Muskuloskelettale Gesundheit von Friseuren - Arbeits- und Gesundheitsschutz am Arbeitsplatz - ErgoHair

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Muskuloskelettale Gesundheit von Friseuren - Arbeits- und Gesundheitsschutz am Arbeitsplatz - ErgoHair
Muskuloskelettale Gesundheit von Friseuren -
            Arbeits- und Gesundheitsschutz
                            am Arbeitsplatz
                         Medizinisches Referenzdokument
Muskuloskelettale Gesundheit von Friseuren - Arbeits- und Gesundheitsschutz am Arbeitsplatz - ErgoHair
Impressum

Autoren:
Agnessa Kozak1
Claudia Wohlert1
Tanja Wirth1
Olaf Kleinmüller1
Miet Verhamme2
Rainer Röhr 3
Albert Nienhaus1,4

1
 Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf, Competenzzentrum Epidemiologie
und Versorgungsforschung bei Pflegeberufen (CVcare), Hamburg, Germany

2
    Unie van Belgische Kappers vzw, Gent, Belgien

3
 Zentralverband des Deutschen Friseurhandwerks Deutschland,
(ehem. Hauptgeschäftsführer) Coiffure EU (ehem. Sekretär für Gesundheits-
und Arbeitsschutz)

Berufsgenossenschaft für Gesundheitsdienst und Wohlfahrtspflege (BGW),
4

Abteilung Arbeitsmedizin, Gefahrstoffe und Gesundheitswissenschaften (AGG)

Design und Umsetzung:
in.signo GmbH, Hamburg

Druck:
OSTERKUS[S] gGmbH, Hamburg

Bildnachweis:
Fotolia/LIGHTFIELD STUDIOS (Titel), iStock/andresr (S. 4), iStock/Nastasic (S. 7),
freepik.com (S. 8-9), Fotolia/Leonid (S. 11), Fotolia/DenisProduction.com (S. 16),
iStock/robertprzybysz (S. 19), Fotolia/Jacob Lund (S. 22), iStock/dimid_86 (S. 24-25),
Fotolia/JackF (S. 33, 43), Fotolia/Maksim Shebeko (S. 38-39), Fotolia/phpetrunina14
(S. 44-45), Fotolia/pololia (S. 53), iStock/DjelicS (S. 82-83)

Dieses Projekt wurde von der Europäischen Union finanziell unterstützt
(Ref. VS/2017/0077)

Für die Übernahme der Druckkosten bedanken wir uns bei der BGW

Erscheinungsdatum:
04. April 2019
Muskuloskelettale Gesundheit von Friseuren - Arbeits- und Gesundheitsschutz am Arbeitsplatz - ErgoHair
Inhalt
Abstract Scoping Review........................................................................................................ 5
Einleitung.................................................................................................................................. 6

1.
 Friseursektor in Europa................................................................................................ 8
 1.1. Europäische Bestrebungen zur Stärkung des Arbeits- und
		Gesundheitsschutzes....................................................................................... 10
 1.2. Bestrebungen des sektoralen sozialen Dialogs für den Friseursektor....... 10

2.Das Muskel-Skelett-System....................................................................................... 12
  2.1. Aufbau und Funktion........................................................................................ 12
  2.2. Muskel-Skelett-Erkrankungen......................................................................... 13
		     2.2.1. Arbeitsbedingte Muskel-Skelett-Erkrankungen.................................. 13
		     2.2.2. Risikofaktoren für Muskel-Skelett-Erkrankungen............................... 15
		     2.2.3. Ökonomische Relevanz......................................................................... 21
		     2.2.4. Ökonomischer Nutzen der Prävention von MSE im
			Unternehmen......................................................................................... 22

3.Scoping Review zur muskuloskelettalen Gesundheit bei Friseuren....................... 24
  3.1. Hintergrund....................................................................................................... 24
  3.2. Methoden.......................................................................................................... 26
  3.3. Ergebnisse........................................................................................................ 27
		      3.3.1. Prävalenz von Muskel-Skelett-Beschwerden...................................... 28
		      3.3.2. Gründe für den vorzeitigen Berufsausstieg........................................ 29
		      3.3.3. Vergleichende Ergebnisse.................................................................... 29
		      3.3.4. Arbeitsbezogene Risikofaktoren und biomechanische
			Untersuchungen.................................................................................... 30
		      3.3.5. Präventive und rehabilitative Ansätze zur Vorbeugung /
			            Reduktion von MSE............................................................................. 33
		      3.3.6. Strategien und Hindernisse zur Vorbeugung und Reduktion von
			MSE........................................................................................................ 35
  3.4. Diskussion......................................................................................................... 36
  3.5. Schlussfolgerung.............................................................................................. 37

4.        Ergebnisse aus den Workshops in Hamburg und Paris – ergoHair-Projekt........... 38

5.Ergonomische und organisatorische Präventionsansätze....................................... 44
  5.1. Ergebnisse aus den Workshops des ergoHair-Projekts............................... 46
		     5.1.1. Prävention in der Aus-, Fort- und Weiterbildung................................ 46
		     5.1.2. Ergonomische Gestaltung und Einrichtung......................................... 47
		     5.1.3. Ergonomisches Arbeiten....................................................................... 49
		     5.1.4. Allgemeine organisatorische Rahmenbedingungen........................... 50
		     5.1.5. Möglichkeiten der Risikobewertung..................................................... 51
  5.2. Muskel-Skelett-Beschwerden in der Schwangerschaft............................. 53

6.        Anhang......................................................................................................................... 54

7.        Literaturverzeichnis.................................................................................................... 70

                                                                                                                                                 3
Muskuloskelettale Gesundheit von Friseuren - Arbeits- und Gesundheitsschutz am Arbeitsplatz - ErgoHair
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Muskuloskelettale Gesundheit von Friseuren - Arbeits- und Gesundheitsschutz am Arbeitsplatz - ErgoHair
Abstract Scoping Review

Zielsetzung: Die mit dem Friseurhandwerk         über Schulterhöhe angehobenen Armen,
verbundenen Tätigkeiten können Muskel-           häufig wiederkehrende Bewegungen, ein
Skelett-Erkrankungen (MSE) verursachen           großer Kraftaufwand der oberen Extremi-
oder verschlimmern. Ziel dieses Scoping          täten, unangenehme Rückenhaltungen und
Reviews ist es, Kenntnisse über den aktu-        Rückenbewegungen (z.B. Beugen und Ver-
ellen Forschungsstand zu den Risiken für         drehen des Oberkörpers oder statische
MSE sowie zu Präventionsmaßnahmen im             Haltung), hohe mechanische Belastung
Friseurhandwerk zu gewinnen und mögli-           und Stehen. Der Effekt dieser Risikofakto-
che Forschungslücken zu ermitteln.               ren kann durch fehlende angemessene
                                                 Pausen, eine hohe Arbeitslast und allge-
Methoden: Bis zum Mai 2017 veröffent-            meine Stressbelastung verstärkt werden.
lichte Studien (Update November 2018)
wurden anhand einer systematischen               Es wurden sechs Interventionsstudien
Suche in elektronischen Datenbanken              gefunden, die rehabilitative oder präventive
(MEDLINE, PUBMED, CINAHL, Web of                 Maßnahmen untersucht haben. Lediglich
Science, LIVIVO), Google Scholar und             die rehabilitativen Interventionen wiesen
Referenzlisten von Artikeln identifiziert. Die   positive Effekte auf die Bewältigung der
Studien wurden von zwei Forschenden un-          physischen und mentalen Belastung auf
abhängig voneinander ausgewählt sowie            und führten zu einer erheblichen Schmerz-
quantitativ und narrativ zusammengefasst.        minderung, einer erhöhten physischen
Gepoolte Effektschätzer für eine Zwölf-          Belastbarkeit und zu Kenntnissen über
Monats- und eine Punktprävalenz von MSE          potenzielle Risikofaktoren für MSE.
wurden anhand von Modellen mit zufälligen
Effekten berechnet.                              Schlussfolgerung: Diese Daten liefern
                                                 einige Hinweise zu den berufsbedingten
Ergebnisse: Insgesamt wurden 44 Stu-             Belastungen und Beanspruchungen im Fri-
dien in das Scoping Review eingeschlos-          seurhandwerk und weisen darauf hin, dass
sen. 19 Studien gaben eine MSE-Prävalenz         Maßnahmen zur Förderung der Gesundheit
an: die höchste durchschnittliche Zwölf-         und Sicherheit notwendig sind. Um fun-
Monats-Prävalenz wurde für den unteren           dierte und nachhaltige Empfehlungen ab-
Rücken mit 48 % (95 %-KI 35,5-59,5)              leiten zu können, bedarf es weiterer For-
ermittelt, gefolgt von dem Nacken mit 43 %       schung. Es sind qualitativ hochwertige und
(95 %-KI 31,0-55,1), den Schultern mit 42 %      langfristige Interventionsstudien erforder-
(95 %-KI 30,1-53,2) und der Hand/den             lich, um die Wirksamkeit der komplexen
Handgelenken mit 32 % (95 %-KI 22,2-             Präventionskonzepte zu klären.
40,8). Im Vergleich zu anderen Berufsgrup-
pen berichteten Friseure häufiger über
MSE in allen Körperregionen und sie haben
ein größeres Risiko, aus gesundheitlichen
Gründen aus dem Beruf aussteigen zu
müssen. Zu den Risikofaktoren, die die
Arbeitsfähigkeit verringern und MSE ver-
stärken können, zählen das Arbeiten mit

                                                                                                5
Muskuloskelettale Gesundheit von Friseuren - Arbeits- und Gesundheitsschutz am Arbeitsplatz - ErgoHair
Einleitung

    Mit dem Projekt zur „Förderung von gesun-      heitsfördernden Verhaltens am Arbeits-
    den und sicheren Arbeitsbedingungen im         platz zu vermitteln. Dies betrifft sowohl die
    Friseurhandwerk durch die Gestaltung von       Beschaffung der Produkte, die Organisa-
    ergonomischen Arbeitsplätzen und -abläu-       tion der Arbeitsabläufe als auch den Um-
    fen“ (ergoHair) wird die einheitliche Umset-   gang mit den Beschäftigten. Mit diesem
    zung der im Sozialpartnerabkommen fest-        medizinischen Referenzdokument wird
    gelegten Kernbereiche zur Förderung von        beabsichtigt, den Akteuren in der Friseur-
    gesunden und sicheren Arbeitsplätzen in        branche eine Anleitung zur Verfügung zu
    der Friseurbranche angestrebt [1, 2]. Dabei    stellen, welche Kriterien bei der Entwick-
    sollen Synergien gestärkt und der gemein-      lung eines gesunden Arbeitsumfelds zu
    same Austausch zwischen europäischen           beachten sind.
    Ausschüssen für den sektoralen sozialen
    Dialog gefördert werden. So soll ein Bei-      Im Kapitel 1 wird der Friseursektor in
    trag zur Harmonisierung des Arbeits- und       Europa beschrieben und die allgemeinen
    Gesundheitsschutzes unter besonderer           Ansätze zur Stärkung des Arbeits- und
    Berücksichtigung der ergonomischen             Gesundheitsschutzes seitens der Europä-
    Arbeitsplatzgestaltung und -ausstattung        ischen Union und der sektoralen Sozial-
    sowie zur Förderung von effektiven ergo-       partner aufgezeigt.
    nomischen Arbeitsweisen geleistet wer-
    den. Das übergeordnete Ziel ist es, durch      Kapitel 2 beschäftigt sich mit dem anato-
    zielgruppenspezifische Ausarbeitung und        mischen Aufbau und den Funktionen des
    Verbreitung von präventiven ergonomi-          Muskel-Skelett-Systems sowie den berufs-
    schen Empfehlungen und Standards, das          bedingten Schädigungen des Bewegungs-
    Bewusstsein für die Belastungen und            apparats. Im Einzelnen werden die Verbrei-
    Beanspruchungen bei der Friseurtätigkeit       tung von berufsbedingten MSE, die multi-
    zu schärfen und als Konsequenz die Zahl        faktoriellen Risikofaktoren sowie die Kosten
    berufsbezogener Muskel-Skelett-Erkran-         des Gesundheitsproblems dargestellt. Au-
    kungen (MSE) und -Beschwerden (MSB) in         ßerdem wird der ökonomische Nutzen von
    dieser Branche europaweit zu reduzieren.       Präventionsmaßnahmen zur Vorbeugung
                                                   von MSE im Betrieb erörtert.
    Das Projekt knüpft an die 2016 unterzeich-
    nete europäische Rahmenvereinbarung            Im Kapitel 3 wird die im Rahmen des ergo-
    zum Arbeits- und Gesundheitsschutz in der      Hair-Projekts verfasste systematische Lite-
    Friseurbranche an. Die darin vereinbarte       raturarbeit – Scoping Review – dargestellt.
    Zielsetzung soll zur Entwicklung eines kon-    Mit den zusammengetragenen Studien
    sentierten, wissenschaftlich begründeten       wurde gemäß den Zielen des Projekts die
    europäischen Standards zum Schutz der          wissenschaftliche Grundlage geschaffen.
    Gesundheit und Sicherheit am Arbeitsplatz      Die hier aufgezeigten epidemiologischen
    beitragen. Eines der fünf postulierten         Erkenntnisse lassen Rückschlüsse auf die
    Handlungsfelder ist die Prävention von         berufliche und gesundheitliche Belastung
    MSE. Es ist ein besonderes Anliegen der        und Beanspruchung der Friseure zu und
    Sozialpartner, möglichst frühzeitig die Not-   verdeutlichen, dass diese Berufsgruppe
    wendigkeit eines präventiven und gesund-       stärker in den Fokus von betrieblichen und

6
Muskuloskelettale Gesundheit von Friseuren - Arbeits- und Gesundheitsschutz am Arbeitsplatz - ErgoHair
schulischen Maßnahmen zum Arbeits- und    Im Kapitel 5 werden anschließend Anre-
Gesundheitsschutz ge-nommen werden        gungen und Vorschläge zur Förderung von
muss.                                     gesunden und sicheren Arbeitsbedingun-
                                          gen im Friseurhandwerk durch die ergono-
Im Kapitel 4 werden weitere Forschungs-   mische Gestaltung von Arbeitsplätzen und
ergebnisse zusammengetragen, die in den   -abläufen zusammengetragen.
Workshops (Hamburg und Paris) vorge-
stellt wurden.

                                                                                     7
Muskuloskelettale Gesundheit von Friseuren - Arbeits- und Gesundheitsschutz am Arbeitsplatz - ErgoHair
1

        Friseursektor in Europa

        Die Friseurbranche in Europa besteht überwiegend aus Klein- und Kleinstunter-
        nehmen. Es gibt schätzungsweise 400.000 Friseursalons mit näherungsweise
        1 Mio. Friseuren, das entspricht ungefähr 0,4-0,8 % der Beschäftigten eines Lan-
        des [3, 4]. In der Friseurbranche ist die Selbstständigkeit weit verbreitet. Einer
        Untersuchung von acht EU-Mitgliedsstaaten1 zufolge, werden circa 50-60 % aller
        Friseursalons von Selbstständigen ohne Angestellte geführt. Die Wachstumsrate
        bei Friseurbetrieben liegt zwischen 12 % und 149 % in den meisten EU-Ländern.
        Die meisten Betriebe gibt es in Italien, Deutschland und Frankreich. Neben den
        Ein-Personen-Salons steigt auch die Anzahl von Unternehmen, die Friseurketten
        betreiben oder als Franchiseanbieter auftreten [4]. In Deutschland wird ihr Anteil
        auf 15 % an allen Friseurunternehmen geschätzt [5]. Ein Großteil der Beschäftigten
        sind Frauen, die in den meisten Ländern neun von zehn Friseuren ausmachen. Ver-
        glichen zu anderen Branchen arbeiten vor allem junge Leute als Friseure; mehr als
        die Hälfte der Beschäftigten sind jünger als 34 Jahre [4]. Charakteristisch für diese
        Branche ist auch der hohe Anteil an Teilzeitkräften (circa 40 %) [3]. Allerdings gibt
        es hier große Unterschiede zwischen den einzelnen Ländern. In den Niederlanden
        arbeiten beispielsweise 70 % in Teilzeit, in Ungarn hingegen nur 9 %. Ebenfalls
        charakteristisch ist die hohe Fluktuation unter den Beschäftigten. In den Nieder-
        landen und im Vereinigten Königreich verlassen circa 16 % beziehungsweise 14 %
        der Beschäftigten ihre Stelle innerhalb eines Jahres [4]. In Dänemark bleiben Fri-
        seure durchschnittlich 8,4 Jahre im Beruf (inklusive Ausbildungszeit) [6].

        Dänemark, Frankreich, Deutschland, Ungarn, Italien, Niederlande, Slowenien, Großbritannien.
        1

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Muskuloskelettale Gesundheit von Friseuren - Arbeits- und Gesundheitsschutz am Arbeitsplatz - ErgoHair
1

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Muskuloskelettale Gesundheit von Friseuren - Arbeits- und Gesundheitsschutz am Arbeitsplatz - ErgoHair
1.1. Europäische Bestrebungen                  1.2. Bestrebungen des sekto-
1        zur Stärkung des Arbeits- und                  ralen sozialen Dialogs für den
         Gesundheitsschutzes                            Friseursektor

         Das Vorbeugen oder Minimieren von phy-         Der soziale Dialog ist Grundbestandteil des
         sischen Gefährdungen am Arbeitsplatz ist       europäischen Sozialmodells, dessen
         für die EU-Mitgliedsstaaten ein fester Be-     Rechtsgrundlage in den Artikeln 151-156
         standteil ihrer Gesundheits- und Arbeits-      des Vertrags über die Arbeitsweise der
         schutzpolitik. Artikel 153 des Vertrags über   Europäischen Union niedergelegt ist [7].
         die Arbeitsweise der Europäischen Union        Verschiedene europäische Organisationen
         (EU) bevollmächtigt den Europäischen Rat,      des Friseurhandwerks haben sich an die-
         Mindestvorschriften in Form von Richt-         sem Dialog beteiligt. Auf der Seite der
         linien zu erlassen, um Maßnahmen zur           Arbeitgeber waren dies Coiffure EU und auf
         Verbesserung der Sicherheit und des            der Seite der Arbeitnehmer Uni Europa Hair
         Gesundheitsschutzes der Beschäftigten          and Beauty. Im Mittelpunkt des sozialen
         zu gewährleisten. Die gesetzlichen Anfor-      Dialogs standen im Wesentlichen zwei
         derungen sind innerhalb der EU-Mitglieds-      Themen: die Harmonisierung der Berufs-
         staaten verschieden. Jeder Staat hat           ausbildung und der Gesundheitsschutz.
         Handlungsspielräume und kann bei der
         Umsetzung von Richtlinien in nationales        Der Gesundheitsschutz im Friseurhand-
         Recht striktere Vorschriften für den Schutz    werk entwickelte sich bereits in den 90er
         der Beschäftigten und ihrer Interessen         Jahren zu einem der wichtigsten Themen
         anordnen [7]. In der Richtlinie 89/391/EEC     in der Branche. Auslöser war der Anstieg
         wird ausdrücklich der Arbeitgeber in die       berufsbedingter Hautkrankheiten seit Ende
         Verantwortung genommen, die Arbeitsum-         der 80er Jahre (z. B. in Deutschland). In
         welt im Hinblick auf die Arbeitsplatzgestal-   Folge dessen mussten viele Friseure ihren
         tung, Auswahl an Instrumenten/Materialien      Beruf aufgeben. Bereits im Jahr 2001 ver-
         und Auswahl an Produktionsverfahren indi-      einbarten CIC Europa, die Vorläuferorgani-
         viduell anzupassen [8]. In den Prioritäten     sation von Coiffure EU, und Uni Europa
         für die Forschung im Bereich Sicherheit        Hair and Beauty eine Leitlinie für Arbeits-
         und Gesundheitsschutz am Arbeitsplatz für      bedingungen. Der entsprechende Forde-
         die Jahre 2013-2020 empfiehlt die Europä-      rungskatalog enthielt schon wesentliche
         ische Agentur für Sicherheit und Gesund-       Elemente des im Jahr 2012 geschlossenen
         heitsschutz am Arbeitsplatz (EU-OSHA),         europäischen Gesundheitsschutzabkom-
         mehrdimensionale ergonomische Maßnah-          mens für das Friseurhandwerk. Ab dem
         men unter Berücksichtigung individueller,      Jahr 2011 verhandelten die Sozialpartner
         technischer und organisatorischer Aspekte      über ein konkreteres und weiter gefächer-
         zu entwickeln und umzusetzen [9].              tes Gesundheitsschutzabkommen. Im April

    10
2012 wurde dieses Abkommen im Beisein
des damaligen Kommissars für Beschäfti-
                                               auf nationaler Ebene umsetzen können.
                                               Dazu führte die Universität Osnabrück von
                                                                                                   1
gung, Soziales und Integration, László         2009 bis 2012 die Projekte Safehair 1.0 und
Andor, unterzeichnet. Es umfasst folgende      2.0 im Auftrag der Sozialpartner und der
Bereiche:                                      Europäischen Kommission durch. Wesent-
• Verwendung von Arbeitsstoffen,               liches Ergebnis war die in der Deklaration
  Produkten und Werkzeugen                     von Dresden vereinbarte Selbstverpflich-
• Schutz der Haut und der Atemwege             tung der Sozialpartner, sich für die gemein-
• Prävention von Muskel-Skelett-Erkran-		      sam erarbeiteten Schutzmaßnahmen ein-
  kungen                                       zusetzen und deren Kenntnis in der Fri-
• Arbeitsumfeld und Arbeitsorganisation        seurausbildung sowie in den beruflichen
• Mutterschutz                                 Tests und Abschlussprüfungen zu verlan-
• Mentale Gesundheit                           gen [10]. In Folge der gemeinsamen Bemü-
                                               hungen ist die Zahl der im Friseurhandwerk
Die Europäische Kommission wurde aufge-        gemeldeten Hauterkrankungen nach Aus-
fordert, dieses Abkommen in eine europä-       sagen der Teilnehmer des sozialen Dialogs
ische Richtlinie zu überführen, die für alle   stark zurückgegangen.
Betriebe des Friseurhandwerks verbindlich
werden sollte. Diese Forderung ist bislang     Außerdem entwickelten die EU-OSHA und
nicht erfüllt worden, da einige Mitglieds-     die Sozialpartner im Jahr 2014 mit dem
staaten Einwände gegen Teile des Abkom-        OIRA-Tool eine online verfügbare Gefähr-
mens hatten. Nach erneuten Verhandlun-         dungsanalyse für den Friseursektor [11].
gen wurde im Juni 2016 eine überarbeitete
Rahmenvereinbarung über die Gesundheit
und Sicherheit am Arbeitsplatz unterzeich-
net [1, 2]. Diese konzentriert sich im We-
sentlichen auf den Schutz der Haut und der
Atemwege sowie auf die Prävention von
MSE. Zur Thematik der berufsbedingten
Hauterkrankungen hatte sich seinerzeit der
soziale Dialog dafür ausgesprochen, ein
europäisches Forschungsprojekt in die
Wege zu leiten. Dieses Forschungsprojekt
sollte, basierend auf wissenschaftlichen
Erkenntnissen, Aussagen darüber machen,
wie die verschiedenen Zielgruppen wie
Ausbilder, Lehrer, Beschäftigte und Salon-
leiter die Vereinbarungen der Sozialpartner

                                                                                              11
Das Muskel-Skelett-System

2
         2.1. Aufbau und Funktion                        höhle, die mit Gelenkflüssigkeit gefüllt und
                                                         von einer Gelenkkapsel umgeben ist. Der
         Skelettelemente, Gelenke und Skelettmus-        Knorpel wird optimal mit Nährstoffen ver-
         kulatur bilden zusammen den Bewegungs-          sorgt, wenn regelmäßig Be- und Entlastung
         apparat. Das Stützgerüst des Körpers            durch Bewegung stattfindet. Hohe einsei-
         besteht aus knöchernen und knorpeligen          tige Belastung oder Bewegungsmangel
         Skelettelementen, die durch Bindegewebs-        können insbesondere bei älteren Men-
         strukturen miteinander verbunden sind.          schen degenerative Veränderungen, auch
         Teile des Skeletts werden durch die Ske-        Arthrosen genannt, hervorrufen [13].
         lettmuskulatur bewegt beziehungsweise in
         einer bestimmten Lage gehalten. Der             Der aktive Bewegungsapparat besteht aus
         Bewegungsapparat wird in aktive und pas-        Muskeln, Sehnen und Bändern. Sie sind im
         sive Strukturen unterteilt. Das Skelettsys-     Wesentlichen für die aktive Bewegung und
         tem mit Knochen, Gelenken und Knorpeln          die aufrechte Körperhaltung verantwort-
         bildet die passiven Strukturen (Faller et al.   lich, die durch willkürliche und unwillkürli-
         2004). Sie erfüllen im Wesentlichen folgen-     che Kontraktion und Relaxation der Mus-
         de Funktionen:                                  keln erfolgt.
         • Stütz- und Hebelfunktion für die
           Muskulatur                                    Muskel: Der menschliche Körper besitzt
         • Schutzfunktion für andere Organe              über 400 Muskeln; sie machen circa 45 %
           (z. B. Brustkorb für Herz und Lunge)          der Körpermaße aus. Dabei werden drei
         • Mineralspeicher für Kalzium und               Grundtypen unterschieden: quergestreifte
           Phosphat                                      Muskulatur (z. B. Skelettmuskulatur), glatte
         • Bildungsstätte für Blutzellen im              Muskulatur (z. B. Wände des Magen-Darm-
           Knochenmark [12]                              Trakts) und Herzmuskelgewebe. Im Gegen-
                                                         satz zu den anderen Typen wird die Ske-
         Knochen: Das Skelett eines Erwachsenen          lettmuskulatur durch einen willkürlich
         setzt sich aus etwa 200 Knochen zusam-          ausgelösten Nervenreiz erregt. Im Ruhezu-
         men. Die Gestalt ist genetisch festgelegt,      stand entfallen 20-25 % des Energieum-
         während der innere Aufbau durch äußere          satzes auf die Skelettmuskulatur [12, 13].
         Umstände beeinflusst wird (z. B. durch          Es finden sich auch geschlechterspezifi-
         gesunde Ernährung, Zufuhr von Kalzium           sche Unterschiede: Männer haben eine
         und Vitamin D sowie eine ausgewogene            höhere Muskelmasse als Frauen (durch-
         Belastung) [12].                                schnittlich 30 kg versus 24 kg). Demzufolge
                                                         leisten Frauen nur 65 % der Muskelkraft,
         Gelenke und Knorpel: Gelenke sind Ver-          die Männer leisten können [12, 14].
         bindungen zwischen knorpeligen und/oder
         knöchernen Skelettstrukturen und ermögli-       Sehnen und weitere Hilfseinrichtungen:
         chen Bewegungen der einzelnen Abschnitte        Bei der Muskelkontraktion übertragen Seh-
         des Rumpfs und der Extremitäten. Außer-         nen, die über die Muskeln am Knochen
         dem dienen sie der Kraftübertragung. Die        befestigt sind, die Kraft auf das Skelett. Sie
         Gelenkflächen sind meist mit hyalinem           bestehen aus zugfesten Kollagen-Faser-
         Knorpel bedeckt und liegen in einer Gelenk-     bündeln. Die Sehnen werden je nach Loka-

    12
lisation, Form und Verlaufsrichtung der        sich je nach Lokalisation2 und betroffener     2
                                                                                                  (1) Obere Extremitäten,

Muskeln in Zug-, Druck- oder flächenhafte      Gewebsstruktur erheblich voneinander               (2) Halswirbelsäule
                                                                                                  (C1-C7),
Sehnen unterschieden [13]. Bei der Mus-
kelarbeit wird Reibung erzeugt. Um den
                                               [20]. MSE zählen zu den am häufigsten in
                                               der Bevölkerung verbreiteten Erkrankun-
                                                                                                  (3) Brustwirbelsäule            2
                                                                                                  (Th1-Th12),
daraus erzeugten Kraftaufwand auf ein          gen, sie werden daher auch als Volkskrank-         (4) Lendenwirbelsäule
Minimum zu begrenzen, sind Hilfseinrich-       heiten bezeichnet. Weltweit durchgeführte          (L1-L5) und
tungen wie Muskelfaszien, Sehnenschei-         populationsbezogene Surveys (n = 23) zei-          (5) untere Extremitäten [20]

den, Schleimbeutel und Sesamknochen            gen, dass zwischen 13,5 % und 47 % der
von großer Bedeutung [12, 13].                 Allgemeinbevölkerung von chronischen
                                               muskuloskelettalen Schmerzen betroffen
2.2. Muskel-Skelett-Erkrankun-                 sind [21]. In einer aktuellen europaweiten
gen                                            Befragung waren Rückenschmerzen (43 %)
                                               und muskuläre Schmerzen in den Armen
Unter muskuloskelettalen Erkrankungen          (41 %) die mit Abstand am häufigsten ge-
wird ein Sammelbegriff für verschiedene        nannten Beschwerden. Frauen berichteten
degenerative und entzündliche Krankheits-      signifikant häufiger über MSE als Männer
bilder des Bewegungsapparats verstan-          [22].
den. Das betrifft sowohl die passiven als
auch die aktiven Strukturen (siehe Kap.
2.1). Diese Krankheitsbilder reichen von       2.2.1. Arbeitsbedingte Muskel-Skelett-
leichten kurzzeitigen Beschwerden (z. B.       Erkrankungen
Muskelverspannungen aufgrund von Über-
oder Fehlbelastung) bis hin zu irreversiblen   In epidemiologischen Studien ist hinrei-
chronischen Erkrankungen (z. B. Arthrose).     chend belegt, dass MSE durch berufsspe-
Zu Gesundheitsschäden am Muskel-Ske-           zifische physikalische, physische und psy-
lett-System kommt es, wenn die von außen       chomentale Einwirkungen und damit
einwirkenden mechanischen Belastungen          zusammenhängende Über- und Fehlbelas-
die maximale Belastbarkeit der einzelnen       tung des Haltungs- und Bewegungsappa-
Körperstrukturen übersteigen [15]. Schmer-     rats verursacht werden [23-26]. Die For-
zen sind dabei die wichtigsten Symptome        men der arbeitsbedingten MSE sind
von MSE. Dabei gibt es zwei Ausprägun-         vielfältig (siehe Abbildung 1). Die Weltge-
gen des Schmerzes: akut und chronisch.         sundheitsorganisation (WHO) definiert
Akut auftretende Schmerzen haben eine          diese als das Zusammenspiel verschiede-
biologische Warnfunktion, um weitere           ner Faktoren aus der Arbeitsumwelt, die in
Schäden des Bewegungsapparats zu ver-          unterschiedlichem Ausmaß signifikant zur
meiden. Chronische Schmerzen haben             Verursachung und/oder zur Verschlimme-
diese Funktion verloren und behindern die      rung von MSE beitragen [15]. Kroemer
Betroffenen bei der Nutzung des Bewe-          (1989) definiert drei Stadien von arbeitsbe-
gungsapparats [16]. Daraus folgen hohe         dingten MSE:
intangible Kosten für die Betroffenen, wie
körperliche Funktionseinschränkungen           Stadium 1: Symptome während der Arbeit,
oder Verlust an Lebensqualität [17, 18].       die weggehen;
Betroffene weisen in diesem Zusammen-          Stadium 2 : Symptome, die nach einem
hang auch eine verminderte Arbeitsfähig-       Arbeitstag über Nacht andauern;
keit und Produktivität auf [19]. Die Erkran-   Stadium 3: Symptome, die im Ruhezu-
kungen und Beschwerdebilder haben einen        stand anhalten, den Schlaf stören und über
heterogenen Charakter; sie unterscheiden       Monate bis Jahre hinweg andauern [27].

                                                                                                                             13
Der Anteil der beruflich verursachten MSE         zwölf Monaten; die meisten davon waren
                           kann aufgrund der überwiegend multikau-           Beschwerden des Bewegungsapparats

2                          salen Genese sowie der hohen Prävalenz
                           in der Allgemeinbevölkerung nur grob
                                                                             [29]. Der European Occupational Disease
                                                                             Statistics (2005) zufolge machten arbeits-
                           geschätzt werden [28]. In den Industriena-        bedingte MSE mit 38 % den größten Anteil
                           tionen ist etwa ein Drittel aller krankheits-     aller Berufskrankheiten in zwölf EU-Mit-
                           bedingten Fehlzeiten auf MSE zurückzu-            gliedsstaaten aus. Unter Berücksichtigung
                           führen. Davon entfallen circa 60 % auf            des Karpaltunnelsyndroms erhöht sich der
                           Erkrankungen oder Verletzungen des                Anteil sogar auf 59 % [30]. Unter den zehn
                           Rückens. An zweiter Stelle stehen die             häufigsten Berufskrankheiten für die Be-
                           Erkrankungen der oberen Extremitäten, die         richtsjahre 2001 bis 2007 finden sich unter
                           auch unter den Sammelbegriffen „Repeti-           anderem das Karpaltunnelsyndrom, Er-
                           tive Strain Injuries“ oder „Cumulative            krankungen der Sehnen- und Muskelan-
                           Trauma Disorders“ zusammengefasst wer-            sätze sowie der Sehnenscheiden (z. B.
                           den [15]. In der Labour Force Survey (EU          Tendosynovitis, Epicondylitis) und Angio-
                           27) berichteten 8,6 % (20 Mio.) der Beschäf-      neurosen, die durch mechanische Schwin-
                           tigten über arbeitsbezogene gesundheit-           gungen verursacht werden (z. B. Raynaud-
                           liche Probleme in den vorangegangenen             oder Weißfingersyndrom) [31].

    Nacken          Rücken                Schulter             Ellenbogen            Hand                 Hüfte/Knie
    • HWS           • Bandschei-          • Rotatoren-         • Epikondylitis       • Karpaltunnel-      • Arthrose der
      Spondylose      benerkrank-           manschet-            radialis und          syndrom              Hüfte und
    • Thoratic-       ungen                 tenreizung           ulnaris             • Tendovagini-         des Knies
      outlet-       • Unspezifi-          • Bizeps             • Sulcus-               tis stenosans      • Meniskus-
      Syndrom         sche Rücken-          Tendinitis           ulnaris-              de Quervain          verletzung
    • HWS Myalgie     schmerzen           • Gelenk-              Syndrom               (Daumen)           • Schleim-
                                            kapselent-         • Pronator-           • Tendovagini-         beutelent-
                                            zündung              syndrom               tis stenosans        zündung
                                                               • Unspezifische         (andere Fin-
                                                                 Unterarm-             ger)
                                                                 schmerzen           • Hand-Arm-
                                                                                       Vibrations-
                                                                                       Syndrom

                    Abbildung 1. MSE, die durch biomechanische Einwirkungen entstehen können (modifiziert nach ILO [32];
                    Mani & Gerr [33]; Sluiter et al. [34]).

    14
2.2.2. Risikofaktoren für Muskel-                plexen biopsychosozialen Krankheitsmo-
        Skelett-Erkrankungen                             dellen. Darin sind sowohl Arbeitsanforde-

        Durch epidemiologische Studien ist hinrei-
                                                         rungen als auch individuell ererbte Anlagen,
                                                         soziale Faktoren, Trainings- und Leistungs-
                                                                                                                        2
        chend dokumentiert, dass degenerative            zustand sowie Stresswahrnehmung und
        MSE überdurchschnittlich häufig in Beru-         -resistenz inbegriffen [16] (Abbildung 2).
        fen vorkommen mit hohen physischen und           Nicht alle sind jedoch Risikofaktoren im
        physikalischen Belastungen am Arbeits-           eigentlichen Sinn, d. h. Faktoren, die ur-
        platz [23, 25, 26, 35, 36]. Die Erklärungsan-    sächlich zur Entstehung von MSE beitra-
        sätze und Betrachtungsweisen von MSE             gen. Vermehrt spricht man auch von Risi-
        haben sich in den vergangenen Jahren             koindikatoren, die gehäuft in Assoziation
        jedoch erheblich weiterentwickelt: weg von       mit dem Beschwerdebild beobachtet wer-
        dem alleinigen Fokus auf biomechanisch           den wie z. B. Arbeitsunzufriedenheit oder
        orientierte Kausalitätstheorien hin zu kom-      fehlende Gratifikation [12].

               Sozioökonomische                                 Verhaltensbezogene
               Faktoren                                         Faktoren

               •   Soziale Schicht                              • Körperliche Inaktivität
               •   Alter                                        • Mangel- und Fehlernährung
               •   Bildung                                      • Tabakkonsum
               •   Erwerbstatus/Arbeitslosigkeit

                                                                               Verhältnisbezogene
Arbeitsbezogene Faktoren                                                       Faktoren

•   Wirtschaftszweig                                                           • Stolperfallen
•   Über- und Fehlbelastung                Beeinträchtigungen
•   Psychosoziale Belastungen                & Erkrankungen
•   Fehlende Gratifikation                 des Muskel-Skelett-
•   Arbeitsunzufriedenheit                                                            Einschränkungen und
                                                Systems
•   Fehlende soziale Unter-                                                           Vorschädigungen
    stützung
                                                                                      •   Übergewicht/Adipositas
                                                                                      •   Sportverletzungen
                                                                                      •   Unfälle
                                                                                      •   Beeinträchtigungen der
               Psychologische Faktoren                                                    Sinnesleistung

               • Depressive Verstimmungen/
               • Depression
               • Furcht- und Vermeidungs-                       Gesundheitskompetenz
                 denken
               • Ängste                                         • Geringes Gesundheits-
               • Stress, familiäre Belastungen                     bewusstsein

        Abbildung 2: Mögliche Einflussfaktoren für Beeinträchtigung und Erkrankungen des Muskel-Skelett-Systems,
        modifiziert nach Walter & Plaumann [12].

                                                                                                                   15
2

                                      Ein systematisches Review von Längs-           Biomechanische Risikofaktoren
                                      schnittuntersuchungen in verschiedenen         Die Exposition gegenüber biomechani-
                                      Berufsgruppen untersuchte den Einfluss         schen Faktoren bei der Arbeit wie z. B. un-
                                      von arbeitsbezogenen und individuellen         günstige Zwangshaltungen, schweres
                                      Risikofaktoren für MSE. Dabei wurden Evi-      Heben und Tragen, häufiges Beugen und
                                      denzlevel für die einzelnen Risikofaktoren     Verdrehen des Oberkörpers, manuelle
                                      und Körperregionen bestimmt. Die Evidenz       Handhabung von Lasten, repetitive Arbeits-
    3
      Risikofaktoren mit hinrei-
                                      sagt aus, inwiefern man den in den Studien     vorgänge, Kraftaufwand oder Ganzkörper-
    chender Evidenz - mindestens      beobachteten statistischen Assoziationen       schwingungen tragen zur Entstehung und/
    eines der Kausalitätskriterien
    ist erfüllt; Bias und Störfak-
                                      vertrauen und diese somit als kausale          oder Verschlimmerung der Symptome bei.
    toren können jedoch nicht voll-   Beziehung betrachten kann. In der Tabelle      Diese Faktoren können in ihrer Kombination,
    ständig ausgeschlossen wer-
    den (die meisten der Studien      1 werden biomechanische, psychosoziale         Dauer, Häufigkeit und Intensität die anato-
    präsentierten 1-3 potenziell      und individuelle Risikofaktoren mit „hinrei-   mischen Strukturen wie Muskeln, Sehnen,
    irreführende Faktoren). Risiko-
    faktoren mit hoher Evidenz -      chender Evidenz“3 für die jeweilige betrof-    Gelenke, Nerven erheblich beeinträchtigen.
    mindestens vier von fünf Kau-     fene Körperregion aufgezeigt [24]. Dabei       Bei verminderter Anpassungsfähigkeit und
    salitätskriterien sind erfüllt;
    Bias und Störfaktoren wurden      fällt auf, dass die Exposition gegenüber       fehlenden Kompensationsmechanismen
    kontrolliert oder waren nicht
    vorhanden (die meisten der
                                      biomechanischen Faktoren sehr wahr-            kann es zu einer Überbeanspruchung kom-
    Studien stellten keine irrefüh-   scheinlich für alle Körperregionen schädi-     men, aus der dann Schmerzen und Leis-
    renden Faktoren dar). Keinem
    der Risikofaktoren wurde hohe
                                      gend ist. Im Folgenden wird auf die einzel-    tungsminderung resultieren. Die Auswirkun-
    Evidenz zugeordnet [24].          nen Risikodimensionen näher eingegangen.       gen sind dementsprechend individuell [37].

    16
Tabelle 1: Risikofaktoren für MSE mit hinreichender Evidenz

                                 Arbeitsbezogene Risikofaktoren mit hinreichendem Nachweis
                                              eines kausalen Zusammenhangs
                                                                                                                                              2
 Körperregion                  biomechanisch                     psychosozial                     individuell
 Nacken                 • ungünstige Haltung               • geringe Arbeitszufrieden-    • weibliches Geschlecht
                                                             heit und Unterstützung       • Komorbidität
                                                           • hohe Stressbelastung         • Rauchen

 Unterer                • ungünstige Haltung               • negative Affektivität        • jüngeres Alter
 Rücken                 • schwere körperliche Arbeit       • geringe Kontrolle über       • hoher BMI
                        • Hebevorgänge                       die Arbeit
                                                           • hohe psychische
                                                             Anforderungen
                                                           • hohe Arbeitsunzu-
                                                             friedenheit

 Schulter               • schwere körperliche              • hohe Stressbelastung
                            Arbeit                         • monotone Arbeit
                                                           • geringe Kontrolle über die
                                                             Arbeit

 Ellenbogen             • ungünstige Haltung                                              • Komorbidität
                        • repetitive Tätigkeiten                                          • höheres Alter

 Handgelenk/            •   lange Computerarbeitszeit                                     • hoher BMI
 Hand                   •   schwere körperliche Arbeit                                    • höheres Alter
                        •   ungünstige Haltung                                            • weibliches Geschlecht
                        •   repetitive Tätigkeiten

 Hüfte                  • Hebevorgänge
                        • schwere körperliche Arbeit

 Knie                   • ungünstige Haltung                                              • Komorbidität
                        • Hebevorgänge
                        • repetitive Tätigkeiten

Quelle: da Costa & Vieira [24]

Die European Foundation for Improvement                 Heben oder Tragen von schweren Lasten
of Living and Working Conditions (Euro-                 sowie Vibration sind die am häufigsten vor-
found) führt regelmäßig im Abstand von                  kommenden physischen Risikofaktoren in
fünf Jahren Surveys zu Arbeitsbedingun-                 Europa (Abbildung 3) [22, 38]. Betrachtet
gen in Europa durch. Die sechste Befra-                 man die einzelnen Dimensionen des soge-
gung kommt zu dem Ergebnis, dass sich                   nannten physical environment index4, dann            4
                                                                                                               Der Index der physischen
                                                                                                             Umwelt – eine Dimension der
die physische Arbeitsumwelt im Vergleich                sind die Unterschiede zwischen den Beru-             Arbeitsplatzqualität– umfasst
zu den vergangenen Jahren kaum verbes-                  fen erheblich. Zum Beispiel weisen Be-               13 Indikatoren, die sich auf
                                                                                                             spezifische physische Gefah-
sert hat. Expositionen gegenüber haltungs-              schäftigte im Handwerksgewerbe mit 37                ren beziehen (z.B. Vibrationen
bedingten ergonomischen Risikofaktoren                  Punkten den höchsten und damit schlech-              durch Handwerkzeuge, Ermü-
                                                                                                             dungspositionen, Temperatur
sind nach wie vor sehr häufig. Expositionen             testen Score für haltungsbedingte Risiken            oder das Heben/Bewegen von
durch repetitive Bewegungen, statische                  auf; der Durchschnittswert für die EU28              Personen usw.). [22].

und erzwungene Körperhaltungen, das                     liegt bei 24 Punkten [22].

                                                                                                                                        17
Exponiert gegenüber körperlichen Risiken im zeitlichen Verlauf
                                    (% exponiert ein Viertel der Zeit oder länger)

2
                        Vibration
                                                                                                                     1991 EC12

                            Lärm                                                                                     1995 EU15

                                                                                                                     2000 EU27
              Hohe Temperaturen

                                                                                                                     2005 EU27
           Niedrige Temperaturen

                                                                                                                     2010 EU27
             Einatmen von Rauch,
         Staub und/oder Dämpfen

                Chemische Stoffe

            Ermüdende oder
     beschwerliche Positionen

                 Schwere Lasten

            Repetitive Hand- oder
                Armbewegungen

                                    0%           10%            20%             30%             40%            50%             60%          70%

                                    Abbildung 3: Anteil der körperlichen Risikofaktoren bei Beschäftigten in Europa – Ergebnisse aus
                                    früheren Eurofound Surveys [38].

                                    Eurofound (2012), Fith European Working Conditions Survey, Publications Office of the European Union,
                                    Luxembourg

                                    Individuelle, lebensstilbezogene                        mischen Status (SES) [37]. Hier werden
                                    Einflussfaktoren                                        exemplarisch einige Faktoren aufgelistet:
                                    Wie bei den meisten chronischen Erkran-
                                    kungen werden MSE durch multiple Risiko-                   Alter: Mit zunehmendem Alter nimmt die
                                    faktoren ausgelöst. Zusätzlich zur berufli-             aerobe und muskuläre Leistungsfähigkeit
                                    chen Belastung spielen weitere Aspekte                  ab, was wiederum die körperliche Arbeitsfä-
                                    wie Sport, Bewegungsmangel, Ernährung                   higkeit beeinträchtigt [39]. Ältere Arbeitneh-
                                    oder Substanzkonsum eine bedeutende                     mer sind aufgrund ihrer verminderten Funk-
                                    Rolle bei der Entstehung. Des Weiteren                  tionsfähigkeit anfälliger für arbeitsbedingte
                                    können systemische Erkrankungen wie                     MSE als jüngere [40]. Der Anstieg schwächt
                                    Diabetes oder rheumatoide Arthritis die                 sich allerdings bei den 55- bis 64-Jährigen
                                    Pathogenese negativ beeinflussen. Die                   ab, man spricht auch vom „Healthy Worker
                                    Risiken variieren mit dem Alter, Geschlecht             Effect“, d.h. kranke Arbeitnehmer verlassen
                                    sowie der Ethnizität oder dem sozioökono-               das Erwerbsleben vorzeitig [31].

    18
Geschlecht: Mehreren Untersuchungen           Lebensstil:
zufolge ist die Prävalenz von MSE bei         Gewicht/Ernährung : Beschäftigte mit
Frauen insgesamt höher als bei Männern
[31, 41, 42]. Geschlechtsspezifische Unter-
                                              Übergewicht und Adipositas haben ein hö-
                                              heres Risiko an MSE zu erkranken und ge-
                                                                                                                             2
schiede könnten auch durch unterschiedli-     nesen langsamer als Normalgewichtige [47].
che Expositionen gegenüber arbeitsbe-         Des Weiteren trägt der westliche Lebens-
dingten Risikofaktoren erklärt werden.        stil 6 zu einem negativen Kalziumhaushalt      5
                                                                                               Es wird angenommen, dass
                                                                                             Bildung neben dem Zugang zu
Einem Review zufolge haben Männer ein         und zur Knochendemineralisation bei [48].      guten Beschäftigungsmöglich-
höheres Risiko für Rückenbeschwerden                                                         keiten auch zu einer gesünde-
                                                                                             ren Lebens- und Verhaltens-
durch schweres Heben und Tragen und für       Rauchen: Bei starken Rauchern (auch bei        weise befähigt, die den Ein-
Nacken-Schulter-Beschwerden durch             Passivrauchern) wurden häufiger Kno-           zelnen vor Nachteilen im spä-
                                                                                             teren Leben schützen kann.
Hand-Arm-Vibrationen. Frauen hingegen         chenschwund und Frakturen beobachtet.
haben ein höheres Risiko für Nacken-          Zudem verzögert das Rauchen die Heilung
                                                                                             6
                                                                                               Sitzende Lebensweise, Kof-
                                                                                             fein- und Alkoholkonsum, Rau-
Schulter-Beschwerden durch statische,         und erhöht die Komplikationen durch Frak-      chen und eventuell hoher tie-
                                                                                             rischer Eiweißkonsum [48].
ungünstige Armhaltungen [43].                 turen und Traumata [49]. Außerdem wird
                                              das Rauchen mit lokalen entzündlichen
  Sozioökonomischer Status: Ein gerin-        Reaktionen des Muskel-Skelett-Systems
ger SES (niedriger Bildungsstand5, gerin-     (z. B. Epicondylitis) und stärkerer Schmerz-
ges Einkommen oder Qualifikation) steht in    sensitivität in Verbindung gebracht [48].
starker Beziehung zu der Prävalenz und
Inzidenz von MSE (Abbildung 4) [31, 44,       Bewegung: Inaktivität ist ein unabhängi-
45]. Beschäftige in gering qualifizierten,    ger Risikofaktor für Rückenprobleme [50].
manuellen Berufen sind häufiger arbeits-      Außerdem kann aufgrund verringerter Pro-
unfähig aufgrund von Rückenschmerzen.         duktion von Gelenkflüssigkeit (Synovia),
Diese Beobachtung ist geschlechterunab-       die zum Schutz der Gelenkoberfläche pro-
hängig und über alle Altersklassen hinweg     duziert wird, Gelenkverschleiß begünstigt
nahezu konstant [46].                         werden [51].

                                                                                                                       19
100 %

2                            90 %

                             80 %

                             70 %

                             60 %

                             50 %

                             40 %

                             30 %

                             20 %

                             10 %

                                 0
                                         Geringes Bildungsniveau           Mittleres Bildungsniveau          Hohes Bildungsniveau

                                     Abbildung 4: Anteil von arbeitsbedingten Gesundheitsproblemen (MSE; Stress, Depressionen oder
    7
      „Geringqualifizierte           Angst; sonstige) bei Personen in der EU27 nach Bildungsstand (%)7 [31].
    Arbeitnehmer berich-
    teten häufiger über
    arbeitsbedingte Pro-         Muskuloskelettale Beschwerden     Stress, Depression oder Angstzustände     Andere Gesundheitsbeschwerden
    bleme und waren
    eher geneigt, MSE
    als ein schwerwie-
    gendes arbeitsbe -
    dingtes Problem zu
    bezeichnen. 68% der
    Personen mit nied-
    rigem Bildungsniveau
    berichteten über ge-
    sundheitliche Ein-
    schränkungen durch
    MSE. Hingegen nur
    44% mit einem hohen
    Bildungsniveau be-
                                     Psychosoziale und arbeitsorganisa-                   langfristige körperliche Folgen sind Mus-
    richteten über MSE“
    [31].                            torische Einflussfaktoren                            kelabbau oder Gelenkfehlstellung [12].
                                     In systematischen Reviews werden Zusam-              Langanhaltende krankheitsbedingte Fehl-
                                     menhänge zwischen psychosozialen Fak-                zeiten aufgrund von MSE wurden häufiger
                                     toren und MSE aufgezeigt [24, 52-54].                bei Beschäftigten mit hohem Zeitdruck bei
                                     Diese können den Krankheitsverlauf im                der Arbeit und geringer Jobkontrolle be-
                                     Hinblick auf Verhalten und Umgang mit                obachtet [55]. Folgende weitere Faktoren
                                     Schmerz negativ beeinflussen. Psychische             aus der Arbeitsumwelt und -organisation
                                     Anspannung durch Konflikte im Beruf oder             können die Gesundheit der Beschäftigten
                                     in der Familie kann sich körperlich manifes-         ebenfalls negativ beeinflussen [56-58]:
                                     tieren und das vegetative Nervensystem
                                     beeinträchtigen. Der Körper reagiert mit             •   hohes Arbeitstempo,
                                     erhöhtem Muskeltonus, der wiederum                   •   monotone Arbeitsabläufe,
                                     Muskelverspannung auslösen kann. Auf-                •   mangelnde Pausen,
                                     grund der Schmerzen wird die Beweglich-              •   prekäre Arbeitsverhältnisse,
                                     keit stark eingeschränkt; es kommt zu                •   ungünstig gestaltete Vergütungs-
                                     Inaktivität und Schonhaltung. Mögliche                   systeme und Arbeitszeitmodelle.

    20
2.2.3. Ökonomische Relevanz

MSE sind für 40 % aller globalen Sach- und
Entschädigungsleistungen für Berufser-
                                                 Frankreich, 2007: Arbeitsbedingte MSE
                                                 verursachten 7,5 Mio. Arbeitsunfähigkeits-
                                                                                                                                      2
krankungen und Arbeitsunfälle verantwort-        tage, die mit wirtschaftlichen Einbußen in
lich (Abbildung 5) [59]. Schätzungen für die     Höhe von 736 Mio. Euro einhergingen [62].
Kosten von arbeitsbedingten Rückener-
krankungen, die der Wirtschaft in den Mit-       Deutschland, 2016: Alle MSE (ICD8 M00              ICD – International Classifica-
                                                                                                   8

                                                                                                   tion of Diseases.
gliedsstaaten durch sämtliche arbeitsbe-         – M99) verursachten 154 Mio. Arbeitsunfä-
dingte Gesundheitsschäden erwachsen,             higkeitstage, die mit 17,2 Mrd. Produkti-
liegen zwischen 2,6 % und 3,8 % des Brut-        onsausfallkosten und 30,4 Mrd. Ausfall an
tosozialprodukts [60]. Die Kosten für            Bruttowertschöpfung einhergingen [63].
arbeitsbedingte MSE der oberen Extremi-
täten liegen schätzungsweise zwischen 0,5        Finnland, 2004: Arbeitsbedingte MSE ver-
% und 2 % des Bruttosozialprodukts [61].         ursachten direkte Kosten in Höhe von 222
Ein Kostenvergleich von arbeitsbedingten         Mio. Euro [62].
MSE wird erschwert durch Unterschiede in
den Versicherungssystemen der einzelnen          Österreich, 2004: MSE verursachten 7,7
Länder, das Fehlen von standardisierten          Mio. Arbeitsunfähigkeitstage [62].
Erhebungskriterien und der Kostenerfas-
sung. Im Folgenden sollen daher nur einige       Slowenien, 2006: MSE verursachten 2,47
Beispiele aus den einzelnen Ländern auf-         Mio. Arbeitsunfähigkeitstage [62].
gezeigt werden:

                                                         14 % Unfälle

                                                                        3 % Tumore

                                                                          3 % Hauterkrankungen

         40 %
Muskel-Skelett-                                                               9 % Atemwegserkrankungen
 Erkrankungen

                                                                          8 % Beeinträchtigungen des zentralen
                                                                              Nervensystems

                                                             16 % Herz-Kreislauferkrankungen
                        7 % Psychische Erkrankungen

Abbildung 5: Weltweite Kompensationskosten von arbeitsbedingten Erkrankungen und Unfällen (ILO [59]).

                                                                                                                                21
2

         2.2.4. Ökonomischer Nutzen der                ventionen zur Prävention von arbeitsbe-
         Prävention von MSE im Unternehmen             dingten MSE. Sie untersuchten auch
                                                       Faktoren, die sich begünstigend oder hin-
         Sultan-Taïeb und Kollegen (2017) erstellten   dernd auf den Umsetzungsprozess aus-
         eine Kosten-Nutzen-Bewertung von ergo-        wirkten. Die nach der Intervention kumu-
         nomischen arbeitsplatzbezogenen Inter-        lierten Einsparungen waren insgesamt

    22
höher als die Gesamtinvestition (mit einer      In einer weiteren Untersuchung wurden
Amortisationsdauer von drei bis fünf Jah-       300 Unternehmen aus 15 Ländern gebeten,
ren aus Sicht des Arbeitgebers und 0,82
bis neun Jahren aus Sicht der Unfallversi-
                                                ihre subjektive Einschätzung der gesamt-
                                                wirtschaftlichen Effekte von Prävention
                                                                                                                                    2
cherung). In allen Studien wurde belegt,        und Gesundheitsschutz am Arbeitsplatz
dass durch ergonomische Ausstattung und         (Return on Prevention) anzugeben. Danach
eine Ge-samtstrategie Unfälle sowie Ent-        waren die direkten Effekte der Präventions-
schädigungsansprüche signifikant redu-          maßnahmen Gefahrenminderung, erhöhtes
ziert werden konnten. In Studien mit posi-      Bewusstsein für Arbeitsrisiken und Reduk-
tiven wirtschaftlichen Ergebnissen zeigte       tion von gefährlichen Verhaltensweisen und
sich, dass die Unterstützung seitens der        Arbeitsunfällen. Die bedeutendsten indi-
oberen und mittleren Führungsebene groß         rekten Effekte waren Imagegewinn und
war und auch die Mitarbeiterbeteiligung auf     Verbesserung der Unternehmenskultur
einem hohen Niveau lag. Bei Studien mit         (Abbildung 6) [65]. Allerdings muss ein-
negativen oder uneinheitlichen Ergebnis-        schränkend hinzugefügt werden, dass
sen fehlte die Unterstützung durch die Vor-     diese Ergebnisse auf Selbsteinschätzun-
gesetzten, die Intervention entsprach nicht     gen der Unternehmen beruhen.
den Bedürfnissen der Beschäftigten und
die „Interventionsdosis“ war zu gering [64].

              Reduzierte Gefahren                                                         5,08

         Reduzierte Regelverstöße                                                         5,04

                 Reduzierte Unfälle                                                       4,98

          Reduzierte Fluktuationen                                     3,80

       Reduzierte Unterbrechungen                                              4,30

           Reduzierte Ausfallzeiten                                            4,35

        Reduzierte Verschwendung                                       3,80

           Reduzierte Aufholzeiten                                      3,83

        Verbesserte Produktqualität                                        3,99

      Verbesserte Termineinhaltung                                         4,01

   Erhöhte Anzahl von Innovationen                                           4,19

       Erhöhtes Risikobewusstsein                                           4,15

 Verbessertes Unternehmensimage                                                       4,80

   Verbesserte Kundenzufriedenheit                                                    4,75

          Verbesserte Arbeitskultur                                                       5,05

               Gesamtdurchschnitt                                                 4,41

                                                                                                     1 = keine Wirkung
                                      0    1        2         3        4              5          6   6 = sehr starke Wirkung

   Abbildung 6. Effekte von Abeits- und Gesundheitsschutz innerhalb des Unternehmens
   (ISSA [65]).

                                                                                                                               23
3
         Scoping Review zur muskuloskelettalen
         Gesundheit bei Friseuren

         3.1. Hintergrund

         Muskel-Skelett-Erkrankungen (MSE) sind in der erwerbsfähigen Bevölkerung weit
         verbreitet und wirken sich auf passive (Knochen, Gelenke) und/oder aktive Struk-
         turen des Körpers (Muskeln, Sehnen, Bänder, periphere Nerven) aus [37]. Da welt-
         weit ein hoher Anteil von anerkannten Berufskrankheiten auf berufsbedingte MSE
         entfallen, wurden viele Anstrengungen unternommen, um zu erforschen, welche
         Rolle biomechanische Faktoren bei der Entwicklung von MSE und ihrer Prävention
         spielen [23]. MSE sind in Berufsgruppen mit starker körperlicher Beanspruchung
         weit verbreitet, z. B. im Baugewerbe oder im Dienstleistungssektor [26, 35, 36].
         Friseure sind eine Berufsgruppe, deren Arbeitsfähigkeit und Gesundheitszustand
         durch bestimmte berufliche Aktivitäten beeinträchtigt werden können. Eine Analyse
         der täglichen Aufgaben zeigte, dass Friseure im Durchschnitt 29 % ihrer Zeit mit
         dem Schneiden, 17 % mit dem Färben, 10 % mit dem Föhnen und 8 % mit dem
         Waschen von Haaren verbringen. Diese Tätigkeiten erfordern ein häufiges sagit-
         tales oder laterales Beugen und Drehen des Rückens (z. B. Haare am Becken
         waschen), statische Haltungen und längeres Stehen. Bei allen mit dem Kunden
         verbundenen Tätigkeiten wurden sich ständig wiederholende Aufgaben beobach-
         tet [66]. Kinematische Haltungsanalysen zeigten, dass Friseure ihre Arme in 9 bis
         13 % ihrer gesamten Arbeitszeit über 60° angehoben hatten [67, 68]. Das Arbeiten
         mit über Schulterhöhe angehobenen Armen gilt als wesentlicher Risikofaktor für
         klinisch nachgewiesene Schulterbeschwerden oder anhaltend starke Schmerzen
         [69, 70]. Der vergleichsweise große Kraftaufwand und häufige Beuge- und Streck-
         bewegungen des Handgelenks – verbunden mit einer dauerhaften Exposition –
         könnten ursächlich für das stärkere Auftreten von Hand-/Handgelenksschmerzen
         sein, insbesondere bei Friseurinnen [71]. In einer Studie zu den Arbeitsbedingungen
         von finnischen Friseuren wurden repetitive Bewegungen, unbequeme Arbeitshal-
         tungen, Stehen, Zugluft, unangenehme Temperaturen und Chemikalien als Risiko-
         faktoren für die Gesundheit beschrieben [72]. Ziel dieser Arbeit ist es, die vorhan-
         dene Literatur zur Prävalenz von MSE bei Friseuren sowie zu den beruflichen
         Risikofaktoren und möglichen Ansätzen der Prävention und Rehabilitation zusam-
         menzufassen.

    24
3

25
3.2. Methoden                                   mittelten Artikel nach weiteren relevanten
                                                                                    Studien durchsucht. Des Weiteren haben
                                    Aufgrund zahlreicher Studiendesigns und         wir eine Suche in Google Scholar durchge-
                                    der fehlenden Zusammenfassung von               führt. Die Suche umfasste Studien mit und

3                                   Ergebnissen haben wir uns für die Durch-
                                    führung eines Scoping Reviews entschie-
                                                                                    ohne Peer Review, die bis zum 5. Novem-
                                                                                    ber 2018 veröffentlicht worden waren.
                                    den. Dessen übergreifendes Ziel ist die
                                    Untersuchung des Umfangs und der Art            Stufe 3: Studienauswahl
                                    der Forschungsaktivität, die Zusammen-          Für die Analyse haben wir Studien in Be-
                                    fassung der relevanten Forschungsergeb-         tracht gezogen, in denen Ergebnisse für die
                                    nisse und die Identifizierung von For-          MSE Prävalenz/-Inzidenz, berufsbedingte
                                    schungslücken [73]. Bei der methodischen        Risikofaktoren sowie präventive oder reha-
                                    Umsetzung haben wir uns an dem sechs-           bilitative Maßnahmen gegen MSE unter-
                                    stufigen Vorgehen von Arksey and O’Malley       sucht wurden. Es wurden nur Studien ein-
                                    orientiert [73]:                                bezogen die separate Ergebnisse für
                                                                                    Friseure enthielten. Da sich die Überprü-
                                    Stufe 1: Identifizierung der                    fung nicht nur auf klinische Outcomes kon-
                                    Forschungsfrage                                 zentrierte, haben wir auch biomechanische
                                    Die folgende Frage sollte beantwortet wer-      Studien berücksichtigt. Die folgenden Ein-
                                    den: Was ist aus der Literatur über die Häu-    schlusskriterien wurden angewandt:
                                    figkeit, die Risikofaktoren und Maßnahmen       (i) Population : umfasst Friseure, die
                                    zur Vorbeugung oder Verringerung von MSE              weiterhin in ihrem Beruf arbeiten, so-
                                    bei Friseuren bekannt? Die Studienergeb-              wie solche, die ihren Beruf aus gesund-
                                    nisse wurden mithilfe eines thematischen              heitlichen Gründen gewechselt oder
                                    Ansatzes auf Basis der drei Teilabschnitte            verlassen haben. Auch andere ver-
                                    der Studienfrage deskriptiv zusammenge-               wandte Berufe wie z.B. Kosmetiker
                                    fasst und dargestellt:                                wurden berücksichtigt.
                                    (1) Wie hoch ist die Prävalenz und/oder 		      (ii) Exposition: umfasst ergonomische,
                                        Inzidenz von MSE in den verschiedenen             biomechanische, organisatorische
                                        Körperregionen?                                   und psychosoziale Faktoren, die im
                                    (2) Welche ergonomischen, organisato-		               beruflichen Friseuralltag auftreten.
                                        rischen oder psychosozialen beruf-		        (iii) Intervention: umfasst alle Maßnah-
                                        lichen Risikofaktoren stehen in Verbin-           men, die darauf abzielen, MSE zu ver-
                                        dung zu MSE?                                      hindern oder zu reduzieren.
                                    (3) Welche Maßnahmen werden ange-		             (iv) Outcome: umfasst alle Gesundheits-
                                        wandt, um MSE bei Friseuren zu ver-		             störungen im Zusammenhang mit dem
                                        hindern oder zu reduzieren?                       Bewegungsapparat wie z.B. (wieder-
                                                                                          kehrende) Schmerzen, Beschwerden,
    9
      Population: hairdress* OR
                                    Stufe 2: Identifizierung relevanter                   Kribbeln, Taubheitsgefühl, Gelenk-
    barbering OR cosmetologist*     Studien                                               steifheit oder Schwellungen. Außer-
    OR beautician* OR coiffeur*OR
    beauty culture*.                Wir haben eine systematische Literaturre-             dem wurden medizinisch bestätigte
                                    cherche in den elektronischen Datenban-               Diagnosen (z.B. Karpaltunnelsyndrom)
    10
       Outcome: musculoskeletal
    symptoms OR musculoskeletal     ken MEDLINE, PUBMED, CINAHL, Web of                   berücksichtigt.
    pain OR musculoskeletal dis-    Science und LIVIVO durchgeführt. Suchbe-        (v) Studiendesign: umfasst peer-revie-
    orders OR musculoskeletal
    diseases OR upper limb* OR      griffe für die Population9 wurden mit Begrif-         wed und nicht-peer-reviewed Veröf-
    upper extremity* OR neck pain
                                    fen für das Outcome verbunden10. Zusätz-              fentlichungen aller Studientypen mit
    OR back pain OR shoulder
    pain.                           lich haben wir die Referenzlisten der er-             Ausnahme von Leitartikeln, Kommen-

    26
taren, Tagungsberichten und Grundsatzer-        nehmer brachten weitere Vorschläge für
klärungen.                                      die Interpretation der Studienergebnisse
                                                und für Präventivmaßnahmen ein.
Es wurden Artikel in Englisch, Deutsch,
Niederländisch, Französisch, Italienisch,
Portugiesisch und Spanisch einbezogen.          3.3. Ergebnisse
                                                                                                     3
Die Studienselektion nahmen zwei Revie-
wer unabhängig voneinander anhand der           Es wurden insgesamt 186 Artikel identifi-
Titel, Abstracts und Volltexte vor. Bei Unei-   ziert, von denen 44 die Auswahlkriterien für
nigkeit wurde durch Diskussion ein Kon-         die qualitative Datensynthese erfüllten
sens erzielt.                                   (Abbildung 7). Die Charakteristika der ent-
                                                haltenen Studien sind im Anhang 1 aufge-
Stufe 4: Erfassung und Aufbereitung             führt. Davon wurden 29 Studien in euro-
der Daten                                       päischen Ländern durchgeführt. Die über-
Allgemeine Informationen zu Autor(en),          wiegende Mehrzahl der Studien (89 %)
Publikationsjahr, Studienort, Publikations-     wurde nach dem Jahr 2000 veröffentlicht,
typ, Studienziele, Studiendesign, Studien-      was darauf hindeutet, dass die Forschung
population, Methodik und Outcomes wur-          zu diesem Berufsfeld intensiviert wurde. In
den erfasst. Die Daten wurden von einer         einer Studie wurde ein qualitatives Studi-
Person extrahiert und von einem zweiten         endesign mit offenen Interviews ange-
Reviewer verifiziert.                           wandt [75]. Berücksichtigt wurden drei
                                                nationale Surveys mit ausgewählten Be-
Stufe 5: Vergleich, Zusammenfassung             rufsbezeichnungen, die unter anderem
und Präsentation der Ergebnisse                 auch Friseure berücksichtigt haben [76-
Die den Originalstudien entnommenen Prä-        78]. Eine Studie untersuchte die Entwick-
valenzdaten zur Beantwortung der ersten         lung der Entschädigungsansprüche für
Frage wurden mithilfe eines von Neyeloff et     arbeitsbedingten MSE [79]. Des Weiteren
al. entwickelten Excel-Arbeitsblatts extra-     wurden sieben Studien einbezogen, die
hiert und miteinander gepoolt (random           eine Evaluation durchgeführt hatten. Wir
effect model) [74]. Da die Studienqualität      identifizierten drei Studien, die ausschließ-
nicht bewertet wurde, können die Schät-         lich die Arbeitshaltungen bei der Ausfüh-
zungen verzerrt sein und sollen zunächst        rung typischer Friseurtätigkeiten gemes-
als Näherungswerte dienen, die einer wei-       sen hatten [68, 71, 87]. Schließlich wurden
teren Überprüfung bedürfen. Alle in den         drei Publikationen aus derselben Kohorte
Studien untersuchten potenziellen arbeits-      von Auszubildenden unterschiedlicher
bezogenen Risikofaktoren wurden extra-          Berufe einbezogen. Die Autoren beobach-
hiert und in übergeordnete Risikokatego-        teten den Verlauf der Nacken- und Schul-
rien untergliedert.                             terschmerzen während der Ausbildungs-
                                                jahre [88-90]. Bis auf eine Studie schlossen
Stufe 6: Konsultation                           alle vorwiegend Frauen ein [91]. In einer
Die Methoden und Ergebnisse des Scoping         weiteren Studie wurden ausschließlich
Reviews wurden im Rahmen des ergoHair-          Kosmetiker befragt [92].
Projektes auf einem Workshop vorgestellt.
Am Workshop nahmen Arbeiternehmer-
und Arbeitgebervertreter der Friseurbran-
che sowie Wissenschaftler aus verschiede-
nen europäischen Ländern teil. Die Teil-

                                                                                                27
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