Musikerdystonien: Phänomenologie, Ursachen, Differenzialdiagnosen und Behandlungsmöglichkeiten* - Musikerkrankheiten

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Musikerdystonien: Phänomenologie, Ursachen, Differenzialdiagnosen und Behandlungsmöglichkeiten* - Musikerkrankheiten
Musikphysiologie und Musikermedizin 2019, Nr. 1, Jg. 26                                                             13

Musikerdystonien: Phänomenologie,
Ursachen, Differenzialdiagnosen und
Behandlungsmöglichkeiten*
Eckart Altenmüller (Hannover), André Lee (München) und Hans-Christian Jabusch (Dresden)

  Zusammenfassung                                               Abstract
  Musizieren auf professionellem Niveau ist eine der            Performing music at a professional level is proba-
  komplexesten menschlichen Leistungen. Extrem                  bly one of the most complex human accomplish-
  schnelle und komplexe, zeitlich-räumlich präzis defi-         ments. Extremely fast and complex, temporo-
  nierte Bewegungsmuster müssen mit hoher Zuver-                spatially predefined movement patterns have to
  lässigkeit gelernt, gespeichert und abgerufen werden,         be learned, memorized, and retrieved with high
  um die Erwartungen der Zuhörer zu erfüllen. Um                reliability in order to meet the expectations of
  diese Fähigkeiten zu erwerben, müssen Musiker                 listeners. To acquire these skills, musicians must
  über viele Jahre hinweg intensiv üben. Steigende              undergo extensive training periods over many
  Arbeitsbelastung am Instrument kann zu maladapti-             years, which start in early childhood and continue
  ver Plastizität des Zentralnervensystems führen und           on through stages of increasing physical and
  motorische Störungen, wie z. B. die Musikerdystonie           strategic complexities. Increasing work-load
  auslösen.                                                     may lead to maladaptive plastic adaptations and
                                                                trigger motor disturbances, such as musician’s
  Die Musikerdystonie ist durch den permanenten                 dystonia.
  Verlust der Kontrolle hoch präziser Bewegungen
  beim Spielen eines Musikinstruments gekenn-                   Musician’s dystonia (MD), which is characterized
  zeichnet. Sie betrifft etwa 1–2 % der Berufsmusiker.          by the permanent loss of control of highly skilled
  Pathophysiologisch liegen gestörte Inhibition und             movements when playing a musical instrument, is
  sensomotorische Integration, möglicherweise auf               the gravest manifestation of dysfunctional motor
  dem Boden einer genetischen Veranlagung vor.                  programs, frequently linked to a genetic susceptibil-
  Als „dynamisches Stereotyp“ wird eine zunächst                ity to develop such motor disturbances. A predys-
  vorübergehende Verschlechterung der Feinmotorik               tonic syndrome, termed „Dynamic Stereotype“, is
  bezeichnet, die häufig durch psychologische Stresso-          characterized by temporary deterioration of fine
  ren oder Müdigkeit ausgelöst wird und als Vorform             motor control, frequently triggered by anxiety or
  der Dystonie betrachtet werden kann.                          fatigue.

  Die Behandlung der verschiedenen motorischen                  Treatment of the different forms and degrees of
  Störungen bei Musikern umfassen ergonomische                  motor disturbances include ergonomic adaptations,
  Anpassungen, Anticholinergika, Retraining, und                anticholinergic drugs, retraining and local injec-
  lokale Injektionen mit Botulinumtoxin. Präventions-           tions with botulinum toxin. Prevention strategies,
  strategien in der Ausbildung junger Berufsmusiker             implemented in the training of young professional
  sollten auf ein gesundes Arbeitsverhalten, Selbst-            musicians may target predominantly healthy work-
  management, und psychologisch unterstützenden                 ing behaviour, self-management and psychologically
  Unterricht ausgerichtet sein.                                 supportive teaching.

  Schlüsselwörter                                               Key Words
  Musikerdystonie, Pathophysiologie, Dynamisches                Musician’s Dystonia, Pathophysiology, Dynamic
  Stereotyp, Behandlung, Botulinumtoxin, Retraining             Stereotype, Treatment, Botulinumtoxin, Retraining

* © Georg Thieme Verlag KG als Rechtsnachfolger der Schattauer GmbH
Die Originalversion wurde publiziert in: Nervenheilkunde 10/2018
Musikerdystonien: Phänomenologie, Ursachen, Differenzialdiagnosen und Behandlungsmöglichkeiten* - Musikerkrankheiten
14             Musikerdystonien: Phänomenologie, Ursachen, Differenzialdiagnosen und Behandlungsmöglichkeiten

Was bedeutet Musizieren auf                                 umso stabiler ist sie im Wahrnehmungs- und Hand-
professionellem Niveau?                                     lungsgedächtnis verankert und umso geringer sind die
                                                            Auswirkungen des Übens auf die Hirnstruktur. Dies
Musizieren auf professionellem Niveau gehört zu den         wird damit erklärt, dass Üben bis zum Alter von etwa
anspruchsvollsten menschlichen Tätigkeiten. Die             7 Jahren eine Optimierung der neuronalen Netzwerke
Schwierigkeiten bestehen vor allem darin, dass die          bedingt, die spätere Strukturanpassungen unnötig
ungeheuer komplexen und zeitlich-räumlich überaus           macht (Altenmüller und Furuya 2017).
präzisen Bewegungen in Echtzeit einer äußerst kriti-
schen Kontrolle durch das Gehör, – des Publikums            Ganz offensichtlich haben das intensive Üben am
und des Spielers –, unterzogen werden. Darüber hinaus       Instrument und die damit einhergehende Speziali-
sind die Bewegungen beim Musizieren eng an die              sierung aber ihren Preis, denn mit Aufkommen des
Affekte gebunden: Musik gilt einerseits als „Sprache        romantischen Virtuosentums im 19. Jahrhundert, als
des Gefühls“ und soll Emotionen ausdrücken, anderer-        Ausnahmeerscheinungen wie Paganini und Liszt mit
seits bewegt sich ein professioneller Musiker in einem      ihrer Kunst die Grenzen der menschlichen Leistungs-
unerbittlichen gesellschaftlichen Belohnungs- und           fähigkeit zu überschreiten schienen, berichteten erst-
Bestrafungssystem, zumindest wenn er notierte „ernste       mals Musiker über Koordinationsstörungen und
Musik“ interpretiert, bei der es „richtige“ und „falsche“   den Verlust der feinmotorischen Kontrolle. Heute
Noten gibt. Wenige Sekunden der Unaufmerksam-               werden derartige Störungen der Bewegungen auch
keit während eines Probevorspiels oder eines Wett-          als Auswirkungen maladaptiver Neuroplastizi-
bewerbes können anhaltende negative Konsequen-              tät aufgefasst, als dysfunktionale Anpassungen des
zen für die künstlerische Laufbahn haben und eine           Nervensystems bei übersteigerter Beanspruchung
Biographie verändern. Negative Emotionen, Angst vor         unter ungünstigen Bedingungen.
falschen Tönen, vor einer schlechten Kritik sind daher
bei Musikern keine Seltenheit. Gerade dieser hohe           Phänomenologie der Bewegungsstörungen
Verhaltensdruck und die starke intrinsische Motiva-
tion treiben Musiker zu ihren Höchstleistungen an,          Bewegungsstörungen werden von Musiker-Patienten
die sich dann wiederum in eindrucksvollen plastischen       häufig beklagt. In neurologischen Musiker-Sprech-
Anpassungen des Zentralnervensystems spiegeln               stunden macht diese Gruppe zirka 20 %– 50 % der
(Altenmüller und Furuya 2017).                              Patienten aus. In Tabelle 1 sind die verschiedenen
                                                            Bewegungsstörungen, ihre relative Häufigkeit in unse-
Üben ist notwendig, um derartige professio-                 rer Sprechstunde und wichtige diagnostische Krite-
nelle Fähigkeiten zu entwickeln und die oben                rien und differenzialdiagnostische Erwägungen sowie
angesprochenen komplexen Aufgaben zu bewältigen.            Behandlungsoptionen dargestellt. Diese Einteilung ist
Nach der Expertise-Theorie (Ericsson et al. 1993)           derzeit im Fluss, da wir in den letzten Jahren Hinweise
entstehen professionelle Leistungen durchschnittlich        darauf gewonnen haben, dass sich die Bewegungs-
erst nach ca. 10 Jahren und 10.000 Stunden kumula-          störungen in zwei Gruppen aufteilen lassen, nämlich
tiver Übung am Instrument. Dabei konnte in einer            1.) vorwiegend durch Angst getriggerte und
großen Anzahl von Studien gezeigt werden, dass die          2.) eher motorisch und durch Überlastung ge-
kumulative Lebensübezeit nicht nur mit der Leistung         triggerte Dysfunktionen (Altenmüller et al. 2015).
bei musikalischen Aufgaben, z. B. der Präzision von
Fingerbewegungen, sondern auch mit Veränderungen            Phänomenologie der Musikerdystonie
der Hirnfunktion und -struktur korreliert. So finden
sich bei professionellen Musikern zahlreiche Zeichen        Die häufigste und auch die schwerwiegendste
der adaptiven Neuroplastizität, also plastischen            Bewegungsstörung bei Musikern ist die Musikerdys-
Anpassungen des ZNS mit vergrößerten auditiven,             tonie. Es handelt sich um eine tätigkeitsspezifische
sensomotorischen und zerebellären Arealen und stär-         Dystonie des Erwachsenenalters. Sie ist durch den
ker myelinisierten Fasertrakten des Faszikulus arcua-       Verlust der feinmotorischen Kontrolle von komple-
tus, der Pyramidenbahn und des Corpus callosum.             xen, räumlich und zeitlich präzisen Bewegungen am
Entscheidend ist dabei, in welchem Alter geübt wurde.       Instrument gekennzeichnet. Schmerzen gehören nicht
Je früher die musikalische Fertigkeit erlangt wurde,        primär zur Symptomatik der Dystonie. Sie können
Musikerdystonien: Phänomenologie, Ursachen, Differenzialdiagnosen und Behandlungsmöglichkeiten* - Musikerkrankheiten
Musikphysiologie und Musikermedizin 2019, Nr. 1, Jg. 26                                                                15

 Störungstyp                 relatives.   Diagnostische              Differenzialdiagnose     Behandlung
 bei Diagnosestellung        Vorkommen    Kriterien
                             in %.

 Isolierte Musikerdystonie   52           Persistierender Verlust    Dystoner Krampf,         Trihexyphenidyl
                                          der feinmotorischen        Dynamisches Stereotyp    Lokale Injektion mit
                                          Kontrolle langgeübter      Handchirurgische         Botulinumtoxin
                                          Bewegungen ausschließ-     Erkrankungen, Muskel-    Retraining
                                          lich am Instrument in      faserriss bei Bläsern,   Ergonomische Verände-
                                          einer Körperregion         neurologische System-    rungen des Instruments
                                                                     erkrankungen

 Dystoner Krampf             12           Verlust der Kontrolle    Musikerdystonie            Trihexyphenidyl
                                          auch bei anderen fein-   M. Parkinson, andere       Lokale Injektion mit
                                          motorischen Fertigkeiten neurologische System-      Botulinumtoxin
                                          einer Körperregion       erkrankungen               Retraining

 Dynamisches Stereotyp       10           Wechselhafte Einschrän-    Musikerdystonie          Retraining
                                          kung der feinmotrischen    Altersbedingte Fein-     Trihexyphenidyl
                                          Kontrolle beim Musi-       motorikminderung
                                          zieren mit „Inseln“ des
                                          Wohlbefindens

 Segmentale und              4            Verlust der feinmotori-  Neurologische System-      Trihexyphenidyl
 mulitfokale Dystonie                     schen Kontrolle mehrerer erkankungen                Lokale Injektion mit
                                          benachbarter Körper-                                Botulinumtoxin
                                          regionen oder zweier ge-                            Retraining
                                          trennter Körperregionen

 Dystoner Tremor             3            Unwillkürliches Zittern    Esentieller Tremor       Trihexyphenidyl,
                                          einer Körperregion bei     Morbus Parkinson         Primidon, Propranolol
                                          Bewegungen am Instru-                               Lokale Injektion mit
                                          ment                                                Botulinumtoxin

 Neurologische               3            Verlust der feinmoto-      Segmentale oder          Abhängig von der
 Systemerkrankungen                       rischen Kontrolle oder     Multifokale Dystonie     Diagnose
                                          unwillkürliches Zittern,   Symptomatische
                                          meist auch außerhalb des   Ursachen
                                          Instruments

 Altersspezifische           2            Langsam schleichende       Dynamisches Stereotyp    Psychotherapie
 Feinmotorikminderung                     Einschränkung der Fein-    Musikerdystonie
                                          motorik auch außerhalb
                                          des Instruments

 Andere                      14           Biomechanische Ein-       Musikerdystonie           Handchirurgische
                                          schränkungen, die immer Dynamisches Stereotyp       Therapie,
                                          präsent sind und nicht                              Ergonomische
                                          streng aufgabenspezifisch                           Maßnahmen,
                                          auftreten (Springfinger,                            Psychotherapie
                                          Ehlers-Danlos Syndrom,
                                          psychologische
                                          Ursachen).

Tabelle 1: Die verschiedenen Bewegungsstörungen bei Musikern, ihr relatives Vorkommen bei der Erstdiagnose
in unserer Sprechstunde (n= 650 Patienten), wichtigste diagnostische Kriterien, Differenzialdiagnose und
therapeutische Optionen. Zu beachten ist, dass manche einfachen Musikerdystonien sich im weiteren Verlauf
zu einem „dystonen Krampf“ ausweiten und dass manches „dynamisches Stereotyp“ sich später zu einer
Musikerdystonie entwickelt.
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aber als Folge von übermäßiger Muskelanspannung                Tremor (dystoner Tremor, siehe unten) die Sympto-
auftreten. In Abbildung 1 sind typische Ausprägungen           matik dominieren.
der Musikerdystonie gezeigt. Die häufigsten Symptome
bei fortgeschrittenen Handdystonien sind unwillkür-            Die Betroffenen berichten häufig über ein starkes
liches Einrollen oder, deutlich seltener, Abstrecken           Spannungsgefühl im Unterarm während des Musizie-
einzelner Finger und/oder abnorme Handgelenks-                 rens. Dies ist durch die zeitgleiche Aktivierung (Kokon-
haltungen. Bei gleichzeitig beobachtetem unwillkür-            traktion) antagonistischer Beuger- und Strecker-
lichen Einrollen und Abstrecken einzelner Finger               muskeln bedingt. Nur in unter 5 % der Fälle berichten
an einer Hand handelt es sich nahezu immer um                  die Patienten ein Gefühl der Schwäche. Hier kommt
eine primäre dystone Bewegung der Beuger und                   es zu einem unwillkürlichen Verlust der muskulären
um eine sekundäre Kompensation der Strecker,                   Spannung. Diese Form der Handdystonie kann man
die auf diese Weise versuchen, eine Streckung der              als inhibitorische Dystonie bezeichnen. Schwieriger
dystonen Finger zu erleichtern (siehe Abb.1c, Quer-            ist die Diagnose der Handdystonien in der Frühphase
flötist). Der umgekehrte Fall, – primäres Abstrecken           der Erkrankung. Hier berichten die Betroffenen häufig
und kompensatorische Beugung –, ist möglich, aber              nur über subtile Erschwernisse bei schnellen alter-
aufgrund des selteneren Auftretens der Streckdys-              nierenden Bewegungen wie z. B. Trillern, über kleine
tonie unwahrscheinlich. Hier hilft in erster Linie eine        Unregelmäßigkeiten bei Läufen und dem Gefühl des
sorgfältige Anamnese um herauszufinden, welche                 „Klebens“ an einer Taste oder Klappe des Instruments.
Bewegung primär für den Musiker betroffen war. Diese
Unterscheidung ist nicht nur diagnostisch wichtig,             Die Ansatzdystonie der Bläser zeigt sich in der Früh-
sondern hat auch therapeutische Konsequenzen bei               phase häufig in subtilen Unzulänglichkeiten der
der Behandlung mit Botulinumtoxin (s. u.). Gelegent-           Tongebung, vorwiegend in einem bestimmten Register
lich können auch kurz dauernde Muskelkontraktionen             oder einer Spielart oder in einem klar umschriebenen
(myoklonische Dystonien) oder unwillkürlicher                  Dynamikbereich. In fortgeschrittenen Stadien weitet
                                                                                   sich die Problematik meist auf
 (a)                                                                       (b)     den gesamten Tonumfang des In-
                                                                                   struments und auf alle Dynamik-
                                                                                   bereiche aus, die Kontrolle über
                                                                                   Ansatz, Artikulation und Atmung
                                                                                   ist dann bei keiner Spielart mehr
                                                                                   gewährleistet. Zahlreiche der von
                                                                                   der fokalen Dystonie betroffenen
                                                                                   Berufsmusiker erleiden infolge
 (c)                                                                       (d)     der Störung erhebliche berufliche
                                                                                   Einbußen, aber nur 29 % sind zur
                                                                                   Aufgabe ihres Berufes gezwungen
                                                                                   (Lee et al. 2015b).

                                                                                     Grundsätzlich kann die Musiker-
                                                                                     dystonie alle Bewegungsabläufe
                                                                                     beim Musizieren betreffen. Am
Abbildung 1: Symptome der Dystonie. Fokale Handdystonie bei einem Pianisten          häufigsten treten Handdystonien
(a), bei einer Geigerin (b) und bei einem Flötisten (c). Charakteristisch ist das    bei Gitarristen und Pianisten auf.
unwillkürliche Einrollen oder Abspreizen einzelner Finger während des Spiels.        Störungen der Ansatzfunktionen
Bei dem Flötisten besteht die dystone Bewegung in einem starken Beugetonus           finden sich vor allem bei Blech-
des Zeigefingers, weniger des Mittelfingers. Der Kleinfinger streckt sich in einer   bläsern, seltener bei Holzbläsern.
kompensatorischen Bewegung unwillkürlich, um so eine Elevation von Ring- und         Raritäten sind Dystonien der
Mittelfinger zu erleichtern. Bei der Ansatzdystonie (d) kann man die Verkrampfung    Oberarmmuskulatur bei Streich-
der perioralen Muskulatur gut erkennen (aus Altenmüller und Jabusch 2010, mit        instrumentalisten und Posaunisten
freundlicher Genehmigung).                                                           und Koordinationsstörungen der
Musikphysiologie und Musikermedizin 2019, Nr. 1, Jg. 26                                                               17

Beinmotorik bei Schlagzeugern und Organisten. Eine
verwandte Erkrankung bei Sängerinnen und Sängern
ist die spasmodische Dysphonie, die durch einen
Verlust der feinmotorischen Kontrolle des Stimm-
apparates beim Singen gekennzeichnet ist (Blitzer
2010). Ist die Dystonie nicht mehr streng auf das Musi-
zieren beschränkt und zeigt sich z. B auch beim Schrei-
ben, spricht man von einem dystonen Krampf. Eine
derartige Ausweitung auf andere Tätigkeiten tritt bei
34 % der Patienten auf. Bei einem kleinen Prozentsatz
(unter 2 %) breitet sich die Dystonie aus und betrifft
dann z. B. nicht nur die Hand, sondern auch Unter-           (a)
und Oberarm. Man spricht dann von einer segmen-
talen Dystonie. Entwickelt sich auch eine Dystonie
an der zuerst nicht betroffenen Seite spricht man von
einer multifokalen Dystonie. Die Ausprägung der
Symptome kann stark wechseln und es werden bei bis
zu 20 % der Betroffenen temporäre Teilremissionen
beobachtet. Spontan auftretende persistierende Total-
remissionen sind allerdings sehr selten.
                                                             (b)
Eine Rarität sind fixierte Dystonien bei Musikern,
bei der die betroffenen Finger in einer unwillkür-          Abbildung 2: Fixierte Dystonie: Geigerin mit fixierter Dysto-
lichen, abnormen Position fixiert sind, was sich im         nie der linken Finger IV und V, welche sich im Verlauf auch
Verlauf auch außerhalb des Instruments äußern kann          im Alltag manifestierte. Nach Injektion von Botulinumtoxin
(Lee et al. 2013, Abbildung 2). Die Pathophysiologie        kam es innerhalb weniger Stunden zu einer fast vollständigen
fixierter Dystonien ist nicht gut verstanden und sie        Remission, was die Hypothese einer funktionellen Genese
werden meist als Manifestation einer funktionellen          unterstützt.
Bewegungsstörung aufgefasst (Schrag, 2004).
                                                            (Schmidt et al. 2009). So finden sich in bis zu einem
Die Lebenszeitprävalenz der Musikerdystonie liegt           Drittel der betroffenen Patienten auch Dystonien bei
in Deutschland bei ca. 1 % der Berufsmusiker. Diese         Verwandten ersten Grades (Schmidt et al. 2006). In
im Vergleich zu anderen Dystonien deutlich größere          Hinblick auf die Pathophysiologie zeigen die meis-
Häufigkeit (beim Schreibkrampf ca. 1:3000) mag auf          ten Studien Auffälligkeiten in drei Hauptbereichen:
einem Schwellenphänomen beruhen. Berufsmusiker              a) reduzierte Inhibition in motorischen Systemen
stehen unter besonders hohem Leidensdruck und               auf kortikaler, subkortikaler und spinaler Ebene
beanspruchen bei subtilen Störungen motorischer             b) Veränderung der sensorischen Verarbeitung und
Funktionen wahrscheinlich früher ärztliche Hilfe als        c) eingeschränkte sensomotorische Integration. Dabei
Betroffene anderer Berufe. Auffällig ist die unterschied-   wird vermutet, dass diese Veränderungen primär
liche Geschlechterverteilung bei der Musikerdystonie:       durch die oben angesprochene maladaptive Plastizität
Männer sind mit 81 % deutlich überrepräsentiert             des Gehirns ausgelöst werden.
(Altenmüller und Jabusch 2010). In Tabelle 2
sind die wesentlichen epidemiologischen Fakten              Ein Mangel an Hemmung (Inhibition) ist ein
zusammengefasst.                                            häufiger Befund in Studien an Patienten, die an
                                                            verschiedensten Formen der Dystonie leiden (für eine
Pathophysiologie der Musikerdystonien                       Review siehe Hallett 2004). Feinmotorische Kon-
                                                            trolle benötigt generell eine feine Balance zwischen
Die Pathophysiologie der fokalen Dystonie ist hetero-       aktivierenden und hemmenden neuronalen Netz-
gen. Unbestritten ist eine genetische Komponente,           werken. Sie ist besonders wichtig, um präzise und
die wir in mehreren Studien nachweisen konnten              geschmeidige Handbewegungen auszuführen. Für
18              Musikerdystonien: Phänomenologie, Ursachen, Differenzialdiagnosen und Behandlungsmöglichkeiten

 Genre                                  Klassische Musik                                                           95 %

 Geschlecht                             Männlich                                                                   81 %
 Häufigste Instrumente                  Klavier > Holzblasinstrumente > Gitarre > Blechblasinstrumente>Streicher

 Alter                                  Beginn der Symptomatik vor dem 40. Lebensjahr                              80 %

 Psychologische Konstellation           Angststörungen und /oder Perfektionismus                                   70 %

 Berufliche Position                    Solisten                                                                   51 %

 Veränderter somatosensorischer Input   Schmerzsyndrome, Nervenkompression                                         9%

 Familiäre Häufung                      Angehörige ersten Grades betroffen                                         36 %

Tabelle 2: Risikofaktoren der Musikerdystonie: Epidemiologische Daten aus einer Stichprobe von 144 Patienten mit
Musikerdystonien (Jabusch et al. 2005), aus 591 Patienten unserer Ambulanz (Lee et al. 2015b) und aus einer Gruppe
von 28 Patientenfamilien (Schmidt et al 2009).

schnelle Fingerbewegungen beim Klavierspielen                   allgegenwärtige Demonstration von unzulänglicher
beispielsweise wird eine hoch selektive und spezi-              Hemmung deutet auf eine gemeinsame zugrunde-
fische Aktivierung von Muskeln benötigt, um einzelne            liegende genetische Ursache hin (Schmidt et al.
Finger in gewünschter Weise zu bewegen und vor                  2009). Allerdings muss betont werden, dass keiner
allem Bewegungen der nicht beteiligten Finger zu                dieser elektrophysiologischen Effekte eine Diagnose
hemmen (Furuya et al. 2015). Patienten, die an einer            auf individueller Ebene erlaubt, da die Variabilität der
Dystonie der Hand leiden, zeigten in elektromyo-                neurophysiologischen Messwerte bereits bei gesun-
graphischen Messungen eine verlängerte Aktivität                den Musikern und eben auch bei Musikern mit fokaler
von Muskelsignalen bei gleichzeitiger Kontraktion               Dystonie enorm hoch ist.
von antagonistischen Muskelgruppen und Über-
aktivierung von benachbarten Muskeln (Furuya und                Veränderte sensorische Wahrnehmung kann
Altenmüller 2013). Fehlende Hemmung konnte auf                  ebenfalls ein Zeichen einer maladaptiven Plastizi-
verschiedenen Ebenen des Nervensystems gefunden                 tät des Gehirns sein. In mehreren Studien konnte
werden. Auf spinaler Ebene führt ein derartiges                 gezeigt werden, dass die Fähigkeit, zwei Stimuli zeit-
Defizit zu einer herabgesetzten reziproken Inhibition           lich und räumlich zu unterscheiden, bei Patien-
der antagonistischen Muskelgruppen, was die häufig              ten, die an Musikerdystonie leiden, eingeschränkt
zu beobachtende Kontraktion beispielsweise von                  ist (z. B. Sadnicka et al. 2017). Dies ist unabhängig
Handgelenksflexoren und -streckern befördert. Das               davon, ob die Sinneswahrnehmung über die Finger-
wiederum löst Gefühle von Verspannung und Steifig-              spitzen (Dystonie der Hand) oder durch die Lippen
keit aus und führt häufig zu abnormalen Stellungen              (oromandibuläre Dystonie) erfolgt. Ein derartiges
der Hand mit z. B. einer überwiegenden Beugung                  Verhaltensdefizit spiegelt sich in der kortikalen
des Handgelenkes aufgrund der relativen Stärke der              somatosensorischen Repräsentation der Finger und
Beugemuskeln. Abnormale Inhibition konnte eben-                 Lippen wider. Mit Hilfe verschiedener funktionel-
falls mit Hilfe von transkranieller Magnetstimulation           ler Bildgebungsverfahren konnte gezeigt werden,
auf kortikaler Ebene nachgewiesen werden (Sommer                dass sich im Bereich des somatosensorischen Kortex
et al. 2002). Interessanterweise zeigt sich hier meist,         die rezeptiven Felder einzelner Finger bei Patien-
dass beide Hirnhälften betroffen sind, obwohl z.  B.            ten mit Musikerdystonie stärker überlappen als
nur eine Hand die dystonen Bewegungsmuster                      bei gesunden Probanden (Elbert et al. 1998).
aufweist. Dies lässt ein generalisiertes Inhibitions-           Gleichermaßen kann die kortikale Repräsenta-
defizit vermuten. Schließlich konnte eine fehlende              tion der Lippen bei Patienten mit oromandibulärer
Hemmung bei komplexeren Aufgaben, wie zum                       Dystonie verändert sein (Haslinger et al. 2010).
Beispiel der Vorbereitung einer Handbewegung vor                Andere Auffälligkeiten sind erhöhte Schwellen-
einer Tonleiterübung und der plötzlichen Hemmung                werte bei der Unterscheidung zweier zeitlich kurz
einer Bewegung nach einem Stop­Signal bei Pianis-               aufeinander folgender Reize, ein Marker für eine
ten gezeigt werden (Herrojo­Ruiz et al. 2009). Die              Fehlfunktion der Basalganglien (Termsarasab et al.
Musikphysiologie und Musikermedizin 2019, Nr. 1, Jg. 26                                                       19

2015). Da bei gesunden Musikern ein Anstieg der           was möglicherweise auf eine fehlerhafte Einbindung
Größe der Fingerrepräsentationen als adaptive plasti-     des propriozeptiven Inputs in die entsprechenden
sche Anpassung an die Anforderungen und individu-         motorischen Programme zurückzuführen ist. Eine
ellen Erfahrungen gedeutet wird (Elbert et al. 1995),     Umkehrung dieses Effektes der sensomotorischen
kann spekuliert werden, dass diese Veränderungen bei      Desintegration ist der Ansatz einiger Retraining
Musikern, welche an Dystonie leiden, über ihr Ziel        Verfahren und spielt sicher auch beim Phänomen
hinausschießen. Der Vorteil der adaptiven Neuro-          des „sensorischen Tricks“, einer meist nur vorüber-
plastizität würde damit in den Nachteil der maladap-      gehenden Verbesserung der motorischen Kontrolle
tiven Plastizität verkehrt (Rosenkranz et al. 2005).      bei Veränderung des somatosensorischen Inputs, eine
An dieser Stelle mag es lohnenswert sein, sich ins        Rolle. So kann sensorisches Retraining in Form einer
Gedächtnis zu rufen, dass lokaler Schmerz und             taktilen Diskriminationsübung eine Verbesserung
verstärkter sensorischer Input aufgrund eines Nerven-     der motorischen Symptome hervorrufen, was nahe-
kompressionssyndroms, eines Traumas oder der              legt, dass die oben genannten sensorischen Auffällig-
Überbeanspruchung eines Muskels als auslösende            keiten die motorischen Funktionsstörungen mit
Faktoren für eine Dystonie beschrieben wurden.            verursachen. Interessanterweise ist bei Musikern mit
Interessanterweise gibt es Parallelen bezüglich der       Dystonie eine positive Reaktion auf den sensorischen
abnormalen kortikalen Verarbeitung von sensorischen       Trick mit einem besseren Retrainingserfolg verbunden
Informationen und der kortikalen Reorganisation           (Paulig et al. 2014).
zwischen Patienten mit chronischen Schmerzen und
Patienten mit fokaler Dystonie. Ein Tiermodell der        Mit modernen Konnektivitätsmessungen konnte in
fokalen Dystonie in übertrainierten Affen unterstützt     den letzten Jahren gezeigt werden, dass die Musiker-
diese Beobachtung: repetitive Bewegungen riefen           dystonie auch mit einer Veränderung weit verzweigter
beide Symptome hervor – Schmerzsyndrome sowie             neuronaler Netzwerke einhergeht. So zeigen Patien-
auch dystone Bewegungen. Die Kartierung von neuro-        ten mit Musikerdystonie veränderte Netzwerk-
nalen rezeptiven Feldern zeigte eine verzerrte korti-     funktionen, die durch eine Störung der Interaktion
kale somatosensorische Repräsentation (Byl et al.         zwischen Basalganglien und Cerebellum, Störungen
1996), was vermuten lässt, dass übermäßiges Training      des Informationsaustausches im prämotorischen
und übungsinduzierte Veränderungen der kortikalen         Kortex sowie durch eine Abnahme an Konnektivi-
Verarbeitung in der Pathologie der fokalen Dystonie       tät innerhalb der sensomotorischen und frontopa-
der Hand eine Rolle spielen.                              rietalen Bereiche charakterisiert sind (z. B. Strübing
                                                          et al. 2012; Battistella et al. 2015). Somit verkörpert
Eingeschränkte sensomotorische Integration spielt         die Musikerdystonie wahrscheinlich eine Funktions-
ebenfalls eine Rolle in der Pathophysiologie der          störung von weit spannenden funktionellen Netz-
Musikerdystonie. Am besten wird dies durch den            werken. Jedoch muss die spezifische Bedeutung dieser
sensorischen Trick veranschaulicht: einige Musiker,       Netzwerke und deren interindividuellen Variabilität
welche an einer Dystonie leiden, zeigen eine deut-        erst noch aufgeklärt werden.
liche Verbesserung ihrer feinmotorischen Kontrolle,
wenn sie zum Musizieren Latexhandschuhe anziehen          Triggerfaktoren der Musikerdystonie
oder ein Objekt zwischen den Fingern halten (zum
Beispiel einen Radiergummi) und somit den somato-         Neben einer genetisch bedingten Veranlagung
sensorischen Input verändern. Experimentell führ-         mit den oben dargestellten pathophysiologischen
ten vibrierende Stimuli zu einer Verschlechterung         Veränderungen scheinen endogene und exogene
der Musikerdystonie. In einer Studie, in der trans-       Faktoren wichtige Trigger zu sein. Wesentliche Trig-
kranielle magnetische Stimulation in Verbindung           ger sind einerseits sensomotorische Überlastung,
mit Muskelvibration angewandt wurde, verringerten         sogenannter „Overuse“ und Schmerz, andererseits
sich motorisch evozierte Potentiale in agonistischen      prämorbide psychologische Faktoren, vor allem
Muskeln und verstärkten sich in antagonistischen          Angstbereitschaft und seelische oder körperliche Trau-
(Rosenkranz et al. 2002). Diese Ergebnisse lassen         matisierung. Dies hat in den letzten Jahren zu einer
erneut eine veränderte zentrale Integration von senso-    differenzialdiagnostischen Unsicherheit geführt, da
rischen Reizen bei der Musikerdystonie vermuten,          manche früher als Musikerdystonie diagnostizierten
20            Musikerdystonien: Phänomenologie, Ursachen, Differenzialdiagnosen und Behandlungsmöglichkeiten

Bewegungsstörungen jetzt als Angststörungen mit           und pathophysiologisch oben begründet. Dystonien
antizipatorischer Bewegungsblockade aufgefasst            nach schmerzhaften Überlastungs-verletzungen
werden können. In den Sportwissenschaften hat sich        betrafen immerhin 9 % aus einer Stichprobe von 144
für dieses Phänomen der Begriff des „dynamischen          betroffenen Musikern, welche sich bei uns vorstellten
Stereotyps“ dafür durchgesetzt, im englischen Sprach-     ( Jabusch et al. 2005). Grundsätzlich sind Musiker, die
raum auch „Choking under Pressure“ (Altenmüller           nach dem Alter von 11 Jahren mit dem Instrumental-
et al. 2015). Derzeit ist die Hypothese, dass bei eini-   spiel beginnen, deutlich anfälliger für die Entwicklung
gen Patienten ängstlich gefärbter Erwartungsdruck,        einer Dystonie (Schmidt et al. 2013). Neurobio-
ungenügende „Coping-Mechanismen“ bei erhöhtem             logisch wird dies mit „Metaplastizität“ begründet.
Stress, und möglicherweise ein erhöhter Sympathi-         Man geht davon aus, dass die im frühen Kindes-
kotonus zu situativen Verkrampfungen führen, die          alter erstellten Nervenzellnetzwerke für Feinmotorik
sich dann unter ungünstigen Bedingungen, z. B. durch      und auditiv-sensomotorische Integration effizienter
Überfokussierung oder traumatische Verarbeitung,          und stabiler und weniger störanfällig sind, als später
im Bewegungsgedächtnis fixieren können (Ioannou           entstandene (Altenmüller und Furuya 2017).
et al. 2016). Generell scheinen diese „psychologisch“
getriggerten dysfunktionalen Bewegungsgedächtnisse        Das Zusammenwirken von endogenen und exoge-
weniger stark fixiert zu sein und eher einer Thera-       nen Faktoren bei der Entstehung der Musikerdys-
pie zugänglich zu sein als die durch sensomotorische      tonie wird in Abbildung 3 dargestellt. Dabei haben
Überlastung getriggerten Fehlbewegungen. Allerdings       wir das Geschehen als dynamisches Flussdiagramm
fehlen noch kontrollierte Studien, die Effekte spezi-     dargestellt, wobei auch gezeigt wird, dass es eine
fischer Therapien beider Gruppen von Bewegungs-           Grauzone zwischen Musikerdystonie und dynami-
störungen gezielt vergleichen.                            schem Stereotyp gibt.

Hinsichtlich der sensomotorischen Triggerfaktoren Diagnostik und Differenzialdiagnose
sind hohe Präzision, Komplexität und Geschwindig- der Musikerdystonie
keit des erforderlichen Bewegungsablaufes für die
Auslösung einer Musikerdystonie typisch. Aus diesem Die Diagnose einer Musikerdystonie wird durch eine
Grund betrifft beispielsweise die Dystonie bei hohen sorgfältige Anamnese und klinische Untersuchung
Streichern häufiger die linke Hand, da hier sehr hohe gestellt. Grundsätzlich setzt die Diagnosestellung
zeitlich räumliche Präzision
gefordert wird, während die linke
Hand von Kontrabassisten nur
sehr selten erkrankt. Chronische
Überbelastung scheint eben-
falls ein Triggerfaktor zu sein. So
fördern andere feinmotorische
Belastungen, etwa langes Schrei-
ben oder Geschicklichkeits-
spiele (Computertastatur), eine
Musikerdystonie (Baur et al.
2011). Chronische myofasziale
oder neuropathische Schmerzen
können als weitere Risikofaktoren
für die Entwicklung einer fokalen
Dystonie angesehen werden. Die
sporadische Entwicklung sympto-
matischer (sekundärer) foka- Abbildung 3: Schematische Darstellung des Zusammenspiels zwischen intrin-
ler Dystonien nach peripheren sischen und extrinsischen Faktoren, die zur Auslösung einer Musikerdystonie
Nervenläsionen und muskulären beitragen können (verändert nach Altenmüller und Furuya 2017, mit freundlicher
Traumata ist ebenfalls gut belegt Genehmigung).
Musikphysiologie und Musikermedizin 2019, Nr. 1, Jg. 26                                                         21

der Musikerdystonie immer eine Untersuchung am            der Druckschmerz über dem verengten Ringband
jeweiligen Musikinstrument voraus. Ein vollständiger      leicht feststellen. In seltenen Fällen können andere
neurologischer Befund muss immer mit erhoben              Basalganglienerkrankungen eine Musikerdystonie
werden, um eine dystone Störung als Frühsymptom           imitieren. So kann bei einem beginnenden hypo-
anderer neurologischer Erkrankungen auszuschließen.       kinetischen Parkinson-Syndrom eine Dystonie-ähn-
Auch die Erhebung des psychiatrischen Status ist          liche Störung schneller repetitiver Fingerbewegungen
notwendig, um Hinweise auf frühe Traumatisierun-          am Instrument im Vordergrund stehen. Auch bei
gen oder reine psychogene Dystonien zu erkennen.          Chorea Huntington wurde von uns in zwei Fällen
Schließlich sollten bei Handdystonien immer auch          eine Musikerdystonie als Erstsymptom beobachtet.
die biomechanischen Handfunktionen untersucht             In einem Fall wurde eine Dystonie-ähnliche Sympto-
werden, um biomechanische Hemmnisse und Risiko-           matik in der Bogenhand einer Cellistin durch ein
faktoren zu erfassen. Die neurophysiologische Diag-       höher malignes Thalamusgliom ausgelöst. Ein
nostik mit Messung von Nervenleitwerten und               Morbus Wilson sowie seltene, auch die Basalganglien
Elektromyogramm ist bei der aufgabenspezifischen          betreffende Erkrankungen wie z. B. die Akanthozy-
Dystonie nicht ergiebig. Eine weiterführende appa-        tose, gelten zwar ebenfalls als Differenzialdiagnosen,
rative Diagnostik ist nicht notwendig, wenn folgende      allerdings ist uns bislang kein einziger Fall einer durch
Kriterien erfüllt sind:                                   diese Störungen verursachten isolierten Musikerdys-
                                                          tonie bekannt geworden.
1.   Die Musikerdystonie tritt ausschließlich
     aufgabenspezifisch bei sonst ungestörten             Differenzialdiagnostisch muss bedacht werden,
     Handfunktionen auf (z. B. nur beim Klavierspiel).    dass myofasziale und neuropathische Schmer-
                                                          zen bei Musikern häufig auch eine Erschwernis von
2. Der neurologische, psychiatrische und                  Bewegungsabläufen mit sich bringen und dass bei
   biomechanische Befund ist sonst unauffällig.           etwa 9 % der Dystoniepatienten vor der Manifes-
                                                          tierung der Dystonie chronische Schmerzen in der
3. In der Anamnese ergeben sich keine                     betroffenen Körperregion bestanden.
   Hinweise auf eine symptomatische Ursache
   (z. B. komplexes regionales Schmerzsyndrom,            Bei Bläsern sind wichtige Differenzialdiagnosen
   Einnahme bestimmter Medikamente etc.).                 Überlastungsverletzungen und Muskelfaserrisse
                                                          des M. orbicularis oris. Sie sind durch einen akuten
Weitere wegweisende diagnostische Hinweise                Beginn bei starker Belastung mit Schmerzen und
entstehen durch Einbeziehung des „Sensory-                nachfolgender schwerwiegender Spielstörung charak-
Trick“-Phänomens: Gelegentlich verspüren Musiker          terisiert. Im Gegensatz zur Dystonie ist die Prognose
mit Handdystonien beim Spiel mit einem Latexhand-         dieser muskulär bedingten Spielstörungen besser.
schuh eine deutliche Verbesserung des subjektiven         Auch psychische Erkrankungen können manchmal
Spannungsgefühls. Dies konnten wir bei 20 % der           mit Schilderungen seitens des Patienten einhergehen,
betroffenen Pianisten auch in Bewegungsmessungen          die mitunter den Verdacht auf eine Dystonie lenken.
objektivieren (Paulig et al. 2014). Typischerweise        So klagen vor allem ältere an Depressionen erkrankte
berichten die Musiker auch über eine Verbesserung         Musiker nicht selten über einen Geschwindigkeits-
der Dystonie in Konzertsituationen, was die               verlust und über vermeintliche Einbußen der fein-
Abgrenzung von Verspannungen oder Bogenzittern            motorischen Kontrolle, die objektiv mit dem natür-
auf Grund von Aufführungsangst erleichtert.               lichen Alterungsprozess und den damit verbundenen
                                                          nachlassenden feinmotorischen Fertigkeiten in
Differenzialdiagnostisch müssen handchirurgische          Zusammenhang zu bringen sind.
Erkrankungen ausgeschlossen werden. Ringband-
stenosen der Fingerbeuger können ein Streck-              Eine schwierige Differenzialdiagnose ist die
defizit verursachen, das sich ähnlich wie eine            Abgrenzung zum oben ausführlich dargestellten eher
Dystonie auswirkt, aber nicht aufgabenspezifisch          angst- und verspannungsdominierten „dynamischen
ist. Bei der körperlichen Untersuchung lassen sich        Stereotyp“ (Altenmüller et al. 2015). Ein Charakte-
die biomechanisch bedingte Streckhemmung und              ristikum ist hier im Gegensatz zur Musikerdystonie
22            Musikerdystonien: Phänomenologie, Ursachen, Differenzialdiagnosen und Behandlungsmöglichkeiten

das regelmäßige Auftreten von „Inseln“ mit tageweiser     10  % der Patienten gelingt es sogar, die Dystonie
Symptomfreiheit! Die Prognose ist günstiger als bei       ganz zu besiegen und durch die Erfahrung mit der
der Musikerdystonie, allerdings kann sich, wie im         Bewegungsstörung ein reicheres Leben zu führen
Schema dargestellt, aus dem dynamischen Stereotyp         (Lee et al. 2013). Grundsätzliches Ziel der Thera-
auch eine Dystonie entwickeln.                            pie ist es, die im Bewegungsgedächtnis verankerten
                                                          dystonen Bewegungsmuster zu verlernen, unwillkür-
Als besondere Variante der Handdystonie wird der          liche Muskelanspannungen abzubauen und durch
fokale oder dystone Tremor aufgefasst. Dabei kommt        funktionell günstige Bewegungen zu ersetzen, die
es beim Instrumentalspiel zu einem auf wenige             auch in schnellem Tempo mit Leichtigkeit funktionie-
Muskelgruppen         beschränkten    mittelfrequenten    rende Bewegungen ermöglichen. Pragmatisch können
Aktionstremor, gelegentlich auch zu Haltetremor um        jedoch häufig auch ergonomische Hilfen oder eine
6–7   Hz, der häufig irreguläre Amplituden aufweist       Veränderung des Repertoires mit weniger anspruchs-
(Lee et al 2014). In Ruhe ist kein Tremor nachweis-       vollen Werken bereits eine sehr befriedigende
bar. Der häufigste derartige Tremor ist der primäre       Lösung darstellen. Auf musikermedizinisch-musik-
Bogentremor. Charakteristisch ist ein aufgaben-           pädagogischer Seite stehen Retrainingsverfahren zur
spezifischer, unilateraler Tremor des rechten Arms        Verfügung. Als schulmedizinische Therapie können
beim Spiel eines Streichinstruments, der mit einer        die Medikamente Trihexyphenidyl und Clona-
Koaktivierung antagonistischer Muskelgruppen des          zepam und die Schwächung der verkrampfenden
rechten Ober- und Unterarms einhergeht (Lee et al.        Muskelfaszikel mit Botulinumtoxin angewendet
2014). Differenzialdiagnostisch muss dieser Tremor        werden (Altenmüller und Jabusch 2009). Derzeit
vom affektiv ausgelösten Tremor bei Aufführungsangst      sind auch elektrophysiologische Stimulationsver-
abgegrenzt werden. Hier ist der wichtigste Unter-         fahren mit transkranieller Gleichstromstimulation
schied, dass der primäre Bogentremor unabhängig von       in der Erprobung, ohne dass abschließend ein Urteil
einer auslösenden Situation (z.  B. Konzert, Probe-       über Effizienz und Nachhaltigkeit dieser Metho-
spiel) auftritt. Ein weiteres Unterscheidungskriterium    den möglich ist (Furuya et al. 2013). Das dyna-
ist die Tremorfrequenz: Der primäre Bogentremor           mische Stereotyp reagiert mitunter exzellent auf
hat, wie der Dystone Tremor, eine Frequenz von ca.        Antidepressiva, z. B. hochselektive Serotonin-Wieder-
6  Hz, während der Tremor durch Aufführungsangst          aufnahme Hemmer, wobei wir Escitalopram bevor-
als verstärkter physiologischer Tremor eine Frequenz      zugen. Im Folgenden sollen die Grundzüge der Thera-
von 8-12  Hz hat (Lee et al. 2015b). Eine weitere         pie dargestellt werden:
Differenzialdiagnose ist der essenzielle Tremor.
Hier sind das Auftreten des Tremors unabhängig            Ergonomische Veränderungen
vom Instrumentalspiel und eine meistens bilaterale
Manifestation die wichtigsten Unterscheidungs-            Ergonomische Veränderungen am Instrument können
kriterien. Für die Musikerinnen und Musiker häufig        als symptomatische Therapie sehr segensreich sein.
beängstigend ist die Differenzialdiagnose eines Parkin-   In den Abbildungen 4a und 4b sind zwei Beispiele
son Syndroms. Hier sind der fehlende Ruhetremor,          aufgezeigt: Optimierte Stützen helfen, um übermäßige
die Aufgabenspezifität, die höhere Frequenz und ein       Spannungen in der Hand zu verringern. Sie können
Auftreten meist vor dem 50. Lebensjahr beim primä-        so die Symptomatik insgesamt lindern. Das Decken
ren Bogentremor die wichtigsten Unterschiede.             oder die Verlängerung von Klappen bei Holzblasins-
                                                          trumenten oder sogar die Übernahme einer Klappe
Behandlung der Musikerdystonie                            aus der linken in die rechte Hand kann sehr hilfreich
                                                          sein. Durch das Decken der Klappe muss der Finger
Noch vor zwei Jahrzehnten war die Diagnose einer          nicht mehr genau das Tonloch treffen und kann z. B.
„fokalen Dystonie“ für die meisten Betroffenen ein        bei einer unwillkürlichen Krümmung immer noch das
beruflicher und emotionaler Vernichtungsschlag!           Loch präzise schließen. An derartige ergonomische
Das hat sich seither grundlegend gewandelt und            Lösungen sollte daher immer gedacht werden.
wir können gute Therapien anbieten, die vielen            Auch Fingerschienen können in manchen Fällen die
Betroffenen die berufliche Existenz sichern und           unwillkürliche Flexion der betroffenen Finger reduzie-
Musizieren auf höchstem Niveau ermöglichen! Etwa          ren und so das Instrumentalspiel erleichtern.
Musikphysiologie und Musikermedizin 2019, Nr. 1, Jg. 26                                                         23

                                                                                         Trihexyphenidyl und
                                                                                         andere Pharmaka

                                                                                          Von      den      infrage
                                                                                          kommenden        medika-
                                                                                          mentösen      Therapien
                                                                                          ist das anticholinerg
                                                                                          wirkende        Medika-
                                                                                          ment Trihexyphenidyl
                                                                                          (Parkopan®,     Artane®)
                                                                                          am effektivsten. Es
                                                                                          wurde       ursprünglich
                                                                                          zur Behandlung der
Abbildung 4: Ergonomische Lösungen zur Verbesserung der Spielfähigkeit bei Dystonie.      Parkinsonkrankheit
Entlastung von Haltearbeit durch optimierte Stütze (Abb. 4a) und größere Fehlertoleranz   entwickelt und wirkt auf
bei sich unwillkürlich einziehenden Fingern durch Veränderungen der Klappen (Abb. 4b).    die Bewegungszentren
Die abgedeckten Klappen sind normalerweise offen und benötigen eine genaue Platzierung    der        Basalganglien.
des Fingers.                                                                              Dort erleichtert es das
                                                                                          Neulernen, vermutlich
Retraining Verfahren                                                                      durch      Beeinflussung
                                                               des Handlungsgedächtnisses. Es kann als Einzel-
Zur Behandlung der Musikerdystonien sind in den therapie oder in Kombination mit Botulinumtoxin
letzten Jahren verschiedene, auf Retrainingprinzi- bzw. im Zusammenhang mit Retrainingverfahren
pien basierende Therapieformen entwickelt worden, eingesetzt werden. Wichtig ist ein einschleichender
wie etwa das „Sensomotorische Retuning“ von der Behandlungsbeginn. Nach anfänglicher täglicher
Arbeitsgruppe um Thomas Elbert in Konstanz. Dosierung von 1 mg zur Nacht erfolgt üblicher-
Bei diesem Ansatz werden die kompensatorischen weise innerhalb von drei Wochen die allmähliche
Bewegungen durch Schienung unterdrückt und Steigerung bis zur Nebenwirkungsgrenze bei in der
die dystonen Finger spezifischen Übungsverfahren Regel 6–12 mg/Tag. In vielen Fällen kann allerdings
unterzogen. Das Verfahren wird derzeit ausschließlich Trihexyphenidyl aufgrund von Nebenwirkungen
in Spanien angeboten (Rosett y Llobet et al. 2018). (Müdigkeit, Schwindel, Stimmungslabilität, Gedächt-
Ein vom Pianisten und Klavierpädagogen Laurent nisstörungen, Mundtrockenheit, Verstopfung, Harn-
Boullet in Berlin entwickeltes Rehabilitationspro- verhalt, Potenzschwierigkeiten) nicht ausreichend
gramm beruht auf der Beobachtung, dass dystone hoch dosiert werden. Eine langfristige Besserung
Bewegungen vermieden werden können, wenn die mit dem Medikament wird von einem Drittel der
Kraft und die Geschwindigkeit einer Bewegung Betroffenen berichtet. Die Kombinationstherapie mit
eine kritische Grenze nicht überschreiten. Durch Botulinumtoxin hat in Einzelfällen die Therapieergeb-
Bewegungsübungen in sehr langsamem Tempo nisse verbessert (Altenmüller und Jabusch 2010).
und mit wenig Krafteinsatz kann auf Dauer diese Vor allem bei segmentalen Dystonien haben wir gute
kritische Grenze in eine günstige Richtung ver- Erfahrungen mit niedrig dosiertem Clonazepam
schoben werden. Diese über mehrere Jahre verlau- (Rivotril®) gemacht. Die Dosierung sollte ebenfalls
fende Therapie setzt eine gute Mitarbeit und viel langsam eingeschlichen werden und 4 mg Tagesdosis
Geduld bei den Patienten voraus (van Vugt et al. nicht überschreiten. Müdigkeit und Muskelschwäche
2014). Auch Lehrer der Dispokinese-Methode können die Anwendung begrenzen, der Entwicklung
können gute Erfolge im Retraining vorweisen. Bei der einer Abhängigkeit sollte durch enge Führung der
Behandlung der Ansatzdystonie konnte durch tech- Patienten, Vermeiden von Dosissteigerungen (Doku-
nische Übungen, Ansatzumstellung und vermehrte mentation der Rezepturen) und gelegentliche
Betonung der Atemführung in weniger stark Drug-Holidays vorgebeugt werden. In den letzten
ausgeprägten Fällen eine Besserung erzielt werden Jahren haben wir vereinzelt den Einsatz von Cannabi-
(Steinmetz et al. 2013).                                       noiden erprobt. Insgesamt waren die Ergebnisse sehr
24            Musikerdystonien: Phänomenologie, Ursachen, Differenzialdiagnosen und Behandlungsmöglichkeiten

heterogen. Etwa ein Drittel der betroffenen Musiker       Besserung der Symptomatik führt, kann sie unter
profitierten, allerdings waren die Nebenwirkungen,        Umständen die Voraussetzung für einen optimalen
nämlich Müdigkeit, Benommenheit etc. meist so             Therapieeffekt anderer Behandlungen schaffen (Alten-
ausgeprägt, dass wir diese Behandlung nicht mehr          müller et al. 2015).
generell empfehlen (Altenmüller und Lee 2018).
                                                          Allgemein ist die Behandlung der Musikerdystonie
Botulinumtoxin                                            schwierig und sollte spezialisierten Neurologen und
                                                          Therapeuten vorbehalten bleiben. Für jeden Patien-
Die guten Erfahrungen mit lokaler Injektion von           ten muss ein individueller Therapieplan ausgearbeitet
Botulinumtoxin A haben diesen Behandlungsweg bei          werden, der sich nach der Ausprägung und dem
den Handdystonien in den letzten Jahren zunehmend         Schweregrad der Erkrankung, der beruflichen Tätig-
in den Vordergrund gestellt. Als Voraussetzung für die    keit, der Lebenssituation und nach den Erwartungen
wirksame Behandlung von Musikerkrämpfen müssen            des Patienten richtet. Ergonomische Maßnahmen,
primär dystone Bewegungen von sekundär kompen-            Anticholinergika und eine Injektionstherapie mit
sierenden Bewegungen unterschieden werden.                Botulinumtoxin können eine rasche Linderung
Dazu ist es unumgänglich, dass der Bewegungs-             bewirken, wobei die Injektionen etwa vierteljährlich
ablauf am Instrument präzise analysiert wird.             wiederholt werden müssen. Retraining benötigt ein
Eine videografische Aufnahme mit Slow-Motion-             jahrelanges Engagement von Seiten der Patienten.
Darstellung hat sich bewährt. Häufig können die           Da komplette Heilungen sehr selten sind, raten wir
Patienten auch beschreiben, welcher Bewegungs-            Patienten unter 30 Jahren grundsätzlich zu einer brei-
ablauf primär betroffen war. Eine fälschliche Injektion   teren beruflichen Orientierung und zum Aufbau eines
in die kompensierenden Muskeln führt zu einer             zweiten Standbeins außerhalb des Instrumentalspiels
Verschlechterung der Symptomatik. Da der weit-            (Altenmüller und Jabusch 2010).
aus größte Teil der Handdystonien Beugedystonien
sind, sind Injektionen in die Streckermuskeln selten      Obwohl dank der aktuell verfügbaren therapeu-
angebracht (Schuele et al. 2006). Die Führung der         tischen Ansätze bei einem Großteil der Patien-
Injektion durch Elektromyographie oder eine sono-         ten mit Musikerdystonien mittelfristig eine Besse-
graphische Darstellung der Muskeln und der Nadel-         rung der Symptomatik zu beobachten ist, sind die
lage sind unseres Erachtens unumgänglich. Bei über        Möglichkeiten zur Behandlung bis heute noch nicht
der Hälfte der mit Botulinumtoxin behandelten             zufriedenstellend. In verschiedenen Follow-up-Stu-
Musikerpatienten ist auch langfristig eine Besserung      dien hat nach Zeiträumen von acht bis zehn Jahren
der Symptomatik zu beobachten. Für die Therapie der       etwa ein Drittel der betroffenen Musiker den Beruf
Ansatzdystonie ist Botulinumtoxin in der Regel nicht      gewechselt. Häufig werden pädagogische Aufgaben
geeignet, allerdings kann in den seltenen Fällen einer    oder auch ein Wechsel zu einem anderen Instrument
übermäßigen Verkrampfung des Musculus masseter            als Lösung gewählt. Die Entwicklung von gezielten
die Spielfähigkeit durch Injektionen wieder hergestellt   Vorbeugemaßnahmen und von neuen Behandlungs-
werden (Frucht 2018).                                     verfahren ist daher dringend erforderlich, besonders
                                                          für die bislang nur unzureichend therapierbaren
Unspezifische Maßnahmen                                   Ansatzdystonien bei Blasinstrumentalisten. Einige
                                                          neue Therapieansätze sind derzeit in Erprobung. Dies
Über Wochen bis Monate dauernde Spielpausen oder          betrifft auch die von uns derzeit erprobte transkra-
andere Maßnahmen, wie z. B. Akupunktur, Physio-           nielle Gleichstromstimulation mit bihemisphärischer
therapie, Massagen, Elektrotherapie oder Psycho-          Elektrodenplatzierung und Hemmung der senso-
therapie, hatten in der Langzeitbeobachtung keinen        motorischen Areale der „dystonen“ Hemisphäre,
Einfluss auf die Ausprägung der Musikerdystonie.          bei gleichzeitiger Aktivierung der kontralateralen
Es muss allerdings betont werden, dass die Diagnose       Hemisphäre. Besonderheit des von uns entwickelten
einer fokalen Dystonie für Musiker mit einem erheb-       Verfahrens ist, dass während der Stimulation schnelle
lichen Leidensdruck verbunden ist. Daher kann in          und präzise spiegelbildliche Bewegungen mit den
Einzelfällen Psychotherapie als Krisenintervention        Fingern durchgeführt werden. Nach initial sehr guten,
notwendig sein. Auch wenn diese nicht direkt zu einer     aber nicht nachhaltigen Ergebnissen ist die Methode
Musikphysiologie und Musikermedizin 2019, Nr. 1, Jg. 26                                                                 25

noch als experimentell einzustufen und muss an            Literatur
größeren Patientenzahlen hinsichtlich ihrer Nach-
haltigkeit evaluiert werden (Furuya et al. 2013).         1   Altenmüller E, Furuya S (2017): Apollos Fluch
Weiterhin ist es notwendig, allgemeine Richtlinien            und Segen: Musizieren als Neuroplastizitätsmotor.
                                                              Neuroforum 23: 76–95
für Retraining-Therapien zu formulieren und in der
Praxis zu überprüfen. Eine solche Identifizierung         2   Altenmüller E, Ioannou C (2018): Aetiological
                                                              Concepts of Musician’s Dystonia. In: D. Dressler,
eines „günstigen“ Verhaltens am Instrument ist
                                                              E. Altenmüller, J. Kraus (eds.): Treatment of Dystonia,
besonders auch im Hinblick auf die Prävention der
                                                              Cambridge University Press, Cambridge: 210–216
Musikerdystonie wünschenswert. Entscheidend für
                                                          3   Altenmüller E, Jabusch HC (2010): Focal dystonia in
die Prävention sind vernünftige Übegewohnheiten
                                                              musicians: phenomenology, pathophysiology and triggering
mit vielen Pausen (spätestens nach ca. 45 Minuten),           factors, and treatment. Med Probl Perform Art.25: 3–9
variable Übeweisen, um langes Üben von repetitiven,
                                                          4   Altenmüller E, Jabusch HC (2016): Zur Hirnphysiologie
einseitigen Bewegungen zu vermeiden, sowie opti-              des Übens: Ein Update. Musikphysiologie und
mierte Ergonomie und ein spielerischer, angstfreier           Musikermedizin 23: 51 – 65
Zugang zum Instrument. Ziel sollte es dabei sein,
                                                          5   Altenmüller E, Lee A (2018): Cannabinoids in
den Instrumentalschülerinnen und Instrumental-                Dystonia. In: D. Dressler, E. Altenmüller,
schülern ein Bewusstsein für diese Maßnahmen                  J. Kraus (eds.): Treatment of Dystonia, Cambridge
gezielt bereits zu Beginn der musikalischen                   University Press, Cambridge: 421–423
Ausbildung zu vermitteln (Altenmüller und Jabusch         6   Altenmüller E., Ioannou CI, Lee A (2015): Apollo’s
2017).                                                        curse: neurological causes of motor impairments
                                                              in musicians. Prog Brain Res. 217: 89–106
Bei der Musikerdystonie sollten aber auch die             7   Battistella G, Termsarasab P, Ramdhani RA,
gesellschaftlichen Dimensionen nicht ausgeblendet             Fuertinger S, Simonyan K. (2015): Isolated Focal
werden. Die Entstehung dieser Erkrankung im                   Dystonia as a Disorder of Large-Scale Functional
19. Jahrhundert, in einer Zeit, in der Spezialisierung        Networks. Cerebral Cortex 26: 1–13
und Professionalisierung, Perfektion, Geschwindig-        8   Baur V, Jabusch HC, Altenmüller E (2011):
keit und artistische Höchstleistung als wesentliche           Behavioral factors influence the phenotype of
ästhetische Kategorien in die musikalische Praxis             musician’s dystonia. Mov. Disord. 26: 1780–1781
Einzug gehalten haben, weist einen weiteren Weg           9   Blitzer A (2010): Spasmodic dysphonia and
in die Richtung der Prävention: Abkehr vom toten              botulinum toxin: experience from the largest
Perfektionismus und Hinwendung zum eigent-                    treatment series. Eur J Neurol 17 Suppl 1: 28–30
lichen Inhalt der Musik, zur Kommunikation von            10 Byl NN, Merzenich MM, Jenkins WM (1996): A primate
Emotionen.                                                   genesis model of focal dystonia and repetitive strain
                                                             injury: I. Learning-induced dedifferentiation of the
                                                             representation of the hand in the primary somatosensory
Fazit für die Praxis
                                                             cortex in adult monkeys. Neurology, 47: 508–520
                                                          11 Elbert T, Pantev C, Wienbruch C, Rockstroh B,
Musikerdystonien sind durch den Verlust der fein-
                                                             Taub E (1995): Increased cortical representation
motorischen Kontrolle langgeübter Bewegungen                 of the fingers of the left hand in string players.
am Musikinstrument gekennzeichnet. Die Diag-                 Science, 270 (5234): 305–307
nose wird klinisch durch einen in der Diagnos-
                                                          12 Elbert T, Candia V, Altenmüller E, Rau H, Rockstroh
tik von Bewegungsstörungen geschulten Neuro-                 B, Pantev C, Taub E (1998): Alteration of digital
logen gestellt und muss eine Untersuchung am                 representations in somatosensory cortex in focal
Instrument einschließen. Differenzialdiagnostisch            hand dystonia. NeuroReport 16: 3571–3575
müssen handchirurgische Erkrankungen, neuro-              13 Ericsson KA, Krampe RT, Tesch-Römer C (1993):
logische Systemerkrankungen und altersbedingter              The role of deliberate practice in the acquisition of
Abbau feinmotorischer Fertigkeiten bedacht werden.           expert performance. Psychol Rev, 100: 363–406
Therapeutisch kommen Anticholinergika, Retraining         14 Frucht S (2018): Phenomenology of Musician’s
und bei Handdystonien lokale Injektionen von                 Dystonia. In: D. Dressler, E. Altenmüller, J.
Botulinumtoxin in Betracht.                                  Kraus (eds.): Treatment of Dystonia, Cambridge
                                                             University Press, Cambridge: 195–201
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