Nachbarin - Armut ist weiblich - Caritas Graubünden

Die Seite wird erstellt Luca Fricke
 
WEITER LESEN
Nachbarin - Armut ist weiblich - Caritas Graubünden
St. Gallen-Appenzell – Thurgau – Graubünden   Nr. 2 / 2021

Nachbarin

Armut ist
weiblich
Seit 50 Jahren haben Frauen in
der Schweiz politische Rechte.
Gleichstellung ist jedoch noch
nicht erreicht. Eine Folge:
Frauen sind häufiger von Armut
betroffen als Männer. Woran
liegt das? Wie lässt sich das
ändern?
Nachbarin - Armut ist weiblich - Caritas Graubünden
Inhalt

                                                                              Inhalt
                                                                              3    Editorial

                                                                                   Kurz & bündig

                                                                              4    News aus dem Caritas-Netz

                                                          Bild: Zoe Tempest
                                                                                   Schwerpunkt

Die alleinerziehende Mutter Anika Vonow (Name                                 6    «Ich fühlte mich mutterseelenallein»
geändert) ist auf Unterstützung angewiesen. Sie ist
damit nicht allein: Frauen sind in der Schweiz häufiger
von Armut betroffen als Männer.                                                    Schwerpunkt

                                                                              10	Armut ist weiblich
Schwerpunkt
                                                                                   Schwerpunkt

Armut ist weiblich                                                            12	Interview:
                                                                                  Erwerbsbiografien ­entscheiden
In diesem Jahr feiern wir in der Schweiz 50 Jah-
                                                                                   Ich will helfen
re Stimm- und Wahlrecht für Frauen. Seither
wurde in Sachen Gleichstellung von Mann                                       13	«Ich schlage eine Brücke zwischen
und Frau viel erreicht – und doch nicht ge-                                       zwei Welten»
nug: Frauen sind in der Schweiz noch immer
häufiger von Armut betroffen und tragen ein
höheres Armutsrisiko als Männer. An diesen                                         Caritas Thurgau
Umstand wollen wir mit der einmalig violetten                                 14	SunntigsGwand – der Secondhand­
Farbgebung und dem abgewandelten Titel des
aktuellen «Nachbarn» erinnern. Wir zeigen auf,
                                                                                  laden mit Stil
                                                                                   Ein Secondhandladen, der mehr ist als nur
dass wirkliche Gleichstellung der Geschlech-
                                                                                   ein Kleidergeschäft
ter auch für die Armutsbekämpfung in der
Schweiz entscheidend ist.
Lesen Sie im Schwerpunkt die Geschichte von                                        Caritas St. Gallen-Appenzell
Anika Vonow (Name geändert). Schwanger-
schaft, gesundheitliche Probleme, Kindsvater
                                                                              17	Was ist und macht die
weg, Lehrabbruch: Für die alleinerziehende                                        ­Diakonieanimation?
Mutter von zwei Mädchen geriet der Einstieg                                        Szenen aus dem Alltag des Diakonieteams
ins Berufsleben äusserst schwierig – mit weit-
reichenden Folgen.                                                            19   Die Stehauffrau
Weshalb ist Anika kein Einzelfall? Was sind                                        Eine junge Mutter lässt sich nicht unterkriegen
die Gründe dafür, dass Frauen in der Schweiz
stärker von Armut betroffen sind als Männer?                                  21	Femmes-Tische –
Welche Massnahmen braucht es gegen diesen                                         Frauen stärken Frauen
Missstand? Die neue Ausgabe des «Nachbarn»                                         In 13 Jahren 2200 Gesprächsrunden
liefert Antworten.                                                                 in 20 Sprachen

Wir wünschen Ihnen eine spannende Lektüre!
                                                                                   Kolumne

ab Seite 6                                                                    23	Das Schweigen der Frauen

2                                                                                                                    Nachbarn 2 / 21
Nachbarin - Armut ist weiblich - Caritas Graubünden
Editorial

Liebe Leserin,
lieber Leser
Sie haben es sicher schon am Titelbild gemerkt, bei dieser Aus-
gabe wird aus dem Nachbarn für einmal eine Nachbarin. Weil
Armut – leider immer noch – mehrheitlich weiblich ist. Und
weil es – erst – 50 Jahre her sind, seit die Frauen in der Schweiz
auf nationaler Ebene das Stimmrecht erhalten haben.
Nicht nur die Titelseite ist anders geworden. Nach umfassen-
den Abklärungen haben wir uns für eine ökologisch bessere und        Alessandro Della Vedova
ökonomisch vertretbare Verpackung entschieden. Aufgrund              Geschäftsleiter Caritas Graubünden
der Leserschaftsumfrage im letzten Jahr, siehe Seite 4, haben        Judith Meier Inhelder
wir zudem bei einzelnen Rubriken Änderungen vorgenommen              Geschäftsleiterin Caritas Thurgau

und sowohl dem Schwerpunktthema wie auch den regionalen              Philipp Holderegger
                                                                     Geschäftsleiter Caritas St. Gallen-
Seiten mehr Platz eingeräumt.
                                                                     Appenzell
Inhaltlich bleibt das Magazin so vielfältig und spannend, wie es
die Aufgaben von Caritas sind.
                                                                     «Nachbarn», das Magazin der
Lesen Sie in dieser Ausgabe, weshalb ein Secondhandladen viel        regionalen Caritas-Organisationen,
mehr sein kann als ein Kleidergeschäft. Wie Frauen sich ge-          erscheint zweimal jährlich: im April
genseitig stärken, und wie eine junge Mutter trotz schwierigen       und im Oktober.

Umständen, dank der Unterstützung von Caritas, zuversicht-           Gesamtauflage: 37 300 Ex.
lich ihren Weg geht. Und erfahren Sie, wie vielseitig die Auf-
                                                                     Auflage SG/TG/GR: 3600 Ex.
gaben der Diakonieanimation sind und wie Mitarbeitende und
Freiwillige in den Pfarreien unterstützt werden.                     Redaktion:
                                                                     Susanna Heckendorn (regional)
                                                                     Roland Schuler (national)
Lassen Sie sich von dieser Lektüre berühren.
                                                                     Gestaltung, Produktion und Druck:
                                                                     Stämpfli AG, Bern

                                                                     Papier: Profibulk, FSC-zertifiziert
Alessandro Della Vedova        Philipp Holderegger                   Versandfolie: «I’m eco»
                                                                     (aus recycelten Altfolien)

Judith Meier Inhelder

Caritas Graubünden                   Caritas St. Gallen-Appenzell    Caritas Thurgau
Tittwiesenstrasse 29                 Langgasse 13                    Franziskus-Weg 3
7000 Chur                            9008 St. Gallen                 8570 Weinfelden
Telefon 081 258 32 58                Telefon 071 577 50 10           Telefon 071 626 11 81
www.caritasgr.ch                     www.caritas-stgallen.ch         www.caritas-thurgau.ch
PC 70-5372-2                         PC 90-155888-0                  PC 85-1120-0

Nachbarn 2 / 21                                                                                            3
Nachbarin - Armut ist weiblich - Caritas Graubünden
Kurz & bündig

Leserschaftsumfrage

Wie das «Nachbarn» bei Ihnen ankommt
Im vergangenen Jahr baten wir Sie um Ihre Meinung zum «Nachbarn». Mit dem Markt-
und Sozialforschungsinstitut gfs-zürich befragten wir die «Nachbarn»-Leserschaft
online und mit einem Papierfragebogen. Gerne präsentieren wir Ihnen die wichtigsten
Resultate und erste Änderungen.
Eine starke Mehrheit der Befragten                             oder gekaufte Titel von ca. 30 Mi-                           nalen Inhalte (ab S. 14). Dies ge-
(89%) bewertet das «Nachbarn» als                              nuten aus. Insgesamt kommt das                               schieht auf Kosten der Rubrik
«gut bis sehr gut». Unser Maga-                                «Nachbarn» bei der Leserschaft sehr                          «Persönlich» mit der Passanten-
zin erhält von der Leserschaft die                             gut an. Darüber freuen wir uns sehr!                         umfrage und der Kinderzeichnung.
Note 4,3 auf einer Skala von 5. Ge-                                                                                         Zudem haben wir für die Versand-
mäss gfs-zürich ist das ein sehr gu-                           Einige Änderungen                                            folie die nachhaltige «I’m eco»-
ter Wert. 78% der Leserinnen und                               Nicht alle Rubriken interessieren je-                        Variante gewählt, die einen hohen
Leser lesen oder blättern zudem jede                           doch gleich stark. Aufgrund dieser                           Anteil an recycelten Altfolien ent-
Ausgabe durch – auch das ein sehr                              Rückmeldungen nehmen wir bereits                             hält. Künftig streben wir auch
guter Wert. Die durchschnittliche                              in dieser Nummer einige Änderun-                             eine bessere Verknüpfung des ge-
Lesedauer beträgt rund 40 Minuten.                             gen vor: Wir stärken das Schwer-                             druckten «Nachbarn» mit online
Zum Vergleich: Das Bundesamt für                               punktthema mit der Titelgeschichte                           publizierten Inhalten an und mit
Statistik wies im Jahr 2018 einen                              (S. 6–9) und dem Expert/innen-                               gendergerechter Sprache werden
Durchschnittswert für abonnierte                               Interview (S. 12) sowie die regio-                           wir uns weiter beschäftigen.

Welche Rubriken des «Nachbarn» werden wie häufig gelesen?
100%

90%
                 88%               87%
80%                                                     82%
                                                                          78%               76%
 70%

60%                                                                                                              64%
                                                                                                                                  61%
                                                                                                                                                    58%              58%
50%

40%

30%

 20%

    10%

    0%
          Kurznachrichten:    Titelgeschichte       Fachlicher     Artikel zu Caritas- Kommentar            Gastkolumne      Ich will helfen:     Passanten-    Kinderzeichnung
           Kurz & bündig                        Hintergrundartikel    Angeboten       zur Sozialpolitik                          Porträt           umfrage

Welche Themen interessieren Sie am meisten?                                                   Das «Nachbarn»…
60%                                                                                                       … informiert       … ist   … berichtet über     … ist
                                                                                                           gut über      vertrauens-    relevante      qualitativ    … weckt
50%           53%            53%                                                                            Caritas        würdig        Themen       hochstehend   Emotionen
                                                                                              100%
40%                                                                                            90%
                                            39%                                                80%           89%           88%
                                                              37%                                                                           84%
30%                                                                         35%                                                                           79%
                                                                                               70%
                                                                                                                                                                        71%
 20%                                                                                           60%
                                                                                               50%
    10%                                                                                        40%
                                                                                               30%
    0%
          Sozialpolitik   Persönliche    Blick hinter     Caritas-    Familienarmut            20%
                          Schicksale     die Caritas-    Angebote                               10%
                                           Kulissen                                              0%

4                                                                                                                                                               Nachbarn 2 / 21
Nachbarin - Armut ist weiblich - Caritas Graubünden
Kurz & bündig

Lernstube Zürich Altstetten

                                                                                    NEWS
Lernen in
ungezwungener                                                                       youngCaritas Aargau gestartet

Atmosphäre                                                                          «youngCaritas Aargau» ist der neue Jugendbereich von
                                                                                    Caritas Aargau für Jugendliche und junge Erwachsene
                                                                                    von 14 bis 30 Jahren. Im Juni ist bei «youngCaritas
                                                                                    Aargau» das erste Team von zehn jungen Menschen
                                                                                    gestartet, die gemeinsam ein eigenes Freiwilligen-
                                                                                    projekt aufbauen werden. Das neue Projekt der jungen
                                                                                    Leute soll im Herbst 2021 Form annehmen.
                                                                                    www.caritas-aargau.ch/youngcaritas
                                                       Bild: Egelmair Photography

                                                                                    Neue Digi-Treffs bei Caritas Solothurn
                                                                                    Wer nicht mit Laptop und Smartphone umgehen kann,
                                                                                    verliert heute schnell den Anschluss in vielen Lebens-
                                                                                    bereichen. Ab Anfang 2022 startet deshalb bei Caritas
                                                                                    Solothurn ein neuer Digi-Treff. Ratsuchende können
Erwachsene, die Lücken in den schulischen                                           mit ihren Geräten den Digi-Treff besuchen und ihre
Grundkompetenzen aufweisen, geraten                                                 Fragen stellen. Freiwillige sind vor Ort und beantwor-
                                                                                    ten die Anliegen individuell.
im Alltag häufig in schwierige Situationen.
                                                                                    www.caritas-solothurn.ch/news
In Zürich bietet ihnen die Lernstube
Zürich Altstetten unkompliziert Zugang
zu Lern- und Unterstützungsangeboten.
                                                                                    Caritas Luzern: 20 Jahre Sterbebegleitungskurse
Laut Studien haben rund 15 Prozent der erwachsenen                                  Der Kurs «Begleitung in der letzten Lebensphase» von
Bevölkerung in der Schweiz Schwierigkeiten mit Le-                                  Caritas Luzern feiert sein 20-Jahre-Jubiläum. 2001
sen, Schreiben und Rechnen, obwohl die Betroffenen                                  fand der erste Kurs statt, der bereits grossen An-
die gesamte Volksschule absolviert haben. Das Feh-                                  klang fand. Seither haben rund 1100 Interessierte an
len dieser schulischen Grundkompetenzen erschwert                                   den Kursen teilgenommen. Die Teilnehmenden lernen
es ihnen oft, einen Computer oder ein Handy zu be-                                  durch eine intensive und persönliche Reflexion mit
dienen und schränkt sie in ihrem privaten und beruf-                                dem Thema Tod, Sterbende und deren Angehörige
lichen Alltag stark ein.                                                            zu begleiten.
                                                                                    www.caritas-luzern.ch/sterbebegleitung
In Zürich erhalten diese Menschen mit dem Ange-
bot der Lernstube dank kostenlosen und einfach
zugänglichen Lern- und Unterstützungsangeboten
eine Perspektive. Mitte August ist die Lernstube                                    Caritas Thurgau: Notherberge sucht Unterstützung
Zürich Altstetten, die Caritas Zürich im Auftrag des                                Die Kirchliche Notherberge Thurgau bietet seit Früh-
Mittelschul- und Berufsbildungsamtes Kanton Zü-                                     ling 2020 eine Unterkunft für Menschen in akuten
rich betreibt, am neuen Standort im Stellwerk 500 in                                Notsituationen. Sie ist seit ihrer Eröffnung stark aus-
Zürich Altstetten eingezogen. Nebst offenen Kursen,                                 gelastet. Im November 2020 wurde als Trägerschaft
um besser Lesen, Schreiben, Rechnen oder die Bedie-                                 ein Verein gegründet, in dem Caritas Thurgau im Vor-
nung von Computer und Handy zu lernen, bietet die                                   stand vertreten ist. Die Notherberge sucht weitere
Lernstube einen Schreibdienst zur Unterstützung                                     Mitglieder und Spender/innen, um den Betrieb sicher-
bei administrativen Themen sowie eine Bewerbungs-                                   stellen zu können.
werkstatt. Ergänzt werden die Angebote mit einer                                    www.kirchliche-notherberge.ch
kostenlosen Kinderbetreuung.
www.caritas-zuerich.ch/lernstube

Nachbarn 2 / 21                                                                                                                               5
Nachbarin - Armut ist weiblich - Caritas Graubünden
«Warum hast du nicht abgetrieben?» Diese Frage
will Anika Vonow nie mehr hören, auch wenn sie
heute auf Unterstützung angewiesen ist. Noch
während der Lehre zur Systemgastronomin wurde
die heute 24-Jährige schwanger. Sie musste die
Ausbildung abbrechen – aber sie gibt nicht auf.
Nachbarin - Armut ist weiblich - Caritas Graubünden
Schwerpunkt

«Ich fühlte mich
mutterseelenallein»
Nichts wünscht sich die 24-jährige, alleinerziehende Mutter von zwei Mädchen mehr,
als endlich auf eigenen Füssen zu stehen, auszubrechen aus der Armut und Einsamkeit.
Und nie mehr die Frage zu hören: «Warum hast du nicht abgetrieben?» Viele Frauen
erleben Ähnliches in der Schweiz.
Text: Lena Tobler Bilder: Zoe Tempest

V
          on Armut betroffen? Ich? Wahrscheinlich        an den Glücksmoment, als sie die kleine Ava* in den
          hätte Anika Vonow* gelacht, wenn ihr dies      Armen hielt. «Ohne Unterstützung hätte ich es nicht
          jemand an ihrem 18. Geburtstag prophezeit      geschafft», ist Anika überzeugt.
          hätte. Warum auch? Frisch verliebt blickte
die angehende Systemgastronomiefachfrau zuver-
sichtlich in die Zukunft. Bis ein paar Monate später
ein Schwangerschaftstest ihre Befürchtungen bestä-
                                                            «Wie soll ich als alleinstehende
tigte: Sie erwartete ein Kind. Was nun? Ihre Eltern,          Mutter in Ausbildung zwei
geschockt von dem, was ihrer Ansicht nach nicht sein
durfte, wandten sich von ihrer Tochter ab. Und der Va-
                                                                  Kinder ernähren?»
ter des Kindes? Traurig winkt Anika ab. Zu schmerz-
haft ist die Erinnerung an damals, als er einfach aus
ihrem Leben verschwand.                                  Trotz Verhütung wieder schwanger
                                                         Anika fasste neuen Mut. Nun wollte sie ihren Lehr-
Für Anika war klar: Sie würde das Kind zur Welt brin-    abschluss nachholen. Nach unzähligen Bewerbungen
gen. Doch die anspruchsvolle Ausbildung, Schwan-         fand sie nach rund einem Jahr einen Lehrbetrieb, in
gerschaftsbeschwerden und die wachsende Sorge um         dem sie wieder ins zweite Lehrjahr einsteigen konnte.
die Zukunft waren zu viel. «Auch meine Freundinnen       Als sie sich kurz darauf erneut verliebte, schien ihre
verabschiedeten sich sang- und klanglos von mir. Ich     Welt in Ordnung. Doch die Geschichte wiederholte sich:
fühlte mich mutterseelenallein und war plötzlich         Trotz Verhütung wurde Anika bald darauf schwanger –
völlig isoliert.» Das war für die werdende Mutter das    und wieder liess sie der Kindsvater im Stich.
Schlimmste. Die junge Frau wurde krank, verlor ihre
Lehrstelle und wusste nicht mehr ein und aus. In ih-     Alle rieten ihr abzutreiben. Und auch sie fragte sich:
rer Not wandte sie sich an die Schweizerische Hilfe      «Wie soll ich als alleinstehende Mutter in Ausbildung
für Mutter und Kind (SHMK), wo sie ein offenes Ohr       zwei Kinder ernähren?» Ihre Mutter stand zwar wieder
für ihre Sorgen fand. Auf deren Anraten meldete sie      zu ihr. Als IV-Rentnerin konnte sie ihre Tochter aber
sich beim Sozialamt. Ihr wurde ein Platz vermittelt,     höchstens moralisch unterstützen. So ganz auf sich al-
an dem sie sich abseits vom Alltag erholen und auf die   lein gestellt, sah sie keinen anderen Ausweg, als sich
Geburt vorbereiten konnte. Noch gut erinnert sie sich    von ihrem ungeborenen Kind zu trennen.

Nachbarn 2 / 21                                                                                              7
Nachbarin - Armut ist weiblich - Caritas Graubünden
Schwerpunkt

Im Spital wurde Anika aber plötzlich klar: «Das ist                    Anika ist kein Einzelfall. In der Schweiz tragen Frauen
mein Kind. Es lebt. Eine Abtreibung werde ich nie ver-                 ein höheres Armutsrisiko als Männer. Wie bei Anika
kraften. Und wenn ich noch viel weiter unten durch                     sind das Mutterwerden und die fehlende Vereinbarkeit
muss – ich behalte es.» Noch einmal wandte sie sich                    von Ausbildung oder Job mit der Familiensituation
an ihre Betreuerin bei der SHMK. Diese kam sofort ins                  entscheidende Gründe für diesen Missstand. Armut
Spital, regelte den Austritt und nahm Anika sogar für                  ist auch in der Schweiz zu einem grossen Teil weiblich
eine Nacht zu sich nach Hause. «Ich stand völlig neben                 (siehe S. 10–12).
mir», erinnert sie sich. Dass ein paar Monate später die
Geburt mit dem letzten Schulblock vor dem Abschluss                    Highlights und Entlastung
                                                                       Inzwischen sind die Mädchen drei- und fünfjährig.
                                                                       Wenn Anika von ihren Mädchen erzählt, hat ihre Stim-
            «Ich bin so glücklich,                                     me einen warmen Klang und ihre Augen strahlen. «Ich
          dass die beiden da sind.»                                    bin so glücklich, dass die beiden da sind.» Wochentags
                                                                       werden die Mädchen von einer Tagesmutter betreut.
                                                                       Anika ist froh darüber, so kommen die beiden mit an-
kollidierte, liest sich wie die Ironie des Schicksals. Sie             deren Menschen zusammen. Glücklich ist die heute
hatte doch alles gegeben. Obwohl bislang sehr ver-                     24-jährige Mutter auch, dass Ava und Aliki über das
ständnisvoll, sah sich ihr Lehrmeister ausser Stande,                  Caritas-Patenschaftsprojekt «mit mir» eine Patin und
die Lehre um ein weiteres Jahr zu verlängern. Erneut                   zwei Paten gefunden haben. Die Patin von Ava geht mit
stand Anika vor dem Nichts, diesmal aber mit der                       ihr in den Wald, zum Schwimmen und verbringt so viel
zweijährigen Ava und der neugeborenen Aliki*.                          Zeit mit ihr. Die Paten von Aliki unternehmen meist mit

Günstige Lebensmittel und Notwendiges für den Haushalt findet Anika regelmässig im Caritas-Markt. Das entlastet das Familienbudget merklich.

8                                                                                                                          Nachbarn 2 / 21
Nachbarin - Armut ist weiblich - Caritas Graubünden
Schwerpunkt

beiden Mädchen schöne Ausflüge. Diese Ausflüge sind
Highlights für die Kinder und entlasten den Alltag von
Anika stark. Das Familienbudget wird zudem durch
den Caritas-Markt geschont. Anika kann sich dort re-
gelmässig mit günstigen Lebensmitteln für die Familie
und verbilligten Haushaltprodukten versorgen.

Endlich auf eigenen Füssen stehen
Gesundheitlich erlebt Anika immer noch Auf und
Abs. Dass sie trotzdem Teilzeit und im Stundenlohn
bei einer Fast-Food-Kette arbeiten kann, gibt ihr Auf-
trieb. «Hier kann ich zeigen, was ich kann.» Dass ihr
Arbeitgeber nach einem kurzen Unterbruch auch
während des Lockdowns geöffnet hatte, war für sie
ein Glücksfall. Die phasenweise geschlossenen Schu-
len und das damit verbundene Homeschooling waren
jedoch eine zusätzliche Belastung im Alltag der Allein-
erziehenden.

Anika mag ihren Job. Doch der kleine Verdienst und
die Alimente für Aliki reichen bei Weitem nicht zum
Leben. Die Abhängigkeit vom Sozialamt macht der
jungen Frau sehr zu schaffen. Ihr grösster Wunsch
ist es, endlich einen Berufsabschluss zu schaffen und
ihre Familie aus eigener Kraft unterhalten zu können.
Der Versuch, nach der Geburt von Aliki die Handels-
schule zu absolvieren, wurde gleich von zwei Abend-
                                                          Lesen und Ruhe: So tankt die alleinerziehende Mutter in ihrer spärli-
                                                          chen Freizeit Kraft.

  «Noch wissen die Mädchen nicht,
    was es heisst, arm zu sein.»                          zu sein und dass ihre Mutter jeden Franken zwei- oder
                                                          gar dreimal umdrehen muss. Und warum sie ihnen
                                                          den Wunsch nach einem Paar Finken mit dem Bild der
                                                          Schneekönigin Elsa nicht erfüllen kann. Froh ist Ani-
schulen im Keim erstickt. Der Berater bei der einen       ka über die gut erhaltenen Kinderkleider, die sie von
meinte: «Gehen Sie lieber arbeiten. Die Schule kön-       ihrer Nachbarin erhält oder die Unterstützung durch
nen Sie nachholen, wenn die Kinder grösser sind.» Bei     Caritas. Trotzdem möchte sie mit all ihren Kräften aus
der zweiten bekam sie zu hören: «Ein Handelsdiplom
schafft man nicht nur mit dem Präsenzunterricht.»
Solche gedankenlos dahingesagten Phrasen verletzen                        «Es tut weh, als
Anika zutiefst. Genauso wie die Frage einer der spär-
lichen Kolleginnen: «Wie kannst du dir mit dem Geld                     Sozialschmarotzerin
vom Sozialamt einen Fernseher leisten?» Dass sie die-                      abgestempelt
sen von ihrer Mutter erhalten hat, macht die Sache
nicht besser. «Es tut weh, als Sozialschmarotzerin ab-                      zu werden.»
gestempelt zu werden.»

Ausbruch aus der Armutsfalle                              der Armutsfalle ausbrechen und sich gegen Ende des
Entmutigen lässt sich die junge Mutter nicht: Sie         Monats nicht immer fragen müssen, ob das Geld noch
plant, nächstes Jahr ihre Lehre doch noch abzuschlies-    für die Lebensmittel reicht. «Und vor allem will ich nie
sen. Sie weiss, dass sie das kann, und hofft auf einen    mehr mit der Frage konfrontiert werden: Warum hast
Lehrbetrieb, der ihr eine Chance gibt. Sie will endlich   du nicht abgetrieben?»
auf eigenen Füssen stehen. Für sich und ihre beiden
Mädchen. Noch wissen diese nicht, was es heisst, arm      * Namen geändert

Nachbarn 2 / 21                                                                                                              9
Nachbarin - Armut ist weiblich - Caritas Graubünden
Schwerpunkt

Armut ist weiblich
50 Jahre nach Annahme des Stimm- und Wahlrechts für Frauen bleiben in der Schweiz
zentrale Ungleichheiten zwischen den Geschlechtern bestehen. Diese führen dazu,
dass Frauen überdurchschnittlich oft von Armut betroffen sind.
Text: Dr. Bettina Fredrich, Geschäftsleiterin der Eidgenössischen Kommission für Frauenfragen (EKF) Illustration: Isabelle Bühler

D
       ie Armutsquote von Frauen liegt bei 9,1 Pro-                    Frauen ist also alles andere als zufällig – sie ist syste-
       zent, diejenige von Männern bei 8,4 Prozent.                    matisch. Welches sind die Gründe dafür?
       Beschränkt man sich auf Schweizer Staatsan-
gehörige, lag die Armutsquote von Frauen 2019 bei                      Auf dem Arbeitsmarkt schlechter gestellt
8,1 Prozent, jene der Männer bei 6,7 Prozent. Einige                   Frauen sind überdurchschnittlich oft von prekären
mögen den Unterschied kleinreden. Seine Relevanz                       Lebenslagen betroffen. Sie bekommen fast doppelt so
liegt jedoch in der Tatsache, dass Frauen seit Beginn                  häufig als Männer nur befristete Arbeitsverträge oder
der Armutsmessung stets häufiger von Armut betrof-                     gehen mehreren Jobs gleichzeitig nach. Auch die Quote
fen waren als Männer. Dies gilt auch für die Armuts-                   der Unterbeschäftigung ist bei Frauen viel höher. Das
gefährdung, also das Risiko, in Armut abzurutschen.                    heisst, sie würden gerne mehr arbeiten, finden aber kei-
Die stärkere Armutsbetroffenheit und -gefährdung von                   ne Stelle mit höherem Pensum. Bei den Aussteuerun-

10                                                                                                                         Nachbarn 2 / 21
Schwerpunkt

gen zeigt sich ein ähnliches Bild. Verlieren Frauen ihre   Kommentar
Arbeit, tragen sie ein grösseres Risiko, ausgesteuert zu
werden und ganz aus dem Arbeitsmarkt auszuscheiden.
                                                           Armut und
Frauen verdienen weniger                                   Gleichstellung
Hinzu kommen grosse Lohnunterschiede: Gemäss
Bundesamt für Statistik lag 2018 der Medianlohn von        zusammen angehen
Frauen bei 6067 Franken, derjenige von Männern bei
6857 Franken. Fast die Hälfte dieses Unterschieds ist      Prekäre Arbeitsverhältnisse in so-
nicht erklärbar durch strukturelle Faktoren wie Bil-       genannten Frauenberufen sowie
dungsniveau, Arbeitserfahrung oder Führungsposi-           fehlende Vereinbarkeit von Beruf
tionen. Das Lohnniveau in Berufen mit einem hohen          und Familie sind entscheidende
Frauenanteil liegt denn auch deutlich tiefer als das       Ursachen von Frauenarmut. Was
Lohnniveau in Berufen mit einem hohen Männeranteil.        ist zu verbessern?
                                                           Frauen und Männer haben ein Recht
Teilzeiterwerb durch Familiengründung                      auf eine existenzsichernde Arbeit.
Der Entscheid zur Erwerbstätigkeit bei der Familien-       Dass menschenzentrierte Tätigkei-
gründung ist immer noch wesentlich vom Lohn und            ten wie Pflege und Betreuung, so-
somit vom Geschlecht abhängig. Während Frauen ihr          genannte Care- oder Sorgearbeit,
Erwerbspensum mehrheitlich reduzieren und einen            viel schlechter abgegolten werden
Grossteil der unbezahlten Haus- und Betreuungsarbeit       als beispielsweise Tätigkeiten in der
übernehmen, stocken Männer ihr Erwerbspensum in            Finanzbranche, bedarf einer Kor-
der gleichen Lebensphase auf. Dadurch tragen aber          rektur. Wo nicht einmal Mindest-
Frauen auch das Armutsrisiko. Bei einer Trennung           löhne bezahlt werden, braucht es die
oder Scheidung laufen sie Gefahr, ihren Lebensunter-       Einführung eines gesetzlichen Min-
halt nicht sichern zu können. Heute können nicht ein-      destlohnes. Um die Vereinbarkeit
mal die Hälfte der Frauen in der Deutschschweiz ihre       von Familie und Beruf für alle zu er-
Existenz alleine sichern.                                  möglichen, muss das Angebot an fa-
                                                           milienexterner und schulergänzen-
Familie und Beruf schwer vereinbar                         der Kinderbetreuung die Nachfrage
Dies hat auch mit der mangelhaften Vereinbarkeit von       decken. Mindestens für armutsbe-
Familie und Beruf in der Schweiz zu tun. Kita-Plätze       troffene Familien müssen die Ange-
sind nicht nur sehr teuer, es gibt auch noch zu wenige.    bote kostenlos sein. Nur so können
Viele Frauen verzichten deshalb – auch unfreiwillig –      Frauen ihre Arbeitspensen erhöhen
auf eine Erwerbsarbeit. Das wirkt sich jedoch später       und das Armutsrisiko verringern.
negativ aus, denn die Altersvorsorge ist an Erwerbsar-     Die unbezahlte Sorgearbeit soll-
beit gekoppelt. Weil Frauen aber während der Erwerbs-      te zudem besser zwischen Frauen
phase weniger verdienen, oft nur in Teilzeitpensen tä-     und Männern verteilt werden. Die
tig sind oder nach der Geburt eines Kindes ganz aus        Wirtschaft muss entsprechende
dem Erwerbsleben ausscheiden, sind sie auch im Alter       Arbeitsmodelle fördern. Vorgesetz-
öfter arm. Fast zwei Drittel der Beziehenden von Er-       te sollen Väter- und Männerrol-
gänzungsleistungen sind Frauen.                            len vorleben, die die Übernahme
                                                           von Betreuungs- und Hausarbeit
Wirft Corona die Frauen zurück?                            als etwas Selbstverständliches be-
Neben den Einkommenseinbussen und Arbeitser-               trachten. Unternehmen können eine
schwernissen waren für viele Familien auch das Home-       Vorreiterrolle übernehmen in der
office und die Schulschliessungen belastend. Die ersten    Einführung von Elternzeiten und
Studien zeigen deutlich, dass Mütter durch das Home-       tieferen Wochenarbeitszeiten, wenn
office stärker beeinträchtigt waren als Männer, weil sie   Arbeitnehmende mit tiefen Löhnen
gleichzeitig Kinder betreuen mussten. So erstaunt es       Betreuungsaufgaben haben. So kön-
wenig, dass vorab Mütter im ersten Lockdown im Früh-       nen Gleichstellung und Armut zu-
ling 2020 ihr Pensum im Homeoffice reduzierten.            sammen angegangen werden.
Die Gleichstellung lässt auf sich warten, mit gravie-
renden Konsequenzen. Eine davon: stärkere Armuts-          Marianne Hochuli, Mitglied der
betroffenheit.                                             Geschäftsleitung, Caritas Schweiz

Nachbarn 2 / 21                                                                                11
Schwerpunkt

     ERWERBS-
     BIOGRAFIEN
     ENTSCHEIDEN
                                                                                                                                Dr. Isabel Martínez
                                                                                                                                Ihr aktueller Forschungs-
                                                                                                                                schwerpunkt liegt bei der
                                                                                                                                Verteilung von Einkommen
                                                                                                                                und Vermögen sowie bei

                                                                      Bild: Florian Bachmann
                                                                                                                                Steuerfragen. Sie ist
     Ein Interview mit Isabel Martínez,
                                                                                                                                Mitautorin der KOF-Studie
     promovierte Ökonomin, Konjunktur-                                                                                          zu Corona und Ungleich-
     forschungsstelle (KOF), ETH Zürich                                                                                         heit in der Schweiz.
     Interview: Roland Schuler

     Frauen sind in der Schweiz noch immer einem                                               Buben wird es noch oft leichter gemacht, einen gut be-
     höheren Armutsrisiko ausgesetzt als Männer.                                               zahlten Ingenieursjob zu wählen, wohingegen Mädchen die
     Weshalb ist das so ist?                                                                   schlechter bezahlte Option Kindergärtnerin nahegelegt
     Scheidung und Alter sind statistisch gesehen die grössten Ar-                             wird. Da liegt noch ein Weg vor uns.
     mutsrisiken. Frauen sind in beiden Lebenslagen stärker be-
     troffen als Männer. Das hat in erster Linie mit den weiblichen                            Sie fanden in einer aktuellen Studie* heraus,
     Erwerbsbiografien zu tun. In unserer Gesellschaft sind diese                              dass die Corona-Krise bestehende Ungleichheit
     geprägt von der Geburt von Kindern. Es wird auch von der                                  verschärfte. Wie zeigt sich das?
     «Mutterschaftsstrafe» gesprochen. Mütter kehren nicht mehr,                               Haushalte mit tiefen Einkommen haben in der Corona-Kri-
     in viel kleineren Pensen oder in Jobs mit geringerem Lohn zu-                             se höhere Einkommensausfälle als finanziell besser Ge-
     rück ins Erwerbsleben. Das führt zu höherem Armutsrisiko.                                 stellte. Im Durchschnitt mehr als 20 Prozent gegenüber
                                                                                               8 Prozent bei besser Verdienenden. Sie mussten auch viel
     Wo sehen Sie Hebel, um dieses Risiko zu mindern?                                          häufiger Erspartes auflösen. Viele verschuldeten sich gar.
     Ein grosser Hebel wäre eine kostenlose, flächendeckende
     Kinderbetreuung. Eine solche müsste eine Grundinfra-                                      Zeigen sich Geschlechterunterschiede in der
     struktur sein – wie Schienen und Strassen. Heute stehen                                   Betroffenheit durch die Krise?
     viele Paare vor der Entscheidung: Soll die Frau mehr arbei-                               In der Corona-Krise stieg bei Frauen besonders die Mehrbe-
     ten? Oder lohnt sich das aufgrund der Betreuungskosten,                                   lastung durch Homeschooling und Betreuung stärker als bei
     die dadurch entstehen, nicht? Dabei zeigt die Forschung,                                  Männern. Frauen reduzierten auch ihre bezahlte Arbeit stär-
     dass für Mütter der Wiedereinstieg ins Erwerbsleben für                                   ker als Männer. In Wirtschaftskrisen ist typischerweise die
     die ökonomische Absicherung sehr wichtig ist.                                             Exportwirtschaft mit klassischen Männerberufen betroffen.
                                                                                               Anders in dieser Krise: Die Binnenwirtschaft mit Branchen
     Bei der Kinderbetreuung wären auch die Väter in der Pflicht.                              mit hohem Frauenanteil wie Detailhandel oder Gastronomie
     Sicherlich. Hier wäre eine Vaterschaftszeit förderlich – und                              ist ebenfalls stark betroffen. Gemessen an den Arbeitslosen-
     zwar startend erst dann, wenn der Mutterschaftsurlaub en-                                 zahlen sind Frauen jedoch nicht stärker betroffen als Männer.
     det. Das würde den beruflichen Wiedereinstieg von Müt-
     tern entscheidend fördern.                                                                Die Krise trifft die Ärmsten am stärksten. Mit Blick in
                                                                                               die Zukunft: Was macht Ihnen da am meisten Sorgen?
     Welche Rolle spielt die Lohnungleichheit zwischen den                                     Wer wenig verdient und in der Krise Erspartes aufbrau-
     Geschlechtern?                                                                            chen musste, kann nicht auf Knopfdruck etwas ansparen.
     Bei einem Paar verdient die Frau meist weniger als der                                    In der nächsten Wirtschaftskrise droht ein Polster zu feh-
     Mann. Das ist nach wie vor so. Es macht für viele Paare                                   len. Und wir wissen: Eine nächste Wirtschaftskrise kommt
     daher ökonomisch Sinn, dass die Frau beruflich kürzertritt.                               mit Sicherheit. Auch aus gesamtökonomischer Sicht birgt
                                                                                               fehlendes Polster ein Risiko: Wenn die Menschen genug
     Müsste nicht auch hier angesetzt werden?                                                  Geld haben, um die Binnennachfrage zu gewährleisten,
     Ganz klar. Gleicher Lohn für gleiche Arbeit sollte selbst-                                kann diese bei Krisen dämpfend wirken.
     verständlich sein, keine Diskussion. Es gibt bei den Einkom-
     mensunterschieden zwischen den Geschlechtern aber zu-                                     * KOF-Studie zu Corona und Ungleichheit in der Schweiz:
     sätzlich strukturelle Ungleichheiten in der Sozialisierung:                               https://kof.ethz.ch > Suchbegriff «Corona und Ungleichheit»

12                                                                                                                                             Nachbarn 2 / 21
Ich will helfen

«Ich schlage eine Brücke
zwischen zwei Welten»
Jeannine arbeitet als Freiwillige bei Caritas Luzern für das Patenschaftsprojekt
«mit mir». Die Sekundarlehrerin begleitet als regionale Vermittlerin zurzeit neun
Patenschaften und unterstützt die Patinnen und Paten, die Kinder und ihre Eltern
beim Beziehungsaufbau.
Text und Bild: Claudia Blaser

«Bereits als Jugendliche habe ich erste Erfahrungen         andere Menschen in ihrem Umfeld engagieren, ohne
als Freiwillige gesammelt – in einem Konzertlokal da-       Geld dafür zu erwarten. Es muss ja nicht unbedingt in
heim in Sursee. Ich bin in einer sehr engagierten Fami-     einem Projekt oder Verein sein. Man kann auch dem
lie aufgewachsen. Bei uns gehörte freiwilliges Engage-      Grosi beim Wocheneinkauf oder dem Nachbarn beim
ment einfach dazu. In den letzten Jahren bin ich viel       Pneuwechsel helfen. Wichtig ist einfach, dass wir den
gereist. Besonders der Nahe Osten hat es mir angetan.       Zusammenhalt nicht vergessen, dass wir alle zum so-
Die enorme Gastfreundschaft, die ich auf meinen Rei-        zialen Miteinander beitragen.»
sen erleben durfte, hat in mir den Wunsch geweckt,
mich zu Hause in der Schweiz für Migrantinnen und
Migranten zu engagieren.

Seit drei Jahren bin ich nun als regionale Vermittlerin
im Caritas-Projekt «mit mir» tätig, das benachteiligte
Kinder mit einer freiwilligen Bezugsperson zusam-
menbringt. Ziel ist es, den Kindern etwas zu ermögli-
chen, das ohne diese Hilfe nicht möglich wäre, und die
Eltern zu entlasten. Zurzeit begleite ich neun Paten-
schaften in der Zentralschweiz. Ich bin beim ersten
Treffen dabei, kläre Wünsche und Erwartungen ab,
führe regelmässig Gespräche mit allen Beteiligten und
bin bei Fragen immer für sie da. Es ist immer wieder
schön mitzuerleben, wie in wenigen Monaten eine
nachhaltige Beziehung zwischen den Patinnen und Pa-
ten und ihrem Patenkind entsteht. Für mich ist es eine
grosse Bereicherung, dass ich eine Brücke zwischen
zwei Welten schlagen und Personen zusammenführen
kann, die sich sonst nie getroffen hätten.

Es imponiert mir, wie viel Vertrauen die Kinder und
ihre Eltern der für sie zunächst fremden Person ent-          STECKBRIEF
gegenbringen. Um sich auf Unbekanntes einzulassen,            Jeannine Ambühl (32) ist in Sursee aufgewachsen und
braucht es ja meistens etwas Überwindung. Die Offen-          wohnt heute in Luzern. Sie absolvierte zunächst eine KV-
heit und Neugier, die dieses Projekt erfordert, finde ich     Lehre, bevor sie sich zur Lehrerin ausbilden liess. In der
sehr inspirierend. Das bekräftigt mich immer wieder           Freizeit singt die Sekundarlehrerin in einem Chor und ist
in meinem Engagement. Kraft gibt mir auch der Aus-            gerne in der Natur unterwegs. Sie ist viel gereist und be-
tausch mit anderen Freiwilligen. Es motiviert mich zu         sonders fasziniert von der arabischen Kultur.
sehen, dass ich nicht allein bin, dass sich auch viele

Nachbarn 2 / 21                                                                                                            13
Caritas Thurgau

SunntigsGwand –
der Secondhandladen
mit Stil
Kleidern, die nicht mehr passen oder gefallen, ein zweites Leben geben? Für wenig
Geld etwas Schickes zum Anziehen ergattern? Oder ein offenes Ohr finden und
auf dem roten Sofa einen Kaffee trinken? Im SunntigsGwand ist alles möglich.
Text: Susanna Heckendorn    Bilder: Sun Fotografie; Susanna Heckendorn

S
        econdhandläden entsprechen dem Zeitgeist;
        der schonende Umgang mit Ressourcen ist
        für viele selbstverständlich geworden. Dazu
        gehört auch, Kleider, die noch gut erhalten
sind, die man aber nicht mehr tragen kann oder will,
nicht einfach in die Textilsammlung zu geben. Oder,
anstatt im Internet schnell etwas Neues zu bestellen,
sich nach etwas Gebrauchtem umzusehen. Und die
Läden entsprechen auch der Philosophie von Caritas,
Menschen, die an der Armutsgrenze leben, günstige
Einkaufsmöglichkeiten zu bieten. Die bestehenden
Secondhandläden der verschiedenen Caritas-Regional-
stellen sind denn auch gut frequentiert.
Mit der Eröffnung des SunntigsGwand konnte Judith
Meier Inhelder, Geschäftsleiterin von Caritas Thur-
gau, ein lang gehegtes Anliegen realisieren. «Wir er-
halten seit Jahren immer wieder Anfragen von Per-
sonen, die gut erhaltene, schöne Kleider weitergeben
möchten. Und die meisten unserer Klientinnen und
Klienten sind auf günstige Einkaufsmöglichkeiten
angewiesen.» Im Angebot sind hochwertige Kleider,
aber auch Schmuck und hübsche Accessoires sowie
wenige Schuhe. Wer eine KulturLegi besitzt, erhält 30
bis 50 Prozent Rabatt auf die angeschriebenen schon
günstigen Preise. Das SunntigsGwand ist auch über                   Mehr als ein Secondhandladen – das SunntigsGwand.
Mittag geöffnet, sodass sowohl Berufstätige wie auch
Schülerinnen und Schüler der nahe gelegenen Berufs-
schule die Möglichkeit haben, in ihrer Mittagspause                 Der Laden läuft
vorbeizuschauen. Und wer Anspruch hat, aber noch                    Die Kundschaft im Laden ist so vielfältig wie das Ange-
keine KulturLegi besitzt, kann den Antrag gleich im                 bot. «Viele kommen zuerst einmal aus Neugier», weiss
Laden ausfüllen. Damit ist das SunntigsGwand auch                   Petra Hoksbergen, Ladenleiterin. Inzwischen hat das
eine niederschwellige Anlaufstelle für künftige Klien-              SunntigsGwand schon einen guten Namen. Das liegt
tinnen und Klienten von Caritas Thurgau.                            nicht zuletzt an der Modeschau, die am Weinfelder

14                                                                                                                 Nachbarn 2 / 21
Caritas Thurgau

Das rote Sofa lädt zum Verweilen ein.

Freitag im Mai durchgeführt wurde und auf ein gros-        Die 91-jährige Dame sucht etwas für die Hochzeit ihrer
ses Echo stiess. Kundinnen und Bekannte fungierten         Enkelin und findet ein leuchtend blaues Kleid mit pas-
als Modell, die vorgeführten Kleider stammten selbst-      sender Chiffonjacke, beides steht ihr ausgezeichnet.
verständlich alle aus dem Laden. «Leider ist es noch       «Alle denken, ich trage eine schwarze Hose. Die wer-
zu wenig bekannt, dass man bei uns – im Gegensatz          den schön staunen, wenn ich als bunter Vogel daher-
zu den Caritas-Märkten – auch ohne KulturLegi ein-         komme», schmunzelt sie. Alle, die im Laden stehen,
kaufen kann», bedauert Petra Hoksbergen und hofft,         freuen sich mit ihr. Und da ist noch die Frau, Mitte
dass sich das bald ändern wird. Obwohl die Kundschaft      dreissig, die sich durch Hosen, T-Shirts und Sportdress
grösstenteils weiblich ist, gibt es eine grosse Auswahl    wühlt. Aus gesundheitlichen Gründen hat sie viel Ge-
an Herrenkleidern.                                         wicht verloren und braucht nun eine neue Garderobe.
Zwischen fünf und vierzig Kundinnen zählt das Sun-         Strahlend und mit einer grossen Tasche voller Kleider
ntigsGwand pro Tag. Noch haben sich keine besonders        verlässt sie den Laden und meint: «Ich komme sicher
verkaufsintensiven Wochentage herauskristallisiert,        wieder.» Auch Schnäppchenjägerinnen kommen im
aber über Mittag und nach Feierabend ist die Frequenz      SunntigsGwand auf ihre Kosten. So fand kürzlich eine
spürbar höher. Petra Hoksbergen führt den Laden mit        Chanel-Jacke eine glückliche Besitzerin. Es ist wichtig,
einem 80-Prozent-Pensum, ihre Stellvertreterin, Rita       dass die Kleider erschwinglich sind, damit auch Leu-
Oberholzer, arbeitet auf Stundenbasis. Hinzu kommen        te mit einem bescheidenen Budget einkaufen können.
jeweils Freiwillige, die beim Sortieren und Einräumen      Hübsche T-Shirts gibt es regulär schon ab fünf Fran-
mithelfen.                                                 ken, mit dem KulturLegi-Rabatt kostet das Shirt dann
                                                           nur noch 3.50 Franken.
Eine vielfältige Kundschaft
Vom 14-jährigen Teenie in Begleitung der Mutter bis        Gutscheine machen Freude
zur betagten Dame – die Kundschaft ist bunt. Während       Wer gut erhaltene Kleider spendet, erhält als Danke-
die Mutter ihrer Tochter «etwas Vernünftiges» kaufen       schön einen kleinen Gutschein für das SunntigsGwand.
will, freut sich diese über zu grosse alte Herrenanzüge;   Die katholische Kirchgemeinde hat eine grössere An-
die seien jetzt absolut im Trend.                          zahl Gutscheine gekauft, die sie an Armutsbetroffene

Nachbarn 2 / 21                                                                                                   15
Caritas Thurgau

                                                                                Für Petra Hoksbergen ist das Sunntigs-
                                                                                Gwand mehr als ein Job.

Einkaufen in stimmungsvoller Ambiance.

                                                            Im SunntigsGwand
abgibt. Es sei immer wieder schön, zu erleben, wie diese    kann man sich
Menschen das unbeschwerte Stöbern und Aussuchen             von Kopf bis Fuss
geniessen würden, sagt Petra Hoksbergen. Kürzlich           neu einkleiden.
habe jemand eine Tasche voll schöner, modischer Klei-
der abgegeben. Den Gutschein, den die Person dafür er-      bergen. Bei solchen Begegnungen spüre man oft, dass
hielt, gab sie sogleich an eine Frau weiter, die im Laden   jemand ein offenes Ohr nötiger habe als neue Kleider.
nach etwas Günstigem suchte. «Diese war überwältigt
und konnte ihr Glück kaum fassen», erinnert sich Petra      Was noch werden kann
Hoksbergen.                                                 Mit einer Ausbildung als Schneiderin, einem Diplom
                                                            in Modedesign und vielen Jahren Erfahrung in der
Mehr als ein Kleiderladen                                   ­Textil- und Modebranche hat Petra Hoksbergen im
Im SunntigsGwand soll man nicht nur günstige Klei-           SunntigsGwand eine tolle Aufgabe gefunden. So ist es
der und Accessoires kaufen können. Es gehört zum             für sie selbstverständlich, dass sie kleinere Änderun-
Konzept, dass der Laden auch ein Begegnungsort ist.          gen vornimmt, damit ein Kleidungsstück richtig sitzt.
Das rote Sofa lädt ein zum Innehalten und Verschnau-         Was verwertbar ist, soll verarbeitet werden, findet sie.
fen oder um mit anderen Menschen ins Gespräch zu             Im Atelier, im hinteren Teil des Ladens, werden aus
kommen. «Einsamkeit ist in unserer Gesellschaft ein          Herrenhemden Taschen fabriziert, und Jeans eignen
grosses Problem, das sich mit Corona noch verstärkt          sich ideal als Material für Sitzkissen.
hat», weiss Judith Meier Inhelder. «Auch hier wollen         Es ist ihr ein grosses Anliegen, dass das Sunntigs-
wir von Caritas entgegenwirken.»                             Gwand in Weinfelden noch bekannter wird. Neben Mo-
Die Idee funktioniert. Als sich eine ältere Dame beim        deschauen und Ausstellungen kann sie sich auch eine
Umsehen viel Zeit nahm, bot Petra Hoksbergen ihr             Zusammenarbeit mit Schulen gut vorstellen. «Kleider,
einen Kaffee an. Auch der nächsten Kundin, die kurz          die sich bei uns nicht verkaufen lassen, sind ein tolles
darauf den Laden betrat, wurde ein Kaffee offeriert.         Ausgangsmaterial für Projekte im Textilen Gestalten.
«Die beiden Damen setzten sich aufs rote Sofa und es         Und die jungen Menschen lernen gleichzeitig etwas
entstand ein toller Austausch», freut sich Petra Hoks-       über Caritas und wie nah Armut sein kann.»

16                                                                                                         Nachbarn 2 / 21
Caritas St. Gallen

Was ist und macht
die Diakonieanimation?
«Was macht ihr eigentlich?» Diese Frage wird den Mitarbeitenden der Diakonieanimation
Caritas St. Gallen-Appenzell immer wieder gestellt. Eine kurze Antwort ist kaum möglich,
zu unterschiedlich sind die Tätigkeiten. Wie diese aussehen können, zeigen ein paar 
Szenen aus dem Alltag.
Text: Gregor Scherzinger    Bilder: Olivia Conrad, Peter Dotzauer, Gregor Scherzinger

O
        b als Ideenfabrik, Projekt-
        ­planungs­helfende, Vernet-
         zungsmoderator oder Bil-
dungsarrangeurin, die Mitarbeiten-
den im Diakonieteam bringen sich
dort ein, wo dies gewünscht wird.
Mit dem Caritas-Background kön-
nen sie auf ein breites Netzwerk
und vertieftes Know-how in den
Themenfeldern Armut und Migra-
tion zurückgreifen. Ihr Fokus liegt
auf dem Fördern von solidarischen
und diakonischen Gemeinschaften.
Ihr Auftrag ist es, den Engagierten
in den Pfarreien zuzuarbeiten.
Im Konferenzraum der Regional-
stelle St. Gallen: auf dem grossen
Konferenztisch ein Memory aus
Abzügen der aktuellen Caritas-                 Bei uns haben alle Platz. Ein schönes Beispiel für einen diakonischen Anstupser.
Kampagne, dazwischen Notebooks
und Tablets, ein farbiges Gekrit-
zel auf dem Whiteboard. Gregor
Scherzinger liest aus einem Me-
thodenbuch vor, auf der anderen
Tischseite wird an Kaffeetassen
und Wasserflaschen genippt, Car-
la Zappa skizziert das Gehörte. Es
entsteht gerade ein neues Spiel
fürs Respect Camp. Caritas gestal-
tet 2021 zum ersten Mal diesen
Parcours der Jugendpastoral im
Bistum zur Toleranzförderung mit.
Solche kreativen Planereien gibts
zu allerlei Aktionen und Themen,
je nachdem, was gerade von Part-
nerinnen und Partnern im kirchli-
chen Umfeld nachgefragt wird. Ob
es darum geht, die weihnachtliche              Wenn viele miteinander denken, wächst die Sensibilität.

Nachbarn 2 / 21                                                                                                                         17
Caritas St. Gallen

                                                                                        und Weiterbildung profitieren alle.
                                                                                        Für die Diakonieanimation ist das
                                                                                        Ansporn genug, auch anderen Frei-
                                                                                        willigen Ähnliches anzubieten.

                                                                                        Armut erfahren
                                                                                        Zurück in der Regionalstelle Sar-
                                                                                        gans: Im Garten sitzt Olivia Conrad
                                                                                        mit einer Gruppe Jugendlicher an
                                                                                        einem Tisch, der von Lebensmit-
                                                                                        teln überquillt. Es geht um Armut
                                                                                        in der Schweiz. Mit einem festge-
                                                                                        setzten Betrag mussten die Jugend-
                                                                                        lichen ein Mittagessen einkaufen.
                                                                                        Den einen wurden wenige Franken
                                                                                        zugelost, andere hatten ein, zwei
                                                                                        Banknoten zur Verfügung. «Es war
                                                                                        neu, jeden Rappen zählen zu müs-
                                                                                        sen.» «Mir ist erstmals aufgefallen,
                                                                                        dass das Vegi-Sandwich teurer ist
                                                                                        als alle fleischigen.» «Plötzlich war
                                                                                        es wichtig, ob der Preis für beide Jo-
                                                                                        ghurts gilt oder nur für eines.» «Es
                                                                                        war schon seltsam, sichtbar mehr
                                                                                        Geld zu haben als die anderen.» Es
Auch das Management der Begegnungscafés gehört zu den Aufgaben der Diakonieanimation.   folgen Diskussionen um die un-
                                                                                        gleiche Verteilung von Einkommen
                                                                                        und Vermögen in der Schweiz, um
Geschenkaktion sensibel zu gestal-          können ihre Fragen loswerden und            Verteilungsgerechtigkeit und um
ten, eine Standortstimmung vor              Erfahrungen reflektieren.                   ein faires Steuersystem. Solche
Ort zu moderieren, eine Weiterbil-          Abends im offenen Haus in St. Gal-          Workshops ermöglichen den Teil-
dung für Engagierte im Asylbereich          len. Die Gottis und Göttis des Paten-       nehmenden, Armut und Ausgren-
zu organisieren oder ein Ferienla-          schaftsprojekts «mit mir» treffen           zung nicht allein als Problem der
ger partizipativ zu planen.                 sich zum Erfahrungsaustausch.               Betroffenen zu sehen, sondern als
                                            Das Projekt wird vom kirchlichen            gesellschaftliche Herausforderung,
Austausch und Weiterbildung                 Sozialdienst in der Stadt St. Gallen        die das Gemeinwohl betrifft.
Szenenwechsel: Im Foyer des evan-           durchgeführt und von Caritas fach-
gelischen Kirchgemeindehauses in            lich begleitet. Nach einem Kurzre-
Wil. Es ist gerade Pause in der             ferat über Armutsbetroffene in der            Diakonische Anstupser
kirchlichen Weiterbildung für Akti-         Schweiz diskutieren Patinnen und
ve im Migrations- und Asylbereich –         Paten, wie sich diese Thematik in             Mit den diakonischen Anstupsern
                                                                                          ermutigen wir Engagierte in den
Sozial­arbeitende, Kirchenrätinnen,         den Begegnungen mit ihren Paten-
                                                                                          Pfarreien, spontan einfache, nie-
Vikare und Hilfswerkmitarbeiten-            kindern zeigt. Wie kann ich mich ab-
                                                                                          derschwellige diakonische Angebo-
de debattieren mit dem Referen-             grenzen? Was mache ich mit einem
                                                                                          te zu schaffen. Sie sind Anstoss für
ten. Die Gelegenheit zum Gedan-             schlechten Gewissen? Was soll ich
                                                                                          vielleicht wiederkehrende Angebo-
kenaustausch wird gern ergriffen.           tun, damit die unterschiedlichen fi-          te oder einmalige Aktionen.
Arrangiert wurde dieser von Dolo-           nanziellen Möglichkeiten nicht zum
res Waser Balmer, Bereichsleite-            Problem werden? Wie damit umge-               Wer eigene Ideen hat für diese Rei-
                                                                                          he, bitte melden oder selbst posten
rin Diakonieanimation, und ihrem            hen, wenn ich um Geld gebeten wer-
                                                                                          mit #diakonischeanstupserei
Kollegen bei der reformierten Lan-          de? Man hört einander aufmerksam
                                                                                          www.caritas-stgallen.ch/anstupserei
deskirche. Die Engagierten sind             zu und nutzt die Gelegenheit zum
in ihrer Kirche vor Ort oft allein in       Gespräch mit den Fachpersonen                 Neues aus der Diakonie gibts im
ihrem sozialen Projekt. An solchen          und Projektleitenden. Am Ende des             Newsletter: ww.caritas-stgallen.ch/
Bildungs- oder Vernetzungsanläs-            Abends sind sich alle einig: Von sol-         newsletterdiakonie
sen finden sie Gleichgesinnte und           chen Möglichkeiten für Austausch

18                                                                                                               Nachbarn 2 / 21
Caritas St. Gallen

Die Stehauffrau
Mit ihren 32 Jahren hat Monique Steinke schon viel durchgemacht, aber die Mutter
der einjährigen Emilia lässt sich nicht unterkriegen. Trotz schwieriger Stellensuche
und wirtschaftlicher Not ist sie überzeugt, dass es wieder besser kommt.
Text: Susanna Heckendorn    Bilder: Sasi Subramaniam

Monique Steinke will für ihre Tochter da sein

M
            onique ist in Berlin aufgewachsen. Mit            kehrten. Der Anfang war schwer und ihr Freund kon-
            14 Jahren erkrankte sie an Bulimie, den-          sumierte immer öfter Drogen. Monique beendete die
            noch absolvierte sie eine Lehre als Restau-       Beziehung. Wenige Tage nach der Trennung erfuhr sie,
            rantfachfrau. Nach einem Klinikaufenthalt         dass sie schwanger war. Ausgerechnet jetzt, nachdem
wollte sie Berlin hinter sich lassen und zog mit ihrem        es vorher zwei Jahre lang nicht geklappt hatte. Trotz
Freund in die Schweiz. Hier sollte alles besser werden.       der schwierigen Situation freute sie sich riesig auf ihr
Obwohl ihr Freund gewalttätig war, harrte sie einein-         Kind, sie würde das Leben auch ohne Partner meistern.
halb Jahre aus. So rasch wollte sie ihr vermeintliches        Sie war im achten Monat schwanger und zu Besuch in
Glück nicht preisgeben.                                       Berlin, als ihr Baby aufgrund einer schweren Infek­
                                                              tion starb und sie ihr Töchterchen Isabella tot gebären
Der Traum von der Familie                                     musste. «Dieser unglaubliche Schmerz», sagt sie mit
Bei der Arbeit in Chur lernte sie, wie sie sagt, ihren See-   Tränen in den Augen, «geht nie vorbei.»
lenmenschen kennen. Sie zogen in seine Heimat, wo
sie erfolgreich ein Restaurant führten. Die familiäre         Boden unter die Füsse bekommen
Situation ihres Freundes war jedoch so schwierig, dass        Mithilfe einer Therapie versuchte sie, mit dem schweren
sie schweren Herzens wieder in die Schweiz zurück-            Verlust umzugehen. Als eine Bekannte ihr einen Job in

Nachbarn 2 / 21                                                                                                       19
Caritas St. Gallen

ihrer Bar anbot, zögerte sie nicht lange. Weil der Betrieb   Ein Silberstreifen am Horizont
harzig lief, gab die Besitzerin die Bar auf, und Monique     Es brauchte sehr viel Überzeugungsarbeit von Lorenz
musste etwas Neues suchen. Sie fand eine Stelle in ei-       Bertsch, Caritas Regionalstelle Sargans, bis Monique
nem Restaurant in Flums, wo es ihr ausgezeichnet gefiel.     sich beim Sozialamt meldete. «Ich habe mich einfach
«Endlich war ich angekommen. Es waren gute Leute, ich        geschämt», sagt sie leise. Dennoch ist sie froh, dass die
konnte mich entfalten, es war eine ganz tolle Zeit.»         Krankenkassenprämie von der Sozialhilfe übernom-
                                                             men wird, wenigstens bis Ende Jahr.
Ungeplantes Glück                                            Ihre Beraterin bei den Sozialen Diensten Sargans hilft
Dann wurde Monique wieder schwanger – weder ge-              ihr, den Papierkrieg zu bewältigen. Inzwischen weiss
wollt noch geplant. Für sie war klar, dass sie das Kind      sie, dass sie Anspruch auf Arbeitslosenunterstützung
behalten würde, obgleich sie wusste, dass sie es allein      hat und der Antrag für die Übernahme der Kita-Kosten
aufziehen muss. Im Juni 2020 kam Emilia vier Wo-             ist ausgefüllt. Jetzt braucht sie nur noch einen Job. Am
chen zu früh zur Welt und lag eineinhalb Wochen auf          liebsten würde sie wieder in der Gastronomie arbeiten,
                                                             aber auch für Putzarbeiten hat sie sich schon bewor-
             «Für mich ist das Glas                          ben. «Ich bin mir für keine Arbeit zu schade und will
                                                             beweisen, dass ich anpacken kann.»
               immer halbvoll.»                              Die Unsicherheit ist belastend, aber trotz ihrer miss-
                                                             lichen Situation lässt Monique sich nicht unterkrie-
der Neonatologie. «Ich hatte absolute Panik», erinnert       gen. «Ich will rasch einen Job finden, der sich mit dem
sie sich, «dass sich der Albtraum wiederholen könnte         Familienleben vereinbaren lässt.» Familie, Harmonie
und ich auch Emilia verlieren würde.» Zum Glück ging         und Loyalität, diese Werte zählen für sie; Materielles
es der Kleinen bald besser und obwohl sie für ihr Alter      ist ihr nicht so wichtig. «Aber ich will unbedingt wie-
immer noch etwas klein ist, gedeiht sie prächtig. Jetzt      der finanziell unabhängig sein.» Auf die Frage, was sie
strahlt Monique vor Glück.                                   sich für ihre Zukunft sonst noch wünscht, lächelt sie:
Das Restaurant musste wegen der Coronapandemie               «Eine glückliche Partnerschaft und einen liebevollen
schliessen. Nach dem Mutterschaftsurlaub wurde               Papi für Emilia.»
sie entlassen, obwohl sie sich auf den Wiedereinstieg
gefreut hatte. «Es waren dennoch drei schöne Jahre»,
sagt sie ohne Bitterkeit. Bald fand sie eine Teilzeitstel-
le, allerdings nur für wenige Monate. Danach arbeitete
sie mit einem befristeten Arbeitsvertrag in einer Piz-
zeria in Bad Ragaz, 50 Stunden im Monat auf Abruf, in
der Regel von 18 bis 21 Uhr.

Ein Balanceakt
Mit solchen Arbeitszeiten ist die Organisation der Kin-
derbetreuung eine riesige Herausforderung. Monique
ist enorm dankbar, dass sie auf vertrauenswürdige
und verlässliche Freundinnen zählen kann, auch wenn
das keine Dauerlösung ist.
Mit den kurzfristigen Anstellungen und den kleinen
Pensen waren ihre Ersparnisse bald aufgebraucht. In
der Mütter- und Väterberatung riet man ihr, sich bei
Caritas zu melden. Die Lebensmittelbezugskarte, die
sie dort erhielt, war eine grosse Erleichterung. Das An-
gebot von Tischlein deck dich sei toll und die Abgabe
überaus grosszügig.
Inzwischen hat sie sich beim RAV angemeldet, aber:
«Wenn ich eine Stelle mit einem grösseren Pensum fän-
de, wüsste ich nicht, wie ich die Kita für Emilia bezahlen
sollte.» Dass ihr altersschwacher Computer den Geist
aufgegeben hat, macht das Ganze noch schlimmer. «Ich
kann weder die Formulare des RAV ausfüllen noch mich
um Stellen bewerben. Das RAV schickt die Formulare
nun an eine Freundin, die sie dann für mich ausdruckt.»      Was die Zukunft wohl bringen mag?

20                                                                                                      Nachbarn 2 / 21
Caritas St. Gallen

Eine Gesprächsrunde in Tigrinya zum Thema Bewegung.

Femmes-Tische –
Frauen stärken Frauen
Femmes-Tische ist ein überaus erfolgreiches Peer-Projekt, das Frauen in ihren Alltags-
kompetenzen stärkt, sie bei ihrer Integration unterstützt und hilft, Hemmschwellen
abzubauen. Seit 2008 ist Caritas St. Gallen-Appenzell Femmes-Tische-Standort. In
dieser Zeit wurden über 2200 Gesprächsrunden in rund 20 Sprachen durchgeführt.
Interview: Susanna Heckendorn    Bilder: Femmes-Tische St. Gallen; Peter Dotzauer

Bernadete Moosmann, Sie sind seit fünfeinhalb                        Sehen Sie einen Zusammenhang zwischen
Jahren Femmes-Tische-Standortleiterin bei                            fehlender oder ungenügender Integration und
Caritas St. Gallen-Appenzell. Was ist das Beson-                     Armut?
dere an den Femmes-Tischen?                                          Durchaus. Familien oder Einzelpersonen mit kleinem
Die Gesprächsrunden finden in einem privaten Rah-                    Budget fehlt das nötige Geld für Deutschkurse oder
men oder in einer vertrauten Institution statt und                   eine Vereinsmitgliedschaft. Gerade Sprachkenntnisse
werden in der Muttersprache der Teilnehmerinnen                      sind wichtig, um sich Informationen zu beschaffen,
geführt. Die Frauen sind unter ihresgleichen und ge-                 den Austausch mit der Schule der Kinder zu pflegen
trauen sich daher viel eher, Fragen zu stellen und ihre              und sich mit den Gepflogenheiten unseres Landes ver-
Meinung zu äussern.                                                  traut zu machen. Mit den Femmes-Tische-Runden er-

Nachbarn 2 / 21                                                                                                           21
Caritas St. Gallen

halten die Frauen themenspezifische Informationen,
die für ihren Alltag in Bezug auf Gesundheit, Familie
und Integration wichtig sind.

Gibt es auch Gesprächsrunden zu Armutsthemen
wie Budget erstellen oder Schulden vermeiden?
Bis vor einigen Jahren konnten wir Runden zu den The-
men «Geld und Erziehung» und «Budgetkompetenz»
durchführen, die bei den Teilnehmerinnen sehr gut an-
gekommen sind. Leider werden diese Angebote bei uns
nicht mehr finanziert, was ich sehr bedauerlich finde.

Wie werden die Femmes-Tische finanziert?
Der Femmes-Tische-Standort St. Gallen hat mit dem
Amt für Gesundheitsvorsorge ZEPRA und dem Amt
für Volksschule Kanton St. Gallen zwei starke Partner,
die einen Grossteil der Gesprächsrunden finanzieren.
Gemeinden, Beratungsstellen, Vereine oder Kirchge-
meinden können in Absprache mit dem Standort eige-
ne Femmes-Tische anbieten, die von einer Moderatorin                  Bernadete Moosmann, Standortleiterin Femmes-Tische St. Gallen.
von Caritas St. Gallen-Appenzell geleitet werden.

Leisten die Femmes-Tische auch einen Beitrag                          Kindern die Freizeit aktiv gestalten können, ohne dass
zur Armutsprävention?                                                 das etwas kostet. Sie werden auf die Angebote von Lu-
Derzeit haben wir keine konkreten Themen zur Ar-                      dotheken und Bibliotheken aufmerksam gemacht und
mutsprävention, dennoch erhalten die Frauen viele                     ermutigt, ihren Kindern im Alltag Lerngelegenheiten
hilfreiche Informationen. Nach einer Runde zu «über-                  anzubieten, ohne dafür etwas kaufen zu müssen. Auch
legt einkaufen» wissen sie, wie sie ihre Familie gut, ge-             der Umgang mit digitalen Medien, die hohen Gebühren
sund und günstig ernähren können. Das Thema «Be-                      und die Gefahr von Internetfallen werden thematisiert.
wegung» zeigt viele Möglichkeiten, wie sie mit ihren                  Die Gesprächsrunden über «psychische Gesundheit»
                                                                      zeigt den Teilnehmerinnen, was sie selbst für sich tun
                                                                      können, um nicht krank zu werden. Krankheit kann zu
                                                                      Armut führen, und Armut kann krank machen; es ist
     25 Jahre Femmes-Tische                                           wichtig, diesen Teufelskreis zu durchbrechen.

     Im Juni 1996 wurde die erste Gesprächsrunde zum Thema            Bilden sich aus den Gesprächsrunden auch
     Suchtproblematik durchgeführt. Damit wurde der Grund-            Netzwerke für die Frauen?
     stein für eine visionäre, und wie sich gezeigt hat, erfolgrei-   Ja, ich höre immer wieder, dass sich die Frauen auch
     che Idee gelegt. Femmes-Tische orientiert sich an den            ausserhalb der Gesprächsrunden treffen und dass dar-
     Ressourcen der Teilnehmerinnen. Partizipation stärkt das         aus sogar Freundschaften entstanden sind.
     Selbstwertgefühl und hilft, ein soziales Netzwerk aufzu-
     bauen. Mittlerweile gibt es dieses Netzwerk der informel-        Welche Perspektiven bieten sich den
     len Bildung für vulnerable und sozial benachteiligte
                                                                      ­Teilnehmerinnen?
     Frauen an 30 Standorten in der Schweiz. Darunter auch
                                                                       In erster Linie werden sie in ihren Bemühungen um
     der von Caritas St. Gallen-Appenzell geführte in der
                                                                       Integration gestärkt, und sie erfahren viel Wissens-
     Ostschweiz. Die grosse Themenvielfalt und die Durch-
     führung der Gesprächsrunden in der Muttersprache der              wertes, um auch ihre Familie und insbesondere die
     Teilnehmerinnen sind wesentliche                                  Kinder zu unterstützen. Das motiviert auch immer
     Erfolgsfaktoren. Die Moderatorin-                                 wieder Frauen, sich als Moderatorin ausbilden zu las-
     nen profitieren von den Weiter­                                   sen. Das Moderieren von verschiedenen Themen stärkt
     bildungsangeboten und dem regel-                                  ihr Selbstbewusstsein und ermutigt sie, einen weite-
     mässigen Austausch mit der Stand-                                 ren Schritt nach vorne zu machen und beispielsweise
     ortleitung und ihren Kolleginnen.                                 eine Weiterbildung zu besuchen. Einige Moderatorin-
                                                                       nen werden auch für Einsätze bei Fachstellen wie der
     www.femmestische.ch                                               Präventions- und Gesundheitsförderung des Kantons
                                                                       St. Gallen angefragt.

22                                                                                                                    Nachbarn 2 / 21
Sie können auch lesen