Mythen und Märchen IMPacts Ausgabe 04 - Dezember 2012 - Alexandria (UniSG)

Die Seite wird erstellt Lennja Scheffler
 
WEITER LESEN
Mythen und Märchen IMPacts Ausgabe 04 - Dezember 2012 - Alexandria (UniSG)
IMPacts
Mythen und Märchen

IMPacts Ausgabe 04 – Dezember 2012
Mythen und Märchen IMPacts Ausgabe 04 - Dezember 2012 - Alexandria (UniSG)
2 I IMPacts Ausgabe 04
Mythen und Märchen IMPacts Ausgabe 04 - Dezember 2012 - Alexandria (UniSG)
Editorial
                                                                                     ALTERNATIVE FOLGESEITE

Wahres und
Wesentliches
von Mythen und
Märchen abgrenzen

                                                                 Christian Laesser

Mythen und Märchen – so der thematische Titel dieses             Simone Strauf und Roland Scherer setzen sich mit einem
Heftes und abendfüllender TV Shows. Die Idee hierzu              in Regional Science weitum verbreiteten wissenschaftli-
entstand anlässlich einer Diskussion in der Direktion des        chen Ansatz – Wertschöpfungsstudien – auseinander. Sie
Instituts (nicht vor dem Fernseher). Wir waren uns einig,        nehmen Kritik an diesen Studien auf und zeigen, wie der
dass unser Wissen in vielen Domänen eher auf nicht               Ansatz in Richtung einer regionalen Zahlungsbilanz bzw.
hinterfragten und Wahrheit beanspruchenden Mythen                weitergehenden Wirkungsanalyse weiterentwickelt werden
und – im vereinzelten schlimmsten Fall – auf über die            kann, um so für Regionen aussagekräftigere Informatio-
Zeit immer weiter entwickelten und ausgeschmückten               nen zu gewinnen.
Märchen basiert. Der Logos (als Gegensatz zum Mythos)
hat es zunehmend schwerer, da der Versuch, die Wahrheit          Elisabeth Dalucas und Johannes Rüegg-Stürm postulie-
von Behauptungen mittels verstandesgemässer Beweise zu           ren, das Potential des „Fiktionalisierens“, seine Spiel- und
begründen, immer mit einem vergleichsweise grösseren             Gestaltungsmöglichkeiten systematischer für die Weiter-
Aufwand verbunden ist. Dazu kommt, dass gerade nicht-            entwicklung von Organisationen auszuschöpfen. Sie ge-
faktenbasiertes Halbwissen oft mit der grössten Lautstärke       hen davon aus, dass Organisationen ständig mit Fiktionen
verbreitet wird.                                                 arbeiten und dies überhaupt erst Entwicklung und Inno-
                                                                 vation in Unternehmen ermöglicht.
In einem Zeitalter räumlicher und zeitlicher Ubiquität
von Information wird die Destillation von relevantem             Kuno Schedler geht – im letzten Hauptartikel dieser
und faktenbasiertem Wissen (Logos) immer zentraler,              Ausgabe – der Frage nach, wie es kommt, dass sich Or-
allerdings auch immer komplexer, da sich eben dieses             ganisationen, die an sich in Wettbewerb stehen und auf
faktenbasierte Wissen erst aus der Wolke von Halbwissen          der Suche nach Differenzierung sein sollten, in formal-
herausdifferenzieren muss. Was ist richtig (faktenbasiert)?      organisatorischen Belangen oft sehr ähnlich sehen. Und
Was ist wichtig? Es ist die Aufgabe der Wissenschaft, diese      er liefert auch gleich den Schlüssel für die Antwort, basie-
Wolke zu lichten und herauszustreichen, auf was sich un-         rend auf dem Neo-Institutionalismus: Institutionalisierte
ser Blick und unsere Aufmerksamkeit lenken sollten.              Erwartungen, durch deren Erfüllung sich Organisationen
Der thematische Auftrag, das Thema dieses Heftes abtei-          „legitimieren“. Und diese Erwartungen basieren oft auf
lungsspezifisch zu diskutieren wurde einmal mehr in der          Mythen.
vollen Bandbreite der Möglichkeiten ausgeschöpft.
                                                                 Wir wünschen eine interessante Lektüre
So räumt in einem ersten Beitrag der Schreibende zusam-          und ein erfolg­reiches Jahr 2013.
men mit seinem Kollegen Pietro Beritelli mit ein paar
alten Zöpfen aus dem Tourismus auf. In einem strecken-
weise eher polemischen Ansatz wird unter anderem nach-
gewiesen, dass das touristische Österreich in einem fairen
Vergleich mit der Schweiz nicht einfach besser ist, dass
Tourismus nur beschränkt nachhaltig sein kann, und dass
die grosse finanzielle Kelle - fokussiert auf die touristische   Prof. Dr. Christian Laesser
Promotion - nur selten zielführend sein kann.                    Direktor IMP-HSG

                                                                                                      IMPacts Ausgabe 04 I 1
Mythen und Märchen IMPacts Ausgabe 04 - Dezember 2012 - Alexandria (UniSG)
Inhalt

4                        8                           12                      16
Mythen und Märchen       Zum Mehrwert von            Zur Funktion von        Legitimation durch
im Tourismus – Einige    Wertschöpfungsstudien       Fiktion im Management   Organisationale
(polemische) Kurzge-                                                         Mythen
schichten

                         Editorial                                                                 1

                         Inhalt                                                                    2

                         Mythen und Märchen im Tourismus –
                         Einige (polemische) Kurzgeschichten                                       4
                         Christian Laesser, Pietro Beritelli

                         Zum Mehrwert von Wertschöpfungsstudien                                    8
                         Simone Strauf, Roland Scherer

                         Zur Funktion von Fiktion im Management                                   12
                         Elisabeth Dalucas, Johannes Rüegg-Stürm

                         Legitimation durch Organisationale Mythen                                16
                         Kuno Schedler

                         IMPactuel                                                               20
                         Veranstaltungen und Publikationen

                         Eignerstrategie als Instrument zur Steuerung
                         öffentlicher Unternehmen                                                 22
                         Roger W. Sonderegger

                         Mögliche Ansätze für Bergbahnen,
                         kalte in warme Betten zu transformieren                                  23
                         Samuel Heer, Christian Laesser

2 I IMPacts Ausgabe 04
Mythen und Märchen IMPacts Ausgabe 04 - Dezember 2012 - Alexandria (UniSG)
Inhalt

23                     26                      27                      28
Mögliche Ansätze für   Zum Zusammenspiel       Zum Einsatz von Case    The Sino-Swiss Manage-
Bergbahnen, kalte in   grenzüberschreitender   study teaching in der   ment Training Program
warme Betten zu        Netzwerke               Lehre                   Action Learning pro-
transformieren                                                         gram in Inner Mongolia

                       Die Steuerung mit Kennzahlen in den
                       kreisfreien Städten Deutschlands                                      24
                       Isabella Proeller, Alexander Kroll

                       INTERREG IVB Projekt “TransNetAero”                                   25
                       Andreas Wittmer

                       Zum Zusammenspiel grenzüberschreitender Netzwerke                     26
                       Roland Scherer

                       Zum Einsatz von Case study teaching in der Lehre                      27
                       Martin Gutjahr, Simone Strauf

                       The Sino-Swiss Management Training Program Action
                       Learning program in Inner Mongolia                                    28
                       Josef Mondl

                       Die Rationalität der Aufgabenträger im regionalen
                       Busverkehr                                                            29
                       Mirco Gross

                       Seminarankündigungen                                                  30

                       Autorenverzeichnis, Impressum, Bildnachweis                           32

                                                                           IMPacts Ausgabe 04 I 3
Mythen und Märchen IMPacts Ausgabe 04 - Dezember 2012 - Alexandria (UniSG)
4 I IMPacts Ausgabe 04
Mythen und Märchen IMPacts Ausgabe 04 - Dezember 2012 - Alexandria (UniSG)
Mythen und Märchen im Tourismus – Einige (Polemische) Kurzgeschichten

Mythen und Märchen im
Tourismus – Einige (pole­
mische) Kurzgeschichten
Christian Laesser, Pietro Beritelli

Tourismus ist global in einer Umbruchphase – mit Folgen für      überrascht, dass unser Nachbarland in der Beurteilung der
die Schweiz. Stichwörter sind neue Märkte und neue Desti-        Gäste besser abschneidet als die Schweiz, wenn man weiss,
nationen, ein sich schnell änderndes Kundenverhalten, eine       dass Schweizer selbst bei einem nicht wie heute verzerrten
wachsende Zahl globaler Player auf der Anbieterseite und         Wechselkurs
sich global verschiebende wirtschaftliche Gewichte. In solchen
Zeiten wird eine nüchterne Betrachtung auf den existieren-       • in Österreich bei den Übernachtungen systematisch
den und zukünftigen Tourismus in der Schweiz zwingend.             eine Klassifikationskategorie höher auswählen als in der
Wir machen dies in der Folge anhand einer Reihe von (mit-          Schweiz;
unter etwas polemischen) Kurzgeschichten, in denen wir eini-     • über 30% mehr ausgeben als in der Schweiz (pro Tag
ge im Raum stehende Thesen auf den Prüfstand stellen.              und pro Aufenthalt);
                                                                 • auch in Relation zu ihrem Einkommen mehr für einen
Es ist unbestritten: Die Schweiz hat touristisch sicherlich        Urlaub in Österreich als in der Schweiz ausgeben und
Verbesserungspotential, auch wenn sie im touristischen             damit ein höheres Involvement haben.
World Competitiveness Report konstant in den obers-
ten Rängen klassiert ist. In wiederkehrenden Vergleichen    Zum Vergleich: Frankreich schneidet im Vergleich zur
(v.a. auch in den Medien)                                                            Schweiz systematisch schlechter ab.
der Gästezufriedenheit           «Die Tourismusbranche ist genauso                   Und die Gründe sind die gleichen
scheint aber Österreich           anders wie jede andere Branche.»                   wie oben, nur gehen sie in die andere
gegenüber der Schweiz                                                                Richtung (vgl. auch Tabelle).
regelmässig besser abzuschneiden. Was ist hier los?         Schlussfolgernd muss in der Beurteilung der touristischen
Das Problem beider Beurteilungen (Competitiveness Re-       Schweiz Augenmass behalten werden und es muss insbe-
port und Gästevergleich Österreich) ist, dass wir deren     sondere klar werden, woran bzw. an welchem Benchmark
Grundlagen und Beurteilungsmechanismen zu wenig hin- die Schweiz genau bemessen wird.
terfragen. So ist die Rangierung im Competitiveness Re-
port v.a. von einer subjektiven Beurteilung infrastruktu-                                     Reisen    Reisen     Reisen
                                                                                                         nach       nach
reller und politischer Gegebenheiten getrieben. Man muss               Merkmal                in die    Öster-     Frank-
                                                                                             Schweiz
sich also fragen, ob nicht weitere Komponenten ebenfalls                                                 reich      reich
wichtig sind.                                                Zufriedenheit mit Reise           0.87       0.88       0.78
                                                                  insgesamt (-1 bis +1)
                                                                  Zufriedenheit mit Destination
In Sachen Gäste-Beurteilung von Österreich ist zunächst                                               0.68         0.79      0.62
                                                                  (-1 bis +1)
einmal festzustellen, dass insgesamt dieser Unterschied           Zufriedenheit mit Unterkunft        0.76         0.83      0.61
                                                                  (-1 bis +1)
in Bezug auf die gesamte Reise nicht sehr gross ist (vgl.
                                                                  Marktanteil ***** und **** Hotel    14.1%       50.8%      10.1%
Tabelle). Differenzen sind v.a. in der Beurteilung der Un-
                                                                  Marktanteil * und ** Hotel          4.2%         3.0%      15.4%
terkunft feststellbar (wie auch in den Medien oft vorge-
                                                                  Ausgaben pro Person und Reise      710 CHF    1‘046 CHF   987 CHF
bracht). Allerdings: Der Beurteilung Österreichs gegen-
                                                                  Ausgaben pro Person und Tag        176 CHF     210 CHF    197 CHF
über der Schweiz gerade in dieser Domäne liegen zum Teil
                                                                  Ausgaben pro Person und Tag
fundamentale Reiseverhaltensunterschiede zu Grunde,               in Relation zu Einkommen            0.3%         0.5%      0.3%
welche das schlechtere Abschneiden der Schweiz relativie-
                                                                 Kerndaten zu Schweizer Reisen in die Schweiz, Österreich und
ren und damit den Mythos „Österreich ist besser als die          Frankreich. Quelle: Reisemarkt Schweiz 2004 und 2007; eigene
Schweiz“ in Rauch aufzulösen vermögen. Wer ist noch              Berechnungen (Zufriedenheitsskala: -1=unzufrieden; +1=zufrieden)

                                                                                                              IMPacts Ausgabe 04 I 5
Mythen und Märchen im Tourismus – Einige (Polemische) Kurzgeschichten

Der obige Apfel-Birnen-Vergleich ist wenig zielführend         sondere Natur, wo Schutz- und Nutzungsinteressen auf­
und könnte im schlimmsten Fall sogar zu unternehmeri-          einander prallen - einigermassen gerecht verteilt werden.
schen Fehlentscheidungen führen. Daten und Fakten – so         Lehnen wir uns also zurück im Vertrauen auf die Nach-
etwa aus dem Reisemarkt Schweiz des IMP-HSG oder aus           haltigkeits-Selbstregulation des Systems, welches besten­
dem Tourismus Monitor Schweiz von Schweiz Tourismus            falls punktuell mit positiven oder negativen Anreizen
– sind also gefragt.                                           gesteuert werden muss.

Tourismus (in der Schweiz) kann nachhaltig                     Mehr Promotion für mehr Tourismus
sein                                                           Die touristische Schweiz ist derzeit aufgrund der wirt-
Nachhaltigkeit ist derzeit in aller Munde, unabhängig          schaftlichen Lage enorm unter Druck. Der teure Schwei-
davon, ob diese Münder wissenschaftlich oder praktisch         zer Franken und eine abschwächende europäische Kon-
argumentieren. Lassen Sie uns diese Diskussion für einen       junktur hinterlassen immer deutlichere Spuren in den
Moment kurz reflektieren.                                      Nachfragekennzahlen unseres Landes, aber auch in den
Vorauszuschicken ist einmal, dass Tourismus aus einer          Bilanzen und Erfolgsrechnungen der touristischen Un-
Perspektive Gesamtsystem auf Grund der zentralen Rolle         ternehmen. Als Gegenmittel wird mittels erhöhtem öf-
der hierzu notwenigen Mobilität per se ökologische Nach-       fentlichem Mitteleinsatz die Promotion der touristischen
haltigkeitskriterien verletzt. Dies bedeutet letztlich, dass   Schweiz insbesondere in den neuen Märkten hochgefah-
auch die Schweiz in ihrem Bestreben, mit ihren touristi-       ren und gleichzeitig die Marktdurchdringung in verschie-
schen Angeboten globale Märkte anzusprechen, Nachhal­          denen europäischen Stammmärkten intensiviert. Damit
tigkeitskriterien verletzt und durch Mobilität induzierte      reagieren wir mit alten Mitteln (Strukturen und Prozesse)
Externalitäten generiert. Nachhaltig kann deshalb der          auf neue Herausforderungen (Marktgegebenheiten). Die
Tourist in seinem Verhalten nur sein, wenn er in der           Wirkung dieser Massnahmen bleibt umstritten, nicht zu-
Schweiz einmal angekommen ist und mittels von den              letzt weil sie kaum zu messen ist. Dies hängt nicht zuletzt
Anbietern gesetzten Anreizen und/ oder Geboten und             damit zusammen, dass Märkte immer fragmentierter und
Ver­boten entsprechend gesteuert wird.                         damit immer weniger gleichartig werden. Sprich: Die
Kundensteuerung mit Nachhaltigkeitszielen ist das Zau­         ‚grosse Kanone‘ trifft nicht mehr auf Fliegen. Auch zeigen
ber­wort. Im Hinblick auf das global zu erwartende             sich international immer mehr Fälle, bei welchen wir tou-
Wachs­­­tum und die Tatsache, dass die Schweiz in vielen       ristisches Wachstum ohne geballte Promotionsmassnah-
emergenten Wirtschaften dieser Welt eine ‚aspirational‘        men beobachten können (bspw. deutsches Bodenseeufer,
Destination darstellt, die künftig viele Touristen anziehen    neue Destinationen in China).
wird, sollten wir baldmöglichst in eine entsprechende Dis-
kussion über Kundensteuerung einsteigen. Und wir soll-         Der derzeit bestehende Druck sollte deshalb genutzt wer-
ten aufhören zu glauben, dass Tourismus eine nachhaltige       den, das touristische Vermarktungssystem der Schweiz
Aktivität sein kann und vielmehr zugeben, dass wir die         weiter auf die neuen Gegebenheiten anzupassen. Zwei
durch Tourismus verursachten Externalitäten so weit wie        Themen stehen hier im Vordergrund:
möglich und notwendig zu minimieren versuchen.                 1. Klarheit schaffen über unsere das Land übergreifenden
Lassen Sie uns deshalb nun die systemische Sicht auf eine         Value Propositions in unterschiedlichen Märkten
unternehmerische herunterbrechen und damit eine Mi-            2. Anpassung von Strukturen und Prozessen entlang tou-
kroperspektive einnehmen. Es steht oft der Vorwurf im             ristischer Potentiale und vermarktbarer Geschäftsfel-
Raum, dass Unternehmen sich nicht ‚nachhaltig‘ verhal-            der – und nicht wie bis anhin innerhalb vorgegebener
ten (unabhängig von der Nachhaltigkeitsdomäne). Wir               politischer Grenzen
halten dagegen und stellen die These in den Raum, dass es
insbesondere im Tourismus viele über Generationen fami-        Was die Value Proposition (und damit Punkt 1) anbe-
liengeführte Unternehmen und Unternehmen mit einem             langt, ist feststellbar, dass auf die Frage, was die Schweiz
strategisch denkenden Aktionariat gibt, die nicht nur das      als Ferienland ausmacht, derzeit vor allem Begriffe wie
eigene Unternehmen, sondern die auch das System Tou-           Vielfalt, Naturschönheit, Authentizität, gute Produkte
rismus insgesamt nachhaltig weiter entwickeln wollen und       und dergleichen fallen. Wir halten dagegen und behaup-
können. Strategische Zielsetzungen schliessen automatisch      ten, dass diese oberflächlichen Value Propositions kaum
– wenn auch oft implizit - langfristige Nachhaltigkeits-       längerfristig Zahlungsbereitschaft von Touristen in der
ziele mit ein und stellen so die Überlebensfähigkeit von       Schweiz von über +25% gegenüber unseren Nachbarn
Akteuren und System (als Summe der Akteure) sicher.            rechtfertigen liessen.
Gestützt werden sie in ihrem Verhalten durch die direkte
Demokratie, welche tendenziell kurzfristige Fehllösungen       Wir müssen also dringend wissen, weshalb wir heute
verhindert und teilweise sicherstellt, dass Eigentumsrechte    unter den bestehenden widrigen Umständen (teurer
an den für den Tourismus zentralen Grundlagen - insbe-         Schweizer Franken, hohe Preise, vermeintlich mittelmäs-
                                                               sige Leistungen; vgl. Punkt 1) überhaupt noch Gäste im

6 I IMPacts Ausgabe 04
Mythen und Märchen im Tourismus – Einige (Polemische) Kurzgeschichten

Land haben. Darüber hinaus sind Leistungsinnovationen          Tourismus ist anders als andere Branchen
basierend auf der Nutzbarmachung internationaler Nach-         Zum Schluss wagen wir uns auf ein Minenfeld und hinter-
fragepotentiale gefragt. Erst diese Innovationen liefern ein   fragen die weitum akzeptierte Meinung, wonach Touris-
brauchbares Fundament für zukünftige Vermarktungsak-           mus anders ist als andere Branchen.
tivitäten.                                                     Unbestritten bleibt, dass touristische Unternehmen in ih-
Zu Punkt 2: Leistungsentwicklungen und deren Vermark-          rer grossen Mehrzahl standortgebunden und damit bzgl.
tung werden in Zukunft idealerweise nach Geschäftsfel-         ihrer unternehmerischen Konfiguration eingeschränktere
dern gegliedert. Unter Geschäftsfeldern im Tourismus           Entwicklungsoptionen haben als beispielsweise standort­
werden                                                         ungebundene Unternehmen. Unbestritten bleibt auch,
-- klar abgrenzbare Leistungs- und Angebotsbündel              dass die regulatorischen Rahmenbedingungen herausfor-
-- für relevante Touristenströme mit klar identifizierbaren    dernd sind, da nicht nur das direkte touristische regulato-
   Gästen                                                      rische Umfeld auf diese Branche wirkt, sondern aufgrund
-- welche sich in durch ihr Verhalten klar definierten Räu-    der Standortgebundenheit auch das indirekte (bspw.
   men und Zeitpunkten bewegen                                 Landwirtschaftspolitik). Unbestritten bleibt auch, dass
-- und hierbei unsere Angebote nutzen                          touristische Leistungen in mehr oder minder organisierten
verstanden.                                                    und koordinierten Netzwerken erbracht werden und da-
                                                               mit die Geschäftslogik oft weniger nur eine rein betriebs-
Die Örtlichkeiten, welche Gäste während ihres Aufent-          wirtschaftliche, sondern eine systemisch-kooperative sein
haltes aufsuchen, definieren letztlich den geographischen      muss, die über klassische Zulieferstrukturen und –prozesse
Perimeter der Destination. Dieser wird somit variabel und      hinausgeht und eher ein insgesamt kollaboratives Leis-
führt zur Auflösung der geographisch und politisch rigi-       tungssystem in Netzwerken darstellt.
den Vermarktungsstrukturen und –prozesse, wie dies im          In der Beziehung zwischen Unternehmen mit dem Ge-
Konzept des IMP-HSG zum Destination Management                 samtsystem Tourismus findet ein vielfältiger Austausch von
der dritten Generation umfassend diskutiert wird. Für          Effekten statt; das Unternehmen gibt an das und emp-
eine beispielhafte Morphologie, wie Geschäftsfelder abge-      fängt vom System gleichermassen positive wie negative
grenzt werden können, sei auf den Kasten verwiesen.            Effekte. Dies gilt aber auch für andere Branchen, insbe-
Kurzes Fazit dieser Diskussion: Es sind mehr Mittel not-       sondere wenn sie exportorientiert wie der Tourismus sind.
wendig und ihr Einsatz muss präziser werden.                   Während jedoch in anderen exportorientierten Branchen
                                                               hauptsächlich nur nach unternehmerischen und vor allem
                                                               geschäftsgetriebenen Prinzipien gearbeitet wird, verharrt
        Beispielhafte Morphologie zur                          der Tourismus in einer modellorientierten Arbeitsweise,
       Abgrenzung von Geschäftsfeldern                         welche sich zu stark an den vermeintlichen Anforderungen
                                                               und Nutzen des Gesamtsystems orientiert. Damit verbun-
 Angebot                                                       den ist auch eine suboptimale Teilung der Verantwortung.
 Potentiale und Attraktionen im touristischen Raum             Hiervon zeugt nicht zuletzt die weitum immer noch grosse
                                                               Dominanz der Politik in der Branche, die Rolle und Be-
 Portfolio von ausgeführten und gewünschten                    deutung ‚übergeordneter‘ koordinierender Institutionen,
 Aktivitäten der potentiellen Gäste                            die hohe Abhängigkeit von öffentlichen Mitteln bspw. in
 Benötigte Infrastruktur für diese Gäste                       der Vermarktung der Angebote und die hohe Zahl wenig
 Typ meiner Destination                                        geschäftsgetriebener Kooperationen (um der Kooperation
                                                               Willen).
                                                               Es bleibt deshalb der Ruf, dass touristischeUnternehmen,
 Vermarktung                                                   d.h. die touristischen Leistungsträger, wieder vermehrt die
 Marketing-Prozesse (Funnel), wie Gäste                        koordinierende Arbeit der Institutionen treiben (und nicht
 angesprochen werden                                           umgekehrt) und damit den Lead bzgl. Inhalt der Arbeit
                                                               und der damit verbundenen Prozesse übernehmen sollen.
                                                               In Konsequenz sollten – falls weiter öffentliche Fördermit-
 Nachfrage                                                     tel in diese Branche fliessen - nicht mehr Institutionen,
 Lebensphase meiner Gäste                                      sondern die gemeinsam zu lösenden Aufgaben co-finan-
                                                               ziert werden.Wenn schon eine hohe Staatsquote im Touris-
 Bedürfnisse/ Motivation meiner Gäste                          mus besteht, dann sollte sich der Einsatz der öffentlichen
 Marktabgrenzung, woher meine Gäste kommen                     Mittel an den privaten Geldgebern orientieren, welche die
 Reisekontext meiner Gäste                                     Allokation ihrer eigenen Mittel umso effektiver und effizi-
                                                               enter gestalten, damit der Tourismus das wird, was er sein
 Reisetyp meiner Gäste                                         sollte: Eine unternehmerische Branche mit Eigenheiten
Quelle: Eigene Darstellung                                     wie andere Branchen auch.

                                                                                                   IMPacts Ausgabe 04 I 7
8 I IMPacts Ausgabe 04
Zum Mehrwert von Wertschöpfungsstudien

Zum Mehrwert von
Wertschöpfungsstudien
Simone Strauf, Roland Scherer

Seit einigen Jahren haben Wertschöpfungsstudien regelrecht  um was für ein Projekt oder eine Einrichtung es sich
Konjunktur: kaum eine Woche vergeht, in der nicht in der    handelt, sehr unterschiedliche Hintergründe haben. Die
                                                            Durchführung eines Megaevents, wie z.B. eine Winter-
Presse die Ergebnisse einer derartigen Studie vorgestellt wer-
                                                            olympiade, braucht konkrete Aussagen über die poten-
den. Die inhaltliche Bandbreite, mit der sich die verschiede-
nen Studien beschäftigen, ist beinahe grenzenlos und reicht ziellen wirtschaftlichen Effekte, die aus diesem Anlass für
von öffentlichen Institutionen und Einrichtungen, über ein- den Kanton (und für die ganze Schweiz) resultieren. Nur
zelne Branchen und Cluster hin zu Grossveranstaltungen und  so kann die notwendige politische Unterstützung für die-
Events. Auch das IMP-HSG hat bereits eine Reihe von Wert-   ses Projekt und damit auch die jeweils notwendige Volks-
                                                            abstimmung gewonnen werden. Da beispielsweise Gross-
schöpfungsstudien veröffentlicht und konnte vielfältige Erfah-
rungen im Zusammenhang mit ihrer Erstellung und Anwen-      veranstaltungen oft in erheblichem Umfang öffentlicher
dung sammeln. Diese Erfahrungen flossen in eine inhaltliche Subventionen bedürfen, werden die Abstimmungen zur
Weiterentwicklung des methodischen Ansatzes ein, um den-    Durchführung dieses Events auch zu Abstimmungen über
Wert der Wertschöpfungsstudien für die Praxis zu erhöhen.   deren Finanzierung. Dies hat zur Fol­ge, dass bei vielen
                                                            grösseren Anlässen und Investitions­vorhaben ex ante-Stu-
Die Bewertung der regionalwirtschaftlichen Effekte von      dien durchgeführt werden, um dem Stimmvolk Zahlen zu
(öffentlichen) Programmen, Projekten und Investitions-      den erwarteten wirtschaftlichen
vorhaben ist bereits seit Mitte der 70er Jahre Gegenstand   Effekten vorlegen zu können. Hierbei findet eine Ökono-
der regionalwissenschaftlichen Forschung. Hierzu wurden     misierung von Bereichen des (öffentlichen) Lebens statt,
verschiedene methodische Ansätze entwickelt und an-         die oftmals dazu führt, dass die eigentliche Funktion der
gewendet (z.B. Input-Output-Analyse, Kosten-Nutzen-         Einrichtung oder des Investitionsvorhabens in den Hin-
Analyse, Inzidenzanalyse). Oftmals untersuchen regional-    tergrund tritt. Der Satz „Es ist gut, weil es der Stadt und
wirtschaftliche Wirkungsanalysen, welche Auswirkungen       der Region wirtschaftlich viel bringt“ dient sowohl den
öffentliche Aktivitäten auf ökonomische Grössen wie Pro-    Initianten und Projektverantwortlichen wie auch der
duktion, Wertschöpfung, Beschäftigung und Einkommen         öffentlichen Hand zur Legitimation und wird über die
innerhalb bestimmter räum-                                                             Medien in die Öffentlichkeit
                                      «Regionalwirtschaftliche Wirkungs­
licher Grenzen haben. Neben                                                            getragen.
                                      analysen sollten nicht (nur) zu Legi-
diesen sog. tangiblen Effekten,                                                        Doch nicht nur im Vorfeld
                                      timation, sondern als strategisches
die primär die monetären Ef-                                                           von geplanten Projekten und
                                          Instrument genutzt werden.»
fekte abbilden, fanden in den                                                          Investitionsvorhaben werden
neueren Studien auch vermehrt sog. intangible Effekte       Analysen über regionalwirtschaftliche Effekte erstellt.
Eingang in die Analysen. Die intangiblen Effekte bilden     Zunehmend kann festgestellt werden, dass diese auch im
eine Vielzahl von Wirkungen ab, die sich in der Regel       Nachgang von Projekten oder Veranstaltungen in Auf-
nur schwer quantifizieren lassen, langfristig aber positive trag gegeben werden. So hat z.B. das IMP-HSG in den
Effekte haben können.                                       vergangen Jahren Studien zu Hochschulen, Kultur- und
Auslöser für Studien zur Analyse der regionalwirtschaft-    Kongresszentren, Sport- und Kulturveranstaltungen oder
lichen Effekte sind meist öffentliche Diskussionen, die     Flughäfen erarbeitet, um deren regionalwirtschaftliche
über ein konkretes Projekt, eine öffentliche Einrichtung    Auswirkungen analysieren zu können. Auslöser dieser ex-
oder ein Investitionsvorhaben im Zusammenhang mit           post-Analysen können sehr unterschiedlich sein. Gleich-
Subventionen oder der Vergabe öffentlicher Mittel, ge-      wohl zeigt sich eine Tendenz, mit Hilfe der (positiven)
führt werden. Diese Diskussionen können, je nachdem         Ergebnisse die eigenen Aktivitäten in gutem Licht er-

                                                                                                 IMPacts Ausgabe 04 I 9
Zum Mehrwert von Wertschöpfungsstudien

scheinen zu lassen und die regionale Bedeutung eindrück-       hen zwischen den methodischen Ansätzen grundlegende
lich aufzuzeigen. Damit können die Veranstaltungen oder        Unterschiede, die zu völlig unterschiedlichen Ergebnissen
Projekte im Nachhinein positiv bewertet werden, um bei         bei der gleichen Fragestellung führen können. Auf der
Wiederholungen oder neuen Investitionen, Argumente             anderen Seite spielt bei ökonomischen Wirkungsanalysen
für die (finanzielle) Unter­stützung der Politik und der öf-   von Events oder von öffentlichen Infrastruktureinrichtun-
fentlichen Hand anbringen zu können.                           gen wie Theatern oder Sportstätten das Problem der Auf-
                                                               tragsforschung eine wichtige Rolle. So sehen Dietl/Pauli
Die Validität von Wertschöpfungsstudien                        (1999) bei einer vergleichenden Analyse von Studien über
In den letzten Jahren hat sowohl in der Wissenschaft als       wirtschaftliche Auswirkungen öffentlicher Sportstät-
auch in der Öffentlichkeit eine zunehmende Diskussion          ten die Gefahr einer extrem positiven Bewertung. Zwei
über den Wert von Wertschöpfungsstudien stattgefunden.         Gründe werden hierfür verantwortlich gemacht: einerseits
Dabei wird aus verschiedenen Blickwinkeln fundamenta-          werden in der Regel nur positive Studien publiziert, die
le Kritik geäussert und deren Aussagekraft und Seriosität      zumeist von den Stadionbefürwortern in Auftrag gege-
grundsätzlich in Frage gestellt. Der Basler Ökonom Silvio      ben wurden. Studien mit eher negativen Ergebnissen
Borner spricht in diesem Zusammenhang sogar von einer          verschwinden dagegen meist in den Schubladen der Auf-
„Voodoo-Ökonomie“ (2010:19). Er kritisiert insbeson-           traggeber. Andererseits wird das Problem der (wirtschaft-
dere die in Wertschöpfungsstudien oftmals berechneten          lichen) Abhängigkeit der Gutachter thematisiert: „An ex-
Multiplikatoreffekte, die er als Zaubertrick bezeichnet,       pert whose testimonity harms his employer’s case doesn’t
um wundersame Einkommensvermehrungen nachzuwei-                get much repeat business“ (Curtis, 1993:7).
sen. Zu Recht weist er auf eine methodische Gefahr hin,        Grundsätzlich ist eine Überprüfung der regionalen Wir-
die bei klassischen Wertschöpfungsstudien besteht und          kungen, die von einem Projekt, einer Veranstaltung oder
schlussendlich zu einer Fehlinterpretation der Ergebnisse      einer (öffentlichen) Einrichtung auf den jeweiligen Stand-
führt: addiert man z.B. die Ergebnisse einzelner Wert-         ort ausgehen, zu begrüssen und entspricht dem aktuellen
schöpfungsstudien zu verschiedenen Branchenclustern, so        Zeitgeist. Der Bedeutungsgewinn von derartigen Wir-
kann die Zusammenschau schnell ein Vielfaches des ge-          kungsbewertungen basiert auf zwei Entwicklungen, die
samten regionalen Volkseinkommens erreichen. Nicht nur         im politisch-administrativen Umfeld auch in der Schweiz
die Addition von Teilergebnissen, sondern auch der Ver-        allgemein beobachtet werden können:
gleich einzelner Studien beinhaltet ein grosses Fehlerpo-      1. Die Politik gerät aufgrund knapper öffentlicher Mittel
tenzial. Analysen zur Berechnung der regionalwirtschaftli-        zunehmend unter einen Legitimationsdruck und muss
chen Effekte beziehen sich auf einen definierten Zeitraum         nachweisen, dass ihre Aktivitäten einen konkreten Nut-
und einen klar abgegrenzten Raum. Damit zeigen sie eine           zen stiften.
Momentaufnahme der Wirkungen, die eine Aktivität vor           2. Neue Modelle der Verwaltungsführung steuern zuneh-
dem Hintergrund der definierten Parameter hat. Ein Ver-           mend über die Vorgabe konkreter Leistungsziele, deren
gleich verschiedener Studien wird – selbst bei Anwendung          Erreichung durch die jeweilige Institution nachgewie-
der gleichen Methodik – dadurch erheblich erschwert.              sen werden muss.
Hinzu kommen die unterschiedlichen methodischen An-            Die unterschiedlichen Kritiken an räumlichen Wirkungs-
sätze, die eine Vergleichbarkeit von Wertschöpfungsstudi-      analysen, insbesondere an Wertschöpfungsstudien, sind
en nahezu unmöglich machen.                                    u.E. gerechtfertigt und man muss sich intensiv mit diesen
Ein weiteres Problem, insbesondere bei der Berechnung          auseinandersetzen. Nur so können Ansatzpunkte gefun-
der indirekten und induzierten Effekte, ist die Kausali-       den werden, wie die Validität räumlicher Wirkungsana-
tät der Umsätze in Bezug auf die Veranstaltung oder die        lysen erhöht und damit schlussendlich auch die (öffent-
Investition. Je weiter man die Wirkungsketten ausführt,        liche) Akzeptanz für die Ergebnisse derartiger Analysen
umso grösser wird die Wahrscheinlichkeit, dass die Aus-        erhöht werden kann. Aufgrund der in den vergangenen
gaben substituiert und nicht mehr ursächlich zugeordnet        Jahren gewonnen Erfahrungen erscheinen uns folgende
werden können. Wissenschaftlich gesehen sind es vor al-        Punkte entscheidend, um den Wert räumlicher Wir-
lem die Multiplikatoreffekte, die stark umstritten sind und    kungsanalysen deutlich zu erhöhen:
oftmals zu einem Spiel der grossen Zahl führen. Die lang-
fristigen, teilweise nur qualitativ messbaren Effekte, die     Von der Wertschöpfungsbetrachtung zur
ebenfalls für einen Standort von grosser Bedeutung sind,       regionalen Zahlungsbilanz
werden dagegen oftmals kaum berücksichtigt.                    Die Fokussierung rein auf die Berechnung der Wert-
Die methodische Kritik an den Wertschöpfungsstudien            schöpfungseffekte führt oftmals zu missverständlichen Er-
steht aber nicht allein, sondern insgesamt ist der Grad        gebnissen, da bei der Berechnung der Wertschöpfungsef-
der Validität räumlicher Wirkungsanalysen in der wis-          fekte lediglich die Verwendungsseite betrachtet wird und
senschaftlichen Diskussion zum Teil umstritten. Einige         nicht der eigentliche Exporterlös, der durch ein Projekt,
Autoren identifizieren zwei grundlegende Probleme von          einen Event oder eine öffentliche Institution entsteht.
räumlichen Wirkungsanalysen: Auf der einen Seite beste-        Regionalökonomisch relevant ist aber gerade dieser Ex-

10 I IMPacts Ausgabe 04
Zum Mehrwert von Wertschöpfungsstudien

porterlös, da nur von diesem ein spürbarer Effekt auf die      So ist z.B. ein Spital primär für die medizinische Versor-
wirtschaftliche Entwicklung einer Region ausgeht. Eine         gung der Bevölkerung zuständig, erst an zweiter Stelle ist
hinsichtlich der wirtschaftlichen Wirkung relevantere          es Akteur in einem regionalen Gefüge. Werden räumliche
Grösse ist daher die regionale Zahlungsinzidenz, bei der       Wirkungsanalysen als strategisches Instrument verstan-
im Sinne einer räumlichen Gewinn- und Verlustrechnung          den, können sie dazu beitragen, sowohl einen Mehrwert
der effektive Kaufkraftzufluss für eine bestimmte Region       für die Region zu schaffen, als auch selber vom Potenzial
berechnet wird. Auf eine Berechnung der Steuerrück-            der Region zu profitieren. Gelingt es, eine Schnittmenge,
flüsse, die aus dieser Zahlungsinzidenz für eine Region        zwischen den Interessen    einesSpital
                                                                                       Spital   Projektes oder einer Ein- RegionRegion
entstehen, sollte sowohl aufgrund der sehr komplexen           richtung und den Interessen der Standortregion zu finden,
Steuergesetzgebung wie auch aufgrund der hohen Unsi-           kann dies zu einem Mehrwert für beide Seiten führen.
cherheiten bezüglich der anzuwendenden Steuersätze –                                                                          M                                                                S
insbesondere bei Privatpersonen - verzichtet werden. Wer-                                       Spital             M                                    Region                  S
den dennoch Berechnungen bezüglich der Steuereffekte
                                                                                               F                                                                                                       W
vorgenommen, ist die Validität begrenzt bzw. muss vor                          F                    M                                               S                                              W
dem Hintergrund vieler Annahmen in der Berechnung
immer eine hohe Spanne abgebildet werden. Auch die                         F
                                                                                                                              A
                                                                                                                                                                       W
                                                                                                                                                                                               L
Berechnung der Arbeitsplatz- bzw. Beschäftigungseffekte,                                                          A                                                             L
                                                                                                    A                                               L
besonders der indirekten und induzierten, ist mit Vorsicht                         M = Medizinische Versorgung
                                                                                  F = Forschung
                                                                                                                                                                       S = Standortattraktivität
                                                                MM== Medizinische
                                                                     Medizinische       Versorgung                                                                     W = Wettbewerbsfähigkeit
zu geniessen, zumal wie bereits erwähnt, u.a. Substituti-                                                                                                 S = Standortattraktivität
                                                                                  Versorgung                                S = Standortattraktivität
                                                                FF== Forschung
                                                                     Forschung    A = Aus- und Weiterbildung                W = Wettbewerbsfähigkeit                   L = Lebensqualität
                                                                 A = Aus- und Weiterbildung
                                                                                                                                                          W = Wettbewerbsfähigkeit
                                                                                                                            L = Lebensqualität

onseffekte eine genaue Berechnung erschweren.                   A = Aus- und Weiterbildung                                                                L = Lebensqualität
                                                                                                 Mehrwert für
                                                                           Mehrwert für das Prozessmanagement desdas  Prozessmanagement
                                                                                                                 Spitals                      des Spitals
                                                                           Mehrwert für das Prozessmanagement der Region
                                                                             Mehrwert
                                                                           Dynamische          Mehrwert
                                                                                          für das
                                                                                      Schnittmenge           für das
                                                                                                    Prozessmanagement
                                                                                                   zwischen Spital      Prozessmanagement
                                                                                                                   und Region  des Spitals    der Region

Keine rein monetäre Betrachtung der wirt-                                                    Dynamische
                                                                               Mehrwert für das         Schnittmenge
                                                                                                Prozessmanagement    zwischen
                                                                                                                   der Region Spital und Region
                                                                               Dynamische Schnittmenge zwischen Spital und Region
schaftlichen Effekte                                           Mehrwert durch räumliche Wirkungsanalysen für z.B. ein Spital
Auch wenn Aussagen zu regionalen Umsätzen und zur              und seine Standortregion, Quelle: in Anlehnung an Goddard, 2000
Wertschöpfung meist besonders interessieren, soll-
ten räumliche Wirkungsanalysen umfassender angelegt            Räumliche Wirkungsanalysen können dann helfen, die
werden und über die Berechnung der monetären Effekte           Effekte, die auf die Region wirken, strategisch zu nutzen
hinausgehen. Die monetären Effekte, beziehen sich nur          und damit die positiven Wirkungen für die Region zu
auf einen relativ kurzen Zeitraum und lösen keine lang-        erhöhen. Umgekehrt kann auch eine Einrichtung oder
fristigen Wirkungen aus. Zahlreiche Studien haben nach-        Institution von ihrer Standortregion profitieren, wenn
gewiesen, dass es gerade die nicht-monetären Effekte, die      beispielsweise im Bereich der Aus- und Weiterbildung
sog. intangiblen Effekte sind, die langfristig einen spürba-   oder der Forschung kooperiert wird. Damit räumliche
ren positiven Einfluss auf die Entwicklung eines Standor-      Wirkungsanalysen einen Mehrwert bieten, ist es einerseits
tes haben (können). Die Erfassung der intangiblen Effek-       notwendig, dass sich eine Einrichtung oder ein Projekt
ten ist jedoch ebenfalls mit einer Reihe von methodischen      als regionaler Akteur wahrnimmt und Verantwortung
Herausforderungen verbunden, da auch hier oftmals ein          übernimmt, anderseits aber auch die übrigen regionalen
Kausalitätsproblem bei der genauen Zuordnung einer             Akteure an einer Zusammenarbeit interessiert sind. Dies
beobachtbaren Wirkung zu der ihr zugrunde liegenden            kann nur dann erfolgreich umgesetzt werden, wenn räum-
Intervention vorliegt. Mit Hilfe des Ansatzes des „Ver-        liche Wirkungsanalysen nicht nur einmalig z.B. anlässlich
netzten Denkens“ ist es u.E. aber möglich, entsprechen-        eines Jubiläums oder einer anstehenden Volksabstimmung
de Wirkungsketten zu identifizieren und für diese sogar        durchgeführt werden. Die Erarbeitung eines laufenden
quantifizierbare Wirkungsindikatoren festzulegen. Eine         Monitorings der räumlichen Wirkungen im Sinne eines
Messung und damit Bewertung der langfristig wirksamen          regelmässigen Regionalisierungsberichts kann ein erfolg-
Effekte wird dadurch möglich. Dies hilft, genauere Aus-        versprechender Ansatz sein.
sagen über den langfristigen Wert eines Projektes, eines
Events oder einer Institution für einen Standort treffen zu    Quellen
können und erlaubt eine umfassendere Betrachtung.              Borner, Silvio (2010): Voodoo-Ökonomie. In: Die Welt­
                                                               woche vom 15.07.2010, S. 19.
Wirkungsanalysen als integraler Bestand-                       Curtis, G. (1993): “Waterlogged” in: Texas Monthly.
teil von Strategieentwicklung                                  September S. 7.
Entscheidend für den Erfolg von räumlichen Wirkungs-           Dietl, H.; Pauli, M. (1999): Wirtschaftliche Auswirkungen
analysen ist es, ihre Funktion nicht einzig in der Legiti-     öffentlich finanzierter Stadionprojekte. Paderborn. Arbeits-
mation (öffentlicher) Finanzmittel zu sehen, sondern sie       berichte Fachbereich Wirtschaftswissenschaften Universität
als integralen Bestandteil der Strategieentwicklung von        Paderborn. Neue Reihe Nr. 61.
regional bedeutsamen Projekten und Institutionen zu ver-       Goddard, J.B. (2000): The response of HEIs to regional
stehen. Grundsätzlich muss aber gelten, dass die Erfül-        needs. Newcastle upon Tyne, UK.
lung der jeweiligen Kernaufgaben im Vordergrund steht.

                                                                                                                                        IMPacts Ausgabe 04 I 11
ALTERNATIVE FOLGESEITE

12 I IMPacts Ausgabe 04
Zur Funktion von Fiktion im Management

Zur Funktion von
Fiktion im Management

Elisabeth Dalucas, Johannes Rüegg-Stürm

Fiktives gilt im allgemeinen Sprachgebrauch als Denkbares,           stümpfe in Bären. Alle nicht Beteiligten bekommen es mit
doch zumindest heute noch Irreales. Die Verfertigung von             der Angst zu tun, wenn die Spielenden die Präsenz der
Fiktionen, das ist die Position dieses Artikels, ist unerlässliche   Bären feststellen. Doch es kann geschehen, dass die Spie-
Voraussetzung für gelingende Innovation, sei es Produktinno-         lenden „zum Bären gehen“ und enttäuscht feststellen, dass
vation oder organisationale Innovation, die einen strategi-          da nicht ein Baumstumpf, sondern ein Fels steht. Aber
schen Wandel verkörpern kann. Fiktionen verkörpern ein               gleich dahinter befindet sich tatsächlich ein Baumstumpf
Realisierungspotential, das Management unter Bedingungen             im Dickicht. Es besteht also Gefahr, und die Spielenden
von Ungewissheit und Unsicherheit strategisch nutzen kann.           rennen rasch davon, um anderen von ihrer unheimlichen
Nur, wird diese Chance auch genutzt? Die Antwort lautet: zu          Begegnung zu erzählen.
wenig zielgerichtet. Es könnte deshalb erfolgversprechend sein,
das Potential des „Fiktionalisierens“, seine Spiel- und Gestal- Reale und fiktive Bären
tungsmöglichkeiten systematischer für die Weiterentwicklung     Was macht dieses Spiel zu einem Vorgang, den man als
von Organisationen auszuschöpfen.                               Fiktionalisieren bezeichnen kann? Die Bären sind fiktional,
                                                                weil die Baumstümpfe ausschliesslich für die Mitspieler
Ausgangspunkt dieses Beitrages ist die These, dass Organi- Bären sind, nicht aber für Unbeteiligte. Die Vereinbarung
sationen ständig mit Fiktionen arbeiten und dies über-          der Spielenden – „lasst uns sagen, Baumstümpfe sind Bä-
haupt erst Entwicklung und Innovation in Unternehmen            ren“ – hat die Fiktion geschaffen. Der Fels hingegen ist
ermöglicht. In einem ersten Schritt wird daher nachfol-         real vorhanden. Gleichzeitig ist er – solange die Spielenden
gend versucht, das Potential des Fiktionalen in den Blick       glaubten, es handle sich um einen Baumstumpf – auch
zu bekommen, um dieses dann an einem Beispiel aus der           ein Bär und damit auch eine Fiktion. Die Ähnlichkeit des
unternehmerischen Praxis zu reflektieren. Daraus werden         Felsens, seine den Baumstumpf nachahmende Qualität,
konkrete Schlussfolgerungen für das Management abge-            hat die Spielenden zu einem fiktionalen und gemeinsam
leitet.                                                                                    ver­fertigten Make-Believe geführt.
                                           «Warum es im Management
Erfunden oder wahr                        oft notwendig ist, einen Busch                   Die Vorstellung eines Bären im
Alltagssprachlich gelten                    für einen Bären zu halten.»                    Dickicht ist an sich hingegen real,
Fiktionen als erfunden und                                                                 wenn sich eine Person ein solches
ausgedacht, während Realität Wahrheit und Wirklichkeit          Bild macht. Im Dick­icht ist nicht der Bär Fiktion, sondern
signa­lisiert. Realität ist im Hier und Jetzt situiert, Fiktion der Baumstumpf als Requisit (prop), der sich den Spielen-
tendenziell in der Zukunft. Fiktionen werden gemeinhin          den real darstellt. Dass die Spielenden davon rennen, macht
mit Ungewissheit verbunden, während Wirklichkeit (wenn          allerdings klar, dass der Baumstumpf für sich alleine keine
auch scheinbar) Gewissheit und Stabilität anzeigt. Das la-      fiktionale Wahrheit schaffen kann. Die Spielenden rennen
teinische fingere kann sowohl bilden und gestalten, als auch davon, weil sie einer sozialen Konvention gehorchen: Bären
erdichten bis hin zu lügen (fingieren) bedeuten.                sind gefährlich. Fiktionalisieren heisst, temporär und im
Der amerikanische Philosoph Kendall L. Walton (1990)            Konsens der Beteiligten eine Realität verfertigen, die wie im
sieht das Fiktive beispielhaft im Kinderspiel dargestellt.      oben beschriebenen Spiel fragil und flüchtig zugleich ist.
Seine Beschreibung ermöglicht es, das Potential des Fikti-
ven im Spiel – über das zukünftig Ungewisse hinaus – zu         Fiktion in Organisationen
erkennen. „Let’s say that stumps are bears“, ist eine mögli-    Im Kontext von Organisationen stellt sich die Frage, ob
che Vereinbarung von Spielenden und verwandelt Baum-            sich ein solches Fiktionalisieren ebenso charakterisieren

                                                                                                       IMPacts Ausgabe 04 I 13
ALTERNATIVE
Zur FunktionFOLGESEITE
              von Fiktion im Management

lässt und welche Bedeutung einer solchen Tätigkeit zu-         ablaufen. Von der Handhabung auftretender Divergenzen
kommen kann? Am Beispiel eines Rekrutierungsprozesses          hängt die Entwicklungs- und Innovationsfähigkeit eines
wird nachfolgend dargestellt, wie sich das Fiktionalisieren    Organisationssystems ab. Können sich die Akteure nicht
in Organisationen entwickelt.                                  auf ein (wenigstens temporär gültiges) Bild einigen, dann
                                                               scheitert der Prozess, weil die Fiktion als handlungsleiten­
Als Ausgangspunkt eines Rekrutierungsprozesses dient in        des Referenzsystem nicht zustande kommt und damit die
der Regel eine meist von mehreren Akteuren verfasste Stel-     Entwicklungsfähigkeit der Organisation als Ganzes in Fra-
lenbeschreibung. Inhaltliche Basis bilden Erfahrungen mit      ge gestellt ist.
vergleichbaren Aufgaben und Kontexten sowie erwartete
Ergebnisse und Wirkungen der Funktionserfüllung. Die           Organisation als soziales System
Akteure entwerfen in einem gemeinschaftlichen Prozess ein      Die notwendige Bedingung für den Fiktionalisierungs­
momentanes Bild von dem, wie die Person, die Leistungen        modus ist ein offenes Organisationsverständnis (vgl. Scott,
und die Beziehungsgestaltung inner- und ausserhalb der         1987). Aus systemischer Sicht sind Organisationen soziale
Organisation vorzustellen sei. Sie schaffen eine temporär      Systeme, die beobachten und sich selbst beobachten; sie kons­
gültige Realität, die sich in der Gestalt eines Bewerbenden    truieren simultan sowohl sich selbst als auch ihre relevanten
repräsentieren wird und an der die nachfolgenden Ent-          Umwelten (vgl. Luhmann, 2000). Kommunikation, Dis-
scheidungen gemessen werden: „Let’s say that this profile is   kurse und Aushandlungsprozesse sind die „Instrumente“,
the person we need.“                                           mit denen sich Organisationen differenzieren und Grenzen
                                                               ziehen zwischen innen und aussen. Grenzziehungen wie-
Das Auswahlverfahren wird durchgeführt. Im Verlaufe            derum sind die Voraussetzung, die es einer Organisation
dieses Prozesses gewichten alle Akteure – auch alle Bewer-     ermöglichen, Komplexität durch Ausschluss ebenso wie
benden sowie mittelbar auch die In- und Umwelt der             durch Einbezug zu reduzieren oder durchlässig oszillieren
Organisation – Aspekte des entworfenen Bildes und fügen        zu lassen.
laufend neue hinzu. Man konstruiert dynamisch ein Bild,
in dem sich die gewählten Aspekte in der Stellenerfül-         Oder wie es Karl Weick bereits 1969 notiert hat: „Organi-
lung realisieren und nicht gewählte Aspekte bedeutungslos      sieren ist zuallererst gegründet auf Einigung darüber, was
werden:„Let’s say that these aspects are the job.“             Wirklichkeit und was Illusion ist“. Organisationsprozesse
Mit der Wahl eines Bewerbenden entscheiden sowohl die          sind Prozesse der Verständigung in offenen Systemen. Die
Akteure der Organisation als auch die Bewerbenden, ob          Akteure nutzen dabei drei Modalitäten
eine Vereinbarung zustande kommt. Die „Entscheidung“           -- sie verknüpfen rekursiv Erfahrungen mit zukünftig
weist allerdings rein formalen Charakter auf, weil das (in        Möglichem,
der Zukunft liegende) Gelingen – der Erfolg des Bewer-         -- sie konstruieren schöpferisch zukünftig Wahrscheinliches
bungsverfahrens, der Erfolg des Bewerbenden – offen               und
bleibt. Beteiligte und unbeteiligte Akteure kommen expli-      -- sie verfertigen gemeinschaftlich temporär Reales.
zit und implizit überein, dass das Leistungsprofil mit der
gewählten Person erfüllt ist:„Let’s say that this candidate    Der Kern von Management besteht in diesem (provo-
fulfills the relevant expectations.“                           kativen) Sinne in der Ermöglichung gemeinschaftlicher
                                                               Verfertigung von Wirklichkeit im Modus des Fiktiven, das
Ein erfolgreiches Rekrutierungsverfahren, das typischer-       Realität erzeugt. Das erste Bild, die Stellenbeschreibung,
weise von hoher Ungewissheit geprägt ist, erweist sich als     hatte temporäre Gültigkeit, denn es diente als Grundlage
ein Vergemeinschaftungsprozess. Je mehr Akteure sich der       für das zweite Bild, das Auswahlverfahren. Dieses zweite
Schaffung eines gemeinsamen Bildes, einer temporären           Bild, die zweiten Bilder, wiederum bildeten laufend reale
Realität anschliessen, desto tragfähiger sind die späteren     Entscheidungsgrundlagen. Gelingen wird der Prozess,
Performance-Chancen des gewählten Kandidaten in der            wenn sich die Akteure immer wieder auf weitere Bilder
Organisation, weil sich die Interaktion mit dem gewählten      einigen bzw. sich gegenseitig vergewissern und überein-
Kandidaten an einem gemeinsamen fiktiven Referenzsys-          kommen, welches Bild temporär real ist und damit auch,
tem orientiert.                                                welches der Bilder sich als im Kollektiv verfertigte Self-
                                                               Fulfilling-Prophecy effektiv realisiert. Die Gestaltung des
Bei den gemeinsamen Bildern handelt es sich um dyna-           Heute versteht sich ebenso als Gestaltung des Morgen (vgl.
mische Fiktionen, denn die in der Zukunft liegenden            Heidegger, 1993).
Gegenwarten „werden nicht weniger oder mehr wahr-
scheinlich sein, sondern genauso, wie sie sind.“ (Esposito,    Erfolgreiches Management verkörpert nicht nur die Fähig-
2007). Dynamisch bedeutet erstens, dass sich die Bilder        keit, gemeinschaftlich zu validieren (wie es Weick nennt),
aufgrund fortlaufend verfertigter Erwartungs-Erfahrungs-       sondern das Vermögen gemeinschaftlich und auf Zeit Rea-
Divergenzen weiterentwickeln. Zweitens kann dieser             lität zu verfertigen, was hier als fiktionalisieren bezeichnet
Verfertigungsprozess eher harmonisch oder eher divergent       wird.

14 I IMPacts Ausgabe 04
Zur Funktion von Fiktion
                                                                  ALTERNATIVE
                                                                         im Management
                                                                              FOLGESEITE

Learning from Fiction                                           werden müssen. Als Medien der fiktionalen Bildkreation
Nicht nur in der Managementtheorie wurde festgestellt,          geeignet sind alle auf Kommunikation und Interaktion
dass Entscheidung nicht als Punktlandung, sondern als           angelegten Gefässe wie Workshops und Diskussionsrun-
sich entwickelnder Prozess (vgl. Mintzberg, 1990), ja auch      den, die vom Management zwar als horizontaler Aushand-
als Nicht-Entscheidung im Sinne der Anerkennung von             lungsprozess moderiert, nicht aber mit vorgegebenen Zie-
Entscheidungslücken (vgl. Lübbe, 1971) verstanden wer-          len geführt werden sollten.
den kann. Wenn nun Entscheidung als Fiktion, als Make-
believe (vgl. Walton, 1990) begriffen wird, dann wird sie       Die Managementleistung besteht in der Steuerung des
zum Requisit und nimmt eine dem Kollektiv entsprechen-          Fictionalizing. Mit der Öffnung hin zu möglichen, unbe-
de kontextuelle Rolle ein. Entscheidungen sind „organi-         kannten und im Kollektiv verfassten Bildern mit unge-
sationsinterne Ereignisse, mit deren Hilfe eine unsichere       wissem Ausgang kann sich die Organisation mit neuen
Situation (man könnte so oder auch anders vorgehen)             Ideen versorgen. Mit einer temporären Schliessung des
kommunikativ in eine vorübergehende Sicherheit und              Möglichkeitsraumes, der Anerkennung des „Let’s say that“,
Orientierung stiftende Festlegung transformiert wird.“          des „Angenommen, dass“ stabilisiert sich die Organisation.
(Wimmer, 2012)                                                  Dabei stellt der Zyklus von Öffnen und Schliessen die Be-
                                                                dingung für eine neuerliche Öffnung dar (Rüegg-Stürm;
In der Managementpraxis relativiert sich mit einem              Grand, 2013). Damit dieser Prozess zur gemeinsamen
Verständnis von Entscheidung als Requisit der dezisive          Praxis wird, ist eine vertrauensvolle Unternehmenskultur
Charakter einzelner Prozessschritte. Wird Führung und           notwendig, die zum einen von der allgemeinen Meinung
Management als temporäre Ermöglichung gemeinschaft-             abweichende Positionen als organisationsverändernde
licher Verfertigung von Realität verstanden, können die         Irritationen wertzuschätzen vermag und zum anderen
von den Akteuren vereinbarten Bilder zumindest tempo-           bewusst eine gewisse Fluktuation von Mitarbeitenden in
rär stabilisiert werden. Sie müssen nicht als (end)gültig       Kauf nimmt, weil damit laufend abweichende Ideen in die
verstanden, sondern können „ausprobiert“ werden, was            Organisation einfliessen (March, 1991).
die innere Verfasstheit einer Organisation deutlich verän-
dert. Die Führungsleistung besteht dann in der Steuerung        Um es mit einem Altmeister des Fiktiven zu formulieren:
dieser Vergemeinschaftungsprozesse bzw. in der achtsamen        Management sollte dem Unmöglichen (alias Fiktiven), das
Handhabung der für die Organisation verkraftbaren Ab-           wahrscheinlich ist, den Vorzug einräumen vor dem Mögli-
weichungen und Innovationen.                                    chen, das unglaubwürdig ist (Aristoteles, Poetik 1451b).

Organisationales Fiktionalisieren vollzieht sich als inten-     Quellen
tionaler Akt des Managements, um spielerisch eine tem-          Esposito, Elena (2007). Die Fiktion der wahrscheinlichen
poräre Übereinkunft als mögliches und wahrscheinliches,         Realität, Frankfurt: Suhrkamp
nicht aber als wahres oder falsches Handlungsmuster zu          Jauss, Hans-Robert (1983). Zur historischen Genese der
verfestigen oder zu verwerfen. Allgemeiner formuliert:          Scheidung von Fiktion und Realität, in: Henrich, Dieter und
was wir für Wirklichkeit halten, ist so oder so nur ein Bild,   Iser, Wolfgang. Funktionen des Fiktiven, München: Fink,
und stellt uns letztlich vor die Unumgänglichkeit zu Fik­       S. 423-431
tionalisieren, auch und gerade in Organisationen (vgl. Ru-      Lübbe, Hermann (1971). Theorie und Entscheidung, Studi-
dolph, 2012). Fiktion schafft temporäre Realität vermittels     en zum Primat der praktischen Vernunft, Freiburg: Rombach
sprachlicher Übereinkunft. Fiktionalisieren als Tätigkeit       Luhmann, Niklas (2000). Organisation und Entscheidung,
heisst, etwas-temporär-Reales-schaffen.                         Opladen: Westdeutscher Verlag
                                                                Mintzberg, Henry et al. (1990). Studying Deciding: An Ex-
Der Romanist Hans-Robert Jauss geht noch einen Schritt          change of Views Between Mintzberg and Waters, Pettigrew,
weiter und postuliert das „Geniessen der gewussten Fik-         and Butler, in: Organization Studies, 11/1, p. 1-16
tion“ (1983) und damit auch der in Kauf genommenen              Rüegg-Stürm, Johannes; Grand, Simon (2013): Das
willentlichen Aussetzung der Ungläubigkeit – willing            St. Galler Management-Modell: Umwelt, Organisation und
suspension of disbelief, (Coleridge, 1871). Als organisatori-   Management aus systemisch-integrativer Perspektive.
sches Vergnügen führt die gewusste Fiktion zur Komplexi-        Bern: Haupt, in Vorbereitung
tätsentlastung für das Management und schafft Erpro-            Walton, Kendall L. (1990). Mimesis as Make-Believe,
bungsräume für Akteure. Besonders geeignet hierfür sind         On the Foundations of the Representational Arts, Cambridge:
Situationen, die von mehrfach hoher Unsicherheit geprägt        Harvard University Press
und für das Bestehen der Organisation erfolgskritisch           Weick, Karl E. (1995). Der Prozess des Organisierens, Frank-
sind. Dazu gehören Strategieprozesse ebenso wie die Erar-       furt: Suhrkamp
beitung von Businessplänen, Akquisitions- und Innovati-
onsprozesse, weil hier zwingend zukünftige Entwicklun-
gen „vorausgesagt“ oder eben gemeinsame Bilder verfertigt

                                                                                                   IMPacts Ausgabe 04 I 15
ALTERNATIVE FOLGESEITE

16 I IMPacts Ausgabe 04
Legitimation durch Organisationale Mythen

Legitimation durch
Organisationale Mythen
Kuno Schedler

Wie kommt es eigentlich, dass sich Organisationen, die an      warten, dass formale Vorgaben zur Corporate Governance
sich in Wettbewerb stehen und auf der Suche nach Differen-     einer Organisation eingehalten werden. Nur dadurch,
zierung sein sollten, in formal-organisatorischen Belangen     dass die Organisation diese Erwartungen erfüllt, kann sie
oft sehr ähnlich sehen? Unter anderem dieser Frage gehen       ihr langfristiges Überleben sicherstellen: Kunden kaufen,
die sogenannten „Neo-Institutionalisten“ in der Organisa­      Lieferanten liefern, Regulierer intervenieren nicht. Daraus
tionstheorie nach. Ihre Erkenntnisse sind für Managerinnen     lässt sich schliessen, dass selbst die effizienteste Organisa-
und Manager spannend – nicht nur für wettbewerbliche           tion nicht allein dadurch überlebt, effizient zu sein, wenn
Organisationen, sondern auch für staatliche und Non-Profit     sie die institutionalisierten Erwartungen ihrer relevanten
Organisationen. Das Schlüsselwort sind „institutionalisierte   Stakeholder nicht erfüllt. Oder mit anderen Worten: Jede
Erwartungen“, durch deren Erfüllung sich Organisationen        Organisation muss sich bei ihren unterschiedlichen Refe-
„legitimieren“.                                                renzgruppen legitimieren, indem sie deren Erwartungen
                                                               (tatsächlich oder scheinbar) erfüllt.
Institutionen sind Regeln, Werte, Verhaltensweisen
und Sprachregelungen, die für selbstverständlich erach-       Nun bilden sich solche Erwartungen nicht einfach iso-
tet, die also nicht hinterfragt werden. Sie ermöglichen es    liert, sondern sie sind das Ergebnis von Austauschprozes-
der Organisation, überhaupt effizient funktionieren zu        sen im Umfeld der Organisation. Tritt zum Beispiel eine
können. Erst die Tatsache, dass eine Vielzahl von institu-    Organisation als Konkurrenz auf, die dank einer besonde-
tionalisierten Prozessen existiert, erlaubt die routinisierte ren Arbeitsmethode den Wettbewerb dominiert, so wird
Zusammenarbeit in der Organisation, dank der nicht            diese Methode in der Regel von den anderen kopiert. Dies
ständig die Regeln des Zusammenwirkens neu ausgehan-          geschieht nicht selten mit innovativen Geschäftsmodellen
delt werden müssen. In der Schule ist die Schulglocke eine (z.B. Internet-Verkauf ), innovativen Produktdesigns (z.B.
Institution: wenn sie klingelt, geht der Unterricht los. Das iPhone – Oberfläche) oder Qualitäts- und Risikoabsiche-
wird nicht hinterfragt, ist für alle Beteiligten selbstver-   rungsmethoden (z.B. ISO-9000). Finden sie genügend
ständlich. Fahrpläne,                                                                         Breitenwirkung, so entsteht
hierarchische Struktu-              «Organisationale Mythen beeinträchtigen                   eine selbstverständliche
ren, Salärauszahlungen,               die Eigenständigkeit der Organisation,                  Erwartungshaltung, dass
freundliche Bedienung von                     schaffen aber Legitimation»                     „gute Organisationen“
Kunden – alles Selbstver-                                                                     oder „gute Produkte“ diese
ständliche hat sich irgendwann einmal institutionalisiert,    formalen Eigenschaften haben müssen. Diese nicht hin-
so dass es heute nicht mehr hinterfragt wird.                 terfragten Ansprüche an formale Organisationselemente
                                                              bezeichnen wir als „organisationale Mythen“.
Die relevante Umwelt einer Organisation wird auch als
(Um)Feld bezeichnet. Konkurrenten, Regulierer, Kunden, In Wikipedia ist ein Mythos wie folgt definiert: „Ein
Lieferanten gehören zum Umfeld der Organisation. In           Mythos ist in seiner ursprünglichen Bedeutung eine
diesem Umfeld bilden sich Erwartungen an die Organisa- Erzählung, mit der Menschen und Kulturen ihr Welt-
tion, die für selbstverständlich erachtet werden: Kunden      und Selbstverständnis zum Ausdruck bringen. (...)
erwarten beispielsweise, dass ein Händler nur Waren ver-      Mythen erheben einen Anspruch auf Geltung für die von
kauft, die auf ethisch vertretbare Art und Weise produ-       ihnen behauptete Wahrheit.“ Der Begriff des Mythos
ziert wurden. Lieferanten erwarten, dass die abnehmende       sagt also – im Gegensatz zum Märchen – nicht, dass die
Organisation die Zahlungsfristen einhält. Regulierer er-      Erzählung nicht der Wahrheit entspricht. Mythen können

                                                                                                    IMPacts Ausgabe 04 I 17
Sie können auch lesen