Muskuloskelettale Gesundheit von Friseuren - Arbeits- und Gesundheitsschutz am Arbeitsplatz - ErgoHair
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Muskuloskelettale Gesundheit von Friseuren - Arbeits- und Gesundheitsschutz am Arbeitsplatz Medizinisches Referenzdokument
Impressum Autoren: Agnessa Kozak1 Claudia Wohlert1 Tanja Wirth1 Olaf Kleinmüller1 Miet Verhamme2 Rainer Röhr 3 Albert Nienhaus1,4 1 Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf, Competenzzentrum Epidemiologie und Versorgungsforschung bei Pflegeberufen (CVcare), Hamburg, Germany 2 Unie van Belgische Kappers vzw, Gent, Belgien 3 Zentralverband des Deutschen Friseurhandwerks Deutschland, (ehem. Hauptgeschäftsführer) Coiffure EU (ehem. Sekretär für Gesundheits- und Arbeitsschutz) Berufsgenossenschaft für Gesundheitsdienst und Wohlfahrtspflege (BGW), 4 Abteilung Arbeitsmedizin, Gefahrstoffe und Gesundheitswissenschaften (AGG) Design und Umsetzung: in.signo GmbH, Hamburg Druck: OSTERKUS[S] gGmbH, Hamburg Bildnachweis: Fotolia/LIGHTFIELD STUDIOS (Titel), iStock/andresr (S. 4), iStock/Nastasic (S. 7), freepik.com (S. 8-9), Fotolia/Leonid (S. 11), Fotolia/DenisProduction.com (S. 16), iStock/robertprzybysz (S. 19), Fotolia/Jacob Lund (S. 22), iStock/dimid_86 (S. 24-25), Fotolia/JackF (S. 33, 43), Fotolia/Maksim Shebeko (S. 38-39), Fotolia/phpetrunina14 (S. 44-45), Fotolia/pololia (S. 53), iStock/DjelicS (S. 82-83) Dieses Projekt wurde von der Europäischen Union finanziell unterstützt (Ref. VS/2017/0077) Für die Übernahme der Druckkosten bedanken wir uns bei der BGW Erscheinungsdatum: 04. April 2019
Inhalt Abstract Scoping Review........................................................................................................ 5 Einleitung.................................................................................................................................. 6 1. Friseursektor in Europa................................................................................................ 8 1.1. Europäische Bestrebungen zur Stärkung des Arbeits- und Gesundheitsschutzes....................................................................................... 10 1.2. Bestrebungen des sektoralen sozialen Dialogs für den Friseursektor....... 10 2.Das Muskel-Skelett-System....................................................................................... 12 2.1. Aufbau und Funktion........................................................................................ 12 2.2. Muskel-Skelett-Erkrankungen......................................................................... 13 2.2.1. Arbeitsbedingte Muskel-Skelett-Erkrankungen.................................. 13 2.2.2. Risikofaktoren für Muskel-Skelett-Erkrankungen............................... 15 2.2.3. Ökonomische Relevanz......................................................................... 21 2.2.4. Ökonomischer Nutzen der Prävention von MSE im Unternehmen......................................................................................... 22 3.Scoping Review zur muskuloskelettalen Gesundheit bei Friseuren....................... 24 3.1. Hintergrund....................................................................................................... 24 3.2. Methoden.......................................................................................................... 26 3.3. Ergebnisse........................................................................................................ 27 3.3.1. Prävalenz von Muskel-Skelett-Beschwerden...................................... 28 3.3.2. Gründe für den vorzeitigen Berufsausstieg........................................ 29 3.3.3. Vergleichende Ergebnisse.................................................................... 29 3.3.4. Arbeitsbezogene Risikofaktoren und biomechanische Untersuchungen.................................................................................... 30 3.3.5. Präventive und rehabilitative Ansätze zur Vorbeugung / Reduktion von MSE............................................................................. 33 3.3.6. Strategien und Hindernisse zur Vorbeugung und Reduktion von MSE........................................................................................................ 35 3.4. Diskussion......................................................................................................... 36 3.5. Schlussfolgerung.............................................................................................. 37 4. Ergebnisse aus den Workshops in Hamburg und Paris – ergoHair-Projekt........... 38 5.Ergonomische und organisatorische Präventionsansätze....................................... 44 5.1. Ergebnisse aus den Workshops des ergoHair-Projekts............................... 46 5.1.1. Prävention in der Aus-, Fort- und Weiterbildung................................ 46 5.1.2. Ergonomische Gestaltung und Einrichtung......................................... 47 5.1.3. Ergonomisches Arbeiten....................................................................... 49 5.1.4. Allgemeine organisatorische Rahmenbedingungen........................... 50 5.1.5. Möglichkeiten der Risikobewertung..................................................... 51 5.2. Muskel-Skelett-Beschwerden in der Schwangerschaft............................. 53 6. Anhang......................................................................................................................... 54 7. Literaturverzeichnis.................................................................................................... 70 3
Abstract Scoping Review Zielsetzung: Die mit dem Friseurhandwerk über Schulterhöhe angehobenen Armen, verbundenen Tätigkeiten können Muskel- häufig wiederkehrende Bewegungen, ein Skelett-Erkrankungen (MSE) verursachen großer Kraftaufwand der oberen Extremi- oder verschlimmern. Ziel dieses Scoping täten, unangenehme Rückenhaltungen und Reviews ist es, Kenntnisse über den aktu- Rückenbewegungen (z.B. Beugen und Ver- ellen Forschungsstand zu den Risiken für drehen des Oberkörpers oder statische MSE sowie zu Präventionsmaßnahmen im Haltung), hohe mechanische Belastung Friseurhandwerk zu gewinnen und mögli- und Stehen. Der Effekt dieser Risikofakto- che Forschungslücken zu ermitteln. ren kann durch fehlende angemessene Pausen, eine hohe Arbeitslast und allge- Methoden: Bis zum Mai 2017 veröffent- meine Stressbelastung verstärkt werden. lichte Studien (Update November 2018) wurden anhand einer systematischen Es wurden sechs Interventionsstudien Suche in elektronischen Datenbanken gefunden, die rehabilitative oder präventive (MEDLINE, PUBMED, CINAHL, Web of Maßnahmen untersucht haben. Lediglich Science, LIVIVO), Google Scholar und die rehabilitativen Interventionen wiesen Referenzlisten von Artikeln identifiziert. Die positive Effekte auf die Bewältigung der Studien wurden von zwei Forschenden un- physischen und mentalen Belastung auf abhängig voneinander ausgewählt sowie und führten zu einer erheblichen Schmerz- quantitativ und narrativ zusammengefasst. minderung, einer erhöhten physischen Gepoolte Effektschätzer für eine Zwölf- Belastbarkeit und zu Kenntnissen über Monats- und eine Punktprävalenz von MSE potenzielle Risikofaktoren für MSE. wurden anhand von Modellen mit zufälligen Effekten berechnet. Schlussfolgerung: Diese Daten liefern einige Hinweise zu den berufsbedingten Ergebnisse: Insgesamt wurden 44 Stu- Belastungen und Beanspruchungen im Fri- dien in das Scoping Review eingeschlos- seurhandwerk und weisen darauf hin, dass sen. 19 Studien gaben eine MSE-Prävalenz Maßnahmen zur Förderung der Gesundheit an: die höchste durchschnittliche Zwölf- und Sicherheit notwendig sind. Um fun- Monats-Prävalenz wurde für den unteren dierte und nachhaltige Empfehlungen ab- Rücken mit 48 % (95 %-KI 35,5-59,5) leiten zu können, bedarf es weiterer For- ermittelt, gefolgt von dem Nacken mit 43 % schung. Es sind qualitativ hochwertige und (95 %-KI 31,0-55,1), den Schultern mit 42 % langfristige Interventionsstudien erforder- (95 %-KI 30,1-53,2) und der Hand/den lich, um die Wirksamkeit der komplexen Handgelenken mit 32 % (95 %-KI 22,2- Präventionskonzepte zu klären. 40,8). Im Vergleich zu anderen Berufsgrup- pen berichteten Friseure häufiger über MSE in allen Körperregionen und sie haben ein größeres Risiko, aus gesundheitlichen Gründen aus dem Beruf aussteigen zu müssen. Zu den Risikofaktoren, die die Arbeitsfähigkeit verringern und MSE ver- stärken können, zählen das Arbeiten mit 5
Einleitung Mit dem Projekt zur „Förderung von gesun- heitsfördernden Verhaltens am Arbeits- den und sicheren Arbeitsbedingungen im platz zu vermitteln. Dies betrifft sowohl die Friseurhandwerk durch die Gestaltung von Beschaffung der Produkte, die Organisa- ergonomischen Arbeitsplätzen und -abläu- tion der Arbeitsabläufe als auch den Um- fen“ (ergoHair) wird die einheitliche Umset- gang mit den Beschäftigten. Mit diesem zung der im Sozialpartnerabkommen fest- medizinischen Referenzdokument wird gelegten Kernbereiche zur Förderung von beabsichtigt, den Akteuren in der Friseur- gesunden und sicheren Arbeitsplätzen in branche eine Anleitung zur Verfügung zu der Friseurbranche angestrebt [1, 2]. Dabei stellen, welche Kriterien bei der Entwick- sollen Synergien gestärkt und der gemein- lung eines gesunden Arbeitsumfelds zu same Austausch zwischen europäischen beachten sind. Ausschüssen für den sektoralen sozialen Dialog gefördert werden. So soll ein Bei- Im Kapitel 1 wird der Friseursektor in trag zur Harmonisierung des Arbeits- und Europa beschrieben und die allgemeinen Gesundheitsschutzes unter besonderer Ansätze zur Stärkung des Arbeits- und Berücksichtigung der ergonomischen Gesundheitsschutzes seitens der Europä- Arbeitsplatzgestaltung und -ausstattung ischen Union und der sektoralen Sozial- sowie zur Förderung von effektiven ergo- partner aufgezeigt. nomischen Arbeitsweisen geleistet wer- den. Das übergeordnete Ziel ist es, durch Kapitel 2 beschäftigt sich mit dem anato- zielgruppenspezifische Ausarbeitung und mischen Aufbau und den Funktionen des Verbreitung von präventiven ergonomi- Muskel-Skelett-Systems sowie den berufs- schen Empfehlungen und Standards, das bedingten Schädigungen des Bewegungs- Bewusstsein für die Belastungen und apparats. Im Einzelnen werden die Verbrei- Beanspruchungen bei der Friseurtätigkeit tung von berufsbedingten MSE, die multi- zu schärfen und als Konsequenz die Zahl faktoriellen Risikofaktoren sowie die Kosten berufsbezogener Muskel-Skelett-Erkran- des Gesundheitsproblems dargestellt. Au- kungen (MSE) und -Beschwerden (MSB) in ßerdem wird der ökonomische Nutzen von dieser Branche europaweit zu reduzieren. Präventionsmaßnahmen zur Vorbeugung von MSE im Betrieb erörtert. Das Projekt knüpft an die 2016 unterzeich- nete europäische Rahmenvereinbarung Im Kapitel 3 wird die im Rahmen des ergo- zum Arbeits- und Gesundheitsschutz in der Hair-Projekts verfasste systematische Lite- Friseurbranche an. Die darin vereinbarte raturarbeit – Scoping Review – dargestellt. Zielsetzung soll zur Entwicklung eines kon- Mit den zusammengetragenen Studien sentierten, wissenschaftlich begründeten wurde gemäß den Zielen des Projekts die europäischen Standards zum Schutz der wissenschaftliche Grundlage geschaffen. Gesundheit und Sicherheit am Arbeitsplatz Die hier aufgezeigten epidemiologischen beitragen. Eines der fünf postulierten Erkenntnisse lassen Rückschlüsse auf die Handlungsfelder ist die Prävention von berufliche und gesundheitliche Belastung MSE. Es ist ein besonderes Anliegen der und Beanspruchung der Friseure zu und Sozialpartner, möglichst frühzeitig die Not- verdeutlichen, dass diese Berufsgruppe wendigkeit eines präventiven und gesund- stärker in den Fokus von betrieblichen und 6
schulischen Maßnahmen zum Arbeits- und Im Kapitel 5 werden anschließend Anre- Gesundheitsschutz ge-nommen werden gungen und Vorschläge zur Förderung von muss. gesunden und sicheren Arbeitsbedingun- gen im Friseurhandwerk durch die ergono- Im Kapitel 4 werden weitere Forschungs- mische Gestaltung von Arbeitsplätzen und ergebnisse zusammengetragen, die in den -abläufen zusammengetragen. Workshops (Hamburg und Paris) vorge- stellt wurden. 7
1 Friseursektor in Europa Die Friseurbranche in Europa besteht überwiegend aus Klein- und Kleinstunter- nehmen. Es gibt schätzungsweise 400.000 Friseursalons mit näherungsweise 1 Mio. Friseuren, das entspricht ungefähr 0,4-0,8 % der Beschäftigten eines Lan- des [3, 4]. In der Friseurbranche ist die Selbstständigkeit weit verbreitet. Einer Untersuchung von acht EU-Mitgliedsstaaten1 zufolge, werden circa 50-60 % aller Friseursalons von Selbstständigen ohne Angestellte geführt. Die Wachstumsrate bei Friseurbetrieben liegt zwischen 12 % und 149 % in den meisten EU-Ländern. Die meisten Betriebe gibt es in Italien, Deutschland und Frankreich. Neben den Ein-Personen-Salons steigt auch die Anzahl von Unternehmen, die Friseurketten betreiben oder als Franchiseanbieter auftreten [4]. In Deutschland wird ihr Anteil auf 15 % an allen Friseurunternehmen geschätzt [5]. Ein Großteil der Beschäftigten sind Frauen, die in den meisten Ländern neun von zehn Friseuren ausmachen. Ver- glichen zu anderen Branchen arbeiten vor allem junge Leute als Friseure; mehr als die Hälfte der Beschäftigten sind jünger als 34 Jahre [4]. Charakteristisch für diese Branche ist auch der hohe Anteil an Teilzeitkräften (circa 40 %) [3]. Allerdings gibt es hier große Unterschiede zwischen den einzelnen Ländern. In den Niederlanden arbeiten beispielsweise 70 % in Teilzeit, in Ungarn hingegen nur 9 %. Ebenfalls charakteristisch ist die hohe Fluktuation unter den Beschäftigten. In den Nieder- landen und im Vereinigten Königreich verlassen circa 16 % beziehungsweise 14 % der Beschäftigten ihre Stelle innerhalb eines Jahres [4]. In Dänemark bleiben Fri- seure durchschnittlich 8,4 Jahre im Beruf (inklusive Ausbildungszeit) [6]. Dänemark, Frankreich, Deutschland, Ungarn, Italien, Niederlande, Slowenien, Großbritannien. 1 8
1.1. Europäische Bestrebungen 1.2. Bestrebungen des sekto- 1 zur Stärkung des Arbeits- und ralen sozialen Dialogs für den Gesundheitsschutzes Friseursektor Das Vorbeugen oder Minimieren von phy- Der soziale Dialog ist Grundbestandteil des sischen Gefährdungen am Arbeitsplatz ist europäischen Sozialmodells, dessen für die EU-Mitgliedsstaaten ein fester Be- Rechtsgrundlage in den Artikeln 151-156 standteil ihrer Gesundheits- und Arbeits- des Vertrags über die Arbeitsweise der schutzpolitik. Artikel 153 des Vertrags über Europäischen Union niedergelegt ist [7]. die Arbeitsweise der Europäischen Union Verschiedene europäische Organisationen (EU) bevollmächtigt den Europäischen Rat, des Friseurhandwerks haben sich an die- Mindestvorschriften in Form von Richt- sem Dialog beteiligt. Auf der Seite der linien zu erlassen, um Maßnahmen zur Arbeitgeber waren dies Coiffure EU und auf Verbesserung der Sicherheit und des der Seite der Arbeitnehmer Uni Europa Hair Gesundheitsschutzes der Beschäftigten and Beauty. Im Mittelpunkt des sozialen zu gewährleisten. Die gesetzlichen Anfor- Dialogs standen im Wesentlichen zwei derungen sind innerhalb der EU-Mitglieds- Themen: die Harmonisierung der Berufs- staaten verschieden. Jeder Staat hat ausbildung und der Gesundheitsschutz. Handlungsspielräume und kann bei der Umsetzung von Richtlinien in nationales Der Gesundheitsschutz im Friseurhand- Recht striktere Vorschriften für den Schutz werk entwickelte sich bereits in den 90er der Beschäftigten und ihrer Interessen Jahren zu einem der wichtigsten Themen anordnen [7]. In der Richtlinie 89/391/EEC in der Branche. Auslöser war der Anstieg wird ausdrücklich der Arbeitgeber in die berufsbedingter Hautkrankheiten seit Ende Verantwortung genommen, die Arbeitsum- der 80er Jahre (z. B. in Deutschland). In welt im Hinblick auf die Arbeitsplatzgestal- Folge dessen mussten viele Friseure ihren tung, Auswahl an Instrumenten/Materialien Beruf aufgeben. Bereits im Jahr 2001 ver- und Auswahl an Produktionsverfahren indi- einbarten CIC Europa, die Vorläuferorgani- viduell anzupassen [8]. In den Prioritäten sation von Coiffure EU, und Uni Europa für die Forschung im Bereich Sicherheit Hair and Beauty eine Leitlinie für Arbeits- und Gesundheitsschutz am Arbeitsplatz für bedingungen. Der entsprechende Forde- die Jahre 2013-2020 empfiehlt die Europä- rungskatalog enthielt schon wesentliche ische Agentur für Sicherheit und Gesund- Elemente des im Jahr 2012 geschlossenen heitsschutz am Arbeitsplatz (EU-OSHA), europäischen Gesundheitsschutzabkom- mehrdimensionale ergonomische Maßnah- mens für das Friseurhandwerk. Ab dem men unter Berücksichtigung individueller, Jahr 2011 verhandelten die Sozialpartner technischer und organisatorischer Aspekte über ein konkreteres und weiter gefächer- zu entwickeln und umzusetzen [9]. tes Gesundheitsschutzabkommen. Im April 10
2012 wurde dieses Abkommen im Beisein des damaligen Kommissars für Beschäfti- auf nationaler Ebene umsetzen können. Dazu führte die Universität Osnabrück von 1 gung, Soziales und Integration, László 2009 bis 2012 die Projekte Safehair 1.0 und Andor, unterzeichnet. Es umfasst folgende 2.0 im Auftrag der Sozialpartner und der Bereiche: Europäischen Kommission durch. Wesent- • Verwendung von Arbeitsstoffen, liches Ergebnis war die in der Deklaration Produkten und Werkzeugen von Dresden vereinbarte Selbstverpflich- • Schutz der Haut und der Atemwege tung der Sozialpartner, sich für die gemein- • Prävention von Muskel-Skelett-Erkran- sam erarbeiteten Schutzmaßnahmen ein- kungen zusetzen und deren Kenntnis in der Fri- • Arbeitsumfeld und Arbeitsorganisation seurausbildung sowie in den beruflichen • Mutterschutz Tests und Abschlussprüfungen zu verlan- • Mentale Gesundheit gen [10]. In Folge der gemeinsamen Bemü- hungen ist die Zahl der im Friseurhandwerk Die Europäische Kommission wurde aufge- gemeldeten Hauterkrankungen nach Aus- fordert, dieses Abkommen in eine europä- sagen der Teilnehmer des sozialen Dialogs ische Richtlinie zu überführen, die für alle stark zurückgegangen. Betriebe des Friseurhandwerks verbindlich werden sollte. Diese Forderung ist bislang Außerdem entwickelten die EU-OSHA und nicht erfüllt worden, da einige Mitglieds- die Sozialpartner im Jahr 2014 mit dem staaten Einwände gegen Teile des Abkom- OIRA-Tool eine online verfügbare Gefähr- mens hatten. Nach erneuten Verhandlun- dungsanalyse für den Friseursektor [11]. gen wurde im Juni 2016 eine überarbeitete Rahmenvereinbarung über die Gesundheit und Sicherheit am Arbeitsplatz unterzeich- net [1, 2]. Diese konzentriert sich im We- sentlichen auf den Schutz der Haut und der Atemwege sowie auf die Prävention von MSE. Zur Thematik der berufsbedingten Hauterkrankungen hatte sich seinerzeit der soziale Dialog dafür ausgesprochen, ein europäisches Forschungsprojekt in die Wege zu leiten. Dieses Forschungsprojekt sollte, basierend auf wissenschaftlichen Erkenntnissen, Aussagen darüber machen, wie die verschiedenen Zielgruppen wie Ausbilder, Lehrer, Beschäftigte und Salon- leiter die Vereinbarungen der Sozialpartner 11
Das Muskel-Skelett-System 2 2.1. Aufbau und Funktion höhle, die mit Gelenkflüssigkeit gefüllt und von einer Gelenkkapsel umgeben ist. Der Skelettelemente, Gelenke und Skelettmus- Knorpel wird optimal mit Nährstoffen ver- kulatur bilden zusammen den Bewegungs- sorgt, wenn regelmäßig Be- und Entlastung apparat. Das Stützgerüst des Körpers durch Bewegung stattfindet. Hohe einsei- besteht aus knöchernen und knorpeligen tige Belastung oder Bewegungsmangel Skelettelementen, die durch Bindegewebs- können insbesondere bei älteren Men- strukturen miteinander verbunden sind. schen degenerative Veränderungen, auch Teile des Skeletts werden durch die Ske- Arthrosen genannt, hervorrufen [13]. lettmuskulatur bewegt beziehungsweise in einer bestimmten Lage gehalten. Der Der aktive Bewegungsapparat besteht aus Bewegungsapparat wird in aktive und pas- Muskeln, Sehnen und Bändern. Sie sind im sive Strukturen unterteilt. Das Skelettsys- Wesentlichen für die aktive Bewegung und tem mit Knochen, Gelenken und Knorpeln die aufrechte Körperhaltung verantwort- bildet die passiven Strukturen (Faller et al. lich, die durch willkürliche und unwillkürli- 2004). Sie erfüllen im Wesentlichen folgen- che Kontraktion und Relaxation der Mus- de Funktionen: keln erfolgt. • Stütz- und Hebelfunktion für die Muskulatur Muskel: Der menschliche Körper besitzt • Schutzfunktion für andere Organe über 400 Muskeln; sie machen circa 45 % (z. B. Brustkorb für Herz und Lunge) der Körpermaße aus. Dabei werden drei • Mineralspeicher für Kalzium und Grundtypen unterschieden: quergestreifte Phosphat Muskulatur (z. B. Skelettmuskulatur), glatte • Bildungsstätte für Blutzellen im Muskulatur (z. B. Wände des Magen-Darm- Knochenmark [12] Trakts) und Herzmuskelgewebe. Im Gegen- satz zu den anderen Typen wird die Ske- Knochen: Das Skelett eines Erwachsenen lettmuskulatur durch einen willkürlich setzt sich aus etwa 200 Knochen zusam- ausgelösten Nervenreiz erregt. Im Ruhezu- men. Die Gestalt ist genetisch festgelegt, stand entfallen 20-25 % des Energieum- während der innere Aufbau durch äußere satzes auf die Skelettmuskulatur [12, 13]. Umstände beeinflusst wird (z. B. durch Es finden sich auch geschlechterspezifi- gesunde Ernährung, Zufuhr von Kalzium sche Unterschiede: Männer haben eine und Vitamin D sowie eine ausgewogene höhere Muskelmasse als Frauen (durch- Belastung) [12]. schnittlich 30 kg versus 24 kg). Demzufolge leisten Frauen nur 65 % der Muskelkraft, Gelenke und Knorpel: Gelenke sind Ver- die Männer leisten können [12, 14]. bindungen zwischen knorpeligen und/oder knöchernen Skelettstrukturen und ermögli- Sehnen und weitere Hilfseinrichtungen: chen Bewegungen der einzelnen Abschnitte Bei der Muskelkontraktion übertragen Seh- des Rumpfs und der Extremitäten. Außer- nen, die über die Muskeln am Knochen dem dienen sie der Kraftübertragung. Die befestigt sind, die Kraft auf das Skelett. Sie Gelenkflächen sind meist mit hyalinem bestehen aus zugfesten Kollagen-Faser- Knorpel bedeckt und liegen in einer Gelenk- bündeln. Die Sehnen werden je nach Loka- 12
lisation, Form und Verlaufsrichtung der sich je nach Lokalisation2 und betroffener 2 (1) Obere Extremitäten, Muskeln in Zug-, Druck- oder flächenhafte Gewebsstruktur erheblich voneinander (2) Halswirbelsäule (C1-C7), Sehnen unterschieden [13]. Bei der Mus- kelarbeit wird Reibung erzeugt. Um den [20]. MSE zählen zu den am häufigsten in der Bevölkerung verbreiteten Erkrankun- (3) Brustwirbelsäule 2 (Th1-Th12), daraus erzeugten Kraftaufwand auf ein gen, sie werden daher auch als Volkskrank- (4) Lendenwirbelsäule Minimum zu begrenzen, sind Hilfseinrich- heiten bezeichnet. Weltweit durchgeführte (L1-L5) und tungen wie Muskelfaszien, Sehnenschei- populationsbezogene Surveys (n = 23) zei- (5) untere Extremitäten [20] den, Schleimbeutel und Sesamknochen gen, dass zwischen 13,5 % und 47 % der von großer Bedeutung [12, 13]. Allgemeinbevölkerung von chronischen muskuloskelettalen Schmerzen betroffen 2.2. Muskel-Skelett-Erkrankun- sind [21]. In einer aktuellen europaweiten gen Befragung waren Rückenschmerzen (43 %) und muskuläre Schmerzen in den Armen Unter muskuloskelettalen Erkrankungen (41 %) die mit Abstand am häufigsten ge- wird ein Sammelbegriff für verschiedene nannten Beschwerden. Frauen berichteten degenerative und entzündliche Krankheits- signifikant häufiger über MSE als Männer bilder des Bewegungsapparats verstan- [22]. den. Das betrifft sowohl die passiven als auch die aktiven Strukturen (siehe Kap. 2.1). Diese Krankheitsbilder reichen von 2.2.1. Arbeitsbedingte Muskel-Skelett- leichten kurzzeitigen Beschwerden (z. B. Erkrankungen Muskelverspannungen aufgrund von Über- oder Fehlbelastung) bis hin zu irreversiblen In epidemiologischen Studien ist hinrei- chronischen Erkrankungen (z. B. Arthrose). chend belegt, dass MSE durch berufsspe- Zu Gesundheitsschäden am Muskel-Ske- zifische physikalische, physische und psy- lett-System kommt es, wenn die von außen chomentale Einwirkungen und damit einwirkenden mechanischen Belastungen zusammenhängende Über- und Fehlbelas- die maximale Belastbarkeit der einzelnen tung des Haltungs- und Bewegungsappa- Körperstrukturen übersteigen [15]. Schmer- rats verursacht werden [23-26]. Die For- zen sind dabei die wichtigsten Symptome men der arbeitsbedingten MSE sind von MSE. Dabei gibt es zwei Ausprägun- vielfältig (siehe Abbildung 1). Die Weltge- gen des Schmerzes: akut und chronisch. sundheitsorganisation (WHO) definiert Akut auftretende Schmerzen haben eine diese als das Zusammenspiel verschiede- biologische Warnfunktion, um weitere ner Faktoren aus der Arbeitsumwelt, die in Schäden des Bewegungsapparats zu ver- unterschiedlichem Ausmaß signifikant zur meiden. Chronische Schmerzen haben Verursachung und/oder zur Verschlimme- diese Funktion verloren und behindern die rung von MSE beitragen [15]. Kroemer Betroffenen bei der Nutzung des Bewe- (1989) definiert drei Stadien von arbeitsbe- gungsapparats [16]. Daraus folgen hohe dingten MSE: intangible Kosten für die Betroffenen, wie körperliche Funktionseinschränkungen Stadium 1: Symptome während der Arbeit, oder Verlust an Lebensqualität [17, 18]. die weggehen; Betroffene weisen in diesem Zusammen- Stadium 2 : Symptome, die nach einem hang auch eine verminderte Arbeitsfähig- Arbeitstag über Nacht andauern; keit und Produktivität auf [19]. Die Erkran- Stadium 3: Symptome, die im Ruhezu- kungen und Beschwerdebilder haben einen stand anhalten, den Schlaf stören und über heterogenen Charakter; sie unterscheiden Monate bis Jahre hinweg andauern [27]. 13
Der Anteil der beruflich verursachten MSE zwölf Monaten; die meisten davon waren kann aufgrund der überwiegend multikau- Beschwerden des Bewegungsapparats 2 salen Genese sowie der hohen Prävalenz in der Allgemeinbevölkerung nur grob [29]. Der European Occupational Disease Statistics (2005) zufolge machten arbeits- geschätzt werden [28]. In den Industriena- bedingte MSE mit 38 % den größten Anteil tionen ist etwa ein Drittel aller krankheits- aller Berufskrankheiten in zwölf EU-Mit- bedingten Fehlzeiten auf MSE zurückzu- gliedsstaaten aus. Unter Berücksichtigung führen. Davon entfallen circa 60 % auf des Karpaltunnelsyndroms erhöht sich der Erkrankungen oder Verletzungen des Anteil sogar auf 59 % [30]. Unter den zehn Rückens. An zweiter Stelle stehen die häufigsten Berufskrankheiten für die Be- Erkrankungen der oberen Extremitäten, die richtsjahre 2001 bis 2007 finden sich unter auch unter den Sammelbegriffen „Repeti- anderem das Karpaltunnelsyndrom, Er- tive Strain Injuries“ oder „Cumulative krankungen der Sehnen- und Muskelan- Trauma Disorders“ zusammengefasst wer- sätze sowie der Sehnenscheiden (z. B. den [15]. In der Labour Force Survey (EU Tendosynovitis, Epicondylitis) und Angio- 27) berichteten 8,6 % (20 Mio.) der Beschäf- neurosen, die durch mechanische Schwin- tigten über arbeitsbezogene gesundheit- gungen verursacht werden (z. B. Raynaud- liche Probleme in den vorangegangenen oder Weißfingersyndrom) [31]. Nacken Rücken Schulter Ellenbogen Hand Hüfte/Knie • HWS • Bandschei- • Rotatoren- • Epikondylitis • Karpaltunnel- • Arthrose der Spondylose benerkrank- manschet- radialis und syndrom Hüfte und • Thoratic- ungen tenreizung ulnaris • Tendovagini- des Knies outlet- • Unspezifi- • Bizeps • Sulcus- tis stenosans • Meniskus- Syndrom sche Rücken- Tendinitis ulnaris- de Quervain verletzung • HWS Myalgie schmerzen • Gelenk- Syndrom (Daumen) • Schleim- kapselent- • Pronator- • Tendovagini- beutelent- zündung syndrom tis stenosans zündung • Unspezifische (andere Fin- Unterarm- ger) schmerzen • Hand-Arm- Vibrations- Syndrom Abbildung 1. MSE, die durch biomechanische Einwirkungen entstehen können (modifiziert nach ILO [32]; Mani & Gerr [33]; Sluiter et al. [34]). 14
2.2.2. Risikofaktoren für Muskel- plexen biopsychosozialen Krankheitsmo- Skelett-Erkrankungen dellen. Darin sind sowohl Arbeitsanforde- Durch epidemiologische Studien ist hinrei- rungen als auch individuell ererbte Anlagen, soziale Faktoren, Trainings- und Leistungs- 2 chend dokumentiert, dass degenerative zustand sowie Stresswahrnehmung und MSE überdurchschnittlich häufig in Beru- -resistenz inbegriffen [16] (Abbildung 2). fen vorkommen mit hohen physischen und Nicht alle sind jedoch Risikofaktoren im physikalischen Belastungen am Arbeits- eigentlichen Sinn, d. h. Faktoren, die ur- platz [23, 25, 26, 35, 36]. Die Erklärungsan- sächlich zur Entstehung von MSE beitra- sätze und Betrachtungsweisen von MSE gen. Vermehrt spricht man auch von Risi- haben sich in den vergangenen Jahren koindikatoren, die gehäuft in Assoziation jedoch erheblich weiterentwickelt: weg von mit dem Beschwerdebild beobachtet wer- dem alleinigen Fokus auf biomechanisch den wie z. B. Arbeitsunzufriedenheit oder orientierte Kausalitätstheorien hin zu kom- fehlende Gratifikation [12]. Sozioökonomische Verhaltensbezogene Faktoren Faktoren • Soziale Schicht • Körperliche Inaktivität • Alter • Mangel- und Fehlernährung • Bildung • Tabakkonsum • Erwerbstatus/Arbeitslosigkeit Verhältnisbezogene Arbeitsbezogene Faktoren Faktoren • Wirtschaftszweig • Stolperfallen • Über- und Fehlbelastung Beeinträchtigungen • Psychosoziale Belastungen & Erkrankungen • Fehlende Gratifikation des Muskel-Skelett- • Arbeitsunzufriedenheit Einschränkungen und Systems • Fehlende soziale Unter- Vorschädigungen stützung • Übergewicht/Adipositas • Sportverletzungen • Unfälle • Beeinträchtigungen der Psychologische Faktoren Sinnesleistung • Depressive Verstimmungen/ • Depression • Furcht- und Vermeidungs- Gesundheitskompetenz denken • Ängste • Geringes Gesundheits- • Stress, familiäre Belastungen bewusstsein Abbildung 2: Mögliche Einflussfaktoren für Beeinträchtigung und Erkrankungen des Muskel-Skelett-Systems, modifiziert nach Walter & Plaumann [12]. 15
2 Ein systematisches Review von Längs- Biomechanische Risikofaktoren schnittuntersuchungen in verschiedenen Die Exposition gegenüber biomechani- Berufsgruppen untersuchte den Einfluss schen Faktoren bei der Arbeit wie z. B. un- von arbeitsbezogenen und individuellen günstige Zwangshaltungen, schweres Risikofaktoren für MSE. Dabei wurden Evi- Heben und Tragen, häufiges Beugen und denzlevel für die einzelnen Risikofaktoren Verdrehen des Oberkörpers, manuelle und Körperregionen bestimmt. Die Evidenz Handhabung von Lasten, repetitive Arbeits- 3 Risikofaktoren mit hinrei- sagt aus, inwiefern man den in den Studien vorgänge, Kraftaufwand oder Ganzkörper- chender Evidenz - mindestens beobachteten statistischen Assoziationen schwingungen tragen zur Entstehung und/ eines der Kausalitätskriterien ist erfüllt; Bias und Störfak- vertrauen und diese somit als kausale oder Verschlimmerung der Symptome bei. toren können jedoch nicht voll- Beziehung betrachten kann. In der Tabelle Diese Faktoren können in ihrer Kombination, ständig ausgeschlossen wer- den (die meisten der Studien 1 werden biomechanische, psychosoziale Dauer, Häufigkeit und Intensität die anato- präsentierten 1-3 potenziell und individuelle Risikofaktoren mit „hinrei- mischen Strukturen wie Muskeln, Sehnen, irreführende Faktoren). Risiko- faktoren mit hoher Evidenz - chender Evidenz“3 für die jeweilige betrof- Gelenke, Nerven erheblich beeinträchtigen. mindestens vier von fünf Kau- fene Körperregion aufgezeigt [24]. Dabei Bei verminderter Anpassungsfähigkeit und salitätskriterien sind erfüllt; Bias und Störfaktoren wurden fällt auf, dass die Exposition gegenüber fehlenden Kompensationsmechanismen kontrolliert oder waren nicht vorhanden (die meisten der biomechanischen Faktoren sehr wahr- kann es zu einer Überbeanspruchung kom- Studien stellten keine irrefüh- scheinlich für alle Körperregionen schädi- men, aus der dann Schmerzen und Leis- renden Faktoren dar). Keinem der Risikofaktoren wurde hohe gend ist. Im Folgenden wird auf die einzel- tungsminderung resultieren. Die Auswirkun- Evidenz zugeordnet [24]. nen Risikodimensionen näher eingegangen. gen sind dementsprechend individuell [37]. 16
Tabelle 1: Risikofaktoren für MSE mit hinreichender Evidenz Arbeitsbezogene Risikofaktoren mit hinreichendem Nachweis eines kausalen Zusammenhangs 2 Körperregion biomechanisch psychosozial individuell Nacken • ungünstige Haltung • geringe Arbeitszufrieden- • weibliches Geschlecht heit und Unterstützung • Komorbidität • hohe Stressbelastung • Rauchen Unterer • ungünstige Haltung • negative Affektivität • jüngeres Alter Rücken • schwere körperliche Arbeit • geringe Kontrolle über • hoher BMI • Hebevorgänge die Arbeit • hohe psychische Anforderungen • hohe Arbeitsunzu- friedenheit Schulter • schwere körperliche • hohe Stressbelastung Arbeit • monotone Arbeit • geringe Kontrolle über die Arbeit Ellenbogen • ungünstige Haltung • Komorbidität • repetitive Tätigkeiten • höheres Alter Handgelenk/ • lange Computerarbeitszeit • hoher BMI Hand • schwere körperliche Arbeit • höheres Alter • ungünstige Haltung • weibliches Geschlecht • repetitive Tätigkeiten Hüfte • Hebevorgänge • schwere körperliche Arbeit Knie • ungünstige Haltung • Komorbidität • Hebevorgänge • repetitive Tätigkeiten Quelle: da Costa & Vieira [24] Die European Foundation for Improvement Heben oder Tragen von schweren Lasten of Living and Working Conditions (Euro- sowie Vibration sind die am häufigsten vor- found) führt regelmäßig im Abstand von kommenden physischen Risikofaktoren in fünf Jahren Surveys zu Arbeitsbedingun- Europa (Abbildung 3) [22, 38]. Betrachtet gen in Europa durch. Die sechste Befra- man die einzelnen Dimensionen des soge- gung kommt zu dem Ergebnis, dass sich nannten physical environment index4, dann 4 Der Index der physischen Umwelt – eine Dimension der die physische Arbeitsumwelt im Vergleich sind die Unterschiede zwischen den Beru- Arbeitsplatzqualität– umfasst zu den vergangenen Jahren kaum verbes- fen erheblich. Zum Beispiel weisen Be- 13 Indikatoren, die sich auf spezifische physische Gefah- sert hat. Expositionen gegenüber haltungs- schäftigte im Handwerksgewerbe mit 37 ren beziehen (z.B. Vibrationen bedingten ergonomischen Risikofaktoren Punkten den höchsten und damit schlech- durch Handwerkzeuge, Ermü- dungspositionen, Temperatur sind nach wie vor sehr häufig. Expositionen testen Score für haltungsbedingte Risiken oder das Heben/Bewegen von durch repetitive Bewegungen, statische auf; der Durchschnittswert für die EU28 Personen usw.). [22]. und erzwungene Körperhaltungen, das liegt bei 24 Punkten [22]. 17
Exponiert gegenüber körperlichen Risiken im zeitlichen Verlauf (% exponiert ein Viertel der Zeit oder länger) 2 Vibration 1991 EC12 Lärm 1995 EU15 2000 EU27 Hohe Temperaturen 2005 EU27 Niedrige Temperaturen 2010 EU27 Einatmen von Rauch, Staub und/oder Dämpfen Chemische Stoffe Ermüdende oder beschwerliche Positionen Schwere Lasten Repetitive Hand- oder Armbewegungen 0% 10% 20% 30% 40% 50% 60% 70% Abbildung 3: Anteil der körperlichen Risikofaktoren bei Beschäftigten in Europa – Ergebnisse aus früheren Eurofound Surveys [38]. Eurofound (2012), Fith European Working Conditions Survey, Publications Office of the European Union, Luxembourg Individuelle, lebensstilbezogene mischen Status (SES) [37]. Hier werden Einflussfaktoren exemplarisch einige Faktoren aufgelistet: Wie bei den meisten chronischen Erkran- kungen werden MSE durch multiple Risiko- Alter: Mit zunehmendem Alter nimmt die faktoren ausgelöst. Zusätzlich zur berufli- aerobe und muskuläre Leistungsfähigkeit chen Belastung spielen weitere Aspekte ab, was wiederum die körperliche Arbeitsfä- wie Sport, Bewegungsmangel, Ernährung higkeit beeinträchtigt [39]. Ältere Arbeitneh- oder Substanzkonsum eine bedeutende mer sind aufgrund ihrer verminderten Funk- Rolle bei der Entstehung. Des Weiteren tionsfähigkeit anfälliger für arbeitsbedingte können systemische Erkrankungen wie MSE als jüngere [40]. Der Anstieg schwächt Diabetes oder rheumatoide Arthritis die sich allerdings bei den 55- bis 64-Jährigen Pathogenese negativ beeinflussen. Die ab, man spricht auch vom „Healthy Worker Risiken variieren mit dem Alter, Geschlecht Effect“, d.h. kranke Arbeitnehmer verlassen sowie der Ethnizität oder dem sozioökono- das Erwerbsleben vorzeitig [31]. 18
Geschlecht: Mehreren Untersuchungen Lebensstil: zufolge ist die Prävalenz von MSE bei Gewicht/Ernährung : Beschäftigte mit Frauen insgesamt höher als bei Männern [31, 41, 42]. Geschlechtsspezifische Unter- Übergewicht und Adipositas haben ein hö- heres Risiko an MSE zu erkranken und ge- 2 schiede könnten auch durch unterschiedli- nesen langsamer als Normalgewichtige [47]. che Expositionen gegenüber arbeitsbe- Des Weiteren trägt der westliche Lebens- dingten Risikofaktoren erklärt werden. stil 6 zu einem negativen Kalziumhaushalt 5 Es wird angenommen, dass Bildung neben dem Zugang zu Einem Review zufolge haben Männer ein und zur Knochendemineralisation bei [48]. guten Beschäftigungsmöglich- höheres Risiko für Rückenbeschwerden keiten auch zu einer gesünde- ren Lebens- und Verhaltens- durch schweres Heben und Tragen und für Rauchen: Bei starken Rauchern (auch bei weise befähigt, die den Ein- Nacken-Schulter-Beschwerden durch Passivrauchern) wurden häufiger Kno- zelnen vor Nachteilen im spä- teren Leben schützen kann. Hand-Arm-Vibrationen. Frauen hingegen chenschwund und Frakturen beobachtet. haben ein höheres Risiko für Nacken- Zudem verzögert das Rauchen die Heilung 6 Sitzende Lebensweise, Kof- fein- und Alkoholkonsum, Rau- Schulter-Beschwerden durch statische, und erhöht die Komplikationen durch Frak- chen und eventuell hoher tie- rischer Eiweißkonsum [48]. ungünstige Armhaltungen [43]. turen und Traumata [49]. Außerdem wird das Rauchen mit lokalen entzündlichen Sozioökonomischer Status: Ein gerin- Reaktionen des Muskel-Skelett-Systems ger SES (niedriger Bildungsstand5, gerin- (z. B. Epicondylitis) und stärkerer Schmerz- ges Einkommen oder Qualifikation) steht in sensitivität in Verbindung gebracht [48]. starker Beziehung zu der Prävalenz und Inzidenz von MSE (Abbildung 4) [31, 44, Bewegung: Inaktivität ist ein unabhängi- 45]. Beschäftige in gering qualifizierten, ger Risikofaktor für Rückenprobleme [50]. manuellen Berufen sind häufiger arbeits- Außerdem kann aufgrund verringerter Pro- unfähig aufgrund von Rückenschmerzen. duktion von Gelenkflüssigkeit (Synovia), Diese Beobachtung ist geschlechterunab- die zum Schutz der Gelenkoberfläche pro- hängig und über alle Altersklassen hinweg duziert wird, Gelenkverschleiß begünstigt nahezu konstant [46]. werden [51]. 19
100 % 2 90 % 80 % 70 % 60 % 50 % 40 % 30 % 20 % 10 % 0 Geringes Bildungsniveau Mittleres Bildungsniveau Hohes Bildungsniveau Abbildung 4: Anteil von arbeitsbedingten Gesundheitsproblemen (MSE; Stress, Depressionen oder 7 „Geringqualifizierte Angst; sonstige) bei Personen in der EU27 nach Bildungsstand (%)7 [31]. Arbeitnehmer berich- teten häufiger über arbeitsbedingte Pro- Muskuloskelettale Beschwerden Stress, Depression oder Angstzustände Andere Gesundheitsbeschwerden bleme und waren eher geneigt, MSE als ein schwerwie- gendes arbeitsbe - dingtes Problem zu bezeichnen. 68% der Personen mit nied- rigem Bildungsniveau berichteten über ge- sundheitliche Ein- schränkungen durch MSE. Hingegen nur 44% mit einem hohen Bildungsniveau be- Psychosoziale und arbeitsorganisa- langfristige körperliche Folgen sind Mus- richteten über MSE“ [31]. torische Einflussfaktoren kelabbau oder Gelenkfehlstellung [12]. In systematischen Reviews werden Zusam- Langanhaltende krankheitsbedingte Fehl- menhänge zwischen psychosozialen Fak- zeiten aufgrund von MSE wurden häufiger toren und MSE aufgezeigt [24, 52-54]. bei Beschäftigten mit hohem Zeitdruck bei Diese können den Krankheitsverlauf im der Arbeit und geringer Jobkontrolle be- Hinblick auf Verhalten und Umgang mit obachtet [55]. Folgende weitere Faktoren Schmerz negativ beeinflussen. Psychische aus der Arbeitsumwelt und -organisation Anspannung durch Konflikte im Beruf oder können die Gesundheit der Beschäftigten in der Familie kann sich körperlich manifes- ebenfalls negativ beeinflussen [56-58]: tieren und das vegetative Nervensystem beeinträchtigen. Der Körper reagiert mit • hohes Arbeitstempo, erhöhtem Muskeltonus, der wiederum • monotone Arbeitsabläufe, Muskelverspannung auslösen kann. Auf- • mangelnde Pausen, grund der Schmerzen wird die Beweglich- • prekäre Arbeitsverhältnisse, keit stark eingeschränkt; es kommt zu • ungünstig gestaltete Vergütungs- Inaktivität und Schonhaltung. Mögliche systeme und Arbeitszeitmodelle. 20
2.2.3. Ökonomische Relevanz MSE sind für 40 % aller globalen Sach- und Entschädigungsleistungen für Berufser- Frankreich, 2007: Arbeitsbedingte MSE verursachten 7,5 Mio. Arbeitsunfähigkeits- 2 krankungen und Arbeitsunfälle verantwort- tage, die mit wirtschaftlichen Einbußen in lich (Abbildung 5) [59]. Schätzungen für die Höhe von 736 Mio. Euro einhergingen [62]. Kosten von arbeitsbedingten Rückener- krankungen, die der Wirtschaft in den Mit- Deutschland, 2016: Alle MSE (ICD8 M00 ICD – International Classifica- 8 tion of Diseases. gliedsstaaten durch sämtliche arbeitsbe- – M99) verursachten 154 Mio. Arbeitsunfä- dingte Gesundheitsschäden erwachsen, higkeitstage, die mit 17,2 Mrd. Produkti- liegen zwischen 2,6 % und 3,8 % des Brut- onsausfallkosten und 30,4 Mrd. Ausfall an tosozialprodukts [60]. Die Kosten für Bruttowertschöpfung einhergingen [63]. arbeitsbedingte MSE der oberen Extremi- täten liegen schätzungsweise zwischen 0,5 Finnland, 2004: Arbeitsbedingte MSE ver- % und 2 % des Bruttosozialprodukts [61]. ursachten direkte Kosten in Höhe von 222 Ein Kostenvergleich von arbeitsbedingten Mio. Euro [62]. MSE wird erschwert durch Unterschiede in den Versicherungssystemen der einzelnen Österreich, 2004: MSE verursachten 7,7 Länder, das Fehlen von standardisierten Mio. Arbeitsunfähigkeitstage [62]. Erhebungskriterien und der Kostenerfas- sung. Im Folgenden sollen daher nur einige Slowenien, 2006: MSE verursachten 2,47 Beispiele aus den einzelnen Ländern auf- Mio. Arbeitsunfähigkeitstage [62]. gezeigt werden: 14 % Unfälle 3 % Tumore 3 % Hauterkrankungen 40 % Muskel-Skelett- 9 % Atemwegserkrankungen Erkrankungen 8 % Beeinträchtigungen des zentralen Nervensystems 16 % Herz-Kreislauferkrankungen 7 % Psychische Erkrankungen Abbildung 5: Weltweite Kompensationskosten von arbeitsbedingten Erkrankungen und Unfällen (ILO [59]). 21
2 2.2.4. Ökonomischer Nutzen der ventionen zur Prävention von arbeitsbe- Prävention von MSE im Unternehmen dingten MSE. Sie untersuchten auch Faktoren, die sich begünstigend oder hin- Sultan-Taïeb und Kollegen (2017) erstellten dernd auf den Umsetzungsprozess aus- eine Kosten-Nutzen-Bewertung von ergo- wirkten. Die nach der Intervention kumu- nomischen arbeitsplatzbezogenen Inter- lierten Einsparungen waren insgesamt 22
höher als die Gesamtinvestition (mit einer In einer weiteren Untersuchung wurden Amortisationsdauer von drei bis fünf Jah- 300 Unternehmen aus 15 Ländern gebeten, ren aus Sicht des Arbeitgebers und 0,82 bis neun Jahren aus Sicht der Unfallversi- ihre subjektive Einschätzung der gesamt- wirtschaftlichen Effekte von Prävention 2 cherung). In allen Studien wurde belegt, und Gesundheitsschutz am Arbeitsplatz dass durch ergonomische Ausstattung und (Return on Prevention) anzugeben. Danach eine Ge-samtstrategie Unfälle sowie Ent- waren die direkten Effekte der Präventions- schädigungsansprüche signifikant redu- maßnahmen Gefahrenminderung, erhöhtes ziert werden konnten. In Studien mit posi- Bewusstsein für Arbeitsrisiken und Reduk- tiven wirtschaftlichen Ergebnissen zeigte tion von gefährlichen Verhaltensweisen und sich, dass die Unterstützung seitens der Arbeitsunfällen. Die bedeutendsten indi- oberen und mittleren Führungsebene groß rekten Effekte waren Imagegewinn und war und auch die Mitarbeiterbeteiligung auf Verbesserung der Unternehmenskultur einem hohen Niveau lag. Bei Studien mit (Abbildung 6) [65]. Allerdings muss ein- negativen oder uneinheitlichen Ergebnis- schränkend hinzugefügt werden, dass sen fehlte die Unterstützung durch die Vor- diese Ergebnisse auf Selbsteinschätzun- gesetzten, die Intervention entsprach nicht gen der Unternehmen beruhen. den Bedürfnissen der Beschäftigten und die „Interventionsdosis“ war zu gering [64]. Reduzierte Gefahren 5,08 Reduzierte Regelverstöße 5,04 Reduzierte Unfälle 4,98 Reduzierte Fluktuationen 3,80 Reduzierte Unterbrechungen 4,30 Reduzierte Ausfallzeiten 4,35 Reduzierte Verschwendung 3,80 Reduzierte Aufholzeiten 3,83 Verbesserte Produktqualität 3,99 Verbesserte Termineinhaltung 4,01 Erhöhte Anzahl von Innovationen 4,19 Erhöhtes Risikobewusstsein 4,15 Verbessertes Unternehmensimage 4,80 Verbesserte Kundenzufriedenheit 4,75 Verbesserte Arbeitskultur 5,05 Gesamtdurchschnitt 4,41 1 = keine Wirkung 0 1 2 3 4 5 6 6 = sehr starke Wirkung Abbildung 6. Effekte von Abeits- und Gesundheitsschutz innerhalb des Unternehmens (ISSA [65]). 23
3 Scoping Review zur muskuloskelettalen Gesundheit bei Friseuren 3.1. Hintergrund Muskel-Skelett-Erkrankungen (MSE) sind in der erwerbsfähigen Bevölkerung weit verbreitet und wirken sich auf passive (Knochen, Gelenke) und/oder aktive Struk- turen des Körpers (Muskeln, Sehnen, Bänder, periphere Nerven) aus [37]. Da welt- weit ein hoher Anteil von anerkannten Berufskrankheiten auf berufsbedingte MSE entfallen, wurden viele Anstrengungen unternommen, um zu erforschen, welche Rolle biomechanische Faktoren bei der Entwicklung von MSE und ihrer Prävention spielen [23]. MSE sind in Berufsgruppen mit starker körperlicher Beanspruchung weit verbreitet, z. B. im Baugewerbe oder im Dienstleistungssektor [26, 35, 36]. Friseure sind eine Berufsgruppe, deren Arbeitsfähigkeit und Gesundheitszustand durch bestimmte berufliche Aktivitäten beeinträchtigt werden können. Eine Analyse der täglichen Aufgaben zeigte, dass Friseure im Durchschnitt 29 % ihrer Zeit mit dem Schneiden, 17 % mit dem Färben, 10 % mit dem Föhnen und 8 % mit dem Waschen von Haaren verbringen. Diese Tätigkeiten erfordern ein häufiges sagit- tales oder laterales Beugen und Drehen des Rückens (z. B. Haare am Becken waschen), statische Haltungen und längeres Stehen. Bei allen mit dem Kunden verbundenen Tätigkeiten wurden sich ständig wiederholende Aufgaben beobach- tet [66]. Kinematische Haltungsanalysen zeigten, dass Friseure ihre Arme in 9 bis 13 % ihrer gesamten Arbeitszeit über 60° angehoben hatten [67, 68]. Das Arbeiten mit über Schulterhöhe angehobenen Armen gilt als wesentlicher Risikofaktor für klinisch nachgewiesene Schulterbeschwerden oder anhaltend starke Schmerzen [69, 70]. Der vergleichsweise große Kraftaufwand und häufige Beuge- und Streck- bewegungen des Handgelenks – verbunden mit einer dauerhaften Exposition – könnten ursächlich für das stärkere Auftreten von Hand-/Handgelenksschmerzen sein, insbesondere bei Friseurinnen [71]. In einer Studie zu den Arbeitsbedingungen von finnischen Friseuren wurden repetitive Bewegungen, unbequeme Arbeitshal- tungen, Stehen, Zugluft, unangenehme Temperaturen und Chemikalien als Risiko- faktoren für die Gesundheit beschrieben [72]. Ziel dieser Arbeit ist es, die vorhan- dene Literatur zur Prävalenz von MSE bei Friseuren sowie zu den beruflichen Risikofaktoren und möglichen Ansätzen der Prävention und Rehabilitation zusam- menzufassen. 24
3 25
3.2. Methoden mittelten Artikel nach weiteren relevanten Studien durchsucht. Des Weiteren haben Aufgrund zahlreicher Studiendesigns und wir eine Suche in Google Scholar durchge- der fehlenden Zusammenfassung von führt. Die Suche umfasste Studien mit und 3 Ergebnissen haben wir uns für die Durch- führung eines Scoping Reviews entschie- ohne Peer Review, die bis zum 5. Novem- ber 2018 veröffentlicht worden waren. den. Dessen übergreifendes Ziel ist die Untersuchung des Umfangs und der Art Stufe 3: Studienauswahl der Forschungsaktivität, die Zusammen- Für die Analyse haben wir Studien in Be- fassung der relevanten Forschungsergeb- tracht gezogen, in denen Ergebnisse für die nisse und die Identifizierung von For- MSE Prävalenz/-Inzidenz, berufsbedingte schungslücken [73]. Bei der methodischen Risikofaktoren sowie präventive oder reha- Umsetzung haben wir uns an dem sechs- bilitative Maßnahmen gegen MSE unter- stufigen Vorgehen von Arksey and O’Malley sucht wurden. Es wurden nur Studien ein- orientiert [73]: bezogen die separate Ergebnisse für Friseure enthielten. Da sich die Überprü- Stufe 1: Identifizierung der fung nicht nur auf klinische Outcomes kon- Forschungsfrage zentrierte, haben wir auch biomechanische Die folgende Frage sollte beantwortet wer- Studien berücksichtigt. Die folgenden Ein- den: Was ist aus der Literatur über die Häu- schlusskriterien wurden angewandt: figkeit, die Risikofaktoren und Maßnahmen (i) Population : umfasst Friseure, die zur Vorbeugung oder Verringerung von MSE weiterhin in ihrem Beruf arbeiten, so- bei Friseuren bekannt? Die Studienergeb- wie solche, die ihren Beruf aus gesund- nisse wurden mithilfe eines thematischen heitlichen Gründen gewechselt oder Ansatzes auf Basis der drei Teilabschnitte verlassen haben. Auch andere ver- der Studienfrage deskriptiv zusammenge- wandte Berufe wie z.B. Kosmetiker fasst und dargestellt: wurden berücksichtigt. (1) Wie hoch ist die Prävalenz und/oder (ii) Exposition: umfasst ergonomische, Inzidenz von MSE in den verschiedenen biomechanische, organisatorische Körperregionen? und psychosoziale Faktoren, die im (2) Welche ergonomischen, organisato- beruflichen Friseuralltag auftreten. rischen oder psychosozialen beruf- (iii) Intervention: umfasst alle Maßnah- lichen Risikofaktoren stehen in Verbin- men, die darauf abzielen, MSE zu ver- dung zu MSE? hindern oder zu reduzieren. (3) Welche Maßnahmen werden ange- (iv) Outcome: umfasst alle Gesundheits- wandt, um MSE bei Friseuren zu ver- störungen im Zusammenhang mit dem hindern oder zu reduzieren? Bewegungsapparat wie z.B. (wieder- kehrende) Schmerzen, Beschwerden, 9 Population: hairdress* OR Stufe 2: Identifizierung relevanter Kribbeln, Taubheitsgefühl, Gelenk- barbering OR cosmetologist* Studien steifheit oder Schwellungen. Außer- OR beautician* OR coiffeur*OR beauty culture*. Wir haben eine systematische Literaturre- dem wurden medizinisch bestätigte cherche in den elektronischen Datenban- Diagnosen (z.B. Karpaltunnelsyndrom) 10 Outcome: musculoskeletal symptoms OR musculoskeletal ken MEDLINE, PUBMED, CINAHL, Web of berücksichtigt. pain OR musculoskeletal dis- Science und LIVIVO durchgeführt. Suchbe- (v) Studiendesign: umfasst peer-revie- orders OR musculoskeletal diseases OR upper limb* OR griffe für die Population9 wurden mit Begrif- wed und nicht-peer-reviewed Veröf- upper extremity* OR neck pain fen für das Outcome verbunden10. Zusätz- fentlichungen aller Studientypen mit OR back pain OR shoulder pain. lich haben wir die Referenzlisten der er- Ausnahme von Leitartikeln, Kommen- 26
taren, Tagungsberichten und Grundsatzer- nehmer brachten weitere Vorschläge für klärungen. die Interpretation der Studienergebnisse und für Präventivmaßnahmen ein. Es wurden Artikel in Englisch, Deutsch, Niederländisch, Französisch, Italienisch, Portugiesisch und Spanisch einbezogen. 3.3. Ergebnisse 3 Die Studienselektion nahmen zwei Revie- wer unabhängig voneinander anhand der Es wurden insgesamt 186 Artikel identifi- Titel, Abstracts und Volltexte vor. Bei Unei- ziert, von denen 44 die Auswahlkriterien für nigkeit wurde durch Diskussion ein Kon- die qualitative Datensynthese erfüllten sens erzielt. (Abbildung 7). Die Charakteristika der ent- haltenen Studien sind im Anhang 1 aufge- Stufe 4: Erfassung und Aufbereitung führt. Davon wurden 29 Studien in euro- der Daten päischen Ländern durchgeführt. Die über- Allgemeine Informationen zu Autor(en), wiegende Mehrzahl der Studien (89 %) Publikationsjahr, Studienort, Publikations- wurde nach dem Jahr 2000 veröffentlicht, typ, Studienziele, Studiendesign, Studien- was darauf hindeutet, dass die Forschung population, Methodik und Outcomes wur- zu diesem Berufsfeld intensiviert wurde. In den erfasst. Die Daten wurden von einer einer Studie wurde ein qualitatives Studi- Person extrahiert und von einem zweiten endesign mit offenen Interviews ange- Reviewer verifiziert. wandt [75]. Berücksichtigt wurden drei nationale Surveys mit ausgewählten Be- Stufe 5: Vergleich, Zusammenfassung rufsbezeichnungen, die unter anderem und Präsentation der Ergebnisse auch Friseure berücksichtigt haben [76- Die den Originalstudien entnommenen Prä- 78]. Eine Studie untersuchte die Entwick- valenzdaten zur Beantwortung der ersten lung der Entschädigungsansprüche für Frage wurden mithilfe eines von Neyeloff et arbeitsbedingten MSE [79]. Des Weiteren al. entwickelten Excel-Arbeitsblatts extra- wurden sieben Studien einbezogen, die hiert und miteinander gepoolt (random eine Evaluation durchgeführt hatten. Wir effect model) [74]. Da die Studienqualität identifizierten drei Studien, die ausschließ- nicht bewertet wurde, können die Schät- lich die Arbeitshaltungen bei der Ausfüh- zungen verzerrt sein und sollen zunächst rung typischer Friseurtätigkeiten gemes- als Näherungswerte dienen, die einer wei- sen hatten [68, 71, 87]. Schließlich wurden teren Überprüfung bedürfen. Alle in den drei Publikationen aus derselben Kohorte Studien untersuchten potenziellen arbeits- von Auszubildenden unterschiedlicher bezogenen Risikofaktoren wurden extra- Berufe einbezogen. Die Autoren beobach- hiert und in übergeordnete Risikokatego- teten den Verlauf der Nacken- und Schul- rien untergliedert. terschmerzen während der Ausbildungs- jahre [88-90]. Bis auf eine Studie schlossen Stufe 6: Konsultation alle vorwiegend Frauen ein [91]. In einer Die Methoden und Ergebnisse des Scoping weiteren Studie wurden ausschließlich Reviews wurden im Rahmen des ergoHair- Kosmetiker befragt [92]. Projektes auf einem Workshop vorgestellt. Am Workshop nahmen Arbeiternehmer- und Arbeitgebervertreter der Friseurbran- che sowie Wissenschaftler aus verschiede- nen europäischen Ländern teil. Die Teil- 27
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