Nachbarin - Armut ist weiblich - Caritas Graubünden
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St. Gallen-Appenzell – Thurgau – Graubünden Nr. 2 / 2021 Nachbarin Armut ist weiblich Seit 50 Jahren haben Frauen in der Schweiz politische Rechte. Gleichstellung ist jedoch noch nicht erreicht. Eine Folge: Frauen sind häufiger von Armut betroffen als Männer. Woran liegt das? Wie lässt sich das ändern?
Inhalt Inhalt 3 Editorial Kurz & bündig 4 News aus dem Caritas-Netz Bild: Zoe Tempest Schwerpunkt Die alleinerziehende Mutter Anika Vonow (Name 6 «Ich fühlte mich mutterseelenallein» geändert) ist auf Unterstützung angewiesen. Sie ist damit nicht allein: Frauen sind in der Schweiz häufiger von Armut betroffen als Männer. Schwerpunkt 10 Armut ist weiblich Schwerpunkt Schwerpunkt Armut ist weiblich 12 Interview: Erwerbsbiografien entscheiden In diesem Jahr feiern wir in der Schweiz 50 Jah- Ich will helfen re Stimm- und Wahlrecht für Frauen. Seither wurde in Sachen Gleichstellung von Mann 13 «Ich schlage eine Brücke zwischen und Frau viel erreicht – und doch nicht ge- zwei Welten» nug: Frauen sind in der Schweiz noch immer häufiger von Armut betroffen und tragen ein höheres Armutsrisiko als Männer. An diesen Caritas Thurgau Umstand wollen wir mit der einmalig violetten 14 SunntigsGwand – der Secondhand Farbgebung und dem abgewandelten Titel des aktuellen «Nachbarn» erinnern. Wir zeigen auf, laden mit Stil Ein Secondhandladen, der mehr ist als nur dass wirkliche Gleichstellung der Geschlech- ein Kleidergeschäft ter auch für die Armutsbekämpfung in der Schweiz entscheidend ist. Lesen Sie im Schwerpunkt die Geschichte von Caritas St. Gallen-Appenzell Anika Vonow (Name geändert). Schwanger- schaft, gesundheitliche Probleme, Kindsvater 17 Was ist und macht die weg, Lehrabbruch: Für die alleinerziehende Diakonieanimation? Mutter von zwei Mädchen geriet der Einstieg Szenen aus dem Alltag des Diakonieteams ins Berufsleben äusserst schwierig – mit weit- reichenden Folgen. 19 Die Stehauffrau Weshalb ist Anika kein Einzelfall? Was sind Eine junge Mutter lässt sich nicht unterkriegen die Gründe dafür, dass Frauen in der Schweiz stärker von Armut betroffen sind als Männer? 21 Femmes-Tische – Welche Massnahmen braucht es gegen diesen Frauen stärken Frauen Missstand? Die neue Ausgabe des «Nachbarn» In 13 Jahren 2200 Gesprächsrunden liefert Antworten. in 20 Sprachen Wir wünschen Ihnen eine spannende Lektüre! Kolumne ab Seite 6 23 Das Schweigen der Frauen 2 Nachbarn 2 / 21
Editorial Liebe Leserin, lieber Leser Sie haben es sicher schon am Titelbild gemerkt, bei dieser Aus- gabe wird aus dem Nachbarn für einmal eine Nachbarin. Weil Armut – leider immer noch – mehrheitlich weiblich ist. Und weil es – erst – 50 Jahre her sind, seit die Frauen in der Schweiz auf nationaler Ebene das Stimmrecht erhalten haben. Nicht nur die Titelseite ist anders geworden. Nach umfassen- den Abklärungen haben wir uns für eine ökologisch bessere und Alessandro Della Vedova ökonomisch vertretbare Verpackung entschieden. Aufgrund Geschäftsleiter Caritas Graubünden der Leserschaftsumfrage im letzten Jahr, siehe Seite 4, haben Judith Meier Inhelder wir zudem bei einzelnen Rubriken Änderungen vorgenommen Geschäftsleiterin Caritas Thurgau und sowohl dem Schwerpunktthema wie auch den regionalen Philipp Holderegger Geschäftsleiter Caritas St. Gallen- Seiten mehr Platz eingeräumt. Appenzell Inhaltlich bleibt das Magazin so vielfältig und spannend, wie es die Aufgaben von Caritas sind. «Nachbarn», das Magazin der Lesen Sie in dieser Ausgabe, weshalb ein Secondhandladen viel regionalen Caritas-Organisationen, mehr sein kann als ein Kleidergeschäft. Wie Frauen sich ge- erscheint zweimal jährlich: im April genseitig stärken, und wie eine junge Mutter trotz schwierigen und im Oktober. Umständen, dank der Unterstützung von Caritas, zuversicht- Gesamtauflage: 37 300 Ex. lich ihren Weg geht. Und erfahren Sie, wie vielseitig die Auf- Auflage SG/TG/GR: 3600 Ex. gaben der Diakonieanimation sind und wie Mitarbeitende und Freiwillige in den Pfarreien unterstützt werden. Redaktion: Susanna Heckendorn (regional) Roland Schuler (national) Lassen Sie sich von dieser Lektüre berühren. Gestaltung, Produktion und Druck: Stämpfli AG, Bern Papier: Profibulk, FSC-zertifiziert Alessandro Della Vedova Philipp Holderegger Versandfolie: «I’m eco» (aus recycelten Altfolien) Judith Meier Inhelder Caritas Graubünden Caritas St. Gallen-Appenzell Caritas Thurgau Tittwiesenstrasse 29 Langgasse 13 Franziskus-Weg 3 7000 Chur 9008 St. Gallen 8570 Weinfelden Telefon 081 258 32 58 Telefon 071 577 50 10 Telefon 071 626 11 81 www.caritasgr.ch www.caritas-stgallen.ch www.caritas-thurgau.ch PC 70-5372-2 PC 90-155888-0 PC 85-1120-0 Nachbarn 2 / 21 3
Kurz & bündig Leserschaftsumfrage Wie das «Nachbarn» bei Ihnen ankommt Im vergangenen Jahr baten wir Sie um Ihre Meinung zum «Nachbarn». Mit dem Markt- und Sozialforschungsinstitut gfs-zürich befragten wir die «Nachbarn»-Leserschaft online und mit einem Papierfragebogen. Gerne präsentieren wir Ihnen die wichtigsten Resultate und erste Änderungen. Eine starke Mehrheit der Befragten oder gekaufte Titel von ca. 30 Mi- nalen Inhalte (ab S. 14). Dies ge- (89%) bewertet das «Nachbarn» als nuten aus. Insgesamt kommt das schieht auf Kosten der Rubrik «gut bis sehr gut». Unser Maga- «Nachbarn» bei der Leserschaft sehr «Persönlich» mit der Passanten- zin erhält von der Leserschaft die gut an. Darüber freuen wir uns sehr! umfrage und der Kinderzeichnung. Note 4,3 auf einer Skala von 5. Ge- Zudem haben wir für die Versand- mäss gfs-zürich ist das ein sehr gu- Einige Änderungen folie die nachhaltige «I’m eco»- ter Wert. 78% der Leserinnen und Nicht alle Rubriken interessieren je- Variante gewählt, die einen hohen Leser lesen oder blättern zudem jede doch gleich stark. Aufgrund dieser Anteil an recycelten Altfolien ent- Ausgabe durch – auch das ein sehr Rückmeldungen nehmen wir bereits hält. Künftig streben wir auch guter Wert. Die durchschnittliche in dieser Nummer einige Änderun- eine bessere Verknüpfung des ge- Lesedauer beträgt rund 40 Minuten. gen vor: Wir stärken das Schwer- druckten «Nachbarn» mit online Zum Vergleich: Das Bundesamt für punktthema mit der Titelgeschichte publizierten Inhalten an und mit Statistik wies im Jahr 2018 einen (S. 6–9) und dem Expert/innen- gendergerechter Sprache werden Durchschnittswert für abonnierte Interview (S. 12) sowie die regio- wir uns weiter beschäftigen. Welche Rubriken des «Nachbarn» werden wie häufig gelesen? 100% 90% 88% 87% 80% 82% 78% 76% 70% 60% 64% 61% 58% 58% 50% 40% 30% 20% 10% 0% Kurznachrichten: Titelgeschichte Fachlicher Artikel zu Caritas- Kommentar Gastkolumne Ich will helfen: Passanten- Kinderzeichnung Kurz & bündig Hintergrundartikel Angeboten zur Sozialpolitik Porträt umfrage Welche Themen interessieren Sie am meisten? Das «Nachbarn»… 60% … informiert … ist … berichtet über … ist gut über vertrauens- relevante qualitativ … weckt 50% 53% 53% Caritas würdig Themen hochstehend Emotionen 100% 40% 90% 39% 80% 89% 88% 37% 84% 30% 35% 79% 70% 71% 20% 60% 50% 10% 40% 30% 0% Sozialpolitik Persönliche Blick hinter Caritas- Familienarmut 20% Schicksale die Caritas- Angebote 10% Kulissen 0% 4 Nachbarn 2 / 21
Kurz & bündig Lernstube Zürich Altstetten NEWS Lernen in ungezwungener youngCaritas Aargau gestartet Atmosphäre «youngCaritas Aargau» ist der neue Jugendbereich von Caritas Aargau für Jugendliche und junge Erwachsene von 14 bis 30 Jahren. Im Juni ist bei «youngCaritas Aargau» das erste Team von zehn jungen Menschen gestartet, die gemeinsam ein eigenes Freiwilligen- projekt aufbauen werden. Das neue Projekt der jungen Leute soll im Herbst 2021 Form annehmen. www.caritas-aargau.ch/youngcaritas Bild: Egelmair Photography Neue Digi-Treffs bei Caritas Solothurn Wer nicht mit Laptop und Smartphone umgehen kann, verliert heute schnell den Anschluss in vielen Lebens- bereichen. Ab Anfang 2022 startet deshalb bei Caritas Solothurn ein neuer Digi-Treff. Ratsuchende können Erwachsene, die Lücken in den schulischen mit ihren Geräten den Digi-Treff besuchen und ihre Grundkompetenzen aufweisen, geraten Fragen stellen. Freiwillige sind vor Ort und beantwor- ten die Anliegen individuell. im Alltag häufig in schwierige Situationen. www.caritas-solothurn.ch/news In Zürich bietet ihnen die Lernstube Zürich Altstetten unkompliziert Zugang zu Lern- und Unterstützungsangeboten. Caritas Luzern: 20 Jahre Sterbebegleitungskurse Laut Studien haben rund 15 Prozent der erwachsenen Der Kurs «Begleitung in der letzten Lebensphase» von Bevölkerung in der Schweiz Schwierigkeiten mit Le- Caritas Luzern feiert sein 20-Jahre-Jubiläum. 2001 sen, Schreiben und Rechnen, obwohl die Betroffenen fand der erste Kurs statt, der bereits grossen An- die gesamte Volksschule absolviert haben. Das Feh- klang fand. Seither haben rund 1100 Interessierte an len dieser schulischen Grundkompetenzen erschwert den Kursen teilgenommen. Die Teilnehmenden lernen es ihnen oft, einen Computer oder ein Handy zu be- durch eine intensive und persönliche Reflexion mit dienen und schränkt sie in ihrem privaten und beruf- dem Thema Tod, Sterbende und deren Angehörige lichen Alltag stark ein. zu begleiten. www.caritas-luzern.ch/sterbebegleitung In Zürich erhalten diese Menschen mit dem Ange- bot der Lernstube dank kostenlosen und einfach zugänglichen Lern- und Unterstützungsangeboten eine Perspektive. Mitte August ist die Lernstube Caritas Thurgau: Notherberge sucht Unterstützung Zürich Altstetten, die Caritas Zürich im Auftrag des Die Kirchliche Notherberge Thurgau bietet seit Früh- Mittelschul- und Berufsbildungsamtes Kanton Zü- ling 2020 eine Unterkunft für Menschen in akuten rich betreibt, am neuen Standort im Stellwerk 500 in Notsituationen. Sie ist seit ihrer Eröffnung stark aus- Zürich Altstetten eingezogen. Nebst offenen Kursen, gelastet. Im November 2020 wurde als Trägerschaft um besser Lesen, Schreiben, Rechnen oder die Bedie- ein Verein gegründet, in dem Caritas Thurgau im Vor- nung von Computer und Handy zu lernen, bietet die stand vertreten ist. Die Notherberge sucht weitere Lernstube einen Schreibdienst zur Unterstützung Mitglieder und Spender/innen, um den Betrieb sicher- bei administrativen Themen sowie eine Bewerbungs- stellen zu können. werkstatt. Ergänzt werden die Angebote mit einer www.kirchliche-notherberge.ch kostenlosen Kinderbetreuung. www.caritas-zuerich.ch/lernstube Nachbarn 2 / 21 5
«Warum hast du nicht abgetrieben?» Diese Frage will Anika Vonow nie mehr hören, auch wenn sie heute auf Unterstützung angewiesen ist. Noch während der Lehre zur Systemgastronomin wurde die heute 24-Jährige schwanger. Sie musste die Ausbildung abbrechen – aber sie gibt nicht auf.
Schwerpunkt «Ich fühlte mich mutterseelenallein» Nichts wünscht sich die 24-jährige, alleinerziehende Mutter von zwei Mädchen mehr, als endlich auf eigenen Füssen zu stehen, auszubrechen aus der Armut und Einsamkeit. Und nie mehr die Frage zu hören: «Warum hast du nicht abgetrieben?» Viele Frauen erleben Ähnliches in der Schweiz. Text: Lena Tobler Bilder: Zoe Tempest V on Armut betroffen? Ich? Wahrscheinlich an den Glücksmoment, als sie die kleine Ava* in den hätte Anika Vonow* gelacht, wenn ihr dies Armen hielt. «Ohne Unterstützung hätte ich es nicht jemand an ihrem 18. Geburtstag prophezeit geschafft», ist Anika überzeugt. hätte. Warum auch? Frisch verliebt blickte die angehende Systemgastronomiefachfrau zuver- sichtlich in die Zukunft. Bis ein paar Monate später ein Schwangerschaftstest ihre Befürchtungen bestä- «Wie soll ich als alleinstehende tigte: Sie erwartete ein Kind. Was nun? Ihre Eltern, Mutter in Ausbildung zwei geschockt von dem, was ihrer Ansicht nach nicht sein durfte, wandten sich von ihrer Tochter ab. Und der Va- Kinder ernähren?» ter des Kindes? Traurig winkt Anika ab. Zu schmerz- haft ist die Erinnerung an damals, als er einfach aus ihrem Leben verschwand. Trotz Verhütung wieder schwanger Anika fasste neuen Mut. Nun wollte sie ihren Lehr- Für Anika war klar: Sie würde das Kind zur Welt brin- abschluss nachholen. Nach unzähligen Bewerbungen gen. Doch die anspruchsvolle Ausbildung, Schwan- fand sie nach rund einem Jahr einen Lehrbetrieb, in gerschaftsbeschwerden und die wachsende Sorge um dem sie wieder ins zweite Lehrjahr einsteigen konnte. die Zukunft waren zu viel. «Auch meine Freundinnen Als sie sich kurz darauf erneut verliebte, schien ihre verabschiedeten sich sang- und klanglos von mir. Ich Welt in Ordnung. Doch die Geschichte wiederholte sich: fühlte mich mutterseelenallein und war plötzlich Trotz Verhütung wurde Anika bald darauf schwanger – völlig isoliert.» Das war für die werdende Mutter das und wieder liess sie der Kindsvater im Stich. Schlimmste. Die junge Frau wurde krank, verlor ihre Lehrstelle und wusste nicht mehr ein und aus. In ih- Alle rieten ihr abzutreiben. Und auch sie fragte sich: rer Not wandte sie sich an die Schweizerische Hilfe «Wie soll ich als alleinstehende Mutter in Ausbildung für Mutter und Kind (SHMK), wo sie ein offenes Ohr zwei Kinder ernähren?» Ihre Mutter stand zwar wieder für ihre Sorgen fand. Auf deren Anraten meldete sie zu ihr. Als IV-Rentnerin konnte sie ihre Tochter aber sich beim Sozialamt. Ihr wurde ein Platz vermittelt, höchstens moralisch unterstützen. So ganz auf sich al- an dem sie sich abseits vom Alltag erholen und auf die lein gestellt, sah sie keinen anderen Ausweg, als sich Geburt vorbereiten konnte. Noch gut erinnert sie sich von ihrem ungeborenen Kind zu trennen. Nachbarn 2 / 21 7
Schwerpunkt Im Spital wurde Anika aber plötzlich klar: «Das ist Anika ist kein Einzelfall. In der Schweiz tragen Frauen mein Kind. Es lebt. Eine Abtreibung werde ich nie ver- ein höheres Armutsrisiko als Männer. Wie bei Anika kraften. Und wenn ich noch viel weiter unten durch sind das Mutterwerden und die fehlende Vereinbarkeit muss – ich behalte es.» Noch einmal wandte sie sich von Ausbildung oder Job mit der Familiensituation an ihre Betreuerin bei der SHMK. Diese kam sofort ins entscheidende Gründe für diesen Missstand. Armut Spital, regelte den Austritt und nahm Anika sogar für ist auch in der Schweiz zu einem grossen Teil weiblich eine Nacht zu sich nach Hause. «Ich stand völlig neben (siehe S. 10–12). mir», erinnert sie sich. Dass ein paar Monate später die Geburt mit dem letzten Schulblock vor dem Abschluss Highlights und Entlastung Inzwischen sind die Mädchen drei- und fünfjährig. Wenn Anika von ihren Mädchen erzählt, hat ihre Stim- «Ich bin so glücklich, me einen warmen Klang und ihre Augen strahlen. «Ich dass die beiden da sind.» bin so glücklich, dass die beiden da sind.» Wochentags werden die Mädchen von einer Tagesmutter betreut. Anika ist froh darüber, so kommen die beiden mit an- kollidierte, liest sich wie die Ironie des Schicksals. Sie deren Menschen zusammen. Glücklich ist die heute hatte doch alles gegeben. Obwohl bislang sehr ver- 24-jährige Mutter auch, dass Ava und Aliki über das ständnisvoll, sah sich ihr Lehrmeister ausser Stande, Caritas-Patenschaftsprojekt «mit mir» eine Patin und die Lehre um ein weiteres Jahr zu verlängern. Erneut zwei Paten gefunden haben. Die Patin von Ava geht mit stand Anika vor dem Nichts, diesmal aber mit der ihr in den Wald, zum Schwimmen und verbringt so viel zweijährigen Ava und der neugeborenen Aliki*. Zeit mit ihr. Die Paten von Aliki unternehmen meist mit Günstige Lebensmittel und Notwendiges für den Haushalt findet Anika regelmässig im Caritas-Markt. Das entlastet das Familienbudget merklich. 8 Nachbarn 2 / 21
Schwerpunkt beiden Mädchen schöne Ausflüge. Diese Ausflüge sind Highlights für die Kinder und entlasten den Alltag von Anika stark. Das Familienbudget wird zudem durch den Caritas-Markt geschont. Anika kann sich dort re- gelmässig mit günstigen Lebensmitteln für die Familie und verbilligten Haushaltprodukten versorgen. Endlich auf eigenen Füssen stehen Gesundheitlich erlebt Anika immer noch Auf und Abs. Dass sie trotzdem Teilzeit und im Stundenlohn bei einer Fast-Food-Kette arbeiten kann, gibt ihr Auf- trieb. «Hier kann ich zeigen, was ich kann.» Dass ihr Arbeitgeber nach einem kurzen Unterbruch auch während des Lockdowns geöffnet hatte, war für sie ein Glücksfall. Die phasenweise geschlossenen Schu- len und das damit verbundene Homeschooling waren jedoch eine zusätzliche Belastung im Alltag der Allein- erziehenden. Anika mag ihren Job. Doch der kleine Verdienst und die Alimente für Aliki reichen bei Weitem nicht zum Leben. Die Abhängigkeit vom Sozialamt macht der jungen Frau sehr zu schaffen. Ihr grösster Wunsch ist es, endlich einen Berufsabschluss zu schaffen und ihre Familie aus eigener Kraft unterhalten zu können. Der Versuch, nach der Geburt von Aliki die Handels- schule zu absolvieren, wurde gleich von zwei Abend- Lesen und Ruhe: So tankt die alleinerziehende Mutter in ihrer spärli- chen Freizeit Kraft. «Noch wissen die Mädchen nicht, was es heisst, arm zu sein.» zu sein und dass ihre Mutter jeden Franken zwei- oder gar dreimal umdrehen muss. Und warum sie ihnen den Wunsch nach einem Paar Finken mit dem Bild der Schneekönigin Elsa nicht erfüllen kann. Froh ist Ani- schulen im Keim erstickt. Der Berater bei der einen ka über die gut erhaltenen Kinderkleider, die sie von meinte: «Gehen Sie lieber arbeiten. Die Schule kön- ihrer Nachbarin erhält oder die Unterstützung durch nen Sie nachholen, wenn die Kinder grösser sind.» Bei Caritas. Trotzdem möchte sie mit all ihren Kräften aus der zweiten bekam sie zu hören: «Ein Handelsdiplom schafft man nicht nur mit dem Präsenzunterricht.» Solche gedankenlos dahingesagten Phrasen verletzen «Es tut weh, als Anika zutiefst. Genauso wie die Frage einer der spär- lichen Kolleginnen: «Wie kannst du dir mit dem Geld Sozialschmarotzerin vom Sozialamt einen Fernseher leisten?» Dass sie die- abgestempelt sen von ihrer Mutter erhalten hat, macht die Sache nicht besser. «Es tut weh, als Sozialschmarotzerin ab- zu werden.» gestempelt zu werden.» Ausbruch aus der Armutsfalle der Armutsfalle ausbrechen und sich gegen Ende des Entmutigen lässt sich die junge Mutter nicht: Sie Monats nicht immer fragen müssen, ob das Geld noch plant, nächstes Jahr ihre Lehre doch noch abzuschlies- für die Lebensmittel reicht. «Und vor allem will ich nie sen. Sie weiss, dass sie das kann, und hofft auf einen mehr mit der Frage konfrontiert werden: Warum hast Lehrbetrieb, der ihr eine Chance gibt. Sie will endlich du nicht abgetrieben?» auf eigenen Füssen stehen. Für sich und ihre beiden Mädchen. Noch wissen diese nicht, was es heisst, arm * Namen geändert Nachbarn 2 / 21 9
Schwerpunkt Armut ist weiblich 50 Jahre nach Annahme des Stimm- und Wahlrechts für Frauen bleiben in der Schweiz zentrale Ungleichheiten zwischen den Geschlechtern bestehen. Diese führen dazu, dass Frauen überdurchschnittlich oft von Armut betroffen sind. Text: Dr. Bettina Fredrich, Geschäftsleiterin der Eidgenössischen Kommission für Frauenfragen (EKF) Illustration: Isabelle Bühler D ie Armutsquote von Frauen liegt bei 9,1 Pro- Frauen ist also alles andere als zufällig – sie ist syste- zent, diejenige von Männern bei 8,4 Prozent. matisch. Welches sind die Gründe dafür? Beschränkt man sich auf Schweizer Staatsan- gehörige, lag die Armutsquote von Frauen 2019 bei Auf dem Arbeitsmarkt schlechter gestellt 8,1 Prozent, jene der Männer bei 6,7 Prozent. Einige Frauen sind überdurchschnittlich oft von prekären mögen den Unterschied kleinreden. Seine Relevanz Lebenslagen betroffen. Sie bekommen fast doppelt so liegt jedoch in der Tatsache, dass Frauen seit Beginn häufig als Männer nur befristete Arbeitsverträge oder der Armutsmessung stets häufiger von Armut betrof- gehen mehreren Jobs gleichzeitig nach. Auch die Quote fen waren als Männer. Dies gilt auch für die Armuts- der Unterbeschäftigung ist bei Frauen viel höher. Das gefährdung, also das Risiko, in Armut abzurutschen. heisst, sie würden gerne mehr arbeiten, finden aber kei- Die stärkere Armutsbetroffenheit und -gefährdung von ne Stelle mit höherem Pensum. Bei den Aussteuerun- 10 Nachbarn 2 / 21
Schwerpunkt gen zeigt sich ein ähnliches Bild. Verlieren Frauen ihre Kommentar Arbeit, tragen sie ein grösseres Risiko, ausgesteuert zu werden und ganz aus dem Arbeitsmarkt auszuscheiden. Armut und Frauen verdienen weniger Gleichstellung Hinzu kommen grosse Lohnunterschiede: Gemäss Bundesamt für Statistik lag 2018 der Medianlohn von zusammen angehen Frauen bei 6067 Franken, derjenige von Männern bei 6857 Franken. Fast die Hälfte dieses Unterschieds ist Prekäre Arbeitsverhältnisse in so- nicht erklärbar durch strukturelle Faktoren wie Bil- genannten Frauenberufen sowie dungsniveau, Arbeitserfahrung oder Führungsposi- fehlende Vereinbarkeit von Beruf tionen. Das Lohnniveau in Berufen mit einem hohen und Familie sind entscheidende Frauenanteil liegt denn auch deutlich tiefer als das Ursachen von Frauenarmut. Was Lohnniveau in Berufen mit einem hohen Männeranteil. ist zu verbessern? Frauen und Männer haben ein Recht Teilzeiterwerb durch Familiengründung auf eine existenzsichernde Arbeit. Der Entscheid zur Erwerbstätigkeit bei der Familien- Dass menschenzentrierte Tätigkei- gründung ist immer noch wesentlich vom Lohn und ten wie Pflege und Betreuung, so- somit vom Geschlecht abhängig. Während Frauen ihr genannte Care- oder Sorgearbeit, Erwerbspensum mehrheitlich reduzieren und einen viel schlechter abgegolten werden Grossteil der unbezahlten Haus- und Betreuungsarbeit als beispielsweise Tätigkeiten in der übernehmen, stocken Männer ihr Erwerbspensum in Finanzbranche, bedarf einer Kor- der gleichen Lebensphase auf. Dadurch tragen aber rektur. Wo nicht einmal Mindest- Frauen auch das Armutsrisiko. Bei einer Trennung löhne bezahlt werden, braucht es die oder Scheidung laufen sie Gefahr, ihren Lebensunter- Einführung eines gesetzlichen Min- halt nicht sichern zu können. Heute können nicht ein- destlohnes. Um die Vereinbarkeit mal die Hälfte der Frauen in der Deutschschweiz ihre von Familie und Beruf für alle zu er- Existenz alleine sichern. möglichen, muss das Angebot an fa- milienexterner und schulergänzen- Familie und Beruf schwer vereinbar der Kinderbetreuung die Nachfrage Dies hat auch mit der mangelhaften Vereinbarkeit von decken. Mindestens für armutsbe- Familie und Beruf in der Schweiz zu tun. Kita-Plätze troffene Familien müssen die Ange- sind nicht nur sehr teuer, es gibt auch noch zu wenige. bote kostenlos sein. Nur so können Viele Frauen verzichten deshalb – auch unfreiwillig – Frauen ihre Arbeitspensen erhöhen auf eine Erwerbsarbeit. Das wirkt sich jedoch später und das Armutsrisiko verringern. negativ aus, denn die Altersvorsorge ist an Erwerbsar- Die unbezahlte Sorgearbeit soll- beit gekoppelt. Weil Frauen aber während der Erwerbs- te zudem besser zwischen Frauen phase weniger verdienen, oft nur in Teilzeitpensen tä- und Männern verteilt werden. Die tig sind oder nach der Geburt eines Kindes ganz aus Wirtschaft muss entsprechende dem Erwerbsleben ausscheiden, sind sie auch im Alter Arbeitsmodelle fördern. Vorgesetz- öfter arm. Fast zwei Drittel der Beziehenden von Er- te sollen Väter- und Männerrol- gänzungsleistungen sind Frauen. len vorleben, die die Übernahme von Betreuungs- und Hausarbeit Wirft Corona die Frauen zurück? als etwas Selbstverständliches be- Neben den Einkommenseinbussen und Arbeitser- trachten. Unternehmen können eine schwernissen waren für viele Familien auch das Home- Vorreiterrolle übernehmen in der office und die Schulschliessungen belastend. Die ersten Einführung von Elternzeiten und Studien zeigen deutlich, dass Mütter durch das Home- tieferen Wochenarbeitszeiten, wenn office stärker beeinträchtigt waren als Männer, weil sie Arbeitnehmende mit tiefen Löhnen gleichzeitig Kinder betreuen mussten. So erstaunt es Betreuungsaufgaben haben. So kön- wenig, dass vorab Mütter im ersten Lockdown im Früh- nen Gleichstellung und Armut zu- ling 2020 ihr Pensum im Homeoffice reduzierten. sammen angegangen werden. Die Gleichstellung lässt auf sich warten, mit gravie- renden Konsequenzen. Eine davon: stärkere Armuts- Marianne Hochuli, Mitglied der betroffenheit. Geschäftsleitung, Caritas Schweiz Nachbarn 2 / 21 11
Schwerpunkt ERWERBS- BIOGRAFIEN ENTSCHEIDEN Dr. Isabel Martínez Ihr aktueller Forschungs- schwerpunkt liegt bei der Verteilung von Einkommen und Vermögen sowie bei Bild: Florian Bachmann Steuerfragen. Sie ist Ein Interview mit Isabel Martínez, Mitautorin der KOF-Studie promovierte Ökonomin, Konjunktur- zu Corona und Ungleich- forschungsstelle (KOF), ETH Zürich heit in der Schweiz. Interview: Roland Schuler Frauen sind in der Schweiz noch immer einem Buben wird es noch oft leichter gemacht, einen gut be- höheren Armutsrisiko ausgesetzt als Männer. zahlten Ingenieursjob zu wählen, wohingegen Mädchen die Weshalb ist das so ist? schlechter bezahlte Option Kindergärtnerin nahegelegt Scheidung und Alter sind statistisch gesehen die grössten Ar- wird. Da liegt noch ein Weg vor uns. mutsrisiken. Frauen sind in beiden Lebenslagen stärker be- troffen als Männer. Das hat in erster Linie mit den weiblichen Sie fanden in einer aktuellen Studie* heraus, Erwerbsbiografien zu tun. In unserer Gesellschaft sind diese dass die Corona-Krise bestehende Ungleichheit geprägt von der Geburt von Kindern. Es wird auch von der verschärfte. Wie zeigt sich das? «Mutterschaftsstrafe» gesprochen. Mütter kehren nicht mehr, Haushalte mit tiefen Einkommen haben in der Corona-Kri- in viel kleineren Pensen oder in Jobs mit geringerem Lohn zu- se höhere Einkommensausfälle als finanziell besser Ge- rück ins Erwerbsleben. Das führt zu höherem Armutsrisiko. stellte. Im Durchschnitt mehr als 20 Prozent gegenüber 8 Prozent bei besser Verdienenden. Sie mussten auch viel Wo sehen Sie Hebel, um dieses Risiko zu mindern? häufiger Erspartes auflösen. Viele verschuldeten sich gar. Ein grosser Hebel wäre eine kostenlose, flächendeckende Kinderbetreuung. Eine solche müsste eine Grundinfra- Zeigen sich Geschlechterunterschiede in der struktur sein – wie Schienen und Strassen. Heute stehen Betroffenheit durch die Krise? viele Paare vor der Entscheidung: Soll die Frau mehr arbei- In der Corona-Krise stieg bei Frauen besonders die Mehrbe- ten? Oder lohnt sich das aufgrund der Betreuungskosten, lastung durch Homeschooling und Betreuung stärker als bei die dadurch entstehen, nicht? Dabei zeigt die Forschung, Männern. Frauen reduzierten auch ihre bezahlte Arbeit stär- dass für Mütter der Wiedereinstieg ins Erwerbsleben für ker als Männer. In Wirtschaftskrisen ist typischerweise die die ökonomische Absicherung sehr wichtig ist. Exportwirtschaft mit klassischen Männerberufen betroffen. Anders in dieser Krise: Die Binnenwirtschaft mit Branchen Bei der Kinderbetreuung wären auch die Väter in der Pflicht. mit hohem Frauenanteil wie Detailhandel oder Gastronomie Sicherlich. Hier wäre eine Vaterschaftszeit förderlich – und ist ebenfalls stark betroffen. Gemessen an den Arbeitslosen- zwar startend erst dann, wenn der Mutterschaftsurlaub en- zahlen sind Frauen jedoch nicht stärker betroffen als Männer. det. Das würde den beruflichen Wiedereinstieg von Müt- tern entscheidend fördern. Die Krise trifft die Ärmsten am stärksten. Mit Blick in die Zukunft: Was macht Ihnen da am meisten Sorgen? Welche Rolle spielt die Lohnungleichheit zwischen den Wer wenig verdient und in der Krise Erspartes aufbrau- Geschlechtern? chen musste, kann nicht auf Knopfdruck etwas ansparen. Bei einem Paar verdient die Frau meist weniger als der In der nächsten Wirtschaftskrise droht ein Polster zu feh- Mann. Das ist nach wie vor so. Es macht für viele Paare len. Und wir wissen: Eine nächste Wirtschaftskrise kommt daher ökonomisch Sinn, dass die Frau beruflich kürzertritt. mit Sicherheit. Auch aus gesamtökonomischer Sicht birgt fehlendes Polster ein Risiko: Wenn die Menschen genug Müsste nicht auch hier angesetzt werden? Geld haben, um die Binnennachfrage zu gewährleisten, Ganz klar. Gleicher Lohn für gleiche Arbeit sollte selbst- kann diese bei Krisen dämpfend wirken. verständlich sein, keine Diskussion. Es gibt bei den Einkom- mensunterschieden zwischen den Geschlechtern aber zu- * KOF-Studie zu Corona und Ungleichheit in der Schweiz: sätzlich strukturelle Ungleichheiten in der Sozialisierung: https://kof.ethz.ch > Suchbegriff «Corona und Ungleichheit» 12 Nachbarn 2 / 21
Ich will helfen «Ich schlage eine Brücke zwischen zwei Welten» Jeannine arbeitet als Freiwillige bei Caritas Luzern für das Patenschaftsprojekt «mit mir». Die Sekundarlehrerin begleitet als regionale Vermittlerin zurzeit neun Patenschaften und unterstützt die Patinnen und Paten, die Kinder und ihre Eltern beim Beziehungsaufbau. Text und Bild: Claudia Blaser «Bereits als Jugendliche habe ich erste Erfahrungen andere Menschen in ihrem Umfeld engagieren, ohne als Freiwillige gesammelt – in einem Konzertlokal da- Geld dafür zu erwarten. Es muss ja nicht unbedingt in heim in Sursee. Ich bin in einer sehr engagierten Fami- einem Projekt oder Verein sein. Man kann auch dem lie aufgewachsen. Bei uns gehörte freiwilliges Engage- Grosi beim Wocheneinkauf oder dem Nachbarn beim ment einfach dazu. In den letzten Jahren bin ich viel Pneuwechsel helfen. Wichtig ist einfach, dass wir den gereist. Besonders der Nahe Osten hat es mir angetan. Zusammenhalt nicht vergessen, dass wir alle zum so- Die enorme Gastfreundschaft, die ich auf meinen Rei- zialen Miteinander beitragen.» sen erleben durfte, hat in mir den Wunsch geweckt, mich zu Hause in der Schweiz für Migrantinnen und Migranten zu engagieren. Seit drei Jahren bin ich nun als regionale Vermittlerin im Caritas-Projekt «mit mir» tätig, das benachteiligte Kinder mit einer freiwilligen Bezugsperson zusam- menbringt. Ziel ist es, den Kindern etwas zu ermögli- chen, das ohne diese Hilfe nicht möglich wäre, und die Eltern zu entlasten. Zurzeit begleite ich neun Paten- schaften in der Zentralschweiz. Ich bin beim ersten Treffen dabei, kläre Wünsche und Erwartungen ab, führe regelmässig Gespräche mit allen Beteiligten und bin bei Fragen immer für sie da. Es ist immer wieder schön mitzuerleben, wie in wenigen Monaten eine nachhaltige Beziehung zwischen den Patinnen und Pa- ten und ihrem Patenkind entsteht. Für mich ist es eine grosse Bereicherung, dass ich eine Brücke zwischen zwei Welten schlagen und Personen zusammenführen kann, die sich sonst nie getroffen hätten. Es imponiert mir, wie viel Vertrauen die Kinder und ihre Eltern der für sie zunächst fremden Person ent- STECKBRIEF gegenbringen. Um sich auf Unbekanntes einzulassen, Jeannine Ambühl (32) ist in Sursee aufgewachsen und braucht es ja meistens etwas Überwindung. Die Offen- wohnt heute in Luzern. Sie absolvierte zunächst eine KV- heit und Neugier, die dieses Projekt erfordert, finde ich Lehre, bevor sie sich zur Lehrerin ausbilden liess. In der sehr inspirierend. Das bekräftigt mich immer wieder Freizeit singt die Sekundarlehrerin in einem Chor und ist in meinem Engagement. Kraft gibt mir auch der Aus- gerne in der Natur unterwegs. Sie ist viel gereist und be- tausch mit anderen Freiwilligen. Es motiviert mich zu sonders fasziniert von der arabischen Kultur. sehen, dass ich nicht allein bin, dass sich auch viele Nachbarn 2 / 21 13
Caritas Thurgau SunntigsGwand – der Secondhandladen mit Stil Kleidern, die nicht mehr passen oder gefallen, ein zweites Leben geben? Für wenig Geld etwas Schickes zum Anziehen ergattern? Oder ein offenes Ohr finden und auf dem roten Sofa einen Kaffee trinken? Im SunntigsGwand ist alles möglich. Text: Susanna Heckendorn Bilder: Sun Fotografie; Susanna Heckendorn S econdhandläden entsprechen dem Zeitgeist; der schonende Umgang mit Ressourcen ist für viele selbstverständlich geworden. Dazu gehört auch, Kleider, die noch gut erhalten sind, die man aber nicht mehr tragen kann oder will, nicht einfach in die Textilsammlung zu geben. Oder, anstatt im Internet schnell etwas Neues zu bestellen, sich nach etwas Gebrauchtem umzusehen. Und die Läden entsprechen auch der Philosophie von Caritas, Menschen, die an der Armutsgrenze leben, günstige Einkaufsmöglichkeiten zu bieten. Die bestehenden Secondhandläden der verschiedenen Caritas-Regional- stellen sind denn auch gut frequentiert. Mit der Eröffnung des SunntigsGwand konnte Judith Meier Inhelder, Geschäftsleiterin von Caritas Thur- gau, ein lang gehegtes Anliegen realisieren. «Wir er- halten seit Jahren immer wieder Anfragen von Per- sonen, die gut erhaltene, schöne Kleider weitergeben möchten. Und die meisten unserer Klientinnen und Klienten sind auf günstige Einkaufsmöglichkeiten angewiesen.» Im Angebot sind hochwertige Kleider, aber auch Schmuck und hübsche Accessoires sowie wenige Schuhe. Wer eine KulturLegi besitzt, erhält 30 bis 50 Prozent Rabatt auf die angeschriebenen schon günstigen Preise. Das SunntigsGwand ist auch über Mehr als ein Secondhandladen – das SunntigsGwand. Mittag geöffnet, sodass sowohl Berufstätige wie auch Schülerinnen und Schüler der nahe gelegenen Berufs- schule die Möglichkeit haben, in ihrer Mittagspause Der Laden läuft vorbeizuschauen. Und wer Anspruch hat, aber noch Die Kundschaft im Laden ist so vielfältig wie das Ange- keine KulturLegi besitzt, kann den Antrag gleich im bot. «Viele kommen zuerst einmal aus Neugier», weiss Laden ausfüllen. Damit ist das SunntigsGwand auch Petra Hoksbergen, Ladenleiterin. Inzwischen hat das eine niederschwellige Anlaufstelle für künftige Klien- SunntigsGwand schon einen guten Namen. Das liegt tinnen und Klienten von Caritas Thurgau. nicht zuletzt an der Modeschau, die am Weinfelder 14 Nachbarn 2 / 21
Caritas Thurgau Das rote Sofa lädt zum Verweilen ein. Freitag im Mai durchgeführt wurde und auf ein gros- Die 91-jährige Dame sucht etwas für die Hochzeit ihrer ses Echo stiess. Kundinnen und Bekannte fungierten Enkelin und findet ein leuchtend blaues Kleid mit pas- als Modell, die vorgeführten Kleider stammten selbst- sender Chiffonjacke, beides steht ihr ausgezeichnet. verständlich alle aus dem Laden. «Leider ist es noch «Alle denken, ich trage eine schwarze Hose. Die wer- zu wenig bekannt, dass man bei uns – im Gegensatz den schön staunen, wenn ich als bunter Vogel daher- zu den Caritas-Märkten – auch ohne KulturLegi ein- komme», schmunzelt sie. Alle, die im Laden stehen, kaufen kann», bedauert Petra Hoksbergen und hofft, freuen sich mit ihr. Und da ist noch die Frau, Mitte dass sich das bald ändern wird. Obwohl die Kundschaft dreissig, die sich durch Hosen, T-Shirts und Sportdress grösstenteils weiblich ist, gibt es eine grosse Auswahl wühlt. Aus gesundheitlichen Gründen hat sie viel Ge- an Herrenkleidern. wicht verloren und braucht nun eine neue Garderobe. Zwischen fünf und vierzig Kundinnen zählt das Sun- Strahlend und mit einer grossen Tasche voller Kleider ntigsGwand pro Tag. Noch haben sich keine besonders verlässt sie den Laden und meint: «Ich komme sicher verkaufsintensiven Wochentage herauskristallisiert, wieder.» Auch Schnäppchenjägerinnen kommen im aber über Mittag und nach Feierabend ist die Frequenz SunntigsGwand auf ihre Kosten. So fand kürzlich eine spürbar höher. Petra Hoksbergen führt den Laden mit Chanel-Jacke eine glückliche Besitzerin. Es ist wichtig, einem 80-Prozent-Pensum, ihre Stellvertreterin, Rita dass die Kleider erschwinglich sind, damit auch Leu- Oberholzer, arbeitet auf Stundenbasis. Hinzu kommen te mit einem bescheidenen Budget einkaufen können. jeweils Freiwillige, die beim Sortieren und Einräumen Hübsche T-Shirts gibt es regulär schon ab fünf Fran- mithelfen. ken, mit dem KulturLegi-Rabatt kostet das Shirt dann nur noch 3.50 Franken. Eine vielfältige Kundschaft Vom 14-jährigen Teenie in Begleitung der Mutter bis Gutscheine machen Freude zur betagten Dame – die Kundschaft ist bunt. Während Wer gut erhaltene Kleider spendet, erhält als Danke- die Mutter ihrer Tochter «etwas Vernünftiges» kaufen schön einen kleinen Gutschein für das SunntigsGwand. will, freut sich diese über zu grosse alte Herrenanzüge; Die katholische Kirchgemeinde hat eine grössere An- die seien jetzt absolut im Trend. zahl Gutscheine gekauft, die sie an Armutsbetroffene Nachbarn 2 / 21 15
Caritas Thurgau Für Petra Hoksbergen ist das Sunntigs- Gwand mehr als ein Job. Einkaufen in stimmungsvoller Ambiance. Im SunntigsGwand abgibt. Es sei immer wieder schön, zu erleben, wie diese kann man sich Menschen das unbeschwerte Stöbern und Aussuchen von Kopf bis Fuss geniessen würden, sagt Petra Hoksbergen. Kürzlich neu einkleiden. habe jemand eine Tasche voll schöner, modischer Klei- der abgegeben. Den Gutschein, den die Person dafür er- bergen. Bei solchen Begegnungen spüre man oft, dass hielt, gab sie sogleich an eine Frau weiter, die im Laden jemand ein offenes Ohr nötiger habe als neue Kleider. nach etwas Günstigem suchte. «Diese war überwältigt und konnte ihr Glück kaum fassen», erinnert sich Petra Was noch werden kann Hoksbergen. Mit einer Ausbildung als Schneiderin, einem Diplom in Modedesign und vielen Jahren Erfahrung in der Mehr als ein Kleiderladen Textil- und Modebranche hat Petra Hoksbergen im Im SunntigsGwand soll man nicht nur günstige Klei- SunntigsGwand eine tolle Aufgabe gefunden. So ist es der und Accessoires kaufen können. Es gehört zum für sie selbstverständlich, dass sie kleinere Änderun- Konzept, dass der Laden auch ein Begegnungsort ist. gen vornimmt, damit ein Kleidungsstück richtig sitzt. Das rote Sofa lädt ein zum Innehalten und Verschnau- Was verwertbar ist, soll verarbeitet werden, findet sie. fen oder um mit anderen Menschen ins Gespräch zu Im Atelier, im hinteren Teil des Ladens, werden aus kommen. «Einsamkeit ist in unserer Gesellschaft ein Herrenhemden Taschen fabriziert, und Jeans eignen grosses Problem, das sich mit Corona noch verstärkt sich ideal als Material für Sitzkissen. hat», weiss Judith Meier Inhelder. «Auch hier wollen Es ist ihr ein grosses Anliegen, dass das Sunntigs- wir von Caritas entgegenwirken.» Gwand in Weinfelden noch bekannter wird. Neben Mo- Die Idee funktioniert. Als sich eine ältere Dame beim deschauen und Ausstellungen kann sie sich auch eine Umsehen viel Zeit nahm, bot Petra Hoksbergen ihr Zusammenarbeit mit Schulen gut vorstellen. «Kleider, einen Kaffee an. Auch der nächsten Kundin, die kurz die sich bei uns nicht verkaufen lassen, sind ein tolles darauf den Laden betrat, wurde ein Kaffee offeriert. Ausgangsmaterial für Projekte im Textilen Gestalten. «Die beiden Damen setzten sich aufs rote Sofa und es Und die jungen Menschen lernen gleichzeitig etwas entstand ein toller Austausch», freut sich Petra Hoks- über Caritas und wie nah Armut sein kann.» 16 Nachbarn 2 / 21
Caritas St. Gallen Was ist und macht die Diakonieanimation? «Was macht ihr eigentlich?» Diese Frage wird den Mitarbeitenden der Diakonieanimation Caritas St. Gallen-Appenzell immer wieder gestellt. Eine kurze Antwort ist kaum möglich, zu unterschiedlich sind die Tätigkeiten. Wie diese aussehen können, zeigen ein paar Szenen aus dem Alltag. Text: Gregor Scherzinger Bilder: Olivia Conrad, Peter Dotzauer, Gregor Scherzinger O b als Ideenfabrik, Projekt- planungshelfende, Vernet- zungsmoderator oder Bil- dungsarrangeurin, die Mitarbeiten- den im Diakonieteam bringen sich dort ein, wo dies gewünscht wird. Mit dem Caritas-Background kön- nen sie auf ein breites Netzwerk und vertieftes Know-how in den Themenfeldern Armut und Migra- tion zurückgreifen. Ihr Fokus liegt auf dem Fördern von solidarischen und diakonischen Gemeinschaften. Ihr Auftrag ist es, den Engagierten in den Pfarreien zuzuarbeiten. Im Konferenzraum der Regional- stelle St. Gallen: auf dem grossen Konferenztisch ein Memory aus Abzügen der aktuellen Caritas- Bei uns haben alle Platz. Ein schönes Beispiel für einen diakonischen Anstupser. Kampagne, dazwischen Notebooks und Tablets, ein farbiges Gekrit- zel auf dem Whiteboard. Gregor Scherzinger liest aus einem Me- thodenbuch vor, auf der anderen Tischseite wird an Kaffeetassen und Wasserflaschen genippt, Car- la Zappa skizziert das Gehörte. Es entsteht gerade ein neues Spiel fürs Respect Camp. Caritas gestal- tet 2021 zum ersten Mal diesen Parcours der Jugendpastoral im Bistum zur Toleranzförderung mit. Solche kreativen Planereien gibts zu allerlei Aktionen und Themen, je nachdem, was gerade von Part- nerinnen und Partnern im kirchli- chen Umfeld nachgefragt wird. Ob es darum geht, die weihnachtliche Wenn viele miteinander denken, wächst die Sensibilität. Nachbarn 2 / 21 17
Caritas St. Gallen und Weiterbildung profitieren alle. Für die Diakonieanimation ist das Ansporn genug, auch anderen Frei- willigen Ähnliches anzubieten. Armut erfahren Zurück in der Regionalstelle Sar- gans: Im Garten sitzt Olivia Conrad mit einer Gruppe Jugendlicher an einem Tisch, der von Lebensmit- teln überquillt. Es geht um Armut in der Schweiz. Mit einem festge- setzten Betrag mussten die Jugend- lichen ein Mittagessen einkaufen. Den einen wurden wenige Franken zugelost, andere hatten ein, zwei Banknoten zur Verfügung. «Es war neu, jeden Rappen zählen zu müs- sen.» «Mir ist erstmals aufgefallen, dass das Vegi-Sandwich teurer ist als alle fleischigen.» «Plötzlich war es wichtig, ob der Preis für beide Jo- ghurts gilt oder nur für eines.» «Es war schon seltsam, sichtbar mehr Geld zu haben als die anderen.» Es Auch das Management der Begegnungscafés gehört zu den Aufgaben der Diakonieanimation. folgen Diskussionen um die un- gleiche Verteilung von Einkommen und Vermögen in der Schweiz, um Geschenkaktion sensibel zu gestal- können ihre Fragen loswerden und Verteilungsgerechtigkeit und um ten, eine Standortstimmung vor Erfahrungen reflektieren. ein faires Steuersystem. Solche Ort zu moderieren, eine Weiterbil- Abends im offenen Haus in St. Gal- Workshops ermöglichen den Teil- dung für Engagierte im Asylbereich len. Die Gottis und Göttis des Paten- nehmenden, Armut und Ausgren- zu organisieren oder ein Ferienla- schaftsprojekts «mit mir» treffen zung nicht allein als Problem der ger partizipativ zu planen. sich zum Erfahrungsaustausch. Betroffenen zu sehen, sondern als Das Projekt wird vom kirchlichen gesellschaftliche Herausforderung, Austausch und Weiterbildung Sozialdienst in der Stadt St. Gallen die das Gemeinwohl betrifft. Szenenwechsel: Im Foyer des evan- durchgeführt und von Caritas fach- gelischen Kirchgemeindehauses in lich begleitet. Nach einem Kurzre- Wil. Es ist gerade Pause in der ferat über Armutsbetroffene in der Diakonische Anstupser kirchlichen Weiterbildung für Akti- Schweiz diskutieren Patinnen und ve im Migrations- und Asylbereich – Paten, wie sich diese Thematik in Mit den diakonischen Anstupsern ermutigen wir Engagierte in den Sozialarbeitende, Kirchenrätinnen, den Begegnungen mit ihren Paten- Pfarreien, spontan einfache, nie- Vikare und Hilfswerkmitarbeiten- kindern zeigt. Wie kann ich mich ab- derschwellige diakonische Angebo- de debattieren mit dem Referen- grenzen? Was mache ich mit einem te zu schaffen. Sie sind Anstoss für ten. Die Gelegenheit zum Gedan- schlechten Gewissen? Was soll ich vielleicht wiederkehrende Angebo- kenaustausch wird gern ergriffen. tun, damit die unterschiedlichen fi- te oder einmalige Aktionen. Arrangiert wurde dieser von Dolo- nanziellen Möglichkeiten nicht zum res Waser Balmer, Bereichsleite- Problem werden? Wie damit umge- Wer eigene Ideen hat für diese Rei- he, bitte melden oder selbst posten rin Diakonieanimation, und ihrem hen, wenn ich um Geld gebeten wer- mit #diakonischeanstupserei Kollegen bei der reformierten Lan- de? Man hört einander aufmerksam www.caritas-stgallen.ch/anstupserei deskirche. Die Engagierten sind zu und nutzt die Gelegenheit zum in ihrer Kirche vor Ort oft allein in Gespräch mit den Fachpersonen Neues aus der Diakonie gibts im ihrem sozialen Projekt. An solchen und Projektleitenden. Am Ende des Newsletter: ww.caritas-stgallen.ch/ Bildungs- oder Vernetzungsanläs- Abends sind sich alle einig: Von sol- newsletterdiakonie sen finden sie Gleichgesinnte und chen Möglichkeiten für Austausch 18 Nachbarn 2 / 21
Caritas St. Gallen Die Stehauffrau Mit ihren 32 Jahren hat Monique Steinke schon viel durchgemacht, aber die Mutter der einjährigen Emilia lässt sich nicht unterkriegen. Trotz schwieriger Stellensuche und wirtschaftlicher Not ist sie überzeugt, dass es wieder besser kommt. Text: Susanna Heckendorn Bilder: Sasi Subramaniam Monique Steinke will für ihre Tochter da sein M onique ist in Berlin aufgewachsen. Mit kehrten. Der Anfang war schwer und ihr Freund kon- 14 Jahren erkrankte sie an Bulimie, den- sumierte immer öfter Drogen. Monique beendete die noch absolvierte sie eine Lehre als Restau- Beziehung. Wenige Tage nach der Trennung erfuhr sie, rantfachfrau. Nach einem Klinikaufenthalt dass sie schwanger war. Ausgerechnet jetzt, nachdem wollte sie Berlin hinter sich lassen und zog mit ihrem es vorher zwei Jahre lang nicht geklappt hatte. Trotz Freund in die Schweiz. Hier sollte alles besser werden. der schwierigen Situation freute sie sich riesig auf ihr Obwohl ihr Freund gewalttätig war, harrte sie einein- Kind, sie würde das Leben auch ohne Partner meistern. halb Jahre aus. So rasch wollte sie ihr vermeintliches Sie war im achten Monat schwanger und zu Besuch in Glück nicht preisgeben. Berlin, als ihr Baby aufgrund einer schweren Infek tion starb und sie ihr Töchterchen Isabella tot gebären Der Traum von der Familie musste. «Dieser unglaubliche Schmerz», sagt sie mit Bei der Arbeit in Chur lernte sie, wie sie sagt, ihren See- Tränen in den Augen, «geht nie vorbei.» lenmenschen kennen. Sie zogen in seine Heimat, wo sie erfolgreich ein Restaurant führten. Die familiäre Boden unter die Füsse bekommen Situation ihres Freundes war jedoch so schwierig, dass Mithilfe einer Therapie versuchte sie, mit dem schweren sie schweren Herzens wieder in die Schweiz zurück- Verlust umzugehen. Als eine Bekannte ihr einen Job in Nachbarn 2 / 21 19
Caritas St. Gallen ihrer Bar anbot, zögerte sie nicht lange. Weil der Betrieb Ein Silberstreifen am Horizont harzig lief, gab die Besitzerin die Bar auf, und Monique Es brauchte sehr viel Überzeugungsarbeit von Lorenz musste etwas Neues suchen. Sie fand eine Stelle in ei- Bertsch, Caritas Regionalstelle Sargans, bis Monique nem Restaurant in Flums, wo es ihr ausgezeichnet gefiel. sich beim Sozialamt meldete. «Ich habe mich einfach «Endlich war ich angekommen. Es waren gute Leute, ich geschämt», sagt sie leise. Dennoch ist sie froh, dass die konnte mich entfalten, es war eine ganz tolle Zeit.» Krankenkassenprämie von der Sozialhilfe übernom- men wird, wenigstens bis Ende Jahr. Ungeplantes Glück Ihre Beraterin bei den Sozialen Diensten Sargans hilft Dann wurde Monique wieder schwanger – weder ge- ihr, den Papierkrieg zu bewältigen. Inzwischen weiss wollt noch geplant. Für sie war klar, dass sie das Kind sie, dass sie Anspruch auf Arbeitslosenunterstützung behalten würde, obgleich sie wusste, dass sie es allein hat und der Antrag für die Übernahme der Kita-Kosten aufziehen muss. Im Juni 2020 kam Emilia vier Wo- ist ausgefüllt. Jetzt braucht sie nur noch einen Job. Am chen zu früh zur Welt und lag eineinhalb Wochen auf liebsten würde sie wieder in der Gastronomie arbeiten, aber auch für Putzarbeiten hat sie sich schon bewor- «Für mich ist das Glas ben. «Ich bin mir für keine Arbeit zu schade und will beweisen, dass ich anpacken kann.» immer halbvoll.» Die Unsicherheit ist belastend, aber trotz ihrer miss- lichen Situation lässt Monique sich nicht unterkrie- der Neonatologie. «Ich hatte absolute Panik», erinnert gen. «Ich will rasch einen Job finden, der sich mit dem sie sich, «dass sich der Albtraum wiederholen könnte Familienleben vereinbaren lässt.» Familie, Harmonie und ich auch Emilia verlieren würde.» Zum Glück ging und Loyalität, diese Werte zählen für sie; Materielles es der Kleinen bald besser und obwohl sie für ihr Alter ist ihr nicht so wichtig. «Aber ich will unbedingt wie- immer noch etwas klein ist, gedeiht sie prächtig. Jetzt der finanziell unabhängig sein.» Auf die Frage, was sie strahlt Monique vor Glück. sich für ihre Zukunft sonst noch wünscht, lächelt sie: Das Restaurant musste wegen der Coronapandemie «Eine glückliche Partnerschaft und einen liebevollen schliessen. Nach dem Mutterschaftsurlaub wurde Papi für Emilia.» sie entlassen, obwohl sie sich auf den Wiedereinstieg gefreut hatte. «Es waren dennoch drei schöne Jahre», sagt sie ohne Bitterkeit. Bald fand sie eine Teilzeitstel- le, allerdings nur für wenige Monate. Danach arbeitete sie mit einem befristeten Arbeitsvertrag in einer Piz- zeria in Bad Ragaz, 50 Stunden im Monat auf Abruf, in der Regel von 18 bis 21 Uhr. Ein Balanceakt Mit solchen Arbeitszeiten ist die Organisation der Kin- derbetreuung eine riesige Herausforderung. Monique ist enorm dankbar, dass sie auf vertrauenswürdige und verlässliche Freundinnen zählen kann, auch wenn das keine Dauerlösung ist. Mit den kurzfristigen Anstellungen und den kleinen Pensen waren ihre Ersparnisse bald aufgebraucht. In der Mütter- und Väterberatung riet man ihr, sich bei Caritas zu melden. Die Lebensmittelbezugskarte, die sie dort erhielt, war eine grosse Erleichterung. Das An- gebot von Tischlein deck dich sei toll und die Abgabe überaus grosszügig. Inzwischen hat sie sich beim RAV angemeldet, aber: «Wenn ich eine Stelle mit einem grösseren Pensum fän- de, wüsste ich nicht, wie ich die Kita für Emilia bezahlen sollte.» Dass ihr altersschwacher Computer den Geist aufgegeben hat, macht das Ganze noch schlimmer. «Ich kann weder die Formulare des RAV ausfüllen noch mich um Stellen bewerben. Das RAV schickt die Formulare nun an eine Freundin, die sie dann für mich ausdruckt.» Was die Zukunft wohl bringen mag? 20 Nachbarn 2 / 21
Caritas St. Gallen Eine Gesprächsrunde in Tigrinya zum Thema Bewegung. Femmes-Tische – Frauen stärken Frauen Femmes-Tische ist ein überaus erfolgreiches Peer-Projekt, das Frauen in ihren Alltags- kompetenzen stärkt, sie bei ihrer Integration unterstützt und hilft, Hemmschwellen abzubauen. Seit 2008 ist Caritas St. Gallen-Appenzell Femmes-Tische-Standort. In dieser Zeit wurden über 2200 Gesprächsrunden in rund 20 Sprachen durchgeführt. Interview: Susanna Heckendorn Bilder: Femmes-Tische St. Gallen; Peter Dotzauer Bernadete Moosmann, Sie sind seit fünfeinhalb Sehen Sie einen Zusammenhang zwischen Jahren Femmes-Tische-Standortleiterin bei fehlender oder ungenügender Integration und Caritas St. Gallen-Appenzell. Was ist das Beson- Armut? dere an den Femmes-Tischen? Durchaus. Familien oder Einzelpersonen mit kleinem Die Gesprächsrunden finden in einem privaten Rah- Budget fehlt das nötige Geld für Deutschkurse oder men oder in einer vertrauten Institution statt und eine Vereinsmitgliedschaft. Gerade Sprachkenntnisse werden in der Muttersprache der Teilnehmerinnen sind wichtig, um sich Informationen zu beschaffen, geführt. Die Frauen sind unter ihresgleichen und ge- den Austausch mit der Schule der Kinder zu pflegen trauen sich daher viel eher, Fragen zu stellen und ihre und sich mit den Gepflogenheiten unseres Landes ver- Meinung zu äussern. traut zu machen. Mit den Femmes-Tische-Runden er- Nachbarn 2 / 21 21
Caritas St. Gallen halten die Frauen themenspezifische Informationen, die für ihren Alltag in Bezug auf Gesundheit, Familie und Integration wichtig sind. Gibt es auch Gesprächsrunden zu Armutsthemen wie Budget erstellen oder Schulden vermeiden? Bis vor einigen Jahren konnten wir Runden zu den The- men «Geld und Erziehung» und «Budgetkompetenz» durchführen, die bei den Teilnehmerinnen sehr gut an- gekommen sind. Leider werden diese Angebote bei uns nicht mehr finanziert, was ich sehr bedauerlich finde. Wie werden die Femmes-Tische finanziert? Der Femmes-Tische-Standort St. Gallen hat mit dem Amt für Gesundheitsvorsorge ZEPRA und dem Amt für Volksschule Kanton St. Gallen zwei starke Partner, die einen Grossteil der Gesprächsrunden finanzieren. Gemeinden, Beratungsstellen, Vereine oder Kirchge- meinden können in Absprache mit dem Standort eige- ne Femmes-Tische anbieten, die von einer Moderatorin Bernadete Moosmann, Standortleiterin Femmes-Tische St. Gallen. von Caritas St. Gallen-Appenzell geleitet werden. Leisten die Femmes-Tische auch einen Beitrag Kindern die Freizeit aktiv gestalten können, ohne dass zur Armutsprävention? das etwas kostet. Sie werden auf die Angebote von Lu- Derzeit haben wir keine konkreten Themen zur Ar- dotheken und Bibliotheken aufmerksam gemacht und mutsprävention, dennoch erhalten die Frauen viele ermutigt, ihren Kindern im Alltag Lerngelegenheiten hilfreiche Informationen. Nach einer Runde zu «über- anzubieten, ohne dafür etwas kaufen zu müssen. Auch legt einkaufen» wissen sie, wie sie ihre Familie gut, ge- der Umgang mit digitalen Medien, die hohen Gebühren sund und günstig ernähren können. Das Thema «Be- und die Gefahr von Internetfallen werden thematisiert. wegung» zeigt viele Möglichkeiten, wie sie mit ihren Die Gesprächsrunden über «psychische Gesundheit» zeigt den Teilnehmerinnen, was sie selbst für sich tun können, um nicht krank zu werden. Krankheit kann zu Armut führen, und Armut kann krank machen; es ist 25 Jahre Femmes-Tische wichtig, diesen Teufelskreis zu durchbrechen. Im Juni 1996 wurde die erste Gesprächsrunde zum Thema Bilden sich aus den Gesprächsrunden auch Suchtproblematik durchgeführt. Damit wurde der Grund- Netzwerke für die Frauen? stein für eine visionäre, und wie sich gezeigt hat, erfolgrei- Ja, ich höre immer wieder, dass sich die Frauen auch che Idee gelegt. Femmes-Tische orientiert sich an den ausserhalb der Gesprächsrunden treffen und dass dar- Ressourcen der Teilnehmerinnen. Partizipation stärkt das aus sogar Freundschaften entstanden sind. Selbstwertgefühl und hilft, ein soziales Netzwerk aufzu- bauen. Mittlerweile gibt es dieses Netzwerk der informel- Welche Perspektiven bieten sich den len Bildung für vulnerable und sozial benachteiligte Teilnehmerinnen? Frauen an 30 Standorten in der Schweiz. Darunter auch In erster Linie werden sie in ihren Bemühungen um der von Caritas St. Gallen-Appenzell geführte in der Integration gestärkt, und sie erfahren viel Wissens- Ostschweiz. Die grosse Themenvielfalt und die Durch- führung der Gesprächsrunden in der Muttersprache der wertes, um auch ihre Familie und insbesondere die Teilnehmerinnen sind wesentliche Kinder zu unterstützen. Das motiviert auch immer Erfolgsfaktoren. Die Moderatorin- wieder Frauen, sich als Moderatorin ausbilden zu las- nen profitieren von den Weiter sen. Das Moderieren von verschiedenen Themen stärkt bildungsangeboten und dem regel- ihr Selbstbewusstsein und ermutigt sie, einen weite- mässigen Austausch mit der Stand- ren Schritt nach vorne zu machen und beispielsweise ortleitung und ihren Kolleginnen. eine Weiterbildung zu besuchen. Einige Moderatorin- nen werden auch für Einsätze bei Fachstellen wie der www.femmestische.ch Präventions- und Gesundheitsförderung des Kantons St. Gallen angefragt. 22 Nachbarn 2 / 21
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