Virtual Reality im Vertrieb - "Guten Tag, ich habe Ihren Blog gelesen" S. 25 - No. 1 - Katalog der Deutschen Nationalbibliothek
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No. 1 Sommer 2017 ePaper für modernes Vertriebsmanagement Virtual Reality im Vertrieb „Guten Tag, ich habe Ihren Blog gelesen“ S. 25 Urs Meier im Interview S. 29 Stresslevel im digitalen Vertrieb S. 39
EDITORIAL Liebe Leserinnen und Leser, die Digitalisierung hat kaum einen Wirtschaftszweig so hart getroffen wie den Nachrichtenmarkt. Sicher geglaubte Einnahmequellen und damit mitunter fürstliche Gehälter waren Anfang der 2000er quasi über Nacht versiegt. Dazu kam ein sich veränderndes Konsumenten- verhalten: Alles muss sofort und überall verfügbar sein. Droht dem Vertrieb ein ähnliches Schicksal? Eher nicht (S. 20, 57 & 61). Doch der Siegeszug des Digitalen verändert seine Rahmenbedin- gungen. Mit den unwiderstehlichen Argumenten einer direkten Kommunikation und verringerter Wartezeiten bietet die Digitalisie- rung dem einzelnen Vertriebler aber auch neue Möglichkeiten (S.24 & S. 52). Und dank Virtual- & Augmented Reality lassen sich auch die größten Produkte beim Kunden erlebbar machen (S. 7). Vertriebler müssen sich also entscheiden, wer sie in der digitalen Welt sein wollen. Pioniere oder Nachzügler? Eine einfache Entschei- dung im Großen, auf die viele schwierige Entscheidungen im Kleinen folgen. Wie aus vielen kleinen, richtigen Entscheidungen ein gelun- genes Ganzes entsteht, das weiß Ex-Fifa-Schiedsrichter Urs Meier aus eigener Erfahrung (S. 28). Mit ihm haben Sie ohnehin mehr gemeinsam, als Sie bislang vielleicht geglaubt haben. Aber lesen Sie selbst. Ihr Norbert P. Wessendorf Managing Editor Business Developer 2
INHALTSVERZEICHNIS BERATEN & VERKAUFEN 29 Auf eine Halbzeit mit Urs Meier 01/2017 THEMA: Digitaler Vertrieb Mein Bester Ratschlag ....................... 5 Vertriebler sucht Einkäufer mit Was Pokémon Go den großem Budget ............................................. 54 Vertrieb gelehrt hat ................................. 7 Big Data ist noch kein Thema Deutschlands erster Digital- im Vertrieb ........................................................... 58 Pionier ....................................................................... 15 Wir müssen Kundenbedürf- Lehrstunde bei den jungen nisse noch besser kennen .............. 63 Wilden ........................................................................ 21 Die Topseller von morgen ............... 78 „Guten Tag, ich habe Ihren WANTED! Vertriebsmanager & Blog gelesen“.................................................... 25 Vertriebsstrukturen ................................. 79 Auf eine Halbzeit mit Nach der Datenflut kommt die Urs Meier................................................................ 29 Klagewelle ............................................................ 84 Kosten gespart und Stress- Dealer der Ausgabe ................................. 88 level erhöht ........................................................ 39 Die Baustelle in Deutschlands Vorzeigebranche .......................................... 44 Gut angezogen im Büro - trotz Verbandsseiten ........................................... 68 eCommerce ......................................................... 49 Impressum ......................................................... 89 3
DURCHSTARTEN Mein bester Ratschlag Ob Einsteiger oder gestandener Vertriebler: einen guten Ratschlag kann jeder gebrauchen. Deshalb haben wir in der Community nachgefragt, welchen Ratschlag Vertrieblerinnen und Vertriebler zu welchem Zeitpunkt von wem erhalten haben – und warum dieser Ratschlag der Beste war. D en Preis kannst du später immer noch senken. Ihn später zu erhöhen ist fast unmöglich. Konzentriere Dich darauf, Deinen Preis durchzu- setzen‘, riet mir mein Mentor John Lefor vor zehn Foto: Ingo Dahm Jahren. Dr. Ingo Dahm, CEO von New Web Technology Z uhören und verstehen – und möglichst wenig selber reden. Denn im Vertrieb ist entscheidend zu verstehen, dass verschiedene Kunden fast nie die exakt gleichen Wünsche und Foto: Puma Erwartungen haben. Silja Hintz ist Head of Sales DACH bei Puma K eine Angst vor Herausforderungen oder davor, dass etwas nicht auf Anhieb klappt. Gelingt es einmal nicht gleich, ist es wichtig, sich gleich wieder aufs Pferd zu setzen. Foto: Wrike Jana Metz, Teamlead int. Vertrieb bei Wrike. 5
DURCHSTARTEN W Fotocredit: DEIN MÜNCHEN e.V. enn du redest, wiederholst du nur, was Du schon weißt‘, erklärte mir mein erster Manager. ,Wenn du zuhörst, lernst du vielleicht etwas über den potenziellen Kunden, der dir gegenüber sitzt.‘ Thomas Koenen, Sales Director CEE bei Rich Relevance G rößenwahnsinnig, Genial, Gierig‘. Ein Zitat von Dieter Nass, meinem ersten Coach in meiner beruflichen Laufbahn. Es gibt viele andere Komponenten, die für den Erfolg eine Rolle spielen. Aber man muss sich selber Fotocredit : Jaewoo Hyun eingestehen und auch nach außen hin kommunizieren, dass man weltweit der oder die Beste ist. Jaewoo Hyun, Sales Director bei Accenture. E in Freund hat mir damals empfohlen, als Soft- ware-Vertriebsmann zu starten. Das war die Fotocredit: Qualtrics beste Entscheidung meines Lebens. Ein besonderes Highlight ist für mich, dass man als Vertriebler sehr viele Freiheiten genießt: Ob ich erfolgreich bin und einen hohen Verdienst habe, hängt alleine von mir ab. Wolfgang Sölch ist Head of Enterprise Sales Central Europe bei Qualtrics 6
DURCHSTARTEN Fotocredit: Niantic Inc. Was Pokémon Go den Vertrieb gelehrt hat Immer mehr Unternehmen erkennen das Potenzial von Virtual- und Augmented Reality für den Vertrieb. Aber werden sie in Zukunft zum Standard im Verkaufsgespräch? AUTOR: Florian Sturm Vor einem Jahr, am 6. Juli 2016, veränderte Dennis Hwang ein Stück weit die Welt. An diesem Mittwoch veröffentlichte er mit seinem Team der US-Softwarefirma Niantic das ortsbasierte Smartphone-Spiel Pokémon Go. Innerhalb kürzester Zeit brach die App alle Rekorde. Auch wenn der ganz große Hype inzwischen vorüber scheint, wurde das Thema Augmented Reality damit über Nacht salonfähig. Bis heute wurde das Spiel weltweit über 750 Millionen Mal heruntergeladen. Was als bloßer Zeitvertreib für die digitale Generation begann, avan- cierte mittlerweile zum Milliardenmarkt. Auch die Vertriebsbranche hat das gigantische Potenzial von Augmented und Virtual Reality (AR, VR) inzwischen erkannt. 7
DURCHSTARTEN Tatsächlich habe der Rummel um Pokémon Go das AR-Thema ins Bewusstsein einer breiten Öffentlichkeit gerückt, sagt Martin Wild, Chief Digital Officer von MediaMarktSaturn. Deswegen sei aktuell der perfekte Zeitpunkt, die Thematik wieder afzugreifen, führt er mit Hinblick auf die im Mai gestartete HoloTour weiter aus. In 20 ausgewählten deutschen Märkten haben Kunden die Möglich- keit, einen Blick in das „Shoppingerlebnis der Zukunft“ zu werfen: Ausgestattet mit der HoloLens, einer AR-Brille von Microsoft, werden die Kunden vom Avatar Paula durch (reale) Saturn-Märkte geführt und erhalten zusätzliche, digitale Informationen zu drei unterschiedli- chen Produkten (Samsung S8, Microsoft Surface Pro4, Dyson Big Ball Allergy). Die HoloTour sei zunächst ein erster Test der Technologie, so Wild, doch das Feedback sei derart positiv, dass bald ähnliche interak- tive und personalisierte Shopping-Lösungen präsentiert würden. Das Auge geht auf Reisen Bekannt wurden Virtual und Augmented Reality in der Spiel- und Unterhaltungsbranche: Mittels bestimmter Hardware, beispielsweise einer VR-/AR-Brille, dem Smartphone oder Tablet, wird die Realität entweder mit akustischen/visuellen Elementen angereichert (AR), oder aber der Nutzer taucht komplett ab in eine virtuelle Realität, die komplett losgelöst ist vom eigentlichen Hier und Jetzt (VR). Beide Ansätze bieten zahlreiche Vorteile für den Vertrieb, weiß Anett Mehler-Bicher. Die Marketingexpertin forscht an der Hochschule Mainz in den Bereichen E-Business und Augmented Reality. „Mit AR und VR lässt sich die sogenannte Time-to-Content minimieren – der Käufer erhält also schneller und zielgerichteter relevante Informati- onen. Außerdem können Erklärungsprozesse automatisiert und opti- miert werden.“ Martin Kühne, Digital Business Strategy/Customer Experience von Audi, hebt einen weiteren Aspekt hervor. Der Automobilhersteller nahm als erstes deutsches Unternehmen den Abzweig in Rich- tung VR/AR – und positionierte sich damit vor allem gegenüber der 8
DURCHSTARTEN Konkurrenz auf der Überholspur. Über seine VR -Technologie bietet Audi derzeit mehr als 50 verschiedene Automodelle mit Millionen möglicher Ausstattungsvarianten an. „Bisher kann kein Händler seinem Kunden diese Vielfalt [mit klassischen Mitteln] vorführen“, erklärt Kühne. Kurz gesagt: minimaler Platz und ständige Verfügbar- keit des kompletten Portfolios – inklusive jener Produkte, die noch in der Entwicklungs- oder Testphase sind. Fotocredit: Saturn Saturn bietet in 20 ausgewählten Märktern Besuchern einen Rundgang mit AR-Brille. Statt die unterschiedlichen Modelle im Prospekt zu betrachten, blickt der Kunde durch eine Datenbrille wie die HTC Vive oder Oculus Rift und sieht sich sofort am Steuer seines (virtuellen) Traumwagens: Wie ist der Blick vom Fahrersitz? Helles oder dunkles Leder? Welches Info- tainment-System möchte ich und wie soll das Auto lackiert werden? Fragen, die sonst mühsam – und wenig anschaulich – im Bera- tungsgespräch erörtert werden, sind durch die neue Technik beinahe greifbar. Obwohl inzwischen auch BMW, Hyundai, Toyota und Co. ihren poten- ziellen Kunden mit VR und AR begegnen, geht bislang kein Hersteller das Thema so ganzheitlich an wie Audi. Im Februar 2014 eröffnete am Berliner Kurfürstendamm die Audi City – der erste volldigitale 9
DURCHSTARTEN Flagshipstore in Deutschland. Statt dutzender Präsentationsfahr- zeuge gibt es zahlreiche (interaktive) Präsentationsflächen. Emotio- nalität und Storytelling stehen im Vordergrund; die PS-Zahl unter der Motorhaube allein zählt schon lange nicht mehr. Das neue Auto sehen können Aber warum nehmen gerade die Automobilhersteller eine führende Rolle bei diesen Vertriebsstrategien ein? Beim Kauf, insbesondere von komplexen, erklärungsbedürftigen und hochpreisigen Gütern, steht ein Aspekt stets im Vordergrund: möglichst wenig Risiko. Ein Gesetz, das so alt ist wie der Tauschhandel selbst. Und je mehr Informati- onen ich vorab über ein Produkt, dessen Qualität, Performance und dem damit verbundenen Gefühl habe, desto geringer die Gefahr eines Fehlkaufs. Wissenschaftler legen in einem aktuellen Forschungsbericht zudem nahe, AR-Nutzer hätten ein Gefühl von physischer Kontrolle über ein Produkt, dass sie noch gar nicht gekauft haben – und das wiederum erhöhe die Kaufabsicht. Eine These, die auch vom amerikanischen, auf experimentelles Verkaufsmarketing spezialisiertes Marktforschungs- institut Interactions gestützt wird. In einer Umfrage gaben 72 Prozent der über 1.000 Befragten an, bereits spontan ein Produkt gekauft zu haben, weil es mit AR-Tools beworben oder präsentiert wurde. Außerdem seien 40 Prozent der Käufer bereit, mehr für ein Produkt zu zahlen, wenn es mit AR erlebbar ist. Hilf mir, Hologramm! Philipp Rauschnabel, Marketingprofessor der amerikanischen Universität Michigan-Dearborn, weist darüber hinaus auf ein weiteres Vertriebsargument hin, das neben der Markenbildung und dem positiven Image, das sich ein Unternehmen aufbaut, häufig übersehen wird: den Aspekt der After-Sales-Betreuung. So ließe sich bei komplexen Produkten mittels AR beispielsweise ein 10
DURCHSTARTEN Servicetechniker im Sichtfeld einblenden, der bei der Wartung oder Reparatur hilft. Mit der Möglichkeit, Leute unabhängig von Zeit und Raum an einen Ort zu transportieren, wie es bislang nicht möglich war, sieht Oliver Wöhler, Sales Manager der Datenbrille HTC Vive, im Tourismusbe- reich großes VR-Potential. So könnten insbesondere Reisebüros davon profitieren, ihre Kunden mittels Datenbrille vorab einen Blick in die Kreuzfahrtkabine oder das Urlaubsziel auf Kreta, den Male- diven oder New York werfen zu lassen. Thomas Cook war im Januar 2015 das erste Tourismusunter- nehmen, das bewusst auf die VR-Technik setzte, um mit möglichst realen, 360-Grad-Darstellungen Lust auf den Urlaub zu machen. Inzwischen sind 880 Reisebüros in Deutschland, Großbritannien und Belgien mit Datenbrillen ausgestattet. Diese seien, so Carsten Seeliger, Geschäftsführer Vertrieb, eCommerce, Marketing und Service von Thomas Cook, „ein weiteres Instrument für unsere Mitarbeiter, den Kunden im Beratungsgespräch realistische und authentische Einblicke eines Hotels, einer Destination oder eines Ausflugs zu geben und bilden eine digitale Ergänzung zum Katalog. Die zunehmende Verbreitung von AR- und VR-Brillen – das Umfrag- einstitut Statista erwartet einen Anstieg im weltweiten Verkauf von AR-Brillen von 100.000 Stück (2016) auf 27,3 Millionen Exemplare bis 2021 – wird auch dem Vertrieb helfen, ein derzeit noch akutes Problem anzugehen: mangelnde Akzeptanz bei den Anwendern. „Bislang scheuen sich viele Nutzer, gerade von VR-Brillen, diese Technologie bereitwillig zu nutzen“ erklärt Mehler-Bicher. Diesen Eindruck teilt auch Philipp Rauschnabel. AR und VR seien sowohl technisch als auch in Bezug auf die Akzeptanz – auf Unternehmen- sebene und beim Nutzer (Vertriebler und Kunde) – aktuell in etwa dort, wo sich mobile Devices in den 1990er Jahren befunden hätten. „Auch Datenschutz und Datensicherheit bergen noch Risiken, da wir im Gegensatz zu den meisten anderen Technologien nicht nur in die Privatsphäre des Nutzers eingreifen, sondern auch jener Menschen, 11
DURCHSTARTEN die sich zufällig im Trackingbereich von Kameras und Sensoren befinden“, so Rauschnabel. Was ich sehe, kaufe ich Ein weiterer Grund, warum viele Unternehmen dem Einsatz von VR und AR skeptisch gegenüberstehen, ist die schwierige Messbarkeit des Erfolgs. Werden dank virtueller oder angereicherter Realität tatsächlich mehr Autos oder Kreuzfahrtreisen verkauft als vorher? Steigende Absatzzahlen konkret auf die neue Technik zurückzuführen, ist aktuell nicht möglich. Aber, so Audi-Mann Kühne, die Kunden gäben im Schnitt 500 Euro mehr für die Ausstattung aus, wenn sie diese vorab mit VR- oder AR-Technik selbst erleben konnten. Und Kreuzfahrtinteressenten buchen häufiger die teurere Außenkabine, nachdem sie diese mittels VR-Brille selbst betreten haben. Welchen Stellenwert die digital angereicherte Realität zukünftig im Vertrieb einnehmen wird, zeigte sich Anfang Juni auf der Augmented World Expo (AWE) in Kalifornien, der weltgrößten Messe für AR und VR. Das Team rund um die österreichischen AR-Software-Ent- wickler Wikitude war ebenfalls vor Ort und erhielt eine Auszeich- nung für seine Instant-Tracking-App, die Grundlage sein wird für ein noch schnelleres, reibungsloseres und lebensechteres AR-Er- lebnis, beispielsweise für augmentierte Produktkataloge bei Ikea, SayDuck oder Roomle. Wenn Technologieriesen wie Google, Apple und Facebook in AR investieren, werde sich der Markt nachhaltig verändern, erklärt Paula Monteiro, Wikitude Marketing Director: „Wir erwarten, dass der Vertrieb langfristig die wichtigste Industrie für AR- und VR-Anwendungen wird. 2020 soll in diesem Bereich bereits eine Milliarde Dollar investiert werden, um derartige Lösungen im Vertrieb und e-Commerce zu ermöglichen.“ Dirk Schart war ebenfalls auf der AWE zu Gast. „Man spürte deut- lich, dass die Ankündigungen der großen Technologieunternehmen die Branche vorantreiben“, so der Marketingchef der Münchner 12
DURCHSTARTEN Firma Reflekt, die sich auf die Erstellung von AR- und VR- sowie Mixed-Reality-Inhalten spezialisiert hat und bereits Lösungen für BMW, Audi und Hyundai/BASF entwickelt hat. Im internationalen Vergleich sieht Schart deutsche Unternehmen sehr gut positioniert. AR & VR bald Standardwerk Mit Ausnahme des US-amerikanischen Technik-Gurus Robert Scoble sind alle Experten, mit denen wir gesprochen haben, einer Meinung: VR und AR Reality haben bereits einen relevanten Stellenwert in zahlreichen Branchen und werden – so wie einst Website und Smart- phone – in den nächsten Jahren zu einem selbstverständlichen Vertriebskanal avancieren – wenn auch für jeweils unterschiedliche Produktbereiche: Während es beim Verkauf von Autos oder Reisen besser funktioniert, mittels VR komplett in eine eigene Welt einzutau- chen, will man das neue Sofa oder die Küche lieber inmitten des eigenen realen Umfelds betrachten. Trotzdem: Ganz ohne Fleisch und Blut werde der Verkaufsprozess auch zukünftig nicht funktionieren, prophezeit Interactions-Präsident Bharat Rupani. Dafür sei die menschliche Interaktion einfach zu wichtig. Und das ist ein Erfahrungswert, der nicht so schnell verfliegen wird wie der Hype um das bislang erfolgreichste AR-Spiel aller Zeiten. 13
DURCHSTARTEN Fotocredit: Otto-Pressebild Deutschlands erster Digital-Pionier Er gehört zu den reichsten Männern Deutschlands und machte das Familienunternehmen zu einem der Weltmarktführer. Michael Otto ist ein Macher. Und ein großer Visionär. AUTORIN: Britta Schmeis Michael Otto ist wohl das, was man sich gemeinhin unter einem hanseatischen Kaufmann vorstellt: bescheiden, bodenständig, zurückhaltend. Er fällt nicht mit exzentrischen Hobbies auf oder einem ausschweifenden Lebensstil. Michael Otto ist Mahner, Stifter, Mäzen, Umweltschützer, Versandhausunternehmer, einer der reichsten Männer Deutschlands und er ist vor allem ein Pionier. Als andere noch in ihre Röhrenfernseher schauten und zum Umschalten vom Sofa aufstehen mussten, dachte er schon über interaktives Fernsehen nach. Wenig später führte er für seinen Versandhandel Shopping per CD-Rom ein, 1995 ging der Otto Versand online. „Er hat sehr früh verstanden, dass sich die 15
DURCHSTARTEN Vertriebswege fundamental ändern“, sagte einmal Freund und Verleger Hubert Burda über ihn. Im vergangenen Jahr erhielt Michael Otto den von der Telekom und der Wirtschaftswoche verliehenen Sonderpreis „Digitalisierungsmacher“. Mit Amazon und Alibaba gehört die Otto Group inzwischen weltweit zu den größten Online-Händlern. Geboren 1943 im westpreußischen Kulm wächst Michael Otto in Hamburg auf. Bitterarm seien sie gewesen, als sie nach dem Krieg in Hamburg landeten, erinnert sich Otto. Früh habe er sich mit aller- hand Gelegenheitsjobs durchgeschlagen. „Ich glaube, das war gut und wichtig für mich und hat mein späteres unternehmerisches Handeln stark beeinflusst“, sagt Otto. Es dürften aber auch seine Eltern gewesen sein, die ihm Mut und unternehmerisches Gespür mit auf den Weg gegeben haben – ebenso wie seinen vier Geschwi- stern: Frank ist schillernder Medienunternehmen in Hamburg, Alexander führt das ECE-Immobilienunternehmen, Schwester Anzeige 16
DURCHSTARTEN Ingvild Goetz ist Kunstsammlerin, Katharina Otto-Bernstein Regis- seurin. Sie alle verbinden Kunst und Kommerz – auch das ein Erbe des Vaters. Ausbildung fernab des väterlichen Unternehmens Werner Otto gründet 1949 einen Schuhversand. Der erste Katalog mit 28 Modellen ist noch handgebunden und mit eingeklebten Fotos. Doch schon wenig später steigt er zur Gallionsfigur des Wirtschafts- wunders auf. Das Versandhaus wächst stetig, nimmt neue Produkte in die Palette, geht mit der Zeit. 1964 sind Bestellungen per Telefon möglich. Michael Otto macht Abitur, danach absolviert er eine Banklehre in München, studiert dort und in Hamburg Volkswirtschaft, arbeitet als selbständiger Immobilienmakler, promoviert. Nur kurze Zeit später, 1971, tritt er in das Unternehmen seines Vaters ein, übernimmt den Vorstandsbereich Einkauf Textil, dem er eine neue Organisati- onsstruktur gibt. Der Familienunternehmer setzt auf Innovationen, technischer wie struktureller Art. Zehn Jahre später übernimmt er die Führung der Otto Gruppe. Beherzt setzt er auf weltweite Expansion, trimmt das Unternehmen auf Schnelligkeit und Kundenfreundlichkeit. In den 80ern wird Otto zum weltgrößten Versandhaus. Ende der 80er-Jahre versucht sich der umtriebige Unternehmer zusammen mit Time Warner in Florida am interaktiven Fernsehen. „Da dachte ich, das ist der Distanzhandel der Zukunft“, erinnert sich Michael Otto. Das Projekt scheitert, doch es öffnet ihm die Augen für die Bedeutung des E-Commerce, der sich dank des Internets schon bald sehr viel einfacher, schneller und kostengünstiger betreiben lässt. Otto ist der nationalen Konkurrenz damit um Längen voraus. Kontinuierlich setzt die Otto Group auf die digitale Transformation. Das Unternehmen führt die virtuelle Anprobe ein, entwickelt Bestell- möglichkeiten im Internet, auf Tablets, auf dem Smartphone. Inzwi- schen erwirtschaftet es 90 Prozent seines Umsatzes online. Doch der 17
DURCHSTARTEN stationäre Handel bleibt, ebenso der Katalog als „Ort der Inspiration“. Er sehe die Zukunft in der Vernetzung von stationärem und Online- Handel, erklärte Otto unlängst. Zu der Otto Group gehören neben zahlreichen Onlineshops wie bonprix und myToys auch Einzelhandels- ketten wie Sportscheck und Manufactum, darüber hinaus der zweit- größte deutsche Paketzusteller Hermes. Umweltschutz als Unternehmensziel Für ihn und in seinem Unternehmen geht die digitale Veränderung mit dem Kulturwandel einher. Otto muss und will flexibel reagieren können, führt flache Hierarchien ein, setzt auf Teamarbeit, die Bürof- lächen sind offen gestaltet, lassen Kommunikation zu. „Das ist eine ganz wichtige Voraussetzung, um die Digital Natives, die wir dringend in den Unternehmen brauchen, zu gewinnen“, sagt Otto, der 2007 seinen Vorstandsvorsitz aufgab und seitdem die Geschicke des Unter- nehmens als Vorsitzender des Aufsichtsrats mit bestimmt. Fotocredit: Otto-Pressebild Unternehmensgeschichte: Links der erste Katalog von 1950, rechts der heutige Online-Shiop. Michael Otto übernimmt Verantwortung für sein Unternehmen und seine Mitarbeiter, für die Gesellschaft und die Umwelt. Bereits in den 80er-Jahren verankert er den Umweltschutz als Unternehmensziel, 1993 gründet er die nach ihm benannte Stiftung, die sich für den Schutz und Erhalt der Lebensgrundlage Wasser einsetzt. Er initiiert 18
DURCHSTARTEN das Hamburger Hauptschulmodell, ein Konzept, das Schülern den Übergang in eine berufliche Ausbildung erleichtern soll, er hat zahl- reiche Ehrenämter, unterstützt Hamburger Museen und spricht sich für gerechte Besteuerung aus. „Wenn einer gut verdient, kann er auch mehr zahlen“, sagte er in einem Interview mit dem „Stern“. Seinen Kindern hat er all das mit auf dem Weg gegeben: Sohn Benjamin arbeitet im Familienunternehmen, Tochter Janina lebte einige Zeit in Afrika und engagiert sich in der Entwicklungshilfe. Michael Otto ist kein Bewahrer, er ist ein Erneuerer und Visionär. Bei der Verleihung des Digital Champions Award sagte er: „Ich soll Digitali- sierungsmacher der deutschen Wirtschaft sein? Ich hätte mich wohler gefühlt, wenn ich den besten Preis für den besten Digitalisierungser- möglicher erhalten hätte.“ Ein Statement, das viel über den Menschen und Unternehmer Michael Otto erzählt. 19
STEUERN & ENTSCHEIDEN Lehrstunde bei den jungen Wilden Der moderne Kunde nutzt digitale Kanäle, um eigenständig Produkte zu recherchieren und schreibt lieber E-Mails, als dass er Telefongespräche führt. Startups sind mit diesem kundenverhalten groß geworden. Für den klassischen Vertrieb gibt es hier noch etwas zu lernen. EIN GASTBEITRAG VON: MARIO PUFAHL Mehr als die Hälfte aller deutschen Unternehmen nutzen gemäß einer IDG Studie bereits ein CRM-System. Oftmals werden die CRM-Sys- teme von den Nutzern jedoch als zusätzliches Management-Kontrol- linstrument oder zusätzlichen Administrationsaufwand angesehen. Entsprechend düster sieht die CRM-Realität in Deutschland aus: Excel-Tabellen sind immer noch präferiert, Cloud ist sowieso böse. International hingegen gehört schon längst zur Best Practice, Fotocredit: Thinkstock/dima_sidelnikov Startups haben digitalen Vertrieb in ihrer DNA. Der klassische Vertrieb kann hier noch viel lernen. 21
STEUERN & ENTSCHEIDEN CRM- und Marketing Automation-Systeme aus der Cloud zu verknüpfen, um Kundendaten ganzheitlich zu dokumentieren, auszu- werten und anzuwenden. Der IDG-Studie zufolge ist für 43 Prozent aller Unternehmen die Beseitigung von Datensilos die größte Herausforderung. Doch ich gehe noch einen Schritt weiter und behaupte, dass nicht nur Daten- silos, sondern auch IT- und Wissenssilos dazu beitragen, dass der digitale Vertrieb nicht in der digitalen Transformation mithalten kann. Großunternehmen wünschen sich Innovation und Flexibilität – Startups leben diese einfach Nicht zuletzt wegen der limitierten Ressourcen und überschaubaren Größe haben Startups einen ganzheitlichen Ansatz in der Kundenkom- munikation, der Marketing und Vertrieb enger verknüpft als es traditi- onell üblich ist. Hilfreich ist natürlich, dass häufig auf dem „Greenfield“ (als ohne Bestandssysteme) neue Lösungen aufgebaut werden. Anzeige 22
STEUERN & ENTSCHEIDEN Entscheidend ist aber: Startup-Mitarbeiter sehen die Digitalisierung als „Produktivitätsbooster“ und nicht als Administrationsmonster und Management-Kontrollsystem. Diese Systeme werden somit in der Regel agil und konsequent an den Nutzerbedürfnissen entlang aufge- baut. Die Diskussionen, dass alte Funktionalitäten auch in das neue System müssen, gibt es hier nicht. Alles, was keinen Nutzen bringt, fällt einfach weg. So einfach ist das. Zusätzlich werden die Kommunikationskanäle für den Vertrieb genutzt, die die oftmals jungen Mitarbeiter auch privat nutzen. Entsprechend hat sich das sogenannte „Social Selling“ in den letzten Jahren als Wunderwaffe entpuppt, bei der attraktive Leads und Entscheider auf sozialen Netzwerken identifiziert und direkt vom Vertriebsmitarbeiter kontaktiert werden. 5 Startup-Best Practices für den digitalen Vertrieb 1 Marketing und Sales verfolgen gemeinsame Ziele: Je enger . Marketing und Vertrieb zusammenarbeiten, desto qualitativ hochwertiger können Leads generiert und betreut werden. 2 Social Selling ergänzt klassische Vertriebskanäle: Die sozialen . Netzwerke (Xing, LinkedIn, Facebook) bieten durch die Fülle der Informationen, die jedes Profil preisgibt, eine neue Art der Kunden- akquise. Relevante Kontakte (CxOs, Manager, Entscheider) können so direkt identifiziert und von einzelnen Vertriebsmitarbeitern persön- lich kontaktiert werden. Der Datenschutz wird respektiert, aber mit Augenmaß im Sinne des Unternehmens ausgelegt. 3 Kundenverhalten wird durch Customer Analytics gemessen: In . Kombination mit einem Marketing Automation-System lassen sich Reaktionen auf E-Mails, Social Media-Nachrichten sammeln und auswerten. Die Kaufbereitschaft, aber auch bevorzugte Kommuni- kationskanäle und Inhalte können so dokumentiert und im Vertrieb effektiv eingesetzt werden. 23
STEUERN & ENTSCHEIDEN 4 Prozesse werden agil erprobt und optimiert: Startups sind . mutiger in ihrer Herangehensweise und probieren sich häufiger aus (nicht zuletzt, weil ihre Infrastruktur und Prozesse nicht so komplex wie in Großunternehmen sind). Strategien werden also nicht monatelang geplant, ausgerollt und beibehalten, sondern werden mit der agilen Methode kurzfristig erprobt, um bei Erfolg ganzheitlich implementiert zu werden. So lassen sich neben den bewährten Stra- tegien immer wieder neue Wege austesten, um Leads und Kunden zu betreuen. 5 CRM-Systeme sind maximal integriert: moderne, integrierte . CRM-Anwendungen sorgen dafür, dass nicht nur die Kundendaten und die entsprechenden Kaufphasen, sondern das ganzheitlich Kundenverhalten dokumentiert und in den Vertriebs- strategien berücksichtigt werden kann. Dies ermöglicht eine relevan- tere Kommunikation und eine höhere Erfolgswahrscheinlichkeit für Kaufabschlüsse. Grossunternehmen können somit von Startups in Bezug auf CRM lernen, dass die Projekte schlanker werden müssen und sich zu 100 Prozent an den Bedürfnissen der Nutzer orientieren. Autor Mario Pufahl ist Buchautor, Dozent und Vorstand der ec4u expert consultung AG sowie Experte für Performancestei- gerung im Vertrieb, Vertriebscontrolling Fotocredit: Mario Pufhal und CRM. Mehr Informationen unter ww.ec4u.com oder www.pufahl.net. 24
BERATEN & VERKAUFEN Fotocredit: Thinkstock/ Ildo Frazao „Guten Tag, ich habe Ihren Blog gelesen“ Facebook, YouTube und ein eigener Blog gehören nicht zum klassischen Werkzeug eines B2B-Vertrieblers. Die Trend- erscheinung „Personal Branding“ könnte das ändern. Denn es winken Expertenstatus und Umsatzzuwächse. AUTOR: David Krenz HÖRBAR AUF: Sebastian Koch ist die Nummer eins. Wer im Netz nach einem Tuto- rial für „Skoda Connect“ sucht, einer digitalen Assistenz im Auto, dem zeigt Google als obersten Eintrag Kochs Blog „skoda-portal.de“. Der heute 33-Jährige ging damit vor sechs Jahren online, nach seiner Verkäuferausbildung in einem Skoda-Autohaus in Siegen, in dem er bis heute arbeitet. „Alle meine Kollegen hatten einen Kundenstamm. Ich hatte nichts“, erzählt er. In Internetforen für Skodafahrer sah er hunderte offene Fragen. „Also habe ich mein Blog gestartet. Um Hilfe- stellungen zu geben. Mehr war erst mal nicht dahinter.“ Ohne es zunächst zu ahnen, schuf er eine Marke und feilte mit jedem Beitrag an ihr. Die Marke heißt: Sebastian Koch, Skoda-Experte. 25
BERATEN & VERKAUFEN Damit fand der Autoverkäufer aus dem bodenständigen Siegerland früh zu einem Thema, das die Sales-Profession bewegt: Personal Branding, der Vertriebler als Marke. Verführerisch leicht scheint der Einstieg, weil jeder die nötigen Tools bereits privat beherrscht: E-Mail, Messenger, Social Media. Der Eindruck täuscht. Ist der Personal Brand eine Skulptur, steht am Anfang ein grober Stein. Große Fragen stellen sich, manche muten philosophisch an: Wer bin ich? Auch lauern Gefahren: mit unbedachten Posts Shitstorms zu ernten, Geld für falsche Technik und schlecht gewählte Domains rauszuwerfen, oder trotz immensen Aufwands in digitaler Versenkung zu verharren. Wer die Herausforderungen meistert, dem winken neue Wege. „Man kann Reputation aufbauen, sich als Experte positionieren, wird in der Presse erwähnt, für Vorträge gebucht“, sagt Ibrahim Evsan, Berater für Digitalisierung in Unternehmen. Wer Wissen teilt, macht sich für Anzeige 26
BERATEN & VERKAUFEN die Zielgruppe interessant. Auch könne man Branchentreiber sein, neue Begriffe besetzen. So steht der Name Matthias Gröbner für das Thema „Digitale Versicherungen“ und wenn es darum geht, sich von einem „Eingeborenen“ die wundersame Welt des Internets erklären zu lassen, fällt vielen seit jeher Sascha Lobo ein. „Ich kann eine Premiumstellung aufbauen“, sagt Evsan. „Je besser ich digital darge- stellt bin, je mehr Menschen mir folgen, desto höher ist mein Preis.“ Twitter-Follower als harte Währung, also? „Absolut“, sagt er. „Ein Meinungsbildner hat einen Preis.“ Fotocredit: Sebastian Geisheimer Skoda-Experte Sebastian Koch an seinem Arbeitsplatz im Authohaus in Siegen. Nicht nur Dienstleister, die von Honoraren leben, profitieren von einem Personal Brand. Auch der Produktvertrieb. Schließlich kauft jeder lieber gern bei Fachleuten.Das erfuhr auch Sebastian Koch: Nach einem halben Jahr im Netz kamen erste Leser als Neukunden ins Geschäft. „Sie stellten Fragen zur Ausstattung, genau im Wort- laut meines Blogs“, sagt er. Allerdings flogen sie ihm nicht einfach zu. Für Antworten und Beiträge investiert er eine Stunde täglich, meist auch am Wochenende. „Die Arbeit ist schon immens“, sagt er. Lange machte er das nach Feierabend. Weil Koch inzwischen zweifacher Familienvater ist, wollte er das Bloggen zu Jahresbeginn einstellen. Der Chef bat ihn, weiterzumachen, künftig in der Arbeitszeit. Ibrahim 27
BERATEN & VERKAUFEN Evsan schätzt, dass 90 Prozent für ihre Arbeit am Personal Brand vom Arbeitgeber bezahlt werden. In ihren Workshops säßen inzwischen viele Mitarbeiter von Mittel- ständlern, sagt Liane Lahl, Gesellschafterin von „Fortis PR“. Die Münchner Agentur berät im Personal Branding. „Vielen ist erst mal zu vermitteln, dass Social Selling nicht pures Verkaufen bedeutet, sondern Kommunikation über Inhalte“, sagt sie. „Platte Ansprachen kommen nicht an. Man braucht Content.“ Zum Beispiel eine hochwertige Studie, die man für seine Follower auswertet und zur Verfügung stellt. Die Leistungen der Agentur und ihrer Mitbewerber reichen vom Kurz- workshop, der lehrt, ein digitales Profil aufzubauen, bis zur Gesamt- betreuung inklusive des Schreibens der Social-Media-Posts, nicht jeder Experte besitzt Schreibtalent. Zu Beginn jeder Beratung werden mit dem Kunden elementare Fragen geklärt: Wofür er steht, was und wen er erreichen will, welche Geschichte er zu erzählen hat. Wer die Antworten verinnerlicht, verzettelt sich nicht und schafft auf Dauer einen erfolgreichen Brand. Für Sebastian Koch hieß es damals Versuch und Irrtum. Er probierte Instagram, „das sich vielleicht besser für jemand eignet, der Lambor- ghinis verkauft“, wechselte die Ansprache von „Du“ auf „Ihr“. Nie feilen musste er an der Auswahl seiner Themen – sie kommen verlässlich zu ihm. „Höre ich zweimal die gleiche Frage, recherchiere ich bis ins Detail. Ohne Blog würde ich mich nie so vertiefen.“ So bleibt er am Ball, sammelt Expertenwissen – von dem dann auch der Kunde im Geschäft profitiert. 28
BERATEN & VERKAUFEN Fotocredit: Laci Perenyi Auf eine Halbzeit mit Urs Meier Ob Zinedine Zidane oder Michael Ballack: Jeder musste gehorchen, wenn Urs Meier zur Pfeife griff. Heute hält der ehemalige Fifa- Schiedsrichter Vorträge über genau das: Entscheiden in schwierigen Situationen. Wir sprachen in 45 Minuten mit ihm über die Höhepunkte seiner Laufbahn, das Land mit den schmackhaftesten Rasen und seine eigene Karriere als Vertriebler. AUTOR: Norbert Wessendorf Business Developer: Herr Meier, was war die schwierigste Entschei- dung in Ihrer Laufbahn als Schiedsrichter? Urs Meier: Da muss ich kurz überlegen. Also eigentlich war die schwierigste Entscheidung, den richtigen Zeitpunkt für das Ende meiner Karriere zu finden. Da hatte ich am längsten mit zu tun. Die Entscheidungen auf dem Fußballplatz waren für mich nie schwierig. Da war für mich immer relativ klar, was zu tun ist. BD: Was hat Ihnen die Entscheidung, aufzuhören, leichter gemacht? UM: Ich hatte mir ursprünglich gesagt, die Weltmeister- schaft 2002 mache ich noch und dann ist Schluss. Während der 29
BERATEN & VERKAUFEN Weltmeisterschaft habe ich aber gemerkt, dass da noch viel Freude und Herzblut ist. So wurde es 2004, denn da war ja noch die Europa- meisterschaft. Danach sollte Schluss sein. Es kam aber etwas anders. Mit der Kampagne der Engländer, da konnte ich nicht einfach aufhören. Dann hätte es geheißen, da ist er schwach geworden. Also musste ich noch ein halbes Jahr anhängen – und das war auch gut so. BD: Sie sprechen das Viertelfinale England gegen Portugal an. Nach einem nichtgegeben Tor in der 90. Minute fühlten sich viele englische Fans um ihr EM-Glück betrogen. Es gab sogar Morddrohungen gegen Sie. Das hat den öffentlichen Druck, der auf Schiedsrichtern lastet, sicherlich nur erhöht. Auch Vertriebler stehen oft unter Druck, da von ihrer Leistung im Verkauf alles abhängt. Wie sind Sie mit diesem Leistungsdruck umgegangen? UM: Indem ich den Druck nie angenommen habe. Es gibt zwei Arten von Druck: Den Erwartungsdruck von außen, den die Heim- mannschaft oder das Heimpublikum versucht aufzubauen. Und es gibt den Druck, den man sich selbst macht: Das ist jetzt ein großes Spiel, da muss alles klappen, sonst ist meine Karriere gefährdet und ich kriege keine solchen Spiele mehr. Oder die Frage, wie stehe ich nachher in der Öffentlichkeit da? Da sollte man sich nicht zu große Gedanken machen, sondern es auf die Seite schieben. Es ist wichtig mit positiven Bildern in diese Spiele rein zu gehen und nicht mit negativen. Man sollte mit der Einstellung in ein Spiel gehen: Ich bin jetzt einer der besten Schiedsrichter der Welt und habe es mir verdient, dieses Spiel zu pfeifen. Und nach dem Spiel werden die Zuschauer zufrieden sein mit dem Spiel. Das ist immer meine Art gewesen. Ich bin ein sehr positiver Mensch und sehe immer nur das positive. Das erleichtert einem die Sache ungemein. Ich weiß von Kollegen, die nur durch das Aufgebot für ein wichtiges oder schwieriges Spiel kaum mehr schlafen konnten und nur noch von Druck sprachen. Das war mir total fremd. 30
BERATEN & VERKAUFEN BD: Hatten Sie denn vor diesen Spielen ein Ritual? Etwa Glückssocken, die Sie am Morgen des Spiels angezogen haben? UM: Mein Ritual begann schon am Abend vor dem Spiel beim Einschlafen. Bei den internationalen Spielen unter der Woche habe ich im Hotelzimmer immer dieselben Bilder im Kopf gehabt: Schluss- pfiff, beide Mannschaften kommen zu mir und bedanken sich, umarmen sich gegenseitig, die Zuschauer stehen auf und applau- dieren und gemeinsam laufen wir unter den Zuschauern in die Kata- komben. Dann hatte ich noch ein Ritual direkt vor dem Spiel beim Einlaufen. Ich habe immer gesagt: Ich darf nichts als Ritual haben, was ich vergessen kann. Viele meiner Kollegen hatten einen Socken, ein Badetuch oder Amulett. Wenn das aber fehlt, ist die Aufregung groß. Was ich also gemacht habe, war folgendes: Beim Warmlaufen vor dem Spiel gab es eine Phase, in der ich zwei, drei Minuten für mich war. Dann habe ich ein Stück Rasen ausgerissen, daran gero- chen und auch draufgebissen, um so eine Verbindung zum Rasen herzustellen. Dann habe ich mir wieder vorgestellt, was für ein schönes Spiel es sein wird. Und dann habe ich den Rasen mit Power fortgeworfen und gesagt: So, jetzt geht es los. BD: Gab es da einen Rasen, der besonders gut geschmeckt hat? UM (lacht): Ja, meistens waren es die Rasen in den unteren Liegen, die nicht groß mit Pestiziden bearbeitet wurden. Die Rasen in den großen Stadien waren meistens nicht sehr angenehm. Da konnte ich schmecken, dass viel Chemie im Spiel war. In der Türkei waren die Rasen eigentlich immer am besten. Denn dort haben sie die Halme immer lang wachsen lassen. Sie wollten nicht die schnellen Spiele – vor allem nicht, wenn sie gegen die Engländer gespielt haben. BD: Stichwort Türkei: Die Spiele dort sind oft von Emotionen und großer Leidenschaft geprägt und bisweilen auch sehr hitzig. Sie haben in einem Interview erzählt, dass Sie sich immer auf die kulturellen Begeben- heiten und Unterschiede vorbereitet haben, bevor sie ein Spiel gepfiffen haben. Gab es da bestimmte Mannschaften und Spieler, auf die Sie sich besonders intensiv vorbereiten mussten? 31
BERATEN & VERKAUFEN UM: Wenn Du die Mentalität nicht kennst, dann wird es schwierig, die Spieler richtig anzusprechen. Je schlechter ich die Kulturen kannte, desto mehr habe ich versucht, mich auf die Kulturen einzu- stellen. Ich hatte in der Anfangsphase meiner Karriere den Vorteil, dass wir immer viele kleine Länderspiele hatten. Wir hatten Türk Aarau, Mladost Aarau, das war ein jugoslawischer Verein, und Espa- gñol Aarau. Später habe ich gemerkt, dass die großen Mannschaften genau die gleiche Mentalität hatten, wie die aus Aarau. Die türkische Nationalmannschaft hat eigentlich genau die selbe Mentalität gehabt wie Türk Aarau in der zweituntersten Liga. Was ich aber nicht gekannt habe, war Südkorea. Ich hatte mich zwar mit der Kultur dort auseinander gesetzt, war dann aber trotzdem überrascht. Es kam auf dem Platz überhaupt keine Reklamation. Keine Reaktion auf eine Entscheidung. Und das irritiert unglaublich. Wenn du jetzt einen Elfmeter gibst oder einen Freistoß kurz vor dem Strafraum, dann erwartest du Reaktionen von den Spielern. Aber da kam nichts. Beim zweiten Spiel, Südkorea gegen Deutschland, da wusste ich es, da war es dann auch einfacher. Man muss sich im Vertrieb auch auf die Firmenkultur einstellen, dass man da nicht überrascht wird. BD: Was war Ihnen denn lieber? Viele Einwände oder besser gar keine Reaktion? Anzeige 32
BERATEN & VERKAUFEN UM: Für mich ist Fußball ein Sport mit Emotionen. Wenn keine Emotionen von den Spielern kommen, dann fehlt da was. In diesen 90 Minuten muss etwas passieren. Ich hab das gern gehabt, damit umzugehen. Die 22 verschiedenen Charaktere auf dem Platz richtig anzusprechen, das war eine Herausforderung, die mir Spaß gemacht hat. Aber dafür muss man sich eben auch entsprechend vorbereiten. Fotocredit: DOMENICO STINELLIS Immer auf Ballhöhe und nah am Geschehen: Hier hilft Urs Meier dem damaligen Kapitän der italienischen Nationalmannschaft, Fabio Cannavaro, während der Europameisterschaft 2004 in Portugal wieder auf die Beine. BD: Gab es da auch einzelne Spieler, auf die Sie sich besonders vorbe- reitet haben? Ich denke da zum Beispiel an einen Gennaro Gattuso vom AC Mailand, der auf dem Platz vielleicht nicht die angenehmste Person war. UM: Ja, die gab es. Aber Gattuso ist ein Spieler gewesen, mit dem habe ich nie Probleme gehabt. All diese harten, aber fairen Spieler muss man wie jeden anderen Spieler behandeln. Wer mit Vorurteilen in ein Spiel geht, der ist nicht mehr neutral. Vor jedem Spiel beginnt es wieder bei null. Sonst nimmt das Umfeld das auch wahr und dann wird es für den Schiedsrichter ganz schwierig. Aber Gattuso war ein harter Spieler, so ein richtiger Terrier. Gleichzeitigt war er für mich nicht unfair. Er ist zum Beispiel nicht mit offener Sohle reingerutscht. 33
BERATEN & VERKAUFEN Der Fuß war immer am Boden. Für mich war klar: So lange er das fair und hart macht, ist das Fußball. Und jede Mannschaft braucht einen solchen Spieler. BD: Was bedeutet das für einen Vertriebler in der Vorbereitung? UM: Bei all der Vorbereitung sollte man sich eine gewisse Unbefan- genheit bewahren. Denn wenn Du rein gehst und Entscheidungen auf Grundlage von Vorurteilen triffst, sind sie beeinflusst. Wenn sie beeinflusst sind, gerade als Schiedsrichter, dann schlägt das immer auf einen zurück. Das bedeutet für den Vertriebler: Auch wenn mit dem Kunden mal etwas vorgefallen ist, positiv oder negativ, immer wieder zu versuchen, wertfrei in eine Verhandlung zu gehen. BD: Jetzt sind wir schon beim Verkaufsgespräch angelangt. Schieds- richter wie auch Vertriebler genießen eine gewisse Autorität und sollten beim Spieler oder Kunden auch eine Vertrauensperson sein. Wie sollte man auftreten, um dieser Rolle gerecht zu werden? UM: Ich denke, man sollte sich immer auf Augenhöhe begegnen. Wenn ich jetzt den Fußball nehme: Zu meiner Zeit haben noch der dicke Ronaldo, Ronaldinho und Zidane gespielt. Aber ob Müller, Meier oder Huber: Ich habe jedem Spieler gezeigt, dass ich ihm auf Augenhöher begegne. Du hast jetzt keinen Vorteil, weil du Zidane heißt, aber auch keinen Nachteil, weil du Huber heißt. Wenn die das spüren, dann habe ich die Achtung von beiden. Das ist der Schlüssel für langfristigen Erfolg. BD: Eine weitere Parallele zwischen dem Beruf als Schiedsrichter und als Vertriebler sind digitale Hilfsmittel. Macht für Sie die Torkamera die Aufgabe des Schiedsrichters schwieriger, weil sie eventuelle Fehlentschei- dungen aufdeckt? UM: Bei der Torkamera ist es eine ganz klare Erleichterung. Wenn der Ball um ein paar Zentimeter hinter der Linie ist und dann heraus- geschlagen wird, dann wusstest du ganz genau: Das hat jetzt die ganze Welt gesehen und du hast falsch entschieden. Da hatte man vor jedem Spiel den Gedanken: Hoffentlich passiert das nicht. Dieser 34
BERATEN & VERKAUFEN Unsicherheitsfaktor ist jetzt weg. So kann sich der Schiedsrichter auf andere Situationen konzentrieren. BD: Würden Sie das gleiche über den Videobeweis sagen, den viele fordern? UM: Das kann ich nicht genau sagen. Bei einem Tor kann man immer sagen: Das ist ein Tor oder nicht. Handspiele, Foulspiele und Abseits- situationen sind nicht immer eindeutig. Auf dem Platz hat man eine andere Wahrnehmung, als vor dem Bildschirm. Wenn der Schieds- richter dann vom Videoschiedsrichter überstimmt wird, dann musst du vielleicht 70 Minuten mit dem Bewusstsein weiterpfeifen, etwas falsch gemacht zu haben. Ich bin also nicht überzeugt, dass das die ganz große Hilfe ist. BD: Wie sind Sie im Nachgang an ein Spiel mit Fehlentscheidungen reagiert? UM: Indem ich offensiv damit umgegangen bin. Wenn ich einen Elfmeter gegeben habe, war ich mir sicher, dass es einer war. Wenn ich vom Platz kam und an der Reaktion der Journalisten sehe, dass es vielleicht keiner war, muss ich mir vor meinem Statement anschauen, was die Leute im Fernsehen gesehen haben. Wenn es dann kein Elfmeter war, dann muss ich mich hinstellen: Verdammt noch mal, aus meiner Optik habe ich eine Berührung gesehen, aber auf den Fernsehbildern war es kein Elfmeter. Dann muss ich klar sagen: Das war keiner. Und dann fürs nächste Mal mein Stellungs- spiel verbessern, damit ich solche Situationen besser einschätze. Also die Fehler zugeben und nichts beschönigen. Ausflüchte interes- sieren kein Schwein. BD: Man muss all seine Entscheidungen also verkaufen können. Vor und während Ihrer Karriere als Schiedsrichten waren Sie auch im Vertrieb tätig. UM: Ja, ich habe ein Unternehmen für den Vertrieb von Haushalts- und Küchengeräten mit 25 Mitarbeitern aufgebaut. Ich brauchte die Freiheit, um meine Tätigkeit als Schiedsrichter möglichst 35
BERATEN & VERKAUFEN professionell gestalten zu können. Deswegen musste ich mein eigener Chef sein. Innerhalb kürzester Zeit war ich viertgrößter Miele-Händler in der Schweiz. BD: Wie haben denn Kunden reagiert, wenn Urs Meier im Verkaufsge- spräch vor ihnen stand? UM: Am Anfang war ich natürlich noch nicht so bekannt, da habe ich noch in der vierten Liga in der Schweiz gepfiffen. Aber später hat es mir sicherlich einige Türen geöffnet, wenn ich einen Gespräch- stermin mit einem Architekten und einem größeren Händler haben wollte. Da hieß es dann „Urs Meier? Der Urs Meier? Ja natürlich dürfen Sie vorbei kommen!“. Und mit dem Fußball hatte man dann gleich schon ein gutes Gesprächsthema. BD: Entscheiden und verkaufen lag Ihnen also schon immer im Blut. UM: Ich glaube schon. Denn auf dem Fußballfeld als Schieds- richter muss man diese Entscheidungen gut verkaufen. Da gibt es Schiedsrichter, die machen viele gute Entscheidungen, verkaufen sie aber schlecht. Und dann gibt es Schiedsrichter, die machen viele schlechte bis mittelmäßige Entscheidungen, verkaufen sie dann aber verdammt gut. Und wer sich auf dem Fußballfeld gut verkauft, der kommt in der öffentlichen Wahrnehmung besser weg. Man muss von dem, was man da macht, überzeugt sein – wie im Vertrieb auch. BD: Gibt es noch andere Schlüsselelemente, mit der man eine Entschei- dung verkauft? UM: Mit der Geschwindigkeit der Entscheidung. Wer als Schieds- richter zögert, der verkauft seine Entscheidung schlecht. Ich muss physisch präsent sein. Geschwindigkeit, Nähe und Körperspannung. Wenn ich in der 90igsten einen Elfmeter gebe, während ich mit Körperspannung drei Meter hinter der Aktion stehe, dann gibt es gar keine Zweifel an der Entscheidung. Wenn ich aber nach einem 40 Metersprint völlig ausgepumpt ankomme und auf den Elfmeter- punkt zeige, ja, was ist denn das? Und genauso ist es im Verkauf. Da müssen bei Fragen die Antworten gleich kommen, weil ich die 36
BERATEN & VERKAUFEN Kenntnisse habe und weil ich überzeugt bin von dem, was ich tue. Dann ist auch beim Käufer das Gefühl da, gut aufgehoben zu sein. Ohne Sicherheit, ohne Spirit ist die Glaubwürdigkeit weg. BD: Was würden Sie Ihren Nachwuchskollegen im Schiedsrichterbereich und auch Vertrieblern in Sachen schwere Entscheidungen mit auf dem Weg geben? UM: Schwere Entscheidungen sollten nicht in Sekundenbruchteilen getroffen werden. Da braucht es Überlegungen. Und dann sollte man die Entscheidung auch treffen und konsequent dabei bleiben. Interview Urs Meier pfiff bis zum Ende seiner Schiedsrichter-Karriere 2005 883 Spiele. Zu den Highlights gehörten dabei das Halb- Fotocredit: Urs Meier Management AG finale der WM 2002 zwischen Deutschland und Südkorea und das Championsleague- Finale zwischen Real Madrid und Bayer Leverkusen im selben Jahr. Mittlerweile lebt der dreifache Vater mit seiner Familie in Andalusien. 37
BERATEN& VERKAUFEN Fotocredit: Thinkstock/ ojogabonitoo Kosten gespart und Stresslevel erhöht Die mit der Digitalisierung einhergehenden Veränderungen werden in der Arbeitswelt als großer Stressfaktor wahrgenommen. Doch was sind die wichtigsten Stressauslöser in der digitalen Welt und wie kann man damit bestmöglich umgehen? EIN GASTBEITRAG VON: Sevira Patricia Landsberg Fast täglich kann man branchenübergreifend Berichte lesen, dass der digitale Wandel ganze Berufsgruppen ersetzen wird. Allein schon diese Nachrichten lösen bei vielen Menschen Stress aus. Wie soll es weitergehen, wenn der langjährig ausgeübte Job einem digitalen Prozess zu Opfer fällt? Fakt ist: Digitalisierung bringt massive Verän- derungen, die oftmals schneller passieren, als wir Veränderungen in früheren Jahren erlebt haben. Wer nun jedoch in Ängsten und Sorgen versinkt und eine Rolle der passiven Wehrlosigkeit einnimmt, macht seine Situation nicht unbedingt besser und erhöht eher den inneren Stress. Eine sinnvollere Strategie könnte sein, sich der eigenen Quali- täten bewusst zu werden, die eben nicht digitalisiert werden können: 39
BERATEN & VERKAUFEN eigenständiges, kreatives Denken und Sozialkompetenz sind nur zwei davon. Tipp: Begegnen Sie den Veränderungen der Digitalisierung mit in einer offenen, neutralen Grundhaltung. Nutzen Sie die eigene Energie eher dazu, Neues im Zuge der digitalen Veränderung zu lernen, sich konstruktiv einzubringen und Chancen zu entde- cken, anstatt im Widerstand zu verharren. Stellen Sie sich Ihren Ängsten realistisch und scheuen Sie sich nicht, sich hierbei unter- stützen zu lassen, zum Beispiel durch einen Coach. Zunehmender Zeitdruck Durch die Digitalisierung wird alles schneller und damit bleib mehr Zeit für neue Marktchancen? Häufig ist das eine Illusion. Digitalisierung Anzeige 40
BERATEN & VERKAUFEN fordert eher mehr Zeitaufwand – zumindest in Übergangsphasen. Ganze Arbeitsprozesse müssen oftmals vollständig neu strukturiert werden, um digitale Prozesse funktionsfähig aufzusetzen. Diese Übergangsphasen werden oft unterschätzt: das Tagesgeschäft läuft weiter und man hat erstmal doppelte Arbeit zu leisten, solange die analogen Prozesse parallel laufen. Auch wenn „Höher, schneller, weiter“ für die Digitalisierung ein attraktives Ziel sein mag – immer mehr Unternehmen registrieren, dass die zunehmende Überforde- rung von Arbeitnehmern ihren Preis hat. Hohe Krankenstände können Chefs darauf hinweisen, dass sich Arbeitnehmer zu wenig gehört fühlen. Tipp: Bauen Sie konsequent Pufferzeiten für Unvorhergese- henes ein. Wenn Sie Chef sind, nehmen Sie Hinweise auf zeitliche Engpässe Ihrer Mitarbeiter ernst und hinterfragen Sie wertschät- zend und detailliert, wo genau das Problem liegt. Als Mitarbeiter: melden Sie Engpässe frühzeitig und ohne das Gefühl, an Zeitvor- gaben gescheitert zu sein. Digitalisierung ist in den wenigsten Fällen bis ins letzte Detail planbar, somit ist Unvorhergesehenes eine Lernchance und kein Versagen. Mangelnde Kompetenz im Umgang mit digitalen Tools Die neue App für virtuelle Projektarbeit ist gerade geschult worden, und man hat sich jede Menge Wissen angeeignet, was sie alles kann. Doch dann kommt der Alltag – mit vielen Fragezeichen: Wie struk- turiere ich die Arbeitsabläufe im konkreten Projekt und wie nutze ich das neue Tool tatsächlich effektiv? Hier droht Überforderung. Stress und Frust stellen sich ein, wenn die angeblich so intuitiv nutzbare Anwendung eben doch nicht so flüssig in den Alltag übertragbar ist. Die Folge: Oft wird nur ein kleiner Teil von Möglichkeiten eines Tools genutzt, der Rest gerät in Vergessenheit – und die Arbeitserleichte- rung kann sich gar nicht erst einstellen. 41
BERATEN & VERKAUFEN Tipp: Nutzen Sie in der Einführungsphase unbedingt Austausch, Praxisnähe und Testphasen in der eigenen Arbeits- welt, anstatt sich nur Theorie oder schlecht übertragbare Beispiele anzueignen. Halbwissen und mangelnde Umsetzungs- kompetenz sind im Umgang mit digitalen Tools ein nicht zu unterschätzender Stressfaktor, der sich nicht von alleine auflöst. Trauen Sie sich, so lange Fragen zu stellen und Alltagssituationen durchzuspielen, bis Sie alles für Ihren Arbeitsplatz Wichtige gut einsetzen können. Ausbleibende persönliche Kontakte Gestern noch die Kollegen im Nebengebäude besucht – heute soll nur noch das Chatforum zum Austausch genutzt werden? Der freundliche Kollege kommt auf einmal gar nicht mehr freundlich rüber – denn wir kommunizieren im Chat ja zeitsparend kurz und knapp! Bedenk- lich ist, dass bei so manch digitalem Effizienzstreben Werte wie Freundlichkeit, aufmerksamer Umgang und kleine, nette Gesten im persönlichen Miteinander verloren gehen. Bedenklich deshalb, weil das natürliche Urbedürfnis nach emotionaler Verbundenheit auf der Strecke bleibt. Mit erschreckenden Folgen für die psychische Gesund- heit des Einzelnen und der Unternehmenskultur im Ganzen: das, was ein Unternehmen lebendig hält und was viele Mitarbeiter bislang gerne investieren an Motivation, Lebenszeit und Herzblut, fällt der Digitalisierung zum Opfer, wenn die emotional spürbare Resonanz des persönlichen Kontaktes ausbleibt. Tipp: Chats und andere digitale Plattformen sind bedingt geeignet für eine wirklich fruchtbare Zusammenarbeit und erfordern eine gute Vertrauensbasis. Für Konflikte sind digitale Foren gänzlich ungeeignet, ebenso für komplexeren Austausch 42
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