BA 2020 BRINGT WEITER - Fachkräfte für Deutschland - Bundesagentur für Arbeit

Die Seite wird erstellt Aaron-Arvid Keßler
 
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BA 2020 BRINGT WEITER - Fachkräfte für Deutschland - Bundesagentur für Arbeit
BA 2020
BRINGT WEITER

Schwerpunktheft
Fachkräfte für Deutschland
Zwischenbilanz und Fortschreibung
BA 2020 BRINGT WEITER - Fachkräfte für Deutschland - Bundesagentur für Arbeit
SCHWERPUNKTHEFT FACHKRÄFTE FÜR DEUTSCHLAND

FACHKRÄFTE FÜR DEUTSCHLAND. DURCH GEMEINSAMES HANDELN VIEL ERREICHT

Mit dem Positionspapier „Perspektive 2025 – Fachkräfte für Deutschland“ hatte die Bundesagentur für
Arbeit im Jahr 2011 erstmals eine umfassende Analyse der Fachkräftesituation in Deutschland vorgelegt.
Zentrale Frage dabei war: Wie kann es gelingen, einen absehbaren Fachkräftemangel abzuwenden, um
Wachstum und Wohlstand zu erhalten? In zehn Handlungsfeldern haben wir wichtige Hebel benannt,
durch die das Fachkräftepotenzial in Deutschland erhöht werden kann. Zudem wurde Transparenz über
Verantwortlichkeiten in diesen Handlungsfeldern geschaffen.

Fünf Jahre später ist unsere Bilanz positiv. Auf unsere Analyse folgten ein konstruktiver Dialog mit unseren
Partnerinnen und Partnern am Arbeitsmarkt und intensive gemeinsame Arbeit auf allen Ebenen. Das
Thema Fachkräftesicherung ist auf der politischen Agenda angekommen. Es wurde eine Reihe von Initia­
tiven ins Leben gerufen, etwa der Demografiegipfel der Bundesregierung oder die Partnerschaft für
Fachkräfte, in der sich neben Sozialpartnern und Bundesministerien auch die Bundesagentur für Arbeit
engagiert.

In vielen der aufgezeigten Handlungsfelder ist es gelungen, einen Teil der Potenziale zu heben. Beson­
ders große Fortschritte wurden bei der Steigerung der Erwerbsbeteiligung von Frauen und älteren Men­
schen erzielt. Und auch die Zahl der Geringqualifizierten konnte deutlich gesenkt werden. Hierbei haben
die Arbeitsmarktakteure Impulse gesetzt. Daneben machte sich auch die Zunahme der Nettoeinwande­
rung am Arbeitsmarkt bemerkbar.

Zusammengenommen führen diese Entwicklungen dazu, dass der Rückgang des Erwerbspersonen­
potenzials nicht so dramatisch ausfallen wird, wie noch vor wenigen Jahren befürchtet. Wir wissen aber
heute auch, dass Megatrends wie Digitalisierung und Globalisierung den Bedarf an hochqualifizierten
Fachkräften weiter deutlich steigern werden, wenn Deutschland im internationalen Wettbewerb bestehen
will. Der drohende Fachkräftemangel ist noch nicht abgewendet. Es geht nun darum, das Erreichte zu
festigen und weitere Möglichkeiten zur Fachkräftesicherung auszuschöpfen.

2
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ZWISCHENBILANZ UND FORTSCHREIBUNG

Eine besondere Chance stellt dabei die große Zahl der Menschen dar, die derzeit als Flüchtlinge in
unser Land kommen. Die meisten sind jung und hochmotiviert. Auch wenn viele von ihnen nicht über eine
formale berufsfachliche Qualifikation verfügen, kann ihre Integration in den Arbeitsmarkt über die Ver­
mittlung von Sprachkenntnissen und Qualifikationen gelingen.

Mit der vorliegenden Broschüre wollen wir eine Zwischenbilanz über das bereits Erreichte ziehen und
einen Ausblick auf bislang unbewältigte Herausforderungen geben. Wir beschreiben dafür beispielhaft
Wege und Maßnahmen, mit denen es gelingen kann, die Fachkräftebasis Deutschlands in den nächsten
Jahrzehnten besser zu sichern, damit künftig noch mehr Menschen einer qualifizierten, existenzsichernden
Beschäftigung nachgehen. Hierzu weiten wir den Horizont unserer Analyse bis zum Jahr 2030 aus und
schreiben die Handlungsfelder entsprechend fort.

Ausgehend von „Perspektive 2025“ haben wir uns seit dem Jahr 2012 im Rahmen unseres Programms
„BA 2020 – Antworten der Bundesagentur für Arbeit auf Fragen der Zukunft“ mit unserer eigenen Entwick­
lung vor dem Hintergrund des Megatrends Demografie befasst. Das Thema Fachkräftesicherung ist da­
bei von zentraler Bedeutung. Mit der Fortschreibung von „Perspektive 2025 – Fachkräfte für Deutschland“
betten wir die Fachkräftesicherung in unser Entwicklungsprogramm ein. So schaffen wir eine noch höhere
Aufmerksamkeit in unserer Organisation für das Thema und konzentrieren unsere Ressourcen entsprechend.

Unsere Partner am Arbeitsmarkt laden wir ein, den Dialog und die gemeinsame Arbeit fortzusetzen. Alle
Akteure müssen jeweils für sie passende Konzepte entwickeln, die ineinandergreifen und das gemeinsa­
me Ziel verfolgen. Die bisherigen Ergebnisse machen uns zuversichtlich, dass dies gelingen kann.

Ihre

Detlef Scheele                    Frank-J. Weise                            Raimund Becker
Vorstand Arbeitsmarkt             Vorsitzender des Vorstands                Vorstand Regionen

                                                                                                      3
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SCHWERPUNKTHEFT FACHKRÄFTE FÜR DEUTSCHLAND

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BA 2020 BRINGT WEITER - Fachkräfte für Deutschland - Bundesagentur für Arbeit
ZWISCHENBILANZ UND FORTSCHREIBUNG

                                    TEIL 1
                            POTENZIALE FÜR DIE
                            FACHKRÄFTESICHERUNG
BA 2020 BRINGT WEITER - Fachkräfte für Deutschland - Bundesagentur für Arbeit
SCHWERPUNKTHEFT FACHKRÄFTE FÜR DEUTSCHLAND

WO WIR BEI DER FACHKRÄFTESICHERUNG STEHEN

Die deutsche Wirtschaft ist nach der weltweiten Finanz- und Wirtschaftskrise stabil, der Arbeitsmarkt
entwickelt sich positiv. Es entstehen immer mehr Beschäftigungsmöglichkeiten, die Arbeitslosigkeit sinkt
stetig. Noch nie seit der Wiedervereinigung gab es so viele Beschäftigte und so wenige Arbeitslose in
Deutschland wie im Herbst 2015.

Gleichzeitig bleibt das weltwirtschaftliche Umfeld instabil, und die Auswirkungen des demografischen
Wandels verschärfen sich. Von der guten Arbeitsmarktentwicklung im Inland profitieren noch nicht alle
gesellschaftlichen Gruppen. Die Entwicklung der Flüchtlingszahlen und ihre genauen Folgen für den
Arbeitsmarkt sind ungewiss. In Verbindung mit der weiter fortschreitenden Globalisierung und Digitalisie­
rung wird der Bedarf an Fachkräften auf einem hohen Niveau bleiben und in bestimmten Branchen und
Regionen deutlich zunehmen1.

Grafik 1
UNTER AKTUELLEN ANNAHMEN WIRD SICH DAS ERWERBSPERSONENPOTENZIAL
BIS 2030 UM RUND 3,6 MILLIONEN PERSONEN VERRINGERN

          45,8                45,1             43,8               42,2             –3,6

         2015                2020             2025                2030

Erwerbspersonenpotenzial in Mio.
ANNAHMEN: Wanderungssaldo 200.000 jährlich, steigende Erwerbsquoten von Frauen und Älteren
QUELLE: IAB, Basisjahr 2014

1
    vgl. Megatrends, „BA 2020“, S. 13

6
ZWISCHENBILANZ UND FORTSCHREIBUNG

Das Erwerbspersonenpotenzial wird auch nach aktualisierten Prognosen weiter zurückgehen, allerdings
nicht ganz so stark, wie im Jahr 2010 angenommen. Wesentlich hierfür ist, dass in den vergangenen Jahren
mehr Migrantinnen und Migranten nach Deutschland gekommen sind als in den Jahren zuvor und dass
die Erwerbsbeteiligung von Frauen und älteren Menschen kontinuierlich steigt.

Eine Fortschreibung aktueller Trends lässt nach Prognosen des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsfor­
schung (IAB) einen Rückgang des Erwerbspersonenpotenzials um etwa 3,6 Millionen Arbeitskräfte bis
zum Jahr 2030 erwarten. Dabei werden eine jährliche Nettomigration von 200.000 Personen und eine
weiterhin moderat steigende Erwerbsquote von Frauen und älteren Menschen angenommen. Daneben
liegen Szenariorechnungen anderer Institute und Unternehmen zur potenziellen Arbeitskräftelücke im
Jahr 2030 vor, die in eine ähnliche Richtung weisen.

Der Trend zur Digitalisierung wird sich verstärken und insbesondere – aber nicht nur – in der IT-Branche
zusätzliche Dynamik erzeugen2. Es werden neue Arbeitsformen und Kompetenzanforderungen entstehen,
die sich wiederum auf regionale Arbeitskräftebedarfe auswirken. Gleichzeitig wird die Digitalisierung ins­
besondere in der industriellen Produktion zu beträchtlichen Produktivitätszuwächsen führen (Stichwort
„Industrie 4.0“). Diese Trends könnten die demografische Entwicklung in einzelnen Bereichen teilweise
auffangen. Exakt quantifizieren lässt sich dieser Effekt allerdings noch nicht. Prognosen des IAB deuten
auf Beschäftigungsverluste im verarbeitenden Gewerbe bei parallelem Beschäftigungswachstum in der
Dienstleistungsbranche hin3.

Engpässe werden also eintreten – je nach Unternehmensgröße, Branche, Berufsfeld und Region in
unterschiedlicher Ausprägung. Trotz der positiven Entwicklung der vergangenen Jahre dürfen wir daher
in den Anstrengungen nicht nachlassen.

WO NOCH POTENZIALE LIEGEN

In „Perspektive 2025“ haben wir aufgezeigt, dass sich das Fachkräfteangebot nur durch eine Mischung
verschiedener Stellhebel nachhaltig steigern lässt. Dafür wollen wir zwei Wege beschreiten:

• Zum einen soll die Anzahl der qualifizierten Arbeitskräfte vergrößert werden, die dem deutschen Arbeits­
  markt zur Verfügung stehen. Das kann gelingen, indem sowohl die Zahl qualifizierter Fachkräfte inner­
  halb Deutschlands als auch die der qualifizierten Einwanderer nach Deutschland erhöht wird.

• Zum anderen kann die von den bereits in Deutschland vorhandenen Arbeitskräften erbrachte Wert­
  schöpfung gesteigert werden. Das wird erreicht durch ein „Mehr“ an Arbeit, also durch die Erhöhung
  des Arbeitszeitvolumens, durch „höherwertige“ Arbeit, d. h. durch gut ausgebildete und qualifizierte
  Fachkräfte, und schließlich durch ein gutes Matching (Fachkräfte mit der richtigen Qualifikation zur
  richtigen Zeit am richtigen Ort). Das gelingt umso besser, je transparenter der Arbeitsmarkt für alle
  Akteure ist.

2
    vgl. „BA 2020“, Themenheft 3 „Industrie 4.0 / Arbeitswelt 4.0“
3
    vgl. „BA 2020“, Themenheft 5 „Arbeiten 4.0“

                                                                                                          7
SCHWERPUNKTHEFT FACHKRÄFTE FÜR DEUTSCHLAND

Grafik 2
DAS FACHKRÄFTEANGEBOT LÄSST SICH NUR DURCH EINEN MIX VERSCHIEDENER
HEBEL NACHHALTIG STEIGERN

                                                                     Erhöhen der Anzahl qualifizierter
                                                                     Fachkräfte innerhalb Deutschlands
                         Erhöhen der
                         Anzahl
                         qualifizierter
                         Arbeitskräfte                               Steuern der Einwanderung von
                                                                     qualifizierten Fachkräften

Steigern des
Fachkräfte-
                                                                     Erhöhen des Arbeitszeitvolumens
potenzials

                         Erhöhen der                                 Vorantreiben der Aus- und
                         Wertschöpfung                               Weiterbildung
                         der Arbeitskräfte

                                                                     Erhöhen der Arbeitsmarkt-
                                                                     transparenz

QUELLE: Eigene Darstellung

Aus diesen Hebeln haben wir in „Perspektive 2025“ zehn Handlungsfelder abgeleitet, bei denen wir
besonders große Potenziale für die Gewinnung von Fachkräften sehen. Diese Handlungsfelder bleiben
auch weiterhin gültig. Allerdings haben wir die jeweiligen Potenziale mit einem Zeithorizont bis zum Jahr
2030 neu berechnet. Weil es zudem häufig einige Jahre dauert bis Maßnahmen wirksam werden, beginnt
der Zeitraum, den wir für die Berechnung der Potenziale zugrunde legen, mit dem Jahr 2020. Wir stellen
die Potenziale wieder in Spannbreiten dar. Bei der Einschätzung dessen, was möglich sein könnte, haben
wir uns – wo es sinnvoll erschien – an den europäischen Spitzenreitern orientiert und eine vollständige
oder teilweise Annäherung an diese ins Auge gefasst. Wo eine solche Bezugnahme nicht sinnvoll war,
haben wir anhand der Entwicklungen der vergangenen Jahre und der bekannten Rahmenbedingungen
Annahmen getroffen, die in der Beschreibung des jeweiligen Handlungsfelds dargestellt werden.

8
ZWISCHENBILANZ UND FORTSCHREIBUNG

Grafik 3
DIE ANSTRENGUNGEN ZUR STEIGERUNG DES FACHKRÄFTEANGEBOTS
KONZENTRIEREN SICH AUF ZEHN HANDLUNGSFELDER

    Handlungsfeld     1     Handlungsfeld        2      Handlungsfeld        3     Handlungsfeld         4     Handlungsfeld    5
    Schulabgänge ohne Ausbildungs-           Studienabbrüche                       Menschen über 551           Frauen
    Abschluss reduzieren abbrüche reduzieren reduzieren                            Erwerbsbeteiligung          Erwerbsbeteiligung
                                                                                   erhöhen                     erhöhen

                                                                                                                   255 – 510
                                                                                                                Arbeitszeitvolumen
        75 – 150                 70 – 140                    80 –160                   285 – 570                Teilzeit erhöhen

                                                                                                                   445 – 890

    Handlungsfeld     6     Handlungsfeld        7      Handlungsfeld        8     Handlungsfeld         9
    Einwanderung von        Arbeitszeitvolumen          Aus- und Weiter-           Arbeitsmarkttransparenz
    Fachkräften steuern     Vollzeit erhöhen            bildung vorantreiben       verbessern

                                                                                   Handlungsfeld         10
       450 – 900                300 – 600                   320 – 640
                                                                                   Steuer- und Transfersysteme
                                                                                   weiterentwickeln

Potenzial bis zum Jahr 2030 in tausend Personen/Vollzeitäquivalenten (gerundet)
1
 Betrachtung der Erwerbstätigenquote 55- bis 64-Jähriger und der Erwerbstätigenquote 65- bis 70-Jähriger
ANMERKUNG: Detaillierung der Berechnungen im Text;
IMPLIZITE ANNAHME: Jede zusätzlich gewonnene Fachkraft aus HF 1 – 3 und HF 6 entspricht jeweils 1 Vollzeitäquivalent
QUELLE: BA, eigene Berechnungen

                                                                                                                                     9
SCHWERPUNKTHEFT FACHKRÄFTE FÜR DEUTSCHLAND

ZEHN HANDLUNGSFELDER UND IHRE POTENZIALE IM ÜBERBLICK

1. Schulabgänge ohne Abschluss reduzieren

Der Anteil der Schulabgängerinnen und Schulabgänger ohne Abschluss in Deutschland konnte im Zeit­
raum zwischen 2009 und 2013 um ein Fünftel auf 5,7 % gesenkt werden. Bei einer Reduktion um weitere
20 bis 40 % bis zum Jahr 2030 könnten zusätzlich etwa 75.000 bis 150.000 junge Menschen mit Schul­
abschluss zu Fachkräften ausgebildet werden.

2. Ausbildungsabbrüche reduzieren

Jeder vierte neu abgeschlossene Ausbildungsvertrag wird vorzeitig gelöst. Dieser Anteil ist in den Jahren
2009 bis 2014 zudem um über ein Zehntel gestiegen. Durch eine Umkehr dieses Trends und eine Ver­
minderung der aktuellen Abbruchquote um 10 bis 20 % könnten rund 70.000 bis 140.000 Fachkräfte bis
zum Jahr 2030 gewonnen werden.

3. Studienabbrüche reduzieren

Fast ein Drittel aller Bachelorstudierenden in Deutschland bricht das Studium vorzeitig ab. Seit 2009 war
keine Reduktion der Abbruchquote zu verzeichnen. Eine Verringerung der Abbrüche um 10 bzw. 20 %
könnte bis zum Jahr 2030 ca. 80.000 bis 160.000 Fachkräfte hervorbringen.

4. Erwerbsbeteiligung von Menschen über 55 Jahren erhöhen

Die Erwerbstätigenquote der 55- bis 64-Jährigen in Deutschland ist von 2009 bis 2014 deutlich gestiegen:
von 56 % auf 66 %. Gleichzeitig wirkt die Einführung der Rente ab 63 diesem Trend entgegen und erfah­
rene Fachkräfte verlassen vorzeitig den Arbeitsmarkt. 490.000 zusätzliche Fachkräfte könnten dem
Arbeitsmarkt zur Verfügung stehen, wenn Deutschland die gleiche Erwerbsbeteiligung älterer Menschen
erreichen würde wie EU-Spitzenreiter Schweden. Bei einer Halbierung des Abstands zu Schweden wären
es immer noch 245.000 Fachkräfte mehr.

Auch die Erwerbstätigenquote der 65- bis 70-Jährigen hat sich in den letzten Jahren spürbar erhöht. Wenn
sich bei dieser Personengruppe ebenfalls die Quote um weitere 10 bis 20 % steigern ließe, könnte der
Arbeitsmarkt auf zusätzliche 40.000 bis 80.000 erfahrene ältere Fachkräfte zurückgreifen.

5. Erwerbsbeteiligung und Arbeitszeitvolumen von Frauen erhöhen

Die Erwerbstätigenquote der Frauen in Deutschland ist in den letzten Jahren um mehr als vier Prozent­
punkte auf 70 % gestiegen. Ein Aufschließen zum EU-Spitzenreiter Schweden bis 2030 wäre gleichbe­
deutend mit 510.000 zusätzlichen Fachkräften. Eine Halbierung des Abstands zum schwedischen Niveau
würde der Gewinnung von immerhin 255.000 Fachkräften entsprechen.

Darüber hinaus könnte die Wochenarbeitszeit teilzeitbeschäftigter Frauen erhöht werden. Mit gut 19 Wo­
chenstunden liegt Deutschland hier weit hinter den EU-Spitzenwerten von fast 24 Wochenstunden. Eine
vollständige Angleichung käme etwa 890.000 zusätzlichen Vollzeitäquivalenten gleich. Bei einer Halbie­
rung des Abstands würde immer noch ein Potenzial von rund 445.000 Fachkräften erreicht.

10
ZWISCHENBILANZ UND FORTSCHREIBUNG

6. Einwanderung von Fachkräften steuern

Prognosen zu Migrationsbewegungen sind im Licht der jüngeren Entwicklung bei den Flüchtlingszahlen
sehr viel schwieriger geworden. Dennoch wird der Wanderungssaldo voraussichtlich nicht bis zum Jahr
2030 auf dem aktuell hohen Niveau bleiben. Unter der Annahme, dass sich die Einwanderung bis 2030
mindestens in einer ähnlichen Größenordnung wie der Durchschnittswert von 2006 bis 2014 bewegt,
können wir mit einer Nettomigration von knapp 200.000 Personen pro Jahr rechnen. Unter dieser An­
nahme wäre ein Gewinn von ca. 900.000 Fachkräften bis zum Jahr 2030 möglich, wenn man gleichzeitig
in Rechnung stellt, dass es sich nicht bei allen Einwanderern um ausgebildete Fachkräfte handelt.

Im Hinblick auf den Zeithorizont 2030 gehen wir ferner davon aus, dass die Mehrzahl der Einwanderer
nach Deutschland weiterhin aus EU-Ländern kommen wird und dass sich unter ihnen etwa ein Viertel
Fachkräfte befinden werden. Da aus Drittstaaten gezielt nur Fachkräfte angeworben werden, rechnen
wir hier mit einer höheren Fachkräftequote von 40 %. Allerdings macht diese Personengruppe nur etwa
ein Drittel der Nettomigration aus.

Das so berechnete Potenzial könnte sich – angesichts der Ungewissheit über die zukünftige Entwicklung
der Migration von Flüchtlingen – noch nach oben ausweiten. Eine genauere Prognose lässt die aktuelle
Datenlage derzeit jedoch nicht zu.

Würde die durchschnittliche jährliche Nettomigration bis 2030 allerdings wieder deutlich sinken, z. B. auf
die Hälfte des historischen Werts des Zeitraums zwischen 2006 bis 2014 (100.000 Personen pro Jahr),
entspräche das rund 450.000 daraus resultierenden Fachkräften bis zum Jahr 2030.

7. Arbeitszeit Vollzeitbeschäftigter erhöhen

Die durchschnittliche Wochenarbeitszeit in Deutschland liegt im EU-Durchschnitt. Wenn es gelänge,
mehr Menschen zu längeren Wochenarbeitszeiten zu motivieren, könnte damit ein weiterer Beitrag zur
Fachkräftesicherung geleistet werden. Würde im Jahr 2030 jeder Vollzeitbeschäftigte durchschnittlich
eine halbe Stunde pro Woche mehr arbeiten als heute, entspräche dies umgerechnet einer zusätzlichen
Arbeitsleistung von rund 300.000 Fachkräften. Bei einer Stunde mehr pro Woche wären es sogar
600.000.

8. Aus- und Weiterbildung vorantreiben

Seit 2009 konnte der Anteil der Geringqualifizierten an der Bevölkerungsgruppe der 25- bis 64-Jährigen
um mehr als ein Zehntel auf 13 % gesenkt werden. Ließe sich diese Quote bis zum Jahr 2030 nochmals
um 10 % bzw. 20 % reduzieren, käme dies einem Gewinn von 320.000 bis 640.000 zusätzlichen Fach­
kräften gleich.

9. Arbeitsmarkttransparenz erhöhen

Ein transparenter, gut organisierter Arbeitsmarkt unterstützt das Matching, d. h. das Zusammenführen der
zueinander passenden Arbeitnehmer und Arbeitgeber. Die zeitliche Lücke bis zur Besetzung offener

                                                                                                        11
SCHWERPUNKTHEFT FACHKRÄFTE FÜR DEUTSCHLAND

Stellen und die Suchzeiten nach einem neuen Job verringern sich durch gute Vernetzung. Damit sinkt
auch die Dauer von Phasen der Arbeitslosigkeit. Eine weitere Erhöhung der Arbeitsmarkttransparenz hat
erhebliche positive Auswirkungen auf die Fachkräftesicherung. Quantifizieren lässt sich dieser Effekt
jedoch nur schwer.

10. Steuer- und Transfersysteme weiterentwickeln

Auch die Ausgestaltung des Steuer- und Transfersystems kann die Fachkräftesicherung begünstigen oder
aber erschweren. Nach Unterbrechungen der Erwerbstätigkeit müssen eine zeitnahe Rückkehr ins Erwerbs­
leben erleichtert werden. Hierzu muss eine ausgewogene Aufteilung der familiären Betreuungsaufgaben
gefördert und die Erziehungs- und Pflegeleistung angemessen honoriert werden.

12
ZWISCHENBILANZ UND FORTSCHREIBUNG

Grafik 4
DIE POTENZIALE DER ZEHN HANDLUNGSFELDER IM ÜBERBLICK

Handlungsfeld                                                   Potenzial bis 2030 in tausend VZÄ1

                                                                Min.                                                     Max.

    1   Schulabgänge ohne Abschluss                                75          150

    2   Ausbildungsabbrüche                                       70           140

    3   Studienabbrüche                                              80         160

    4   Erwerbsbeteiligung Menschen 55 – 64                                     245                    490

        Erwerbsbeteiligung Menschen 65– 70                      40        80

    5   Erwerbsbeteiligung Frauen                                               255                     510

        Arbeitszeitvolumen Frauen in Teilzeit                                                  445                       890

 6      Einwanderung von Fachkräften                                                           450                       900

 7      Arbeitszeitvolumen Vollzeit                                                  300                      600

 8      Qualifizierung/Aus- und Weiterbildung                                         320                          640

 9      Arbeitsmarkttransparenz                                                            Keine Quantifizierung

10      Steuer- und Transfersysteme                                                        Keine Quantifizierung

1
 VZÄ = Vollzeitäquivalente. Rundungsabweichungen möglich.
ANNAHME: Jede zusätzlich gewonnene Fachkraft aus HF 1– 3 und HF 6 entspricht jeweils 1 Vollzeitäquivalente
QUELLE: Eigene Darstellung

                                                                                                                          13
SCHWERPUNKTHEFT FACHKRÄFTE FÜR DEUTSCHLAND

14
ZWISCHENBILANZ UND FORTSCHREIBUNG

                                       TEIL 2
                                    IDEEN FÜR MEHR
                                    FACHKRÄFTE
SCHWERPUNKTHEFT FACHKRÄFTE FÜR DEUTSCHLAND

1. SCHULABGÄNGE OHNE ABSCHLUSS REDUZIEREN

Den Schulabschluss schaffen

Der Grundstein für eine Laufbahn als Fachkraft wird in der Schule gelegt. Jugendliche ohne Schulab­
schluss haben schlechte Perspektiven auf dem Ausbildungsmarkt. Nur etwa jeder fünfte junge Mensch,
der ohne Abschluss von der Schule abgeht, findet danach eine Ausbildungsstelle. Eine Reduktion der
Anzahl der Schulabgängerinnen und -abgänger ohne Abschluss ist daher ein wesentlicher Hebel zur
Fachkräftesicherung.

Der Anteil der Jugendlichen, die eine allgemeinbildende Schule in Deutschland ohne Abschluss verlassen,
ist von 2009 bis 2013 zwar gesunken – auf etwa 6 %. Das entspricht einer Verringerung um ein Fünftel.
Dennoch waren es auch im Jahr 2013 immer noch fast 50.000 Jugendliche, die ohne Abschluss von
der Schule gingen.

Grafik 5
BEIM ANTEIL DER SCHULABGÄNGE OHNE ABSCHLUSS BESTEHT WEITERHIN
HANDLUNGSBEDARF IN ALLEN BUNDESLÄNDERN

                                                                         7,6%
                                                                                          8,4%
                                                                            4,9%
                                                                     7,3%

                                                                            4,9%             9,2%
Deutschland 2014: 5,8 %
                                                                                     9,7%        7,7%
                                                             6,2 %
                                                                                             8,3%
                                                                                   7,2%
                                                                      4,9%

                                                           5,6 %

                                                           5,3%
                                                                                     4,5%
                                                                      5,0%

Schulabgänge ohne Abschluss nach Bundesländern (2014)

QUELLE: Statistisches Bundesamt, 2014

Besonders abbruchgefährdet sind Schülerinnen und Schüler mit Migrationshintergrund. Sie verlassen
die Schule fast doppelt so häufig ohne Abschluss wie junge Menschen ohne Migrationshintergrund. Der
Hauptgrund dafür ist allerdings nicht der Migrationshintergrund als solcher, sondern der sozioökono­
mische Hintergrund vieler Einwandererfamilien in Deutschland. Das Elternhaus spielt dabei eine wesent­
liche Rolle. Je besser die Bildung der Eltern, desto seltener geht ihr Kind erfolglos von der Schule ab. Dies
gilt für alle Bevölkerungsgruppen.

Sollte es gelingen, ab 2020 die Anzahl der Schulabbrecher um 20 % zu vermindern, würde dies bis 2030
etwa 75.000 jungen Menschen den Weg in eine Laufbahn als Fachkraft ebnen. Bei einer 40 %igen Redu­
zierung wären es sogar über 150.000 junge potenzielle Fachkräfte.

16
ZWISCHENBILANZ UND FORTSCHREIBUNG

Um dies zu erreichen, muss bereits in der (Vor-)Schulzeit angesetzt werden. Ein besonderes Augenmerk
ist dabei auf Gruppen zu legen, die besonders gefährdet sind. Eltern müssen frühzeitig für die Bildung
ihrer Kinder sensibilisiert und kompetent in Bildungsfragen beraten werden. Das ESF4-Bundesprogramm
„Elternchance II“ des Bundesfamilienministeriums verfolgt dieses Ziel. Kinder und Jugendliche mit Migra­
tionshintergrund müssen früher und intensiver sprachlich gefördert werden, um möglichst schnell zu ihren
Mitschülerinnen und Mitschülern aufschließen zu können. Für junge Menschen mit Behinderung sind
inklusive Unterstützungsleistungen an den Regelschulen erforderlich. Die Verantwortung dafür, dieses
große Potenzial zu entwickeln, tragen bis zum Ende der Schulzeit vor allem die Bundesländer.

Den Übergang von der Schule in den Beruf unterstützen

Im Jahr 2014 befanden sich rund eine Viertelmillion Jugendliche im sogenannten Übergangsbereich –
nicht mehr in der Schule, aber noch nicht in beruflicher Erstausbildung. Jeder fünfte junge Mensch in
dieser Gruppe besitzt keinen Schulabschluss. Die Gründe für lange Übergangsphasen sind vielfältig. Sie
reichen von schlechten Noten über fehlende Ausbildungsreife bis hin zu Benachteiligungen im sozialen
Umfeld.

Verschiedene Akteure unterstützen Jugendliche bei der beruflichen Erstorientierung. Die Berufsberatung
der Bundesagentur für Arbeit bietet gezielte Beratung und individuelle Unterstützung für junge Menschen
unabhängig von der Schulform an. Bei der beruflichen Erstausbildung helfen Berufseinstiegsbegleiter
(BerEb) solchen Schülerinnen und Schülern, bei denen sich abzeichnet, dass sie Schwierigkeiten in der
Ausbildung haben könnten, den Schulabschluss nicht schaffen und/oder dass der Übergang in Ausbil­
dung misslingt. Die Begleitung kann bis in das Ausbildungsverhältnis hineinreichen. Durch Berufsvorbe­
reitende Bildungsmaßnahmen (BvB) wird Ausbildungsfähigkeit hergestellt und sogar der nachträgliche
Erwerb eines Hauptschulabschlusses ermöglicht.

Um einen signifikanten Fortschritt beim Übergang von der Schule zum Beruf zu erreichen, bedarf es
weiterer gemeinsamer Anstrengungen von Arbeitgeberverbänden, Gewerkschaften, Kammern, Bund
und Ländern sowie der Bundesagentur für Arbeit. So verfolgt die „Allianz für Aus- und Weiterbildung“ das
Ziel, die Akteure zu vernetzen und wirksame Maßnahmen zur Stärkung der betrieblichen Ausbildung zu
entwickeln. Die Allianzpartner streben an, sowohl mehr leistungsstarke Jugendliche für die berufliche
Bildung zu gewinnen als auch mehr Jugendlichen mit schlechteren Startchancen eine betriebliche Be­
rufsausbildung zu ermöglichen5.

Jugendberufsagenturen

In 218 Jugendberufsagenturen (Stand: Juli 2015) arbeiten Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter von Jobcen­
tern, zugelassenen kommunalen Trägern, aus der Jugendhilfe und der Berufsberatung der Agenturen für
Arbeit zusammen. Durch intensive Kooperation und aktive Einbindung weiterer Netzwerkpartner – insbe­
sondere der Schulen – werden behördliche Dienstleistungen rund um den Berufsstart für viele Jugendliche
erheblich leichter zugänglich. So wird etwa in gemeinsamen Fallkonferenzen besprochen und entschie­
den, welche Hilfen aus welchen Rechtskreisen die Jugendlichen vorrangig benötigen. Dabei verfügen
Jugendberufsagenturen über dezentrale Entscheidungs- und Gestaltungsbefugnisse. Die meisten Jugend­
berufsagenturen konzentrieren sich derzeit auf förderbedürftige Jugendliche. Die Kooperation in den
Jugendberufsagenturen zeigt vor allem im präventiven Bereich Wirkung, wenn die Jugendlichen beim
Übergang von der Schule zum Beruf abgestimmt betreut werden. Die Jugendberufsagenturen sollen zu
Regeleinrichtungen für alle Jugendlichen entwickelt werden.

4
    Europäischer Sozialfonds
5
    Nähere Informationen sind zu finden unter www.bmwi.de > allianz-fuer-aus-und-weiterbildung-2015-2018

                                                                                                           17
SCHWERPUNKTHEFT FACHKRÄFTE FÜR DEUTSCHLAND

2. AUSBILDUNGSABBRÜCHE REDUZIEREN

Jedes Jahr werden in Deutschland etwa 150.000 Ausbildungsverträge vorzeitig gelöst. Jeder vierte neu
abgeschlossene Vertrag ist betroffen. Eine Vertragslösung bedeutet dabei nicht gleich den endgültigen Aus­
bildungsabbruch: Etwa die Hälfte der betroffenen Jugendlichen beginnt zeitnah eine neue Ausbildung
oder eine weiterführende Qualifizierung, z. B. an einer Hochschule. Ein Wechsel kann die sinnvolle Kor­
rektur einer Fehlentscheidung sein. Die andere Hälfte dieser jungen Menschen – das wären jährlich etwa
75.000 potenzielle Fachkräfte – verbleibt jedoch zunächst ohne Berufsabschluss. Ebenso wie von der
vergleichsweise hohen Zahl der Schulabbrecher sind auch von diesem Problem alle Regionen in Deutsch­
land betroffen. Besonders im Handwerk ist die Herausforderung groß, wird doch jeder dritte Vertrag vor­
zeitig beendet. In Industrie und Handel ist es gut jeder fünfte Ausbildungsvertrag.

Wenn es gelänge, die Abbruchquote um 10 % auf das Niveau von 2009 oder sogar um 20 % zu senken,
könnten dem Arbeitsmarkt etwa 70.000 bis 140.000 ausgebildete junge Menschen zusätzlich zur Verfü­
gung stehen.

Die beste Vorbeugung gegen Ausbildungsabbrüche sind klare Vorstellungen über die berufliche Wirklich­
keit. Einen realistischen Eindruck vom potenziellen Ausbildungsberuf können Schülerinnen und Schüler
besonders gut durch Praktika erlangen. Wichtig ist deshalb der weitere Ausbau der Kooperationen zwi­
schen Schulen und Wirtschaft zur praxisbezogenen Berufsorientierung.

Die Berufsberatung der Bundesagentur für Arbeit führt junge Menschen bereits in der Schulzeit an die
Berufswahl heran und erarbeitet mit ihnen auf Wunsch individuelle Strategien zur Ausbildungs- bzw. Stu­
dienwahl. Mit einer breiten Präsenz in jedem Agenturbezirk sind die Berufsberaterinnen und Berufsberater
die ersten Ansprechpartner allgemeinbildender Schulen, wenn es um den Übergang von der Schule in
den Beruf geht. Außerdem wird in der Berufsberatung verstärkt auf gendergerechte Angebote geach­
tet: Mädchen und Jungen werden darin unterstützt, eine Berufswahl zu treffen, die zu ihren individuel­
len Fähigkeiten und Interessen passt und frei von Geschlechterklischees ist.

Damit diese Beratung auch in Zukunft zeitgemäß, unkompliziert und individuell erfolgen kann, soll das
bestehende Onlineangebot für junge Menschen nahtlos mit persönlichen Beratungsangeboten verzahnt
werden. Online-Terminbuchung und Chatangebote sollen den Zugang zur Berufsberatung deutlich er­
leichtern. Entsprechende Konzepte werden aktuell innerhalb der Bundesagentur für Arbeit entwi­
ckelt.

Nach Ausbildungsbeginn gilt es, die Rahmenbedingungen im Betrieb für beide Vertragspartner vorteilhaft
zu gestalten und typischen Abbruchgründen entgegenzuwirken. Häufig sind Konflikte im Betrieb Auslöser
für Ausbildungsabbrüche. Durch eine rechtzeitige Beratung der Auszubildenden und der Unternehmen
ist es teilweise möglich, solche Konflikte zu vermeiden. Effektive Maßnahmen reichen dabei von regio­
nalen und lokalen Initiativen über verstärkte Coaching-Angebote bis hin zu regelmäßigen Schulungen
für Ausbilderinnen und Ausbilder zu aktuellen Themen des Konfliktmanagements. Diese Initiativen von
örtlichen Verbänden, Kammern und Innungen gilt es weiter auszubauen.

Mangelnde Flexibilität der Arbeitszeiten im Ausbildungsbetrieb führt ebenfalls häufig zu Vertragslösungen.
Flexible Teilzeitmodelle können eine Alternative für junge Menschen sein, deren persönliches Umfeld,
z. B. nach einer Familiengründung, eine Vollzeitausbildung nicht zulässt. Um das Angebot von Teilzeit­
berufsausbildungen auszuweiten, ist eine noch engere Vernetzung und Abstimmung der regionalen
Akteure – der Kammern, der Arbeitgeberverbände und der Berufsschulen – erforderlich. Unterstützung
erfahren junge Erwachsene mit Familienverantwortung sowie Arbeitgeber durch das Ausbildungsstruktur­
programm JOBSTARTER des Bundesministeriums für Bildung und Forschung.6

Oft sind es auch finanzielle Probleme, die zum Ausbildungsabbruch führen. Niedrig entlohnte Ausbil­
dungsberufe sind besonders stark betroffen. Durch geldwerte Unterstützung und intelligente organisato­

6
 Nähere Informationen finden sich im Internet unter www.jobstarter.de
> Fachkräfte gewinnen > Junge Erwachsene mit Familienverantwortung.

18
ZWISCHENBILANZ UND FORTSCHREIBUNG

Grafik 6
IN DEUTSCHLAND WIRD JEDER VIERTE AUSBILDUNGSVERTRAG VORZEITIG GELÖST

                                                                                                      27,9%
                                                                                                   28,8%              32,9%
                                                                                               23,7%

                                                                                                      25,2%                33,9%
Deutschland 2013: 25 %
                                                                                                                  32,7%       29,7 %
                                                                                     24,7%
                                                                                                                           27,8%
                                                                                                             30,3%
                                                                                                23,1%
                                                                                  26,4%

Vorzeitige Vertragslösungen als Anteil der im aktuellen                            27,8%
Jahr begonnenen Ausbildungsverträge nach Bundesländern
im Jahr 2013                                                                                                      22,0%
                                                                                                 21,2%
QUELLE: Bundesinstitut für Berufsbildung (BiBB), Datenreport zum
Berufsbildungsbericht 2015; "Datenbank Auszubildende" des Bundesinstituts für
Berufsbildung auf Basis der Daten der Berufsbildungsstatistik der Statistischen
Ämter des Bundes und der Länder (Erhebung zum 31. Dezember),
Berichtsjahre 2010 bis 2013; Berechnungen des Bundesinstituts für Berufsbildung

Grafik 7
DIE MEISTEN VERTRÄGE WERDEN NOCH INNERHALB DES ERSTEN
AUSBILDUNGSJAHRES GELÖST

Zuständig-              Vorzeitige
keitsbereich            Vertragslösungen               Davon gelöst

         Handwerk                             34%               30 %                       30 %                    26 %             12 % 2 %
              Haus-
          wirtschaft                     28 %              17%                    35 %                        29 %               15 %      4%
               Freie
             Berufe                    26%                            43 %                            28 %                20 %         8% 2 %

             Land-
                                      24%                      28 %                       31 %                     28 %            10 % 3 %
         wirtschaft
          Industrie
                                    22%                           35 %                           33 %                    24 %           7% 1%
       und Handel
       Öffentlicher
            Dienst      6%                                    26 %                   27 %                      29 %               15 %     3%

         Insgesamt                    25%                         34 %                         31 %                    25 %           9% 2 %

                                                             In der Probezeit            Nach 13 bis 24 Monaten       Nach mehr als 36 Monaten
                                                                         Nach 5 bis 12 Monaten          Nach 25 bis 36 Monaten

Vorzeitige Vertragslösungen nach Zuständigkeitsbereichen als Anteil der im aktuellen Jahr begonnenen
Ausbildungsverträge und nach dem Zeitpunkt der Vertragslösung, Bundesgebiet im Jahr 2013

QUELLE: Bundesinstitut für Berufsbildung (BiBB) Berufsbildungsbericht Datenreport 2015, rundungsbedingte Abweichungen von 100 % möglich

                                                                                                                                            19
SCHWERPUNKTHEFT FACHKRÄFTE FÜR DEUTSCHLAND

rische Lösungen für Auszubildende, wie z. B. Zuschüsse für Fahrtkosten oder Unterbringung am Ausbil­
dungsort, können Unternehmen diesem Abbruchgrund entgegenwirken.

Die Bundesagentur für Arbeit steht mit ihren Beratungsangeboten nicht nur jungen Menschen, sondern
auch Arbeitgebern – besonders kleinen und mittleren Unternehmen – zur Seite. Unternehmen werden
auch im Hinblick auf die Erwartungen der Jugendlichen an ihre Ausbildung und die Betriebe beraten.
Darüber hinaus bietet die Bundesagentur für Arbeit Maßnahmen an, die das Ziel verfolgen, die Anzahl
vorzeitiger Vertragslösungen zu senken. Darunter sind ausbildungsbegleitende Hilfen, die begleitete
betriebliche Ausbildung für schwerbehinderte junge Menschen (bbA) und seit Mai 2015 die Assistierte
Ausbildung (AsA). In der Erprobungsphase befindet sich zudem das Web-Diagnosetool PraeLab (Prä­
vention von Lehrabbrüchen). Um die Ausbildungs- und Beschäftigungschancen von Jugendlichen mit
Handicaps und Schwerbehinderung zu verbessern, beteiligt sich die Bundesagentur für Arbeit an einer
gemeinsamen Inklusionsinitiative für mehr betriebliche Ausbildung und Beschäftigung von Menschen mit
Behinderungen.7

Assistierte Ausbildung

Die Assistierte Ausbildung (AsA) soll die Chancen von benachteiligten Jugendlichen auf eine betriebliche
Ausbildung erhöhen und dabei helfen, diese auch erfolgreich abzuschließen. Mit der AsA werden sowohl
die jungen Menschen als auch deren Ausbildungsbetriebe intensiv und kontinuierlich während der
Ausbildung unterstützt. Die AsA kann zusätzlich eine bis zu sechs Monate dauernde ausbildungsvor­
bereitende Phase umfassen.

PraeLab

Die Bundesagentur für Arbeit erprobt derzeit das Web-Diagnosetool PraeLab (Prävention von Lehrab­
brüchen). Mit Hilfe eines internetbasierten Befragungs- und Auswertungstools wird Beratungsfachkräften
der Bundesagentur für Arbeit und Lehrkräften an berufsbildenden Schulen ein Instrument an die Hand
gegeben, das eine frühzeitige Identifizierung abbruchgefährdeter Jugendlicher ermöglicht und ihnen
Interventionsmöglichkeiten bietet. Mit diesem Frühwarnsystem werden die jungen Menschen zu einem
Zeitpunkt in der Ausbildung erreicht, an dem ein zeitnahes Beratungsangebot zur Abbruchprävention
effektiv greifen kann. In Zusammenarbeit mit den Fachklassen aller Berufsschulen können so frühzeitig
Unterstützungsmöglichkeiten aufgezeigt und in Beratungsgesprächen Lösungsansätze erarbeitet wer­
den.

Begleitete betriebliche Ausbildung (bbA)

Durch gezielte Förderung der betrieblichen Ausbildung von jungen Menschen mit Behinderung, die zwar
besonderer Unterstützung bedürfen, jedoch nicht auf eine Einrichtung angewiesen sind, werden der
praxisorientierte Start ins Berufsleben und eine dauerhafte Eingliederung in den ersten Arbeitsmarkt unter­
stützt. Ausbildungsbetriebe erhalten bei Bedarf Hilfestellungen, damit ein reibungsloser Ablauf und ein
Erfolg der Ausbildung der Teilnehmenden gewährleistet werden können.

7
 Diese Initiative wurde vom Bundesministerium für Arbeit und Soziales, von den Spitzenverbänden der Wirtschaft, dem Deutschen
Gewerkschaftsbund, der Bundesagentur für Arbeit, dem Deutschen Landkreistag, den in der Bundesarbeitsgemeinschaft der Integrati­
onsämter und Hauptfürsorgestellen (BIH) zusammengeschlossenen Integrationsämtern der Länder, den Verbänden der Menschen mit
Behinderungen und der Beauftragten der Bundesregierung für die Belange behinderter Menschen ins Leben gerufen.

20
ZWISCHENBILANZ UND FORTSCHREIBUNG

3. STUDIENABBRÜCHE REDUZIEREN

Noch immer verlassen jährlich ca. 100.000 Studierende deutsche Hochschulen ohne einen Abschluss.
An Universitäten ist es jede/-r Dritte, an Fachhochschulen jede/-r Vierte. Bei den Studienabbruchquoten
gibt es große Unterschiede zwischen Bachelor- und Masterstudiengängen sowie zwischen den Studien­
fächern. Besonders hohe Abbruchquoten weisen MINT-Studiengänge auf (Mathematik, Informatik, Natur­
wissenschaften, Technik). Dabei werden gerade in diesen Studiengängen dringend Fachkräfte benötigt.
Seit 2009 ist der Anteil der Studienabbrecher weitgehend konstant geblieben. In diesem Handlungsfeld
sind daher unbedingt weitere Anstrengungen erforderlich.

Grafik 8
DAS RISIKO EINES STUDIENABBRUCHS IST IN MINT1-BACHELORSTUDIENGÄNGEN
BESONDERS HOCH

Studienabbruchquoten im Bachelorstudium                            Studienabbruchquoten im Bachelorstudium
an Universitäten                                                   an Fachhochschulen

         Bachelor                                                              Bachelor
                                                  33%                          Fachhochschule insgesamt         23%
         Universität insgesamt
                                                                               Mathematik/
         Mathematik/                                                           Naturwissenschaften                     34 %
         Naturwissenschaften
                                                       39%
                                                                                Ingenieur-
         Ingenieur-                                                             wissenschaften                       31 %
         wissenschaften
                                                     36%
                                                                                Gesundheits-
                                                                                wissenschaften                      28 %
         Sprach-/Kultur-
         wissenschaften/Sport
                                                 30%                            Sprach-/Kultur-
                                                                                wissenschaften/Sport          21 %
         Agrar-/Forst-/Ernäh-
                                                 30%                            Agrar-/Forst-/Ernäh-
         rungswissenschaften
                                                                                rungswissenschaften
                                                                                                             18 %

         Rechts-/Wirtschafts-/                                                  Rechts-/Wirtschafts-/
         Sozialwissenschaften
                                               27%                              Sozialwissenschaften
                                                                                                           15 %

1
 MINT = Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften, Technik
Darstellung der Studienabbruchquoten nach Fächergruppen, Bezugsgruppe: Absolventen 2012
QUELLE: DZHW-Studienabbruchstudie, 2014

Auch die Gründe, die zum Studienabbruch führen, haben sich seit Jahren kaum verändert: Ein Drittel der
Abbrüche ist leistungs- und prüfungsbedingt, ein weiteres Drittel beruht auf geringer Studienmotivation
(z. B. infolge falscher Vorstellungen von den Studieninhalten) und auf dem Wunsch nach beruflicher Neu­
orientierung. Daneben werden finanzielle Probleme und ungünstige Studienbedingungen häufig als
Beweggründe angeführt.

Gelänge es, allein die Abbruchquote der Bachelorstudierenden bis zum Jahr 2030 um 10 bis 20 % zu
reduzieren, ließen sich 80.000 bis 160.000 zusätzliche hochqualifizierte Fachkräfte gewinnen.

Fehlentscheidungen im Vorfeld des Studiums können hauptsächlich durch bessere Informationsangebote
vor Ort und bessere Vernetzung von Schulen, Hochschulen und Beratungsstellen vermieden werden. Dabei
gilt es auch, die Möglichkeiten digitaler Informationskanäle besser zu nutzen. Vorhandene Informations­
medien für Studieninteressierte (etwa das „abi-Portal“ der Bundesagentur für Arbeit unter www.abi.de)
sollten durch Angebote der Hochschulen ergänzt werden. Positive Beispiele für Informationsportale, die
sich an die Zielgruppe der Studieninteressierten richten, sind der „Stud i finder“ aus Nordrhein-Westfalen8
(www.studifinder.de) und das „MINTSTUDIUM.HAMBURG“, das im September 2015 an den Start ging.

8
 Gemeinsame Initiative der Hochschulen des Landes NRW mit dem Ministerium für Innovation, Wissenschaft und Forschung des
Landes Nordrhein-Westfalen

                                                                                                                           21
SCHWERPUNKTHEFT FACHKRÄFTE FÜR DEUTSCHLAND

PORTAL MINTSTUDIUM.HAMBURG

Mit dem Internetportal MINTSTUDIUM.HAMBURG hat die Initiative Naturwissenschaft und Technik (NAT)
gemeinsam mit den Hamburger Hochschulen9 eine hochschulübergreifende Plattform entwickelt, die
MINT-Studiengänge vorstellt und für ein Studium in der Hansestadt wirbt. Unterstützt wird MINTSTU­
DIUM.HAMBURG durch die Behörde für Wissenschaft, Forschung und Gleichstellung. Neben Informa­
tionen zu Studiengängen und Forschungsbereichen an den beteiligten Hochschulen stellt das Portal auch
Studierende und Wissenschaftler vor und gibt Einblick in berufliche Perspektiven. Unter anderem befindet
sich ein Onlinetest zum Überprüfen des eigenen Könnens im Angebot. Für diejenigen, die sich in einem
Bereich vor Aufnahme des Studiums inhaltlich vorbereiten möchten, werden passende Onlinemodule zum
Weiterarbeiten und Vertiefen zur Verfügung gestellt. Weitere Informationen finden sich unter
mintstudium.hamburg/

Die Bundesagentur für Arbeit bietet zudem flächendeckend Berufsorientierung und -beratung für Abiturien­
tinnen und Abiturienten in den Schulen an. Studierende, die zweifeln oder abbrechen, werden über Alter­
nativen, etwa betriebliche oder schulische Ausbildung und duale Studiengänge, beraten – zum Teil direkt
an der Hochschule.

Sollte ein Studienabbruch sinnvoll oder unvermeidlich sein, kommt es darauf an, möglichst nahtlos Alter­
nativen mit dem Ziel eines erfolgreichen Berufseinstiegs zu entwickeln. Angesichts der Tatsache, dass es
bereits heute in zahlreichen Berufen Engpässe gibt, die sich künftig noch verstärken dürften, könnte ins­
besondere der Übergang von Studienabbrechern in das duale Ausbildungssystem einen Beitrag zur
Fachkräftesicherung leisten. In vielen Regionen haben die Kammern Modelle initiiert, die spezielle
Qualifizierungsangebote für Studienabbrecher in dualen Ausbildungsberufen umfassen. Teilweise kann
die Ausbildungsdauer verkürzt werden. Derartige Initiativen sollten weiter ausgebaut werden.

Zudem bedarf es des Engagements von Ländern und Hochschulen, um bessere Voraussetzungen für
eine höhere Studienerfolgsquote zu schaffen. Im Rahmen des Hochschulpakts sollen 2016 finanzielle
Anreize für Hochschulen zur Steigerung der Erfolgsquote ihrer Studierenden eingeführt werden. Dies ist
ein Schritt in die richtige Richtung. Weitere Anstrengungen sind erforderlich, insbesondere um den Hoch­
schulzugang für junge Menschen aus einkommensschwachen Bevölkerungsgruppen stärker zu fördern.
Die finanzielle Ausstattung von Studierenden muss – unabhängig von den elterlichen Einkommensver­
hältnissen – auskömmlich sein, damit ein zielstrebiger und erfolgsorientierter Studienverlauf gewährleis­
tet wird. Auch Unternehmen könnten durch Stipendien während Praktikumsphasen den Fachkräftenach­
wuchs stärker fördern und frühzeitig für sich gewinnen.

4. ERWERBSBETEILIGUNG VON MENSCHEN ÜBER 55 JAHREN ERHÖHEN

Die geburtenstarken Jahrgänge in Deutschland befinden sich im Übergang in die Altersgruppe der
55- bis 64-Jährigen. Zudem ist das effektive Renteneintrittsalter im Verlauf der vergangenen zehn Jahre
gestiegen. Dies geschah vor allem als Folge der schrittweisen Abschaffung der Frühverrentung und der
Sonderregelungen beim Arbeitslosengeld für ältere Arbeitskräfte und der stufenweisen Anhebung des
Renteneintritts­alters auf 67 Jahre. Knapp zwei Drittel der 55- bis 64-Jährigen gingen im Jahr 2014 einer
Erwerbstätigkeit nach. 2009 waren es nur 56 %.

Die Erwerbstätigenquote der 55- bis 64-Jährigen in Deutschland liegt inzwischen über dem OECD-Durch­
schnitt. In der Europäischen Union erreicht Deutschland Platz 2 hinter Schweden und hat das nationale
EU-Ziel10, bis zum Jahr 2020 eine Erwerbsbeteiligung von 60 % für Menschen im Alter von 55 bis unter
65 Jahren zu realisieren, vorzeitig erreicht.

9
 Universität Hamburg, Technische Universität Hamburg-Harburg, Hochschule für Angewandte Wissenschaften Hamburg,
HafenCity Universität Hamburg und Helmut-Schmidt-Universität.
10
   Siehe auch BMAS (2011): „Fachkräftesicherung – Ziele und Maßnahmen der Bundesregierung“, S. 38.

22
ZWISCHENBILANZ UND FORTSCHREIBUNG

Grafik 9
BEI DER ERWERBSBETEILIGUNG DER 55- BIS 64-JÄHRIGEN LIEGT DEUTSCHLAND IM
EU-28-VERGLEICH AN ZWEITER STELLE

                Schweden                                                                         74,0

              Deutschland                                                                 65,6

                    Estland                                                              64,0

                Dänemark                                                                 63,2

           Großbritannien                                                              61,0

              Niederlande                                                              59,9

                  Finnland                                                         59,1

                   Lettland                                                       56,4

                    Litauen                                                       56,2

               Tschechien                                                       54,0

                         Irland                                             53,0

                 Bulgarien                                                 50,0

                   Portugal                                              47,8

                Frankreich                                           47,0

                    Zypern                                           46,9

                         Italien                                     46,2

                Österreich                                          45,1

                  Slowakei                                          44,8

                   Spanien                                          44,3

                Rumänien                                          43,1

                    Belgien                                       42,7
               Luxemburg                                          42,5
                         Polen                                    42,5
                    Ungarn                                        41,7
                         Malta                              37,7
                   Kroatien                                36,2                                         Top 5

                Slowenien                                  35,4                                         Top 6 –10
                                                                                                        ø EU 28
             Griechenland                                34,0
                                                                    ø 51,8

Erwerbstätigenquote der 55- bis 64-Jährigen im europäischen Vergleich im Jahr 2014 in %

QUELLE: Eurostat, 2014

                                                                                                                    23
SCHWERPUNKTHEFT FACHKRÄFTE FÜR DEUTSCHLAND

Hinter diesem erfreulichen Anstieg innerhalb von fünf Jahren stehen 1,2 Millionen zusätzliche arbeitende
Menschen. 6,7 Millionen Personen im Alter von 55 bis unter 65 Jahren sind erwerbstätig – etwa ein Drittel
von ihnen allerdings in Teilzeit.

Wenn es gelänge, diesen eingeleiteten Trend fortzusetzen und ab 2020 die Erwerbstätigenquote der 55-
bis 64-Jährigen in Deutschland auf das schwedische Niveau zu steigern, könnten bis 2030 etwa 490.000
weitere Fachkräfte gewonnen werden. Würde der Abstand halbiert, wären es immer noch 245.000 zu­
sätzliche Fachkräfte.

Ein weiteres Potenzial liegt in einer Erhöhung der Erwerbsbeteiligung der 65- bis 70-Jährigen. Eine Stei­
gerung um 10 bis 20 % entspräche gut 40.000 bis 80.000 zusätzlichen Arbeitskräften.

Um die Erwerbsbeteiligung Älterer weiter zu steigern, sind Reformen und Maßnahmen notwendig, mit
denen das vorzeitige Ausscheiden älterer Fachkräfte aus den Unternehmen verringert und der Zugang
für Ältere in den Arbeitsmarkt erleichtert wird.

Von den Unternehmen ist hierfür eine alterssensible Personalpolitik vonnöten. Ein Hebel ist dabei das
Schaffen altersgerechter Arbeitsbedingungen durch betriebliches Gesundheitsmanagement, adäquate
Arbeitsplatzgestaltung sowie Flexibilität von Arbeitszeit und -ort. Daneben ist ein lebensphasenorientiertes
Personalmatching wichtig.

Damit dies gelingt, sollten Kammern, Innungen und Arbeitgeberverbände insbesondere kleinere und mitt­
lere Unternehmen dazu ermutigen, alterssensible Personalpolitik zu betreiben und ihre Qualifizierungs­
anstrengungen für ältere Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer zu intensivieren. Flankieren könnten sie
dies durch spezifisch auf ältere Menschen zugeschnittene Lernmethoden. Die Bundesagentur für Arbeit
wirbt mit ihrer Marketingkampagne „Das bringt mich weiter“ gezielt für die Weiterbildung und Qualifizie­
rung älterer Menschen (www.dasbringtmichweiter.de).

Auch die Politik steht in der Pflicht, die Rahmenbedingungen für die Erwerbstätigkeit älterer Menschen zu
verbessern. Das frühzeitige Ausscheiden von Älteren aus dem Berufsleben wird wesentlich durch Frühver­
rentungsregelungen befördert. Um eine höhere Erwerbstätigkeit im Alter zu unterstützen, sollten Anreize
geschaffen werden, den Eintritt in den Ruhestand freiwillig hinauszuschieben. Erwerbstätigkeit sollte für
ältere Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer finanziell attraktiv sein. Darüber hinaus sind Anreize für
Unternehmen denkbar, die sich als besonders altersgerechte Arbeitgeber profilieren wollen. Zertifizie­
rungsmöglichkeiten für Betriebe (analog familienfreundlicher Betriebe, siehe Handlungsfeld 5) können
dabei helfen.

Um den (Wieder-)Einstieg Älterer in die Erwerbstätigkeit zu erleichtern, müssen zusätzliche Beschäfti­
gungsmöglichkeiten erschlossen werden. Erreichen lässt sich dies, wenn Unternehmen von den Vorzü­
gen älterer Beschäftigter – wie Berufserfahrung, soziale Kompetenz und langjährig gepflegte Netzwerke –
überzeugt werden können. Dabei sind die Agenturen für Arbeit und die Jobcenter unterstützend tätig – durch
ihr Beratungsangebot und bei Bedarf auch durch die finanzielle Förderung einer Weiterbildung. Zudem
kann mit Hilfe von Eingliederungszuschüssen speziell für ältere Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer
deren vermutete oder tatsächliche geringere Produktivität in der Einarbeitungsphase ausgeglichen
werden. Verbände und Kammern könnten diesen erwünschten Wandel noch stärker durch Informations­
kampagnen begleiten.

24
ZWISCHENBILANZ UND FORTSCHREIBUNG

WeGebAU

Die Bundesagentur für Arbeit unterstützt die Weiterbildung von Beschäftigten mit dem Programm „Weiter­
bildung Geringqualifizierter und beschäftigter älterer Arbeitnehmer in Unternehmen“ (WeGebAU). Geför­
dert werden Weiterbildungen, die im Rahmen des bestehenden Arbeitsverhältnisses unter Fortzahlung
des Arbeitsentgelts durchgeführt werden, wenn sie für den allgemeinen Arbeitsmarkt verwertbare Kennt­
nisse vermitteln und für die Weiterbildungsförderung zugelassen sind. Ausgenommen ist die Förderung
von Qualifizierungen, zu denen der Arbeitgeber gesetzlich verpflichtet ist.

Das Programm WeGebAU setzt sich aus drei Fördersäulen zusammen, die auf unterschiedliche Arbeit­
nehmergruppen zielen:

• Säule 1: Qualifizierung von Beschäftigten in kleineren und mittleren Unternehmen (KMU) mit weniger
  als 250 Arbeitnehmern. Hier werden Lehrgangskosten gefördert, wenn die Weiterbildung außerhalb
  des Betriebs durchgeführt wird.

• Säule 2: Abschlussbezogene Weiterbildung geringqualifizierter Beschäftigter: Gefördert werden Lehr­
  gangskosten für Weiterbildungen Geringqualifizierter, die direkt zu einem anerkannten Berufsabschluss
  führen (Umschulung oder Vorbereitungskurse auf Externenprüfung); daneben werden auch Sozialver­
  sicherungsbeiträge gefördert.

• Säule 3: Abschlussorientierte berufsqualifizierende Ausbildung: Gefördert werden Teilqualifikationen
  für geringqualifizierte Beschäftigte, wenn sie mittelbar zu einem anerkannten Berufsabschluss führen.
  Neben einer Förderung der Lehrgangskosten und Zuschüssen zu den Sozialversicherungsbeiträgen
  können Betriebe auch einen Zuschuss zum Arbeitsentgelt erhalten.

Die Agenturen für Arbeit unterstützen Betriebe bei der Feststellung des unternehmensspezifischen Weiter­
bildungsbedarfs und klären die grundsätzlichen Fördervoraussetzungen. Weitere Informationen sind zu
finden unter www.arbeitsagentur.de > Unternehmen > Finanzielle Hilfen > Weiterbildung.

5. ERWERBSBETEILIGUNG UND ARBEITSZEITVOLUMEN VON FRAUEN ERHÖHEN

Die Erwerbstätigenquote von Frauen in Deutschland steigt seit Jahren kontinuierlich. Im Jahr 2014 waren sie­
ben von zehn Frauen erwerbstätig – mit 17,8 Millionen waren dies etwa 400.000 Frauen mehr als fünf Jahre
zuvor. Damit liegt Deutschland inzwischen über dem OECD-Durchschnitt und im EU-Vergleich auf Platz drei.

Wenn es gelänge, in Deutschland bis zum Jahr 2030 das Niveau des EU-Spitzenreiters Schweden zu
erreichen (73,1 %), könnten 510.000 Frauen zusätzlich für eine Erwerbstätigkeit gewonnen werden. Bei
einer Halbierung des Abstands zum schwedischen Niveau würden immerhin 255.000 weibliche Arbeits­
kräfte hinzukommen.

Um das Fachkräftepotenzial von Frauen noch stärker zu heben, sollten die Beschäftigungsverhältnisse
möglichst qualifikationsadäquat sein und eine nachhaltige Existenzsicherung erlauben. Der bisher erzielte
Anstieg der Erwerbsbeteiligung von Frauen ist in erster Linie auf eine Zunahme der Teilzeitarbeit – ein­
schließlich geringfügiger Beschäftigung – zurückzuführen. Nur etwa die Hälfte der berufstätigen Frauen
arbeitet Vollzeit. Die Wochenarbeitszeit teilzeitbeschäftigter Frauen ist seit 2009 um eine Stunde gestie­
gen, jedoch liegt Deutschland immer noch eine Stunde unterhalb des EU-Durchschnitts. 3,3 Millionen
Frauen sind zudem ausschließlich geringfügig beschäftigt.

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SCHWERPUNKTHEFT FACHKRÄFTE FÜR DEUTSCHLAND

Würde Deutschland die durchschnittliche Wochenarbeitszeit von Frauen der Top-5-EU-Ländergruppe
erreichen, stünden bis 2030 zusätzlich 890.000 weibliche Fachkräfte (in Vollzeitäquivalenten) zur Verfügung.
Eine Halbierung des Abstands führte bis zum Jahr 2030 immerhin zu 445.000 zusätzlichen weiblichen
Fachkräften.

Während sich bei Männern und Frauen ohne Familie die Erwerbsmuster nur wenig unterscheiden, führt
die Familiengründung zu großen Unterschieden bei der Erwerbsbeteiligung und vor allem bei der Arbeits­
zeit. Frauen übernehmen nach wie vor den größeren Teil der Kinderbetreuung und der übrigen Familien­
arbeit. Daneben steigt mit der Anzahl der Pflegefälle auch die Zahl der Erwerbstätigen, die gleichzeitig
Familienangehörige pflegen. Auch Pflegeaufgaben werden in der Mehrzahl von Frauen übernommen.
Die Folgen sind der Verlust von weiblichen Fachkräften für den Arbeitsmarkt, deutliche Lohneinbußen
beim Wiedereinstieg sowie negative Auswirkungen auf die Karriereentwicklung und die Rentenansprüche
der betroffenen Frauen.

Dabei würden viele Frauen ihre Erwerbstätigkeit gern wieder aufnehmen oder ausweiten, wenn sie diese
besser an ihre aktuelle Lebenssituation mit den jeweiligen Familien- und Pflegephasen anpassen könnten.
Eine Rückkehr in den Arbeitsmarkt oder die Ausdehnung der Arbeitszeit scheitert jedoch häufig an feh­
lender Unterstützung in der Wiedereinstiegsphase, an mangelnden Angeboten zur Kinderbetreuung und
an Arbeitsplätzen, die nicht familien- und/oder pflegefreundlich sind. Besonders hart trifft dies Alleinerzie­
hende: Viele der 1,4 Millionen alleinerziehenden Mütter würden gern ihre Arbeitszeit ausweiten, aber nur
40 % von ihnen arbeiten in Vollzeit.

Frauen, die den Wiedereinstieg in den Beruf schaffen oder ihre Arbeitszeit ausdehnen wollen, stellen
deshalb eines der quantitativ und qualitativ bedeutendsten Potenziale zur Schließung der Fachkräftelücke
in Deutschland dar. Sie werden von den Agenturen für Arbeit und den Jobcentern beraten und bei Bedarf
durch Qualifizierungsangebote unterstützt. In zunehmendem Maße stehen dafür Online-Weiterbildungs­
module und Maßnahmen zur Verfügung, die orts- und zeitunabhängig genutzt werden können (z. B.
Blended Learning im Rahmen des Programms Perspektive-Wiedereinstieg – PWE-online).

Viele Unternehmen bemühen sich bereits, familien- und pflegekompatible Arbeitsbedingungen zu schaf­
fen, beispielsweise durch Angebote zur flexiblen Arbeitszeitgestaltung. Dennoch befürchtet ein Drittel der
Männer berufliche Nachteile, wenn sie solche Angebote in Anspruch nehmen. Für Frauen spielt bei der Ent­
scheidung für oder gegen die (Wieder-)Aufnahme bzw. Ausweitung der Erwerbstätigkeit die Bereitschaft
ihrer Männer, sie bei Familienarbeit und Pflege zu entlasten, eine wesentliche Rolle. Unternehmen können
daher nicht allein durch familiengerechte Arbeitsbedingungen einen Beitrag leisten. Sie müssen zudem
männliche Beschäftigte darin bestärken, dass sie ihre Vorstellungen über die Vereinbarkeit von Familie
und Beruf verwirklichen können, ohne berufliche Nachteile befürchten oder hinnehmen zu müssen.
Damit einher geht das Erfordernis, geeignete Führungsmodelle für das Arbeiten in Teilzeit oder über
Distanz zu entwickeln und umzusetzen. Die Spitzenverbände der deutschen Wirtschaft11 empfehlen
Betrieben und Hochschulen, sich durch das „audit beruf und familie“ bzw. „audit familiengerechte hoch­
schule“ als familienfreundliches Unternehmen zertifizieren zu lassen (www.beruf-und-familie.de).

Adäquate Angebote zur Kinderbetreuung gehören zu den Faktoren, welche die Erwerbstätigkeit von
Frauen am stärksten beeinflussen. Deutschland hat mit dem Rechtsanspruch auf einen Kinderbetreuungs­
platz für unter Dreijährige einen Schritt in die richtige Richtung getan. Aber es fehlt noch immer an flächen­
deckenden Kinderbetreuungsmöglichkeiten am Nachmittag und in Randzeiten. Hier stehen Bund, Länder
und Kommunen in der Verantwortung, durch finanzielles Engagement und fundierte Konzepte verläss­
liche, qualitativ hochwertige und zugleich bezahlbare Lösungen zu schaffen. Aber auch Unternehmen
können ihren Beitrag ausweiten, indem sie die Organisation und Finanzierung unterstützen oder eigene
Angebote zur Kinderbetreuung bereitstellen.

 Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (BDA), Bundesverband der Deutschen Industrie (BDI), Deutscher Industrie-
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und Handelskammertag (DIHK) und Zentralverband des Deutschen Handwerks (ZDH).

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