Nachbarin - Armut ist weiblich - Caritas Bern

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Nachbarin - Armut ist weiblich - Caritas Bern
Bern             Nr. 2 / 2021

Nachbarin

Armut ist
weiblich
Seit 50 Jahren haben Frauen in
der Schweiz politische Rechte.
Gleichstellung ist jedoch noch
nicht erreicht. Eine Folge:
Frauen sind häufiger von Armut
betroffen als Männer. Woran
liegt das? Wie lässt sich das
ändern?
Nachbarin - Armut ist weiblich - Caritas Bern
Inhalt

                                                                              Inhalt
                                                                              3     Editorial

                                                                                    Kurz & bündig

                                                                              4     News aus dem Caritas-Netz

                                                          Bild: Zoe Tempest
                                                                                    Schwerpunkt

Die alleinerziehende Mutter Anika Vonow (Name                                 6	«Ich fühlte mich
geändert) ist auf Unterstützung angewiesen. Sie ist                              mutterseelenallein»
damit nicht allein: Frauen sind in der Schweiz häufiger
von Armut betroffen als Männer.
                                                                                    Schwerpunkt

Schwerpunkt                                                                   10	Armut ist weiblich

Armut ist weiblich                                                                  Schwerpunkt

                                                                              12	Interview:
In diesem Jahr feiern wir in der Schweiz 50 Jah-
                                                                                  Erwerbsbiografien ­entscheiden
re Stimm- und Wahlrecht für Frauen. Seither
wurde in Sachen Gleichstellung von Mann                                             Ich will helfen
und Frau viel erreicht – und doch nicht ge-
nug: Frauen sind in der Schweiz noch immer
                                                                              13	«Ich schlage eine Brücke zwischen
häufiger von Armut betroffen und tragen ein                                       zwei Welten»
höheres Armutsrisiko als Männer. An diesen
Umstand wollen wir mit der einmalig violetten                                       Caritas Bern
Farbgebung und dem abgewandelten Titel des
aktuellen «Nachbarn» erinnern. Wir zeigen auf,                                14–17	Damit Integration bestmöglich
dass wirkliche Gleichstellung der Geschlech-                                         ­gelingt
ter auch für die Armutsbekämpfung in der
Schweiz entscheidend ist.                                                     18	Das Fragenstellen steht im
Lesen Sie im Schwerpunkt die Geschichte von                                       ­Mittelpunkt seines Jobs
Anika Vonow (Name geändert). Schwanger-
schaft, gesundheitliche Probleme, Kindsvater
weg, Lehrabbruch: Für die alleinerziehende                                          Kolumne
Mutter von zwei Mädchen geriet der Einstieg
                                                                              19	Das Schweigen der Frauen
ins Berufsleben äusserst schwierig – mit weit-
reichenden Folgen.
Weshalb ist Anika kein Einzelfall? Was sind
die Gründe dafür, dass Frauen in der Schweiz
stärker von Armut betroffen sind als Männer?
Welche Massnahmen braucht es gegen diesen
Missstand? Die neue Ausgabe des «Nachbarn»
liefert Antworten.

Wir wünschen Ihnen eine spannende Lektüre!

ab Seite 6

2                                                                                                           Nachbarn 2 / 21
Nachbarin - Armut ist weiblich - Caritas Bern
Editorial

Liebe Leserin,
lieber Leser
50 Jahre Frauenstimmrecht – Grund genug, bewusst Frauen in
den Fokus dieser Ausgabe zu stellen. Zumal Armut – auch in
der Schweiz – immer noch primär weiblich ist.

Für diesmal ist deshalb die Titelseite weiblich und nicht rot,
sondern violett. Aufgrund der im letzten Jahr durchgeführten
Leserschaftsumfrage haben wir zudem bei einzelnen Rubriken
Änderungen vorgenommen; mehr dazu erfahren Sie auf Sei-
te 4. Doch nicht nur das: Auch die Versandverpackung des Ma-
gazins ist anders. Nach umfassenden Abklärungen haben wir

                                                                                                           Bild: zvg
uns für die ökologisch und ökonomisch verträglichste Variante
entschieden.
                                                                 Matthias Jungo
                                                                 Geschäftsleiter Caritas Bern
Thematisch bleibt das Magazin, das logischerweise diesmal
«Nachbarin» heisst, natürlich ebenso vielfältig und spannend,
                                                                 «Nachbarn», das Magazin der
wie es auch die Aufgaben von Caritas sind. Lesen Sie in dieser   regionalen Caritas-Organisationen,
Ausgabe, wie Frauen sich gegenseitig stärken und wie Caritas     erscheint zweimal jährlich: im April
                                                                 und im Oktober.
mit ihren Angeboten Alleinerziehende spürbar entlastet, dies
am Beispiel einer jungen Mutter. Im Regionalteil erfahren Sie    Gesamtauflage:
mehr über den Dolmetschdienst Comprendi. Wer sind die Per-       37 300 Ex.

sonen, die im Hintergrund diese Dienstleistung von Caritas       Auflage BE:
Bern möglich machen?                                             3300 Ex.

                                                                 Redaktion:
Mit dem Dolmetschdienst und vielen weiteren Angeboten en-        Hana Kubecek (regional)
gagiert sich Caritas Bern fortwährend konstant dafür, sozial     Roland Schuler (national)
benachteiligten Menschen ein würdevolles Leben zu ermögli-
                                                                 Gestaltung, Produktion und Druck:
chen. Mit Ihrer Unterstützung helfen Sie uns, dieses Engage-     Stämpfli AG, Bern
ment kontinuierlich weiterzuführen. Vielen herzlichen Dank!
                                                                 Papier: Profibulk, FSC-zertifiziert
                                                                 Versandfolie: «I’m eco»
                                                                 (aus recycelten Altfolien)

                                                                 Caritas Bern
Matthias Jungo                                                   Zähringerstrasse 25
                                                                 3012 Bern
                                                                 Tel. 031 378 60 00
                                                                 www.caritas-bern.ch
                                                                 PC 30-24794-2

Nachbarn 2 / 21                                                                                        3
Nachbarin - Armut ist weiblich - Caritas Bern
Kurz & bündig

Leserschaftsumfrage

Wie das «Nachbarn» bei Ihnen ankommt
Im vergangenen Jahr baten wir Sie um Ihre Meinung zum «Nachbarn». Mit dem Markt-
und Sozialforschungsinstitut gfs-zürich befragten wir die «Nachbarn»-Leserschaft
online und mit einem Papierfragebogen. Gerne präsentieren wir Ihnen die wichtigsten
Resultate und erste Änderungen.
Eine starke Mehrheit der Befragten                             oder gekaufte Titel von ca. 30 Mi-                           nalen Inhalte (ab S. 14). Dies ge-
(89%) bewertet das «Nachbarn» als                              nuten aus. Insgesamt kommt das                               schieht auf Kosten der Rubrik
«gut bis sehr gut». Unser Maga-                                «Nachbarn» bei der Leserschaft sehr                          «Persönlich» mit der Passanten-
zin erhält von der Leserschaft die                             gut an. Darüber freuen wir uns sehr!                         umfrage und der Kinderzeichnung.
Note 4,3 auf einer Skala von 5. Ge-                                                                                         Zudem haben wir für die Versand-
mäss gfs-zürich ist das ein sehr gu-                           Einige Änderungen                                            folie die nachhaltige «I’m eco»-
ter Wert. 78% der Leserinnen und                               Nicht alle Rubriken interessieren je-                        Variante gewählt, die einen hohen
Leser lesen oder blättern zudem jede                           doch gleich stark. Aufgrund dieser                           Anteil an recycelten Altfolien ent-
Ausgabe durch – auch das ein sehr                              Rückmeldungen nehmen wir bereits                             hält. Künftig streben wir auch
guter Wert. Die durchschnittliche                              in dieser Nummer einige Änderun-                             eine bessere Verknüpfung des ge-
Lesedauer beträgt rund 40 Minuten.                             gen vor: Wir stärken das Schwer-                             druckten «Nachbarn» mit online
Zum Vergleich: Das Bundesamt für                               punktthema mit der Titelgeschichte                           publizierten Inhalten an und mit
Statistik wies im Jahr 2018 einen                              (S. 6–9) und dem Expert/innen-                               gendergerechter Sprache werden
Durchschnittswert für abonnierte                               Interview (S. 12) sowie die regio-                           wir uns weiter beschäftigen.

Welche Rubriken des «Nachbarn» werden wie häufig gelesen?
100%

90%
                 88%               87%
80%                                                     82%
                                                                          78%               76%
 70%

60%                                                                                                              64%
                                                                                                                                  61%
                                                                                                                                                    58%              58%
50%

40%

30%

 20%

    10%

    0%
          Kurznachrichten:    Titelgeschichte       Fachlicher     Artikel zu Caritas- Kommentar            Gastkolumne      Ich will helfen:     Passanten-    Kinderzeichnung
           Kurz & bündig                        Hintergrundartikel    Angeboten       zur Sozialpolitik                          Porträt           umfrage

Welche Themen interessieren Sie am meisten?                                                   Das «Nachbarn»…
60%                                                                                                       … informiert       … ist   … berichtet über     … ist
                                                                                                           gut über      vertrauens-    relevante      qualitativ    … weckt
50%           53%            53%                                                                            Caritas        würdig        Themen       hochstehend   Emotionen
                                                                                              100%
40%                                                                                            90%
                                            39%                                                80%           89%           88%
                                                              37%                                                                           84%
30%                                                                         35%                                                                           79%
                                                                                               70%
                                                                                                                                                                        71%
 20%                                                                                           60%
                                                                                               50%
    10%                                                                                        40%
                                                                                               30%
    0%
          Sozialpolitik   Persönliche    Blick hinter     Caritas-    Familienarmut            20%
                          Schicksale     die Caritas-    Angebote                               10%
                                           Kulissen                                              0%

4                                                                                                                                                               Nachbarn 2 / 21
Nachbarin - Armut ist weiblich - Caritas Bern
Kurz & bündig

Lernstube Zürich Altstetten

                                                                                    NEWS
Lernen in
ungezwungener                                                                       youngCaritas Aargau gestartet

Atmosphäre                                                                          «youngCaritas Aargau» ist der neue Jugendbereich von
                                                                                    Caritas Aargau für Jugendliche und junge Erwachsene
                                                                                    von 14 bis 30 Jahren. Im Juni ist bei «youngCaritas
                                                                                    Aargau» das erste Team von zehn jungen Menschen
                                                                                    gestartet, die gemeinsam ein eigenes Freiwilligen-
                                                                                    projekt aufbauen werden. Das neue Projekt der jungen
                                                                                    Leute soll im Herbst 2021 Form annehmen.
                                                                                    www.caritas-aargau.ch/youngcaritas
                                                       Bild: Egelmair Photography

                                                                                    Neue Digi-Treffs bei Caritas Solothurn
                                                                                    Wer nicht mit Laptop und Smartphone umgehen kann,
                                                                                    verliert heute schnell den Anschluss in vielen Lebens-
                                                                                    bereichen. Ab Anfang 2022 startet deshalb bei Caritas
                                                                                    Solothurn ein neuer Digi-Treff. Ratsuchende können
Erwachsene, die Lücken in den schulischen                                           mit ihren Geräten den Digi-Treff besuchen und ihre
Grundkompetenzen aufweisen, geraten                                                 Fragen stellen. Freiwillige sind vor Ort und beantwor-
                                                                                    ten die Anliegen individuell.
im Alltag häufig in schwierige Situationen.
                                                                                    www.caritas-solothurn.ch/news
In Zürich bietet ihnen die Lernstube
Zürich Altstetten unkompliziert Zugang
zu Lern- und Unterstützungsangeboten.
                                                                                    Caritas Luzern: 20 Jahre Sterbebegleitungskurse
Laut Studien haben rund 15 Prozent der erwachsenen                                  Der Kurs «Begleitung in der letzten Lebensphase» von
Bevölkerung in der Schweiz Schwierigkeiten mit Le-                                  Caritas Luzern feiert sein 20-Jahre-Jubiläum. 2001
sen, Schreiben und Rechnen, obwohl die Betroffenen                                  fand der erste Kurs statt, der bereits grossen An-
die gesamte Volksschule absolviert haben. Das Feh-                                  klang fand. Seither haben rund 1100 Interessierte an
len dieser schulischen Grundkompetenzen erschwert                                   den Kursen teilgenommen. Die Teilnehmenden lernen
es ihnen oft, einen Computer oder ein Handy zu be-                                  durch eine intensive und persönliche Reflexion mit
dienen und schränkt sie in ihrem privaten und beruf-                                dem Thema Tod, Sterbende und deren Angehörige
lichen Alltag stark ein.                                                            zu begleiten.
                                                                                    www.caritas-luzern.ch/sterbebegleitung
In Zürich erhalten diese Menschen mit dem Ange-
bot der Lernstube dank kostenlosen und einfach
zugänglichen Lern- und Unterstützungsangeboten
eine Perspektive. Mitte August ist die Lernstube                                    Caritas Thurgau: Notherberge sucht Unterstützung
Zürich Altstetten, die Caritas Zürich im Auftrag des                                Die Kirchliche Notherberge Thurgau bietet seit Früh-
Mittelschul- und Berufsbildungsamtes Kanton Zü-                                     ling 2020 eine Unterkunft für Menschen in akuten
rich betreibt, am neuen Standort im Stellwerk 500 in                                Notsituationen. Sie ist seit ihrer Eröffnung stark aus-
Zürich Altstetten eingezogen. Nebst offenen Kursen,                                 gelastet. Im November 2020 wurde als Trägerschaft
um besser Lesen, Schreiben, Rechnen oder die Bedie-                                 ein Verein gegründet, in dem Caritas Thurgau im Vor-
nung von Computer und Handy zu lernen, bietet die                                   stand vertreten ist. Die Notherberge sucht weitere
Lernstube einen Schreibdienst zur Unterstützung                                     Mitglieder und Spender/innen, um den Betrieb sicher-
bei administrativen Themen sowie eine Bewerbungs-                                   stellen zu können.
werkstatt. Ergänzt werden die Angebote mit einer                                    www.kirchliche-notherberge.ch
kostenlosen Kinderbetreuung.
www.caritas-zuerich.ch/lernstube

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Nachbarin - Armut ist weiblich - Caritas Bern
«Warum hast du nicht abgetrieben?» Diese Frage
will Anika Vonow nie mehr hören, auch wenn sie
heute auf Unterstützung angewiesen ist. Noch
während der Lehre zur Systemgastronomin wurde
die heute 24-Jährige schwanger. Sie musste die
Ausbildung abbrechen – aber sie gibt nicht auf.
Nachbarin - Armut ist weiblich - Caritas Bern
Schwerpunkt

«Ich fühlte mich
mutterseelenallein»
Nichts wünscht sich die 24-jährige, alleinerziehende Mutter von zwei Mädchen mehr,
als endlich auf eigenen Füssen zu stehen, auszubrechen aus der Armut und Einsamkeit.
Und nie mehr die Frage zu hören: «Warum hast du nicht abgetrieben?» Viele Frauen
erleben Ähnliches in der Schweiz.
Text: Lena Tobler Bilder: Zoe Tempest

V
          on Armut betroffen? Ich? Wahrscheinlich        an den Glücksmoment, als sie die kleine Ava* in den
          hätte Anika Vonow* gelacht, wenn ihr dies      Armen hielt. «Ohne Unterstützung hätte ich es nicht
          jemand an ihrem 18. Geburtstag prophezeit      geschafft», ist Anika überzeugt.
          hätte. Warum auch? Frisch verliebt blickte
die angehende Systemgastronomiefachfrau zuver-
sichtlich in die Zukunft. Bis ein paar Monate später
ein Schwangerschaftstest ihre Befürchtungen bestä-
                                                            «Wie soll ich als alleinstehende
tigte: Sie erwartete ein Kind. Was nun? Ihre Eltern,          Mutter in Ausbildung zwei
geschockt von dem, was ihrer Ansicht nach nicht sein
durfte, wandten sich von ihrer Tochter ab. Und der Va-
                                                                  Kinder ernähren?»
ter des Kindes? Traurig winkt Anika ab. Zu schmerz-
haft ist die Erinnerung an damals, als er einfach aus
ihrem Leben verschwand.                                  Trotz Verhütung wieder schwanger
                                                         Anika fasste neuen Mut. Nun wollte sie ihren Lehr-
Für Anika war klar: Sie würde das Kind zur Welt brin-    abschluss nachholen. Nach unzähligen Bewerbungen
gen. Doch die anspruchsvolle Ausbildung, Schwan-         fand sie nach rund einem Jahr einen Lehrbetrieb, in
gerschaftsbeschwerden und die wachsende Sorge um         dem sie wieder ins zweite Lehrjahr einsteigen konnte.
die Zukunft waren zu viel. «Auch meine Freundinnen       Als sie sich kurz darauf erneut verliebte, schien ihre
verabschiedeten sich sang- und klanglos von mir. Ich     Welt in Ordnung. Doch die Geschichte wiederholte sich:
fühlte mich mutterseelenallein und war plötzlich         Trotz Verhütung wurde Anika bald darauf schwanger –
völlig isoliert.» Das war für die werdende Mutter das    und wieder liess sie der Kindsvater im Stich.
Schlimmste. Die junge Frau wurde krank, verlor ihre
Lehrstelle und wusste nicht mehr ein und aus. In ih-     Alle rieten ihr abzutreiben. Und auch sie fragte sich:
rer Not wandte sie sich an die Schweizerische Hilfe      «Wie soll ich als alleinstehende Mutter in Ausbildung
für Mutter und Kind (SHMK), wo sie ein offenes Ohr       zwei Kinder ernähren?» Ihre Mutter stand zwar wieder
für ihre Sorgen fand. Auf deren Anraten meldete sie      zu ihr. Als IV-Rentnerin konnte sie ihre Tochter aber
sich beim Sozialamt. Ihr wurde ein Platz vermittelt,     höchstens moralisch unterstützen. So ganz auf sich al-
an dem sie sich abseits vom Alltag erholen und auf die   lein gestellt, sah sie keinen anderen Ausweg, als sich
Geburt vorbereiten konnte. Noch gut erinnert sie sich    von ihrem ungeborenen Kind zu trennen.

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Nachbarin - Armut ist weiblich - Caritas Bern
Schwerpunkt

Im Spital wurde Anika aber plötzlich klar: «Das ist                    Anika ist kein Einzelfall. In der Schweiz tragen Frauen
mein Kind. Es lebt. Eine Abtreibung werde ich nie ver-                 ein höheres Armutsrisiko als Männer. Wie bei Anika
kraften. Und wenn ich noch viel weiter unten durch                     sind das Mutterwerden und die fehlende Vereinbarkeit
muss – ich behalte es.» Noch einmal wandte sie sich                    von Ausbildung oder Job mit der Familiensituation
an ihre Betreuerin bei der SHMK. Diese kam sofort ins                  entscheidende Gründe für diesen Missstand. Armut
Spital, regelte den Austritt und nahm Anika sogar für                  ist auch in der Schweiz zu einem grossen Teil weiblich
eine Nacht zu sich nach Hause. «Ich stand völlig neben                 (siehe S. 10–12).
mir», erinnert sie sich. Dass ein paar Monate später die
Geburt mit dem letzten Schulblock vor dem Abschluss                    Highlights und Entlastung
                                                                       Inzwischen sind die Mädchen drei- und fünfjährig.
                                                                       Wenn Anika von ihren Mädchen erzählt, hat ihre Stim-
            «Ich bin so glücklich,                                     me einen warmen Klang und ihre Augen strahlen. «Ich
          dass die beiden da sind.»                                    bin so glücklich, dass die beiden da sind.» Wochentags
                                                                       werden die Mädchen von einer Tagesmutter betreut.
                                                                       Anika ist froh darüber, so kommen die beiden mit an-
kollidierte, liest sich wie die Ironie des Schicksals. Sie             deren Menschen zusammen. Glücklich ist die heute
hatte doch alles gegeben. Obwohl bislang sehr ver-                     24-jährige Mutter auch, dass Ava und Aliki über das
ständnisvoll, sah sich ihr Lehrmeister ausser Stande,                  Caritas-Patenschaftsprojekt «mit mir» eine Patin und
die Lehre um ein weiteres Jahr zu verlängern. Erneut                   zwei Paten gefunden haben. Die Patin von Ava geht mit
stand Anika vor dem Nichts, diesmal aber mit der                       ihr in den Wald, zum Schwimmen und verbringt so viel
zweijährigen Ava und der neugeborenen Aliki*.                          Zeit mit ihr. Die Paten von Aliki unternehmen meist mit

Günstige Lebensmittel und Notwendiges für den Haushalt findet Anika regelmässig im Caritas-Markt. Das entlastet das Familienbudget merklich.

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Nachbarin - Armut ist weiblich - Caritas Bern
Schwerpunkt

beiden Mädchen schöne Ausflüge. Diese Ausflüge sind
Highlights für die Kinder und entlasten den Alltag von
Anika stark. Das Familienbudget wird zudem durch
den Caritas-Markt geschont. Anika kann sich dort re-
gelmässig mit günstigen Lebensmitteln für die Familie
und verbilligten Haushaltprodukten versorgen.

Endlich auf eigenen Füssen stehen
Gesundheitlich erlebt Anika immer noch Auf und
Abs. Dass sie trotzdem Teilzeit und im Stundenlohn
bei einer Fast-Food-Kette arbeiten kann, gibt ihr Auf-
trieb. «Hier kann ich zeigen, was ich kann.» Dass ihr
Arbeitgeber nach einem kurzen Unterbruch auch
während des Lockdowns geöffnet hatte, war für sie
ein Glücksfall. Die phasenweise geschlossenen Schu-
len und das damit verbundene Homeschooling waren
jedoch eine zusätzliche Belastung im Alltag der Allein-
erziehenden.

Anika mag ihren Job. Doch der kleine Verdienst und
die Alimente für Aliki reichen bei Weitem nicht zum
Leben. Die Abhängigkeit vom Sozialamt macht der
jungen Frau sehr zu schaffen. Ihr grösster Wunsch
ist es, endlich einen Berufsabschluss zu schaffen und
ihre Familie aus eigener Kraft unterhalten zu können.
Der Versuch, nach der Geburt von Aliki die Handels-
schule zu absolvieren, wurde gleich von zwei Abend-
                                                          Lesen und Ruhe: So tankt die alleinerziehende Mutter in ihrer spärli-
                                                          chen Freizeit Kraft.

  «Noch wissen die Mädchen nicht,
    was es heisst, arm zu sein.»                          zu sein und dass ihre Mutter jeden Franken zwei- oder
                                                          gar dreimal umdrehen muss. Und warum sie ihnen
                                                          den Wunsch nach einem Paar Finken mit dem Bild der
                                                          Schneekönigin Elsa nicht erfüllen kann. Froh ist Ani-
schulen im Keim erstickt. Der Berater bei der einen       ka über die gut erhaltenen Kinderkleider, die sie von
meinte: «Gehen Sie lieber arbeiten. Die Schule kön-       ihrer Nachbarin erhält oder die Unterstützung durch
nen Sie nachholen, wenn die Kinder grösser sind.» Bei     Caritas. Trotzdem möchte sie mit all ihren Kräften aus
der zweiten bekam sie zu hören: «Ein Handelsdiplom
schafft man nicht nur mit dem Präsenzunterricht.»
Solche gedankenlos dahingesagten Phrasen verletzen                        «Es tut weh, als
Anika zutiefst. Genauso wie die Frage einer der spär-
lichen Kolleginnen: «Wie kannst du dir mit dem Geld                     Sozialschmarotzerin
vom Sozialamt einen Fernseher leisten?» Dass sie die-                      abgestempelt
sen von ihrer Mutter erhalten hat, macht die Sache
nicht besser. «Es tut weh, als Sozialschmarotzerin ab-                      zu werden.»
gestempelt zu werden.»

Ausbruch aus der Armutsfalle                              der Armutsfalle ausbrechen und sich gegen Ende des
Entmutigen lässt sich die junge Mutter nicht: Sie         Monats nicht immer fragen müssen, ob das Geld noch
plant, nächstes Jahr ihre Lehre doch noch abzuschlies-    für die Lebensmittel reicht. «Und vor allem will ich nie
sen. Sie weiss, dass sie das kann, und hofft auf einen    mehr mit der Frage konfrontiert werden: Warum hast
Lehrbetrieb, der ihr eine Chance gibt. Sie will endlich   du nicht abgetrieben?»
auf eigenen Füssen stehen. Für sich und ihre beiden
Mädchen. Noch wissen diese nicht, was es heisst, arm      * Namen geändert

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Nachbarin - Armut ist weiblich - Caritas Bern
Schwerpunkt

Armut ist weiblich
50 Jahre nach Annahme des Stimm- und Wahlrechts für Frauen bleiben in der Schweiz
zentrale Ungleichheiten zwischen den Geschlechtern bestehen. Diese führen dazu,
dass Frauen überdurchschnittlich oft von Armut betroffen sind.
Text: Dr. Bettina Fredrich, Geschäftsleiterin der Eidgenössischen Kommission für Frauenfragen (EKF) Illustration: Isabelle Bühler

D
       ie Armutsquote von Frauen liegt bei 9,1 Pro-                    Frauen ist also alles andere als zufällig – sie ist syste-
       zent, diejenige von Männern bei 8,4 Prozent.                    matisch. Welches sind die Gründe dafür?
       Beschränkt man sich auf Schweizer Staatsan-
gehörige, lag die Armutsquote von Frauen 2019 bei                      Auf dem Arbeitsmarkt schlechter gestellt
8,1 Prozent, jene der Männer bei 6,7 Prozent. Einige                   Frauen sind überdurchschnittlich oft von prekären
mögen den Unterschied kleinreden. Seine Relevanz                       Lebenslagen betroffen. Sie bekommen fast doppelt so
liegt jedoch in der Tatsache, dass Frauen seit Beginn                  häufig als Männer nur befristete Arbeitsverträge oder
der Armutsmessung stets häufiger von Armut betrof-                     gehen mehreren Jobs gleichzeitig nach. Auch die Quote
fen waren als Männer. Dies gilt auch für die Armuts-                   der Unterbeschäftigung ist bei Frauen viel höher. Das
gefährdung, also das Risiko, in Armut abzurutschen.                    heisst, sie würden gerne mehr arbeiten, finden aber kei-
Die stärkere Armutsbetroffenheit und -gefährdung von                   ne Stelle mit höherem Pensum. Bei den Aussteuerun-

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Schwerpunkt

gen zeigt sich ein ähnliches Bild. Verlieren Frauen ihre   Kommentar
Arbeit, tragen sie ein grösseres Risiko, ausgesteuert zu
werden und ganz aus dem Arbeitsmarkt auszuscheiden.
                                                           Armut und
Frauen verdienen weniger                                   Gleichstellung
Hinzu kommen grosse Lohnunterschiede: Gemäss
Bundesamt für Statistik lag 2018 der Medianlohn von        zusammen angehen
Frauen bei 6067 Franken, derjenige von Männern bei
6857 Franken. Fast die Hälfte dieses Unterschieds ist      Prekäre Arbeitsverhältnisse in so-
nicht erklärbar durch strukturelle Faktoren wie Bil-       genannten Frauenberufen sowie
dungsniveau, Arbeitserfahrung oder Führungsposi-           fehlende Vereinbarkeit von Beruf
tionen. Das Lohnniveau in Berufen mit einem hohen          und Familie sind entscheidende
Frauenanteil liegt denn auch deutlich tiefer als das       Ursachen von Frauenarmut. Was
Lohnniveau in Berufen mit einem hohen Männeranteil.        ist zu verbessern?
                                                           Frauen und Männer haben ein Recht
Teilzeiterwerb durch Familiengründung                      auf eine existenzsichernde Arbeit.
Der Entscheid zur Erwerbstätigkeit bei der Familien-       Dass menschenzentrierte Tätigkei-
gründung ist immer noch wesentlich vom Lohn und            ten wie Pflege und Betreuung, so-
somit vom Geschlecht abhängig. Während Frauen ihr          genannte Care- oder Sorgearbeit,
Erwerbspensum mehrheitlich reduzieren und einen            viel schlechter abgegolten werden
Grossteil der unbezahlten Haus- und Betreuungsarbeit       als beispielsweise Tätigkeiten in der
übernehmen, stocken Männer ihr Erwerbspensum in            Finanzbranche, bedarf einer Kor-
der gleichen Lebensphase auf. Dadurch tragen aber          rektur. Wo nicht einmal Mindest-
Frauen auch das Armutsrisiko. Bei einer Trennung           löhne bezahlt werden, braucht es die
oder Scheidung laufen sie Gefahr, ihren Lebensunter-       Einführung eines gesetzlichen Min-
halt nicht sichern zu können. Heute können nicht ein-      destlohnes. Um die Vereinbarkeit
mal die Hälfte der Frauen in der Deutschschweiz ihre       von Familie und Beruf für alle zu er-
Existenz alleine sichern.                                  möglichen, muss das Angebot an fa-
                                                           milienexterner und schulergänzen-
Familie und Beruf schwer vereinbar                         der Kinderbetreuung die Nachfrage
Dies hat auch mit der mangelhaften Vereinbarkeit von       decken. Mindestens für armutsbe-
Familie und Beruf in der Schweiz zu tun. Kita-Plätze       troffene Familien müssen die Ange-
sind nicht nur sehr teuer, es gibt auch noch zu wenige.    bote kostenlos sein. Nur so können
Viele Frauen verzichten deshalb – auch unfreiwillig –      Frauen ihre Arbeitspensen erhöhen
auf eine Erwerbsarbeit. Das wirkt sich jedoch später       und das Armutsrisiko verringern.
negativ aus, denn die Altersvorsorge ist an Erwerbsar-     Die unbezahlte Sorgearbeit soll-
beit gekoppelt. Weil Frauen aber während der Erwerbs-      te zudem besser zwischen Frauen
phase weniger verdienen, oft nur in Teilzeitpensen tä-     und Männern verteilt werden. Die
tig sind oder nach der Geburt eines Kindes ganz aus        Wirtschaft muss entsprechende
dem Erwerbsleben ausscheiden, sind sie auch im Alter       Arbeitsmodelle fördern. Vorgesetz-
öfter arm. Fast zwei Drittel der Beziehenden von Er-       te sollen Väter- und Männerrol-
gänzungsleistungen sind Frauen.                            len vorleben, die die Übernahme
                                                           von Betreuungs- und Hausarbeit
Wirft Corona die Frauen zurück?                            als etwas Selbstverständliches be-
Neben den Einkommenseinbussen und Arbeitser-               trachten. Unternehmen können eine
schwernissen waren für viele Familien auch das Home-       Vorreiterrolle übernehmen in der
office und die Schulschliessungen belastend. Die ersten    Einführung von Elternzeiten und
Studien zeigen deutlich, dass Mütter durch das Home-       tieferen Wochenarbeitszeiten, wenn
office stärker beeinträchtigt waren als Männer, weil sie   Arbeitnehmende mit tiefen Löhnen
gleichzeitig Kinder betreuen mussten. So erstaunt es       Betreuungsaufgaben haben. So kön-
wenig, dass vorab Mütter im ersten Lockdown im Früh-       nen Gleichstellung und Armut zu-
ling 2020 ihr Pensum im Homeoffice reduzierten.            sammen angegangen werden.
Die Gleichstellung lässt auf sich warten, mit gravie-
renden Konsequenzen. Eine davon: stärkere Armuts-          Marianne Hochuli, Mitglied der
betroffenheit.                                             Geschäftsleitung, Caritas Schweiz

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Schwerpunkt

     ERWERBS-
     BIOGRAFIEN
     ENTSCHEIDEN
                                                                                                                                Dr. Isabel Martínez
                                                                                                                                Ihr aktueller Forschungs-
                                                                                                                                schwerpunkt liegt bei der
                                                                                                                                Verteilung von Einkommen
                                                                                                                                und Vermögen sowie bei

                                                                      Bild: Florian Bachmann
                                                                                                                                Steuerfragen. Sie ist
     Ein Interview mit Isabel Martínez,
                                                                                                                                Mitautorin der KOF-Studie
     promovierte Ökonomin, Konjunktur-                                                                                          zu Corona und Ungleich-
     forschungsstelle (KOF), ETH Zürich                                                                                         heit in der Schweiz.
     Interview: Roland Schuler

     Frauen sind in der Schweiz noch immer einem                                               Buben wird es noch oft leichter gemacht, einen gut be-
     höheren Armutsrisiko ausgesetzt als Männer.                                               zahlten Ingenieursjob zu wählen, wohingegen Mädchen die
     Weshalb ist das so ist?                                                                   schlechter bezahlte Option Kindergärtnerin nahegelegt
     Scheidung und Alter sind statistisch gesehen die grössten Ar-                             wird. Da liegt noch ein Weg vor uns.
     mutsrisiken. Frauen sind in beiden Lebenslagen stärker be-
     troffen als Männer. Das hat in erster Linie mit den weiblichen                            Sie fanden in einer aktuellen Studie* heraus,
     Erwerbsbiografien zu tun. In unserer Gesellschaft sind diese                              dass die Corona-Krise bestehende Ungleichheit
     geprägt von der Geburt von Kindern. Es wird auch von der                                  verschärfte. Wie zeigt sich das?
     «Mutterschaftsstrafe» gesprochen. Mütter kehren nicht mehr,                               Haushalte mit tiefen Einkommen haben in der Corona-Kri-
     in viel kleineren Pensen oder in Jobs mit geringerem Lohn zu-                             se höhere Einkommensausfälle als finanziell besser Ge-
     rück ins Erwerbsleben. Das führt zu höherem Armutsrisiko.                                 stellte. Im Durchschnitt mehr als 20 Prozent gegenüber
                                                                                               8 Prozent bei besser Verdienenden. Sie mussten auch viel
     Wo sehen Sie Hebel, um dieses Risiko zu mindern?                                          häufiger Erspartes auflösen. Viele verschuldeten sich gar.
     Ein grosser Hebel wäre eine kostenlose, flächendeckende
     Kinderbetreuung. Eine solche müsste eine Grundinfra-                                      Zeigen sich Geschlechterunterschiede in der
     struktur sein – wie Schienen und Strassen. Heute stehen                                   Betroffenheit durch die Krise?
     viele Paare vor der Entscheidung: Soll die Frau mehr arbei-                               In der Corona-Krise stieg bei Frauen besonders die Mehrbe-
     ten? Oder lohnt sich das aufgrund der Betreuungskosten,                                   lastung durch Homeschooling und Betreuung stärker als bei
     die dadurch entstehen, nicht? Dabei zeigt die Forschung,                                  Männern. Frauen reduzierten auch ihre bezahlte Arbeit stär-
     dass für Mütter der Wiedereinstieg ins Erwerbsleben für                                   ker als Männer. In Wirtschaftskrisen ist typischerweise die
     die ökonomische Absicherung sehr wichtig ist.                                             Exportwirtschaft mit klassischen Männerberufen betroffen.
                                                                                               Anders in dieser Krise: Die Binnenwirtschaft mit Branchen
     Bei der Kinderbetreuung wären auch die Väter in der Pflicht.                              mit hohem Frauenanteil wie Detailhandel oder Gastronomie
     Sicherlich. Hier wäre eine Vaterschaftszeit förderlich – und                              ist ebenfalls stark betroffen. Gemessen an den Arbeitslosen-
     zwar startend erst dann, wenn der Mutterschaftsurlaub en-                                 zahlen sind Frauen jedoch nicht stärker betroffen als Männer.
     det. Das würde den beruflichen Wiedereinstieg von Müt-
     tern entscheidend fördern.                                                                Die Krise trifft die Ärmsten am stärksten. Mit Blick in
                                                                                               die Zukunft: Was macht Ihnen da am meisten Sorgen?
     Welche Rolle spielt die Lohnungleichheit zwischen den                                     Wer wenig verdient und in der Krise Erspartes aufbrau-
     Geschlechtern?                                                                            chen musste, kann nicht auf Knopfdruck etwas ansparen.
     Bei einem Paar verdient die Frau meist weniger als der                                    In der nächsten Wirtschaftskrise droht ein Polster zu feh-
     Mann. Das ist nach wie vor so. Es macht für viele Paare                                   len. Und wir wissen: Eine nächste Wirtschaftskrise kommt
     daher ökonomisch Sinn, dass die Frau beruflich kürzertritt.                               mit Sicherheit. Auch aus gesamtökonomischer Sicht birgt
                                                                                               fehlendes Polster ein Risiko: Wenn die Menschen genug
     Müsste nicht auch hier angesetzt werden?                                                  Geld haben, um die Binnennachfrage zu gewährleisten,
     Ganz klar. Gleicher Lohn für gleiche Arbeit sollte selbst-                                kann diese bei Krisen dämpfend wirken.
     verständlich sein, keine Diskussion. Es gibt bei den Einkom-
     mensunterschieden zwischen den Geschlechtern aber zu-                                     * KOF-Studie zu Corona und Ungleichheit in der Schweiz:
     sätzlich strukturelle Ungleichheiten in der Sozialisierung:                               https://kof.ethz.ch > Suchbegriff «Corona und Ungleichheit»

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Ich will helfen

«Ich schlage eine Brücke
zwischen zwei Welten»
Jeannine arbeitet als Freiwillige bei Caritas Luzern für das Patenschaftsprojekt
«mit mir». Die Sekundarlehrerin begleitet als regionale Vermittlerin zurzeit neun
Patenschaften und unterstützt die Patinnen und Paten, die Kinder und ihre Eltern
beim Beziehungsaufbau.
Text und Bild: Claudia Blaser

«Bereits als Jugendliche habe ich erste Erfahrungen         andere Menschen in ihrem Umfeld engagieren, ohne
als Freiwillige gesammelt – in einem Konzertlokal da-       Geld dafür zu erwarten. Es muss ja nicht unbedingt in
heim in Sursee. Ich bin in einer sehr engagierten Fami-     einem Projekt oder Verein sein. Man kann auch dem
lie aufgewachsen. Bei uns gehörte freiwilliges Engage-      Grosi beim Wocheneinkauf oder dem Nachbarn beim
ment einfach dazu. In den letzten Jahren bin ich viel       Pneuwechsel helfen. Wichtig ist einfach, dass wir den
gereist. Besonders der Nahe Osten hat es mir angetan.       Zusammenhalt nicht vergessen, dass wir alle zum so-
Die enorme Gastfreundschaft, die ich auf meinen Rei-        zialen Miteinander beitragen.»
sen erleben durfte, hat in mir den Wunsch geweckt,
mich zu Hause in der Schweiz für Migrantinnen und
Migranten zu engagieren.

Seit drei Jahren bin ich nun als regionale Vermittlerin
im Caritas-Projekt «mit mir» tätig, das benachteiligte
Kinder mit einer freiwilligen Bezugsperson zusam-
menbringt. Ziel ist es, den Kindern etwas zu ermögli-
chen, das ohne diese Hilfe nicht möglich wäre, und die
Eltern zu entlasten. Zurzeit begleite ich neun Paten-
schaften in der Zentralschweiz. Ich bin beim ersten
Treffen dabei, kläre Wünsche und Erwartungen ab,
führe regelmässig Gespräche mit allen Beteiligten und
bin bei Fragen immer für sie da. Es ist immer wieder
schön mitzuerleben, wie in wenigen Monaten eine
nachhaltige Beziehung zwischen den Patinnen und Pa-
ten und ihrem Patenkind entsteht. Für mich ist es eine
grosse Bereicherung, dass ich eine Brücke zwischen
zwei Welten schlagen und Personen zusammenführen
kann, die sich sonst nie getroffen hätten.

Es imponiert mir, wie viel Vertrauen die Kinder und
ihre Eltern der für sie zunächst fremden Person ent-          STECKBRIEF
gegenbringen. Um sich auf Unbekanntes einzulassen,            Jeannine Ambühl (32) ist in Sursee aufgewachsen und
braucht es ja meistens etwas Überwindung. Die Offen-          wohnt heute in Luzern. Sie absolvierte zunächst eine KV-
heit und Neugier, die dieses Projekt erfordert, finde ich     Lehre, bevor sie sich zur Lehrerin ausbilden liess. In der
sehr inspirierend. Das bekräftigt mich immer wieder           Freizeit singt die Sekundarlehrerin in einem Chor und ist
in meinem Engagement. Kraft gibt mir auch der Aus-            gerne in der Natur unterwegs. Sie ist viel gereist und be-
tausch mit anderen Freiwilligen. Es motiviert mich zu         sonders fasziniert von der arabischen Kultur.
sehen, dass ich nicht allein bin, dass sich auch viele

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Caritas Bern

Damit Integration
bestmöglich gelingt
Die optimale Verständigung in der Zusammenarbeit mit Migrantinnen und Migranten
ist Voraussetzung für deren erfolgreiche Integration. Kommunikation ist vielseitig und
komplex. Wenn verschiedene Sprachen zusammenkommen, wird es ziemlich anspruchs-
voll. In solchen Situationen bietet Caritas Bern mit dem Dolmetschdienst Comprendi
professionelle Unterstützung.
Autorin: Hana Kubecek    Fotos: Lothar Schröger

S
       eit 15 Jahren sorgt der Dolmetschdienst Com-      leistung von Caritas Bern vermittelt pro Jahr im Durch-
       prendi von Caritas Bern für eine optimale         schnitt 19 000 Dolmetscheinsätze in 62 Sprachen; u. a.
       Verständigung zwischen der Migrationsbe-          in Arabisch, Farsi, Tigrinya, Somali, Swahili und Kur-
       völkerung und Fachpersonen und erleichtert        disch. Rund 240 interkulturell Dolmetschende arbei-
Menschen mit unzureichenden Deutschkenntnissen           ten aktuell im Auftrag von Caritas Bern. Comprendi
den Zugang zu notwendigen Dienstleistungen im Ge-        hat sich über die letzten 15 Jahre zu einem namhaften
sundheits-, Sozial- und Bildungsbereich.

Verständigung ermöglichen
Interkulturell Dolmetschende machen eine Verständi-
                                                            «Interkulturell Dolmetschende
gung in vielen Gesprächssituationen mit fremdsprachi-        machen eine Verständigung
gen Personen überhaupt erst möglich. Sie tragen dazu
bei, Sachlagen zu klären und Missverständnisse auszu-
                                                            mit fremdsprachigen Personen
räumen. Nebst der sprachlichen Qualifikation verfügen          überhaupt erst möglich.»
sie über Hintergrundwissen in beiden Kulturen. Dies
hilft, gegenseitiges Vertrauen aufzubauen, und erlaubt
eine effiziente Gesprächsführung. Etwa dann, wenn        Dienstleistungsanbieter im Bereich des interkulturel-
sie bei einem Beratungs- oder Elterngespräch Hinter-     len Dolmetschens entwickelt. Auch technologisch wur-
grundwissen über das Sozial- oder Bildungssystem in      de vieles modernisiert. Seit mehr als einem Jahr laufen
der Schweiz oder im Herkunftsland aufzeigen. Oder        die Vermittlungen digital. Über eine Online-Vermitt-
wenn es um die Gesundheit geht, ist es entscheidend,     lungsplattform werden Aufträge abgewickelt. Alle zur
genau zu verstehen und verstanden zu werden. Des-        Verfügung stehenden interkulturellen Dolmetschen-
halb braucht es bei Beratungsgesprächen oder Konsul-     den sind dort aufgeführt und können direkt gebucht
tationen oft interkulturelles Dolmetschen via Telefon    werden. Damit alles perfekt funktioniert, braucht es
oder durch persönlich anwesende Dolmetschende.           ein kompetentes Team im Hintergrund.

Ein kompetentes Team im Hintergrund                      Wer sind die Personen, die beim Dolmetsch-
macht Vermittlung möglich                                dienst Comprendi im Hintergrund arbeiten?
Rund 1100 Kundinnen und Kunden, vorwiegend aus           Auf den nachfolgenden Seiten erfahren Sie mehr über
dem Gesundheits-, Sozial- und Bildungsbereich, zählt     die Personen, die beim Dolmetschdienst Comprendi
der Dolmetschdienst Comprendi heute. Diese Dienst-       von Caritas Bern im Hintergund arbeiten.

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Caritas Bern

Nikolai Post, 34, in Ausbildung                             Laurence Zbinden, 36,
zum Fachmann Finanzen:                                      ausgebildete ­Sozialpädagogin:

«In der Konzentration                                       «Energie in der Natur
liegt die Entspannung»                                      tanken»

Was kommt dir für ein Bild in den Sinn,                     Was kommt dir für ein Bild in den Sinn,
wenn du an den Dolmetschdienst Comprendi                    wenn du an den Dolmetschdienst Comprendi
denkst?                                                     denkst?
Die Bremer Stadtmusikanten – wir sind alle verschie-        Ein bunter Blumenstrauss.
den und doch sind wir alle gleich.                          Beschreibe mit drei Schlagworten den
Beschreibe mit drei Schlagworten den                        ­Dolmetschdienst Comprendi.
­Dolmetschdienst Comprendi.                                  Brücke, Engagement, Integration.
 Sympathisch, offen, ehrlich.                                Was ist deine Tätigkeit bei Comprendi?
 Was ist deine Tätigkeit bei Comprendi?                      Ich bin verantwortlich für die Betreuung der interkul-
 Support, Fakturierung und Löhne der interkulturell          turell Dolmetschenden seit Mitte 2021.
 Dolmetschenden seit 2020.                                   Was beflügelt dich an deinem Job?
 Was beflügelt dich an deinem Job?                           Der Kontakt zu Menschen mit unterschiedlichen kul-
 Der Kontakt mit den Menschen sowie technische und           turellen Hintergründen.
 buchhalterische Fragestellungen.                            Was erfüllt dich mit Hoffnung?
 Was erfüllt dich mit Hoffnung?                              Dass der Mensch sich grundsätzlich verbessern und
 Alle kleinen und schönen Gesten im Alltag und alle gros-    sich für andere einsetzen möchte – nur so können wir
 sen positiven Veränderungen, für die sich viele Men-        Sorge zu der Welt und zu der Menschheit tragen.
 schen mit Herz und grossem Engagement einsetzen.            Was ist dein Lebensmotto?
 Was ist deine Lieblingsbeschäftigung?                       Weniger ist mehr.
 Sport und Triathlon.                                        Was ist deine Lieblingsbeschäftigung?
 Welche Ausbildung würdest du nachholen, wenn                In der Natur unterwegs zu sein.
 du könntest?                                                Welche Ausbildung würdest du nachholen,
 Einen Nähkurs, damit ich kleinere Dinge selbst erle-        wenn du könntest?
 digen kann.                                                 Das Dolmetschen.
 Was sagt der Gegenstand über dich aus,                      Was sagt der Gegenstand über dich aus,
 den du für das Foto gewählt hast?                           den du für das Foto gewählt hast?
 Ich mag Schach, das hilft mir, mich zu entspannen.          Ingwer: mit Energie und Neugier durch das Leben gehen.

Nachbarn 2 / 21                                                                                                   15
Caritas Bern

Angelika Louis, 57, ausgebildete                          Veaan Bürgin, 48, ausgebildete
­Betriebsökonomin:                                        interkulturelle Dolmetschende:

«Neugierig auf                                            «Kommunizieren ist
Menschen»                                                 mehr als informieren»

Was kommt dir für ein Bild in den Sinn, wenn du           Was kommt dir für ein Bild in den Sinn,
an den Dolmetschdienst Comprendi denkst?                  wenn du an den Dolmetschdienst Comprendi
Ich sehe Menschen, die miteinander im Dialog sind, die    denkst?
engagiert, aufmerksam und bewusst im (Berufs)Leben        Eine unentbehrliche Dienstleistung für gute Verstän-
stehen, um gemeinsam etwas zu erreichen.                  digung in den Regelstrukturen.
Beschreibe mit drei Schlagworten den                      Beschreibe mit drei Schlagworten den
­Dolmetschdienst Comprendi.                               ­Dolmetschdienst Comprendi.
 Chancengleichheit, Verbundenheit, Integration.            Kompetenzen, Migrationshintergrund, interkulturelle
 Was ist deine Tätigkeit bei Comprendi?                    Kommunikation.
 Ich bin für den Gesamtbetrieb, d.h. Personal, Dolmet-     Was ist deine Tätigkeit bei Comprendi?
 schende, Kunden, Finanzen, Weiterentwicklung usw.         Seit 2018 arbeite ich als interkulturelle Dolmetschende
 verantwortlich.                                           und seit 2019 auch noch als Sacharbeiterin.
 Was beflügelt dich an deinem Job?                         Was beflügelt dich an deinem Job?
 Die Begegnungen mit den Dolmetschenden, die tägli-        Gerade meine Doppelrolle finde ich vielseitig und enorm
 che Arbeit mit meinen engagierten und kompetenten         spannend. Einerseits sind da die Dolmetschenden, die
 Kolleginnen und Kollegen.                                 ich gerne in verschiedenen und auch schwierigen Si-
 Was erfüllt dich mit Hoffnung?                            tuationen begleite und berate. Anderseits habe ich mit
 Junge Menschen, die sich mit dem reellen Leben ausei-     Kunden aus den unterschiedlichsten Fachrichtungen
 nandersetzen und sich für unsere Umwelt und unsere        zu tun. Die Kommunikation zwischen den verschiede-
 Lebensbedingungen engagieren.                             nen Lebenswelten hat mich schon immer fasziniert.
 Was ist dein Lebensmotto?                                 Was erfüllt dich mit Hoffnung?
 Waage – Balance zwischen Ruhe und Aktivität.              Solidarisches Handeln in der Gesellschaft.
 Was ist deine Lieblingsbeschäftigung?                     Was ist dein Lebensmotto?
 Reisen, kochen, fotografieren, in der Natur sein, Sam-    Das Leben im Hier und Jetzt geniessen.
 meln von Gegenständen aller Art …                         Was ist deine Lieblingsbeschäftigung?
 Welche Ausbildung würdest du nachholen,                   Alles, was mich inspiriert.
 wenn du könntest?                                         Welche Ausbildung würdest du nachholen,
 Landschaftsgestalterin, Gartenarchitektin, Köchin.        wenn du könntest?
 Was sagt der Gegenstand über dich aus,                    Germanistik studieren.
 den du für das Foto gewählt hast?                         Was sagt der Gegenstand über dich aus,
 Die Muschel ist ein wunderschönes, schlichtes Objekt –    den du für das Foto gewählt hast?
 wenn ich sie ans Ohr halte, höre, sehe und rieche ich     I love Music.
 das Meer.

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Caritas Bern

Birgit Fuchs, 58,                                          Agnes Heiniger, 51, ausgebildete
ausgebildete Kauffrau:                                     Handarbeits- und Werklehrerin:

«Zufriedenheit in der                                      «In der Bewegung
Vielseitigkeit finden»                                     die Ruhe finden»

Was kommt dir für ein Bild in den Sinn, wenn du            Was kommt dir für ein Bild in den Sinn, wenn du
an den Dolmetschdienst Comprendi denkst?                   an den Dolmetschdienst Comprendi denkst?
Ein farbenfroher Markt in einem warmen Land. Bunt          Ein farbiges Mosaik, ganz viele verschiedene (unikate)
gekleidete Menschen aus aller Welt unterhalten sich in     Teile ergeben zusammen das Ganze.
verschiedenen Sprachen.                                    Beschreibe mit drei Schlagworten den
Beschreibe mit drei Schlagworten den                       ­Dolmetschdienst Comprendi.
­Dolmetschdienst Comprendi.                                 Kulturelle Vielfalt, verstehen und verstanden werden.
 Sprachen. Menschen. Kulturen.                              Was ist deine Tätigkeit bei Comprendi?
 Was ist deine Tätigkeit bei Comprendi?                     Seit 2004 arbeite ich in wechselnden administrativen
 Seit 2015 bin ich zuständig für den Support Kunden         Aufgabenbereichen. Aktuell zählen die Lohnverarbei-
 und interkulturell Dolmetschende, Telefondienst, Ein-      tung und die Fakturierung zu meinen Aufgaben.
 satzplanung Team sowie E-Mail-Bewirtschaftung und          Was beflügelt dich an deinem Job?
 ich bin Praxisbildnerin Lernende Kauffrau/Kaufmann.        Wenn ich mir vorstelle, dass eine mir nahestehende
 Was beflügelt dich an deinem Job?                          Person notfallmässig ins Spital muss, weder die Spra-
 Ich finde es ein grosses Privileg, für eine humanitäre     che der Ärztin noch der Pflegenden versteht, dann wird
 Organisation arbeiten zu dürfen. Die spannende, her-       mir die Bedeutung unserer Arbeit bewusst.
 ausfordernde und vielseitige Tätigkeit, das engagierte     Was erfüllt dich mit Hoffnung?
 Team, der Arbeitsort in Bern.                              Dass Corona irgendwann kein so zentrales Thema
 Was erfüllt dich mit Hoffnung?                             mehr sein wird.
 Die Nichtwiederwahl von Donald Trump.                      Was ist dein Lebensmotto?
 Was ist dein Lebensmotto?                                  Irgendwo zwischen richtig und falsch ist ein Ort, da
 Nicht immer nach mehr streben.                             treffen wir uns.
 Was ist deine Lieblingsbeschäftigung?                      Was ist deine Lieblingsbeschäftigung?
 Eine spezifische Lieblingsbeschäftigung habe ich nicht.    Bewegung und Sport, durch Brockenhäuser stöbern,
 Die Abwechslung macht es aus – Garten, Familie, Natur,     alte Dinge auffrischen oder umfunktionieren.
 Freunde, Lesen.                                            Welche Ausbildung würdest du nachholen,
 Welche Ausbildung würdest du nachholen,                    wenn du könntest?
 wenn du könntest?                                          Polster- und Dekorationsnäherin, Landschaftsgärtne-
 Ich bin zufrieden mit meiner Wahl. Am ehesten viel-        rin, Dokumentalistin.
 leicht eine Mischung aus Kauffrau und Gärtnerin.           Was sagt der Gegenstand über dich aus,
 Was sagt der Gegenstand über dich aus,                     den du für das Foto gewählt hast?
 den du für das Foto gewählt hast?                          Der Turnschuh symbolisiert meine Freude an der Be-
 Ich denke das ist selbsterklärend.                         wegung.

Nachbarn 2 / 21                                                                                                  17
Gesichter hinter der Caritas Bern

Das Fragenstellen steht im
Mittelpunkt seines Jobs
Durch seine Menschenkenntnis, sein Einfühlungsvermögen sowie seine berufliche
­Erfahrung hilft Lothar Schröger als Jobcoach seinen Klienten, den für sie passenden
 Beruf herauszufinden und darin Fuss zu fassen. Er gehört zum vierköpfigen Jobcoaching-
 Team der Arbeitsintegration Caritas Bern.
Text und Foto: Hana Kubecek

                                                                               falls zum Aufgabenbereich des
                                                                               Jobcoachs. Die Abwechslung und
                                                                              Vielschichtigkeit machen diese Ar-
                                                                              beit spannend und herausfordernd
                                                                              zugleich.
                                                                              Lothar Schröger, der süddeutsche
                                                                              Wurzeln hat, kann auf eine beweg-
                                                                              te Jobgeschichte blicken. In frühe-
                                                                              ren Jahren arbeitete er während
                                                                              fünf Jahren in Italien, dort lernte er
                                                                              auch seine Partnerin – eine Schwei-
                                                                              zerin – kennen. Seit gut 18 Jahren
                                                                               lebt der Vater dreier Jugendlicher
                                                                               in Bern. In seiner Berufskarriere
                                                                              hat er bislang immer mit Menschen
                                                                              gearbeitet, zunächst vor allem mit
                                                                              Kindern und Jugendlichen. Seit-
                                                                              dem er selbst Vater geworden ist,

A
                                                                              zieht er es vor, primär mit Erwach-
          nhand von mehreren Ge-      bedeutet, Menschen ganzheitlich         senen zu arbeiten.
          sprächen macht sich Job-    und unvoreingenommen in ihrem           Die politischen Vorgaben und das,
          coach Lothar Schröger       sozialen Umfeld zu betrachten. Da-      was die betroffenen Personen ef-
          ein Bild von der Situa­     bei sind die individuellen Werte, die   fektiv benötigen, sind nicht immer
tion der Klientinnen und Klienten.    kulturellen und religiösen Prägun-      nachhaltig und zielführend für
Durch zielgenaues Fragen werden       gen sowie die unterschiedlichen So-     eine erfolgreiche (Re-)Integration.
ihre individuelle Ressourcen, In-     zialisierungs- und Bildungsverläu-      Es gibt Situationen, die belastend
teressen sowie Ziele und deren        fe mit zu berücksichtigen. Meine        und kräftezehrend sind. Auftanken
­Erreichung herausgearbeitet. Zu      Aufgaben sind sehr individuell und      kann er gut zu Hause in einer Ge-
 der Klientschaft gehören Menschen    richten sich nach dem jeweiligen        nossenschafts-Wohngemeinschaft
 in belastenden Situationen mit       Unterstützungsbedarf der zu unter-      und mit seinen Kindern. Auch die
 Schweizer Pass als auch mit Migra­   stützenden Person. Ich lege Wert,       Hütte «Weidli» in Därstetten ist
 tionshintergrund. Der Arbeitsinte­   durch Fragen eigene Erkenntnisse        ein wunderbarer Ort zum Ausspan-
 gration Caritas Bern werden die      in der Klientin, im Klienten aus-       nen – einfach ausgestattet, ohne
 Klientinnen und Klienten durch       zulösen. Denn ein Coach soll nicht      Strom und weitab von jeglichem
 die regionalen Sozialdienste zuge-   werten, sondern motivieren», erläu-     Verkehrslärm. «Das einzig Bestän-
 wiesen.                              tert der 56-jährige Jobcoach.           dige im Leben ist der Wandel», ist
 Als Sozialpädagoge hat sich Lothar   Das Finden von passgenauen Ar-          Lothar Schröger überzeugt. «Eines
 Schröger im systemischen Bera-       beits- und Praktikaplätzen sowie        Tages baue ich mir mein eigenes
 tungsansatz weitergebildet. «Sys-    die Zusammenarbeit mit den zu-          ­Tiny House und pflanze Bäume zum
 temisch zu denken und zu arbeiten,   weisenden Stellen gehören eben-          Schutz unseres Lebensraumes.»

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Kolumne

            Das Schweigen
            der Frauen
            Text: Martina Hügi Illustration: Isabelle Bühler

     I
              ch blickte auf den positiven Schwangerschaftstest             Nation und gehen durch Höllvetia, während ihnen
              und glaubte, es drei Monate lang niemandem erzäh-             strafend nachgerufen wird: «Selbst schuld!»
              len zu dürfen, obwohl ich genau dann am meisten
            Hilfe und Verständnis gebraucht hätte. Weil man so              Die letzte Hexe Anna Göldi brennt noch immer. Heu-
            bei einer Fehlgeburt einfacher weiter schweigen könn-           te hätte sie als alleinerziehendes Mami immerhin
            te, auch wenn man viel-                                                                      Sozialhilfe, aber Müt-
            leicht gar nicht will. Bis                                                                   ter werden nach wie vor
            mein Freund gestand,                                                                         verteufelt. Der moderne
            dass er unter dem Mit-                                                                       Scheiterhaufen heisst
            schweigen auch litt. Von                                                                     Armut. Man wird im
            da an sagte ich: «Raus!                                                                      Stich gelassen. Dabei
            Raus mit der Sprache!»                                                                       könnte gerade Mutter
                                                                                                         Helvetia Mamis aus ih-
            Doch das Schweigen                                                                           ren brenzligen Lagen
            der Frauen bleibt eine                                                                       befreien und zum Bei-
            altbewährte Tradition.                                                                       spiel die Kosten für die
            Wir haben seit 50 Jah-                                                                       Kinderbetreuung über-
            ren das Recht auf eine                                                                       nehmen – wie in fort-
            Stimme, aber kein Ge-                                                                        schrittlichen Ländern.
            sicht, weil unsere Be-                                                                       Damit Mamis wieder
            dürfnisse noch nicht                                                                         arbeiten können.
            gesehen werden. Und
            Mutter Helvetia schaut                                                                        Doch solange wir schwei-
            weg. Auf jeder kleinen                                                                        gen, signalisieren wir:
            Münze. Ihr Gegenüber                                                                          «Es ist ok.» Dabei ist
            ist ein muskulöser Alp-                                                                       es wie beim Sich-als-
            hirt. Auf den grösseren Münzen. Und zeigt, dass Män-            schwanger-Outen: Stoppen wir das Schweigen, denn wir
            ner mehr verdienen. Seit bald 140 Jahren. Ungleich-             sitzen nicht ohnmächtig in Eizell-Haft.
            stellung.
                                                                            Und besonders Mütter halten die nachhaltigste Waf-
            Will ich einen neuen Menschen ins Leben begleiten,              fe an der Hand: ihre Kinder. Wir können der nächsten
            geht das höchstens ein halbes Jahr, aber zur Hälfte             Generation vorleben, uns für Gerechtigkeit einzuset-
            lohn- und rentenfrei. Viele Mütter ertragen es stillend         zen, bis wir gehört und gesehen werden. Und solange
            schweigend. Sie sind doch die wahren Milchkühe der              Helvetia wegschaut, gebe ich dem Problem ein Gesicht.

                                                Martina Hügi (*1985) ist
                                                Comedienne und Slampoetin
                                                und lebt in Winterthur.
                                                www.martinahuegi.ch
Bild: zvg

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