn ich einen Gespräch-
stermin mit einem Architekten und einem größeren Händler haben
wollte. Da hieß es dann „Urs Meier? Der Urs Meier? Ja natürlich
dürfen Sie vorbei kommen!“. Und mit dem Fußball hatte man dann
gleich schon ein gutes Gesprächsthema.

BD: Entscheiden und verkaufen lag Ihnen also schon immer im Blut.
UM: Ich glaube schon. Denn auf dem Fußballfeld als Schieds-
richter muss man diese Entscheidungen gut verkaufen. Da gibt es
Schiedsrichter, die machen viele gute Entscheidungen, verkaufen
sie aber schlecht. Und dann gibt es Schiedsrichter, die machen viele
schlechte bis mittelmäßige Entscheidungen, verkaufen sie dann aber
verdammt gut. Und wer sich auf dem Fußballfeld gut verkauft, der
kommt in der öffentlichen Wahrnehmung besser weg. Man muss
von dem, was man da macht, überzeugt sein – wie im Vertrieb auch.

BD: Gibt es noch andere Schlüsselelemente, mit der man eine Entschei-
dung verkauft?
UM: Mit der Geschwindigkeit der Entscheidung. Wer als Schieds-
richter zögert, der verkauft seine Entscheidung schlecht. Ich muss
physisch präsent sein. Geschwindigkeit, Nähe und Körperspannung.
Wenn ich in der 90igsten einen Elfmeter gebe, während ich mit
Körperspannung drei Meter hinter der Aktion stehe, dann gibt es
gar keine Zweifel an der Entscheidung. Wenn ich aber nach einem
40 Metersprint völlig ausgepumpt ankomme und auf den Elfmeter-
punkt zeige, ja, was ist denn das? Und genauso ist es im Verkauf.
Da müssen bei Fragen die Antworten gleich kommen, weil ich die

                                                                     36
BERATEN & VERKAUFEN

                                      Kenntnisse habe und weil ich überzeugt bin von dem, was ich tue.
                                      Dann ist auch beim Käufer das Gefühl da, gut aufgehoben zu sein.
                                      Ohne Sicherheit, ohne Spirit ist die Glaubwürdigkeit weg.

                                      BD: Was würden Sie Ihren Nachwuchskollegen im Schiedsrichterbereich
                                      und auch Vertrieblern in Sachen schwere Entscheidungen mit auf dem
                                      Weg geben?
                                      UM: Schwere Entscheidungen sollten nicht in Sekundenbruchteilen
                                      getroffen werden. Da braucht es Überlegungen. Und dann sollte man
                                      die Entscheidung auch treffen und konsequent dabei bleiben.

                                                              Interview

                                                              Urs Meier pfiff bis zum Ende seiner
                                                              Schiedsrichter-Karriere 2005 883 Spiele.
                                                              Zu den Highlights gehörten dabei das Halb-
Fotocredit: Urs Meier Management AG

                                                              finale der WM 2002 zwischen Deutschland
                                                              und Südkorea und das Championsleague-
                                                              Finale zwischen Real Madrid und Bayer
                                                              Leverkusen im selben Jahr. Mittlerweile lebt
                                                              der dreifache Vater mit seiner Familie in
                                                              Andalusien.

                                                                                                         37
BERATEN& VERKAUFEN

                                                                           Fotocredit: Thinkstock/ ojogabonitoo
Kosten gespart und
Stresslevel erhöht
Die mit der Digitalisierung einhergehenden Veränderungen werden
in der Arbeitswelt als großer Stressfaktor wahrgenommen.
Doch was sind die wichtigsten Stressauslöser in der digitalen Welt
und wie kann man damit bestmöglich umgehen?

EIN GASTBEITRAG VON: Sevira Patricia Landsberg

Fast täglich kann man branchenübergreifend Berichte lesen, dass
der digitale Wandel ganze Berufsgruppen ersetzen wird. Allein schon
diese Nachrichten lösen bei vielen Menschen Stress aus. Wie soll
es weitergehen, wenn der langjährig ausgeübte Job einem digitalen
Prozess zu Opfer fällt? Fakt ist: Digitalisierung bringt massive Verän-
derungen, die oftmals schneller passieren, als wir Veränderungen in
früheren Jahren erlebt haben. Wer nun jedoch in Ängsten und Sorgen
versinkt und eine Rolle der passiven Wehrlosigkeit einnimmt, macht
seine Situation nicht unbedingt besser und erhöht eher den inneren
Stress. Eine sinnvollere Strategie könnte sein, sich der eigenen Quali-
täten bewusst zu werden, die eben nicht digitalisiert werden können:

                                                                      39
BERATEN & VERKAUFEN

eigenständiges, kreatives Denken und Sozialkompetenz sind nur zwei
davon.

      Tipp: Begegnen Sie den Veränderungen der Digitalisierung mit
  in einer offenen, neutralen Grundhaltung. Nutzen Sie die eigene
  Energie eher dazu, Neues im Zuge der digitalen Veränderung zu
  lernen, sich konstruktiv einzubringen und Chancen zu entde-
  cken, anstatt im Widerstand zu verharren. Stellen Sie sich Ihren
  Ängsten realistisch und scheuen Sie sich nicht, sich hierbei unter-
  stützen zu lassen, zum Beispiel durch einen Coach.

Zunehmender Zeitdruck

Durch die Digitalisierung wird alles schneller und damit bleib mehr Zeit
für neue Marktchancen? Häufig ist das eine Illusion. Digitalisierung

                                                                   Anzeige

                                                                        40
BERATEN & VERKAUFEN

fordert eher mehr Zeitaufwand – zumindest in Übergangsphasen.
Ganze Arbeitsprozesse müssen oftmals vollständig neu strukturiert
werden, um digitale Prozesse funktionsfähig aufzusetzen. Diese
Übergangsphasen werden oft unterschätzt: das Tagesgeschäft läuft
weiter und man hat erstmal doppelte Arbeit zu leisten, solange die
analogen Prozesse parallel laufen. Auch wenn „Höher, schneller,
weiter“ für die Digitalisierung ein attraktives Ziel sein mag – immer
mehr Unternehmen registrieren, dass die zunehmende Überforde-
rung von Arbeitnehmern ihren Preis hat. Hohe Krankenstände können
Chefs darauf hinweisen, dass sich Arbeitnehmer zu wenig gehört
fühlen.

      Tipp: Bauen Sie konsequent Pufferzeiten für Unvorhergese-
  henes ein. Wenn Sie Chef sind, nehmen Sie Hinweise auf zeitliche
  Engpässe Ihrer Mitarbeiter ernst und hinterfragen Sie wertschät-
  zend und detailliert, wo genau das Problem liegt. Als Mitarbeiter:
  melden Sie Engpässe frühzeitig und ohne das Gefühl, an Zeitvor-
  gaben gescheitert zu sein. Digitalisierung ist in den wenigsten
  Fällen bis ins letzte Detail planbar, somit ist Unvorhergesehenes
  eine Lernchance und kein Versagen.

Mangelnde Kompetenz im Umgang mit digitalen Tools

Die neue App für virtuelle Projektarbeit ist gerade geschult worden,
und man hat sich jede Menge Wissen angeeignet, was sie alles kann.
Doch dann kommt der Alltag – mit vielen Fragezeichen: Wie struk-
turiere ich die Arbeitsabläufe im konkreten Projekt und wie nutze ich
das neue Tool tatsächlich effektiv? Hier droht Überforderung. Stress
und Frust stellen sich ein, wenn die angeblich so intuitiv nutzbare
Anwendung eben doch nicht so flüssig in den Alltag übertragbar ist.
Die Folge: Oft wird nur ein kleiner Teil von Möglichkeiten eines Tools
genutzt, der Rest gerät in Vergessenheit – und die Arbeitserleichte-
rung kann sich gar nicht erst einstellen.

                                                                       41
BERATEN & VERKAUFEN

      Tipp: Nutzen Sie in der Einführungsphase unbedingt
  Austausch, Praxisnähe und Testphasen in der eigenen Arbeits-
  welt, anstatt sich nur Theorie oder schlecht übertragbare
  Beispiele anzueignen. Halbwissen und mangelnde Umsetzungs-
  kompetenz sind im Umgang mit digitalen Tools ein nicht zu
  unterschätzender Stressfaktor, der sich nicht von alleine auflöst.
  Trauen Sie sich, so lange Fragen zu stellen und Alltagssituationen
  durchzuspielen, bis Sie alles für Ihren Arbeitsplatz Wichtige gut
  einsetzen können.

Ausbleibende persönliche Kontakte

Gestern noch die Kollegen im Nebengebäude besucht – heute soll nur
noch das Chatforum zum Austausch genutzt werden? Der freundliche
Kollege kommt auf einmal gar nicht mehr freundlich rüber – denn
wir kommunizieren im Chat ja zeitsparend kurz und knapp! Bedenk-
lich ist, dass bei so manch digitalem Effizienzstreben Werte wie
Freundlichkeit, aufmerksamer Umgang und kleine, nette Gesten im
persönlichen Miteinander verloren gehen. Bedenklich deshalb, weil
das natürliche Urbedürfnis nach emotionaler Verbundenheit auf der
Strecke bleibt. Mit erschreckenden Folgen für die psychische Gesund-
heit des Einzelnen und der Unternehmenskultur im Ganzen: das, was
ein Unternehmen lebendig hält und was viele Mitarbeiter bislang
gerne investieren an Motivation, Lebenszeit und Herzblut, fällt der
Digitalisierung zum Opfer, wenn die emotional spürbare Resonanz des
persönlichen Kontaktes ausbleibt.

      Tipp: Chats und andere digitale Plattformen sind bedingt
  geeignet für eine wirklich fruchtbare Zusammenarbeit und
  erfordern eine gute Vertrauensbasis. Für Konflikte sind digitale
  Foren gänzlich ungeeignet, ebenso für komplexeren Austausch

                                                                       42
Sie können auch lesen