GERONTOLOGIE CH PRAXIS + FORSCHUNG
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1 | 2020 GERONTOLOGIE CH PRAXIS + FORSCHUNG Aschenputtel aus dem Osten In der Schweiz betreuen über 10 000 osteuropäische Care-Migrantinnen alte Menschen. Seite 6 Wenn das Geld nicht Neue Rentner, neue Wohnbedürfnisse? ausreicht – Altersarmut in der Wie stellen sich ältere Menschen ihre Schweiz. Seite 12 zukünftige Wohnung vor? Seite 20
INHALT EDITORIAL IMPRESSUM Herausgeberin GERONTOLOGIE CH Kirchstrasse 24 3097 Liebefeld info@gerontologie.ch EIN TAG IM LEBEN... www.gerontologie.ch 4 Veronika R., betreuende Angehörige, erzählt aus Redaktionsleitung Regula Portillo, Bleiben Sie Liebe Mitglieder Liebe Leserinnen und Leser auf dem Patrick Probst, ihrem Alltag komform GmbH Redaktionskontakt: GERONTOLOGIE CH, die vormalige Ge- SCHWERPUNKT 6 Liebevolle Care-Migrantin mail@komform.ch 031 971 28 69 Laufenden! sellschaft für Gerontologie (SGG), blickt auf produktive Zeiten zurück. Wir haben Redaktion das strategische Profil geschärft, den gesucht! Pflegerinnen aus Valérie Hugentobler, GERONTOLOGIE CH Osteuropa arbeiten oft unter Haute école de travail Namen und unser Erscheinungsbild social et de la santé berichtet über das geändert. Das Bundesamt für Sozial- widrigen Bedingungen Lausanne; Hildegard Relevante in der versicherungen (BSV) hat diese An- Hungerbühler, Red STANDPUNKT Cross; Christoph Hürny, Gerontologie. strengungen honoriert und den in Frage gestellten Subventionsvertrag um vier 9 Und im Herkunftsland? Arzt; Barbara Masotti, Scuola universitaria Jahre verlängert. Das schweizerische Rote Kreuz professionale del- Teil der Neuerungen ist auch, dass sieht die Care-Migration kritisch la Svizzera italiana; das bisherige Magazin Angewandte Miriam Moser, Pro 6 Senectute; Delphine GERONTOLOGIE Appliquée (AGA) näher 11 NOTIZEN an die Praxis heranrückt, neu komplett Roulet Schwab, Institut et Haute Ecole de la zweisprachig ist und gleich heisst wie POLITIK Santé La Source; unsere Gesellschaft: GERONTOLOGIE 12 Wenn das Geld nicht ausreicht Alexander Seifert, CH, mit dem Untertitel Praxis und For- Altersarmut in der Schweiz Zentrum für Geronto- logie; Andreas Sidler, schung. Unverändert bleibt der qualita- Age-Stiftung; Dieter tive Anspruch: Wir wollen unsere Lese- VOLKSINITIATIVE Sulzer, Pro Senectute. rinnen und Leser über die wichtigsten 14 Für mehr Lebensqualität Anzeigen, Konzept Entwicklungen in der Gerontologie auf und Gestaltung im Alter dem Laufenden halten. Und zwar in den komform GmbH, Liebefeld unterschiedlichsten Gebieten. INTERVIEW Foto Cover Stefanie Becker, die bisherige Chef- 16 «Altersarmut ist real» David Zehnder redaktorin, hat ihr Amt auf Ende 2019 12 Surprise-Stadführer Markus Übersetzungen Sylvain Bauhofer (F), abgetreten. Wir bedanken uns bei allen Christen erzählt Aida Comic (D) Redaktionsmitgliedern für die bisher GERONTOLOGIE CH geleistete Arbeit. Mit Ausnahme der PROJEKT Das Magazin für die Chefredaktion bleibt die Redaktion üb- Vereinsmitglieder 15 Wohnen in der Demenz-WG erscheint dreimal pro rigens fast unverändert (siehe S. 2). Zwei Pilotprojekte in der Jahr in einer Auflage Neu zeichnet komform für die leser- Westschweiz von 1600 Exemplaren. freundliche Gestaltung und Konzeption Delphine Der Verkaufspreis ist Möchten Sie Mitglied Roulet Schwab des Magazins sowie die Redaktionslei- STUDIE im Mitgliederbeitrag von GERONTOLOGIE CH tung verantwortlich, eine Agentur, die Prof. Dr. Ordentliche enthalten. Jahresabon- Fachhochschul-Pro- 20 20 Neue Rentner, neue nemente und Einzel- werden oder dieses sich auf die gerontologische Kommuni- fessorin in Lausanne, Wohnbedürfnisse. Wie wollen ausgaben können bei Magazin abonnieren? kation spezialisiert hat. Wir hoffen sehr, Präsidentin GERONTO- der Herausgeberin dass der vielfältige Themenmix gefällt. LOGIE CH Coverfoto: ältere Menschen wohnen? bestellt werden. War 20 Jahre lang als Care-Migrantin Kontaktieren Sie uns bitte über tätig, sieben davon in in der Schweiz: 23 NOTIZEN 1. März 2020 Ich wünsche allen eine interessante d.rouletschwab@ info@gerontologie.ch ecolelasource.ch Die Slowakin Olga Veiglová. © 2020 komform Lektüre! GERONTOLOGIE CH 1/2020 3
EIN TAG IM LEBEN sie. Veronika ist in ihre Aufgabe ein Arzt- oder Kinobesuch muss besser, wenn sie möglichst ausge- hineingewachsen: «Zu viel auf Veronika Stunden vorher mit den ruht ist. einmal wollen bringt nichts.» Vorbereitungen beginnen. Zeit- druck vertragen ihre Eltern nicht. 12 Uhr: Das Zeitfenster Dass mit hochbetagten Eltern «Genug Zeit einplanen – um Mittag herum, wenn ihre Mutter in der Stube oder alles sehr lange dauert, daran hat sie sich inzwischen gewöhnt. Sie Veronika weiss, dass ihr Beispiel auch fürs Frühstück» im Sommer auf dem Balkon mit nimmt es mit Gelassenheit. nicht für alle gilt: Zeitunglesen beschäftigt ist, nutzt Ich bin in der kom- Veronika für den Einkauf. Manch- 18.30 Uhr: Es ist Zeit, das fortablen Situation, dass mal begleitet ihr Vater sie dabei. Abendessen vorzubereiten. ich sonst nicht mehr viele Verpflichtungen habe, und Veronika R., betreuen- Danach erledigt sie administrative Häufig lädt Veronika zum Znacht dass meine Eltern über eine Arbeiten, spielt eine Runde Soli- auch noch Gäste ein. Sie will ihre gute Rente verfügen. So ist de Angehörige, erzählt taire oder ruht sich selber etwas Eltern so weit als möglich in ihren es möglich, regelmässig zwei aus ihrem Alltag. aus. Es ist wichtig, dass sie ihre früheren Alltag mit Freunden und Frauen aus dem Bekann- tenkreis für die Betreuung eigenen Batterien auch zwischen- Bekannten integrieren – auch, Aufgezeichnet von: zu engagieren. Besonders Hildegard Hungerbühler durch immer wieder neu aufladen um sich selber nicht zu isolieren. nach kurzen Nächten kann kann. Alle, die vorher Teil ihres Lebens das eine grosse Hilfe sein. Einmal pro Jahr braucht Vero- waren, sollen auch jetzt dabei sein Manchmal übernehmen auch meine beiden erwachsenen nika eine längere Auszeit. Dann dürfen. Nach dem Essen wählt Kinder die Betreuung ihrer meldet sie die Eltern im Alters- sie für den Abend einen Film aus, Grosseltern. Dass meine und Pflegeheim in deren Heimat- meistens einen Krimi, die ihre Tochter im gleichen Haus 6.30 Uhr: Veronika steht auf, ort an. Kaum sind die Eltern weg, Mutter so gerne schaut. wohnt, ist ebenfalls eine Er- begleitet ihre Mutter zur To- vermisst sie sie zunächst und Veronika ist zufrieden mit der leichterung.» ilette und wieder zurück ins Bett. benötigt etwas Anlaufzeit, um in Situation. «Ich weiss nicht, was Meistens schläft die Mutter noch- einen eigenen Tagesrhythmus zu ich Sinnvolleres machen könnte», mals ein und Veronika hat Zeit, finden, der nicht von den Bedürf- sagt sie. Doch nicht alle haben die Spuren von Vaters nächtlichen nissen ihrer Eltern vorgegeben Verständnis für ihren Entscheid. Aktivitäten zu beseitigen. Wäh- wird. «Manche sind der Meinung, ich rend ihre Eltern noch schlafen, opfere mein Leben. Oft bekom- absolviert sie ihr halbstündiges 15 Uhr: Veronika bereitet das me ich das Gefühl vermittelt, mit Veronikas drei Turnprogramm, macht sich frisch Zvieri vor. Währenddessen mir sei etwas nicht in Ordnung. wichtigste Tipps: und lernt für ihren Russisch- bewegt sich ihr Vater selbständig. Ich will mich nicht rechtfertigen 1 Hilfe annehmen, falls mög- Foto: Shutterstock Sprachkurs. Veronika reagiert nur bei unge- müssen, für mich stimmt es so.» lich auch von Freunden oder Seit drei Jahren wohnen Wohnung und dem Wohnort der Duschen und Anziehen etwas wohnten Geräuschen. Sie bemüht Angehörigen 2 Eine Betreuungsblase ver- die Eltern bei Veronika. Fast zeit- Eltern beschloss Veronika, ihre Anleitung. Nach einem ausgie- sich, den Fokus im Alltag nicht 21.50 Uhr: Die Sendung hindern: den Fokus im Alltag gleich mit Veronikas Pensionie- Eltern zu sich zu nehmen. Seither bigen Brunch mit Zeitunglesen explizit auf die Betreuung zu legen «10vor10» gibt den Start- nicht allein auf die Betreu- rung wurde ihr Vater dement und hat die Gebrechlichkeit der Eltern kümmert sie sich um den Haus- und ihren Vater möglichst machen schuss für die Vorbereitungen zur ung legen ihre Mutter brach sich bei Stürzen kontinuierlich zugenommen, die halt. Die Betten frisch beziehen zu lassen. Zwischenfälle gehören Nachtruhe. Verläuft alles plan- 3 Die Betreuung in den Alltag integrieren: Handgelenk und Oberschenkel. Mutter hatte einen Hirnschlag, die und Wäsche waschen gehört zum zur Tagesroutine dazu: Ein Sturz, mässig, liegen ihre Eltern gegen • Nicht zu einer fixen Zeit Bis dahin hatten ihre Eltern den rechte Hand ist gelähmt. Tagesprogramm. «Es ist wieder ein Schwächeanfall, plötzlicher Mitternacht im Bett. Anders als frühstücken Haushalt gemeinsam erledigt, un- wie mit kleinen Kindern. Man Durchfall, oder die Suche nach früher, als Veronika bis spät ge- • Keinen starren Vorgaben terstützt durch Mahlzeitendienst 8.30 Uhr: Die Eltern wachen muss die eigenen Bedürfnisse mit dem Vater, der in einem unbe- lesen hat, schläft sie heute meis- folgen, den eigenen, sinn- vollen Rhythmus finden und Spitex-Einsätze. Doch das auf. Veronika hilft ihrer der Aufgabe in Einklang bringen wachten Augenblick die Wohnung tens gleich ein. Schliesslich weiss • Sich aufeinander einlassen reichte nicht mehr. Nach einiger Mutter bei der Morgentoilette, und akzeptieren, dass daneben verlässt – auch schon ohne Kleider. sie nie, was sie in der Nacht und • Sich emotional umeinan- Zeit des Pendelns zwischen ihrer auch der Vater braucht beim nicht viel anderes Platz hat», sagt Für eine hausexterne Aktivität wie am nächsten Tag erwartet. Umso der kümmern 4 GERONTOLOGIE CH 1/2020 GERONTOLOGIE CH 1/2020 5
SCHWERPUNKT die Spitex für die Dienstleistung keiten möglicher Mitarbeiterinnen der Hauswirtschaft meist Tessine- festgehalten sind. Bei Anfragen rinnen einstellt, die es nach Jahren für Betreuungseinsätze führt der 50% der Familienarbeit schwer haben, Verein die wichtige Abstimmungs- Im Tessin werden 50% Liebevolle Care- in den Arbeitsmarkt zurückzufin- arbeit zwischen Pflegenden und der von der Spitex den. Patientinnen und Patienten durch, erbrachten Haushalts- Jedes Jahr beschäftigt Opera wobei grundlegende Aspekte wie hilfeleistungen Migrantin gesucht! Prima etwa 150 «Badanti». Die Organisation verfügt über eine eigene Datenbank, in der persön- persönliche Interessen und kultu- relle Gepflogenheiten berücksich- tigt werden. Eine möglichst gute inzwischen unter der Schirmherrschaft von liche Qualitäten und Verfügbar- Übereinstimmung zu erreichen, Opera prima erbracht. Niedriglöhne, lange Arbeitstage und ein Schlafplatz auf dem Sofa: Pflegerinnen aus Osteuropa arbeiten Rund um die Uhr oft unter widrigen Bedingungen. Die Organisation verfügbar, zum Monatslohn von Opera Prima versucht im Tessin akzeptable Arbeits- 2800 Franken plus bedingungen zu schaffen für Care-Migrantinnen. Kost und Logis: Care-Migrantin Text: Barbara Masotti und Gabriele Balestra Olga Veiglová aus der Slowakei hat zuletzt eine pflege- bedürftige Frau in Basel betreut. J e nach Region werden sie Kontrolle der Arbeitsverhältnisse als Familienarbeiterinnen, zu gewährleisten. Care-Migrantinnen oder Opera Prima ist ein gemein- «Badanti» bezeichnet. Oft sind es nütziger Verein, der sich im Tessin Migrantinnen aus Osteuropa, die seit über 20 Jahren im Bereich der tagsüber oder sogar nachts Hilfe häuslichen Pflege für die beruf- und grundversorgende Pflege für liche Integration von Frauen hilfsbedürftige Menschen in deren einsetzt, die von Ausgrenzung Zuhause leisten. Eine Art der bedroht sind. Der Verein entstand privaten Dienstleistung, die im im Kontext des Balkankrieges öffentlichen Netz der häuslichen im Anschluss an ein Projekt zur Pflegehilfe kein entsprechendes Integration von Asylsuchenden Pendant hat. des Schweizerischen Arbeiter- Die Arbeit dieser Pflegemi- hilfswerks Tessin. Ausgehend von grantinnen ist durch komplexe Sprachkursen, wurde beschlossen, Rahmenbedingungen gekenn- das Beschäftigungspotenzial der zeichnet, es ist ein weitgehend Migrantinnen für die Spitex aus- Bildlegende unkontrollierter Markt. Im Tessin zuloten. Nach einer sorgfältigen Lorem ipsum hatsitdie dolor Care-Arbeit ganz beson- amet Evaluation begann die Spitex, den dereipsum Lorem Merkmale, da der öffentli- Migrantinnen von Opera Prima chesitSektor dolor amet zunehmend mit dem einfache Pflegesituationen anzu- Bildlegende privaten Personal interagiert, vertrauen. Seit zehn Jahren arbei- Lorem ipsum was es ermöglicht, ein gewisses dolor sit amet ten diese nun als sogenannte «Ba- Qualitätsniveau Lorem ipsum und eine gewisse danti» (dt. Pflegende), während Foto: David Zehnder dolor sit amet 6 GERONTOLOGIE CH 1/2020 GERONTOLOGIE CH 1/2020 7
ist nicht einfach, aber umso wich- tiger, da Pflegende und Patientin- rinnen besser zu schützen und zu betreuen und gleichzeitig die 30 000 Plattform für nen und Patienten notwendiger- Qualität und Effizienz der häus- Care-Arbeit « weise eng zusammenleben. lichen Pflege zu verbessern. Ungefähr so viele Während ein Arbeitsvertrag Care-Migrantinnen besteht, bietet Opera Prima in Das Porträt einer Care-Migrantin Ein europäisches Pilotprojekt unterstützt mit betreuen in der Schweiz Zusammenarbeit mit der Spitex aus dem Tessin folgt in der alte Menschen im Bildungsmodulen die Care-Arbeiterinnen. nächsten Nummer. einen kostenlosen Dienst an, um eigenen Daheim. Text: Filippo Bignami bei Konflikten zu vermitteln. Es handelt sich um eine externe An- 7000 CHF D laufstelle, die der Care-Migrantin, ie Abteilung für Betriebs- gesellschaftlicher Teilhabe, indem Wie tausende Frauen Familie oder auch den Angestell- wirtschaft, Gesundheits- es von der Marginalisierung be- aus Osteuropa habe ich ten von Opera Prima in schwie- So viel kostet ein Platz in und Sozialwesen der drohte Menschen befähigt, eine erlebt, was es heisst, rigen Situationen unterstützend einem Schweizer Pflege- Fachhochschule der italienischen soziale, berufliche und sogar (im 24 Stunden am Tag zur Seite steht, und, falls nötig, heim ungefähr pro Monat. Schweiz (SUPSI) koordinierte ein weitesten Sinne des Wortes) politi- auch regelmässige Hausbesuche europäisches Leonardo-Da-Vinci- sche Rolle zu spielen. alte Leute zu betreuen. Der Staat übernimmt Es ist nicht die Arbeit durchführt. Solch schwierige Situ- Projekt zum Innovationstransfer. Das Projekt mitsamt seiner nur einen Bruchteil an sich, die schlimm ationen können das Burnout einer Das Projekt – 2015 abgeschlossen Lernplattform der Informations- Mitarbeiterin sein, die sich in sich dieser Kosten. – trug den Titel «ICT: Innovative und Kommunikationstechnik des ist, sondern dass die selbst zurückzieht, oder der Neid Caregivers Training» und testete Bundes ist ein positives Beispiel Frauen isoliert sind in des Sohnes eines älteren Patien- ten, der seine Pflegerin so sehr 1500 Euro ein speziell für weibliche Fami- lienarbeiterinnen entwickeltes für eine länderübergreifende Initiative mit einer unmittelbaren einem Privathaushalt, ohne soziale Kontakte, liebt, dass er ihr das Erbe hinter- Durchschnittslohn einer Ausbildungsmodul. Die in der lokalen Wirkung. Basierend auf lassen will. Schweiz, in Italien und Polen der Methode und den Inhalten des ohne Privatleben, Tag Care-Migrantin in der und Nacht verantwort- Heute ist die «Badante» zu durchgeführte Initiative hatte eine Projekts, konnte ein kantonales Schweiz, die über eine lich für einen kranken einer wichtigen Akteurin in der vertiefte Auseinandersetzung mit Diplom für Familienarbeiterin- Tessiner Langzeitpflege gewor- europäische Agentur dem Berufsbild zum Ziel, um die nen geschaffen werden, welches Menschen, ein Leben im Barbara Masotti den. In den letzten Jahren haben vermittelt wird. Falls die Familienarbeiterinnen zu för- einzigartig ist in der Schweiz. Bis Rhythmus von anderen, Doktorin der Sozioökonomie, Tessiner Spitex-Organisationen Forscherin am Centro compe- Vermittlung über eine dern und somit ihre Integration heute wurden drei Lehrgänge vom Essen über das weitere Pilotprojekte gestartet, tenze anziani der SUPSI. schweizerische Agentur in einen sozialen und beruflichen abgeschlossen, der vierte ist in Fernsehprogramm bis um eine noch stärkere Integration erfolgt, liegt der Min- Kontext zu stärken. Vorbereitung. Insgesamt rund 100 hin zu den Nächten der «Badanti» in das öffentliche barbara.masotti@supsi.ch. destlohn bei CHF 18.90 Das Ausbildungsmodul be- Familienarbeiterinnen haben bis- System der Haushaltshilfe zu er- handelt Aspekte wie Problem- her ihren Abschluss gemacht. ohne Schlaf.» für Ungelernte oder reichen. Einen wichtigen Beitrag lösung, soziale Aktivierung und dafür könnten flexible und für CHF 22.75 für Gelernte soziale Teilnahme, damit sich Bozena Domanska ist ge- pro Stunde. bürtige Polin. Über Deutsch- alle zugängliche Beschäftigungs- Familienarbeiterinnen innerhalb land ist sie in die Schweiz modelle leisten: beispielsweise des institutionellen Bezugsnetzes gekommen, wo sie viele Stundenverträge, die Vermittlung zurechtfinden und lernen, wie sie Jahre als 24-Stunden-Be- von Care-Migrantinnen an meh- Gabriele Balestra 24 Stunden die relevanten Informationen ef- treuerin gearbeitet hat. Heute engagiert sie sich mit rere Patientinnen und Patienten So lange muss eine fektiv nutzen können. Ausserdem dem Netzwerk Respekt da- gleichzeitig oder auch «Gebäu- Direktor der Associazione bietet das Modul den Familien- Care-Migrantin pro Tag Filippo Bignami für, dass Care-Migrantinnen Locarnese e Valmaggese di de-Badanti», die innerhalb eines Assistenza e cura a Domicilio arbeiterinnen eine Lernplattform, Filippo Bignami ist Doktor unter fairen Arbeitsbedin- bestimmten Mehrfamilienhauses theoretisch verfügbar über die sie sich vernetzen und ihr gungen angestellt werden. (ALVAD) und Präsident der der Politikwissenschaft und in mehreren Haushalten tätig Vereinigung Opera Prima. sein, wobei die Richt Wissen austauschen können. Forscher am SUPSI. www.respekt-vpod.ch sind. Solche Lösungen würden linien von einer 44-Stun- Das Projekt sieht sich in der Tra- es ermöglichen, die Mitarbeite- gabriele.balestra@alvad.ch den-Woche ausgehen. dition der Stärkung von konkreter filippo.bignami@supsi.ch 8 GERONTOLOGIE CH 1/2020 GERONTOLOGIE CH 1/2020 9
STANDPUNKT NOTIZEN Und im Möchten Sie ein Inserat oder Gefangen im Betreuungssetting ZHAW-Studie zeigt: Herkunftsland? eine Publireportage im Magazin GERONTOLOGIE CH publizieren? Betreuende Kontaktieren Sie uns bitte über Angehörige brauchen Das Schweizerische Rote Kreuz (SRK) mehr Entlastung sieht die Care-Migration kritisch. mail@komform.ch In der häuslichen Langzeitversor- gung in der Schweiz bilden An- gehörige die wichtigste Stütze. Die Von Christa Hanetseder Betreuung und Pflege ihnen naheste- hender Menschen fordert sie jedoch Viele Menschen werden heute Privathaushalt erbrachten Leis- oft bis an ihre Grenzen und darüber Care-Migration gesetzlich regeln 80 Jahre und älter. In den letzten tungen unterstehen nicht dem hinaus. Auch, weil bei der externen Lebensjahren brauchen sie oft Schweizer Arbeitsgesetz. Da die Immer mehr Kantone Unterstützung Lücken bestehen. Unterstützung, Betreuung, Pflege Krankenkassen Betreuung nicht leisten dem Aufruf So gab ein Viertel der Befragten an, – aktuell häufig durch Care-Mi- finanzieren, trägt die Kosten die des Bundes Folge täglich mehr als 15 Stunden für die grantinnen geleistet. Sie arbeiten Familie. Sämtliche Kantone waren vom Versorgung ihnen nahestehender Bund aufgefordert, die Arbeits- Personen aufzuwenden. Viele fühlen hier zeitlich begrenzt und kehren Dies alles kann zu prekären An- bedingungen von Care-Migran- sich in ihrem Betreuungssetting ge- wieder zurück (Pendelmigration). stellungsverhältnissen mit dem tinnen, die bis zu 24 Stunden am fangen. Die Forschenden empfehlen Aus der individuellen Perspek- Potenzial für Ausbeutung und Tag betagte Menschen eine frühzeitige Sensibilisierung tive der Care-Migrantin kann es Übergriffe führen. Das SRK meint bei ihnen zu Hause be- und eine vermehrte Einbindung von nötig sein, im Ausland zu arbeiten deshalb, dass Care-Migration treuen, zu regeln und Vertrauenspersonen. Organisatio- (Existenzsicherung, Ausbildung kein effektives Modell ist. zu verbessern. Der nen und Gemeinden sollten mehr Bund hat dazu einen der Kinder). Ältere Menschen Die Entwicklungspolitik muss Beratungs- und Betreuungsangebote Mustervertrag mit wählen diese Betreuungsform, die Existenzsicherung im Her- bereitstellen, um die betreuenden Minimalanforderungen weil sie zu Hause leben wollen. kunftsland stärken, indem Be- Angehörigen zu unterstützen. ausgearbeitet, an dem sich die Aus einer gesellschaftspoli- schäftigung und Ausbildungen Kantone bei der Umsetzung orien- tischen Perspektive ist dieses vor Ort unterstützt werden (vgl. tieren können. Darin wird unter Modell aber problematisch. Im Lehrgang Pflegehelfer/-in SRK). anderem geregelt, wie viel Freizeit Herkunftsland der Care-Migrantin Die Rechte der Care-Migrantin- Care-Migrantinnen zugute ha- Christa Hanetseder ben, wie viele Pausen, oder dass verstärkt es die Abwanderung nen müssen durch das Arbeits- Psychologin, Dr. Arbeitgeber wie Arbeitnehmerin- und verschärft den Mangel im gesetz und klare Bestimmungen phil. mit einem CAS nen verpflichtet sind, die genauen Betreuungssystem. Das persön- geregelt sein. Die betreute Per- Gerontologie Univer- Arbeitszeiten festzuhalten. Vier liche Leben der Care-Migrantin son und die Care-Migrantin sind sität Zürich, arbeitet Kantone haben bereits Regelun- als Fachexpertin beim ist von Abwesenheit und Isolation besser geschützt, wenn eine Schweizerischen Roten gen erlassen, in zwölf weiteren Gerontologisch relevante geprägt. Ist sie für die Aufgaben nicht primär profitorientierte Kantonen sollen die Verträge 2020 nicht ausreichend ausgebildet, Organisation die Dienstleistung Kreuz. Arbeitsschwer- punkte sind Alter und in Kraft treten. Themen gesucht! Migration, Demenz, gefährdet dies das Wohl der be- vermittelt – wie beispielsweise Care-Migration, Caring Haben Sie ein Thema, welches wir im treuten Person. Caritas Care oder Opera prima. Communities sowie die Folgen von Trau- Magazin GERONTOLOGIE CH aufgreifen Die ältere Person oder die Ist eine umfassende Betreuung matisierungen. könnten? Dann senden Sie bitte eine Angehörigen sind Arbeitgeber, und Pflege nötig, empfiehlt das E-Mail an die Redaktion: verfügen meist aber nicht über SRK die Unterbringung in einer Christa.hanetseder@ mail@komform.ch das nötige Wissen. Die in einem stationären Institution. redcross.ch 10 GERONTOLOGIE CH 1/2020 GERONTOLOGIE CH 1/2020 11
POLITIK Wenn das Geld A rmut im Alter kann zwei Gründe Bei den entspricht 12,5 % der älteren Bevölke- haben. Der erste Grund findet rung in der Schweiz. Nicht alle, die tiefe einkommens- sich im biografischen Verlauf bis Renten beziehen, beantragen auch EL. nicht ausreicht ärmsten zur Pensionierung. Wer schon während Darum sind die Zahl und der Anteil aller dem Erwerbsleben knapp durch musste, Rentnerpaar- armutsbetroffenen Alten höher, nämlich gehört auch im Alter zu jenen, die von Ar- haushalten rund 291 000 oder 15 %. Schliesslich kann Altersarmut in der Schweiz. Die Politik mut bedroht sind. Der zweite Grund zeigt macht die man den Blick auf das Ausmass der Ar- ist gefordert, damit alleMenschen in sich im Alterungsprozess selber. Je älter AHV mehr als mutsgefährdung im Alter ausweiten. Wer man wird, desto stärker macht sich der 80%, bei den weniger als 60 % des mittleren Renten- Würde alt werden können. Fragilisierungsprozess bemerkbar. Die einkommens erzielt, gehört dann in diese einkommens- Text: Prof. Dr. Carlo Knöpfel wachsenden Ausgaben für die Betreuung Gruppe. Deren Zahl beläuft sich auf rund reichsten und Pflege können zu neuen Quellen der 330 000 Personen und macht einen Anteil Verarmung werden. weniger als von fast 23 % aus. 20% aus. Doch diese Angaben bilden nicht die Mindestens ein Zehntel der ganze Realität der schweizerischen Al- Pensionierten ist arm tersarmut ab. So berücksichtigen sie nur Armut im Alter heisst zuerst, ein Renten- zum Teil die Vermögenssituation der ein- einkommen zu erzielen, das zur sozialen kommensarmen älteren Menschen. Eine Existenzsicherung nicht ausreicht. 10% Studie für das Jahr 2007 zeigt, dass drei der Neurentnerinnen und Neurentner Viertel aller einkommensarmen Seniorin- beziehen Ergänzungsleistungen. Später nen und Senioren über liquide Mittel von steigt der Anteil, weil die Kosten von mehr als 10 000 Franken, und ein Drittel Heimaufenthalten in vielen Fällen die sogar über mehr als 100 000 Franken ver- Renten übersteigen. Insgesamt sind rund fügten. Allerdings ist dabei auch an den 205 000 (Zahlen für 2017) Rentnerinnen Kapitalbezug aus der 2. Säule zu denken. und Rentner auf EL angewiesen. Dies Dieser kommt gerade bei Pensionierten mit tiefen Renteneinkommen häufig vor Haushaltseinkommen von Paarhaushalten und verzerrt damit das Bild. ab 65 nach Einkommensklassen Die Einkommensverteilung ist unter In Franken pro Monat (Stichprobe 2012–2014) den Rentnerinnen und Rentnern grösser als in der Gesamtbevölkerung. Das Ein- 16 000 kommensverhältnis zwischen den ärms- 14 000 ten und den reichsten 20 % der Rentner- 12 000 haushalte beträgt 1:4. Die ärmsten 20 % 10 000 Rentnerpaarhaushalte (1. Quintil) müssen 8 000 im Mittel mit knapp 4000 Franken im 6 000 Monat auskommen, während den obers- 4 000 ten 20 % (5. Quintil) im Schnitt rund 16 000 Franken zur Verfügung stehen 2 000 (Infografik). Diese Ungleichheit spiegelt 0 1. Quintil 2. Quintil 3. Quintil 4. Quintil 5. Quintil sich auch in der Zusammensetzung der Renteneinkommen wieder. Bei den ein- Erwerbseinkommen Einkommen aus Vermögen und Vermietung kommensärmsten Rentnerpaarhaushal- Weitere Sozialleistungen ten macht die AHV mehr als 80 %, bei den BV einkommensreichsten weniger als 20 % AHV aus. Foto: Shutterstock Quelle: Bundesamt für Statistik 12 GERONTOLOGIE CH 1/2020 GERONTOLOGIE CH 1/2020 13
VOLKSINITIATIVE Dies ist von grosser alterspoliti- scher Bedeutung. Wer erwartet, Auch in der reichen Schweiz Für mehr Lebensqualität weit verbreitet: dass seine Rente tief sein wird, die Altersarmut. sieht einen Ausbau der AHV anders, als jener, der mit einem hohen Renteneinkommen rech- im Alter nen kann. Dieser Aspekt hat auch eine geschlechtsspezifische Lancierung einer eidgenössischen Bedeutung. Der jährliche Unter- Volksinitiative für ein gutes Alter für alle. schied zwischen den Rentenan- Bund und Kantone sollen verstärkt sprüchen der Frauen und Männer beträgt rund 20 000 Franken. Die in die Pflicht genommen werden. grösste Differenz findet sich dabei bei der beruflichen Vorsorge. Dies hat viel mit den unterschiedli- chen Erwerbsbiografien der heute Ausgangslage • eine angemessene Betreuung alten Frauen und Männern zu Die Pflege, Betreuung und All- der Betroffenen zu sichern und tun. Während viele Männer ohne tagsunterstützung von Menschen • eine Ausbildungsoffensive zu grosse Unterbrüche ihr Leben Foto: Adobe Stock im Alter gelangen in der Schweiz finanzieren und dem Fachkräfte- lang erwerbstätig waren, hatten eine tiefe Bildungsstufe erreichte Teilhabe im Quartier sind wichtig zunehmend in Schieflage. Gleich- mangel entgegenzuwirken. Frauen ganz andere Verläufe. Ihre und mit wenig Geld durchs Leben für die Lebensqualität im Alter. In zeitig nimmt die Zahl der Hochbe- Erwerbstätigkeit wurde durch die kommen musste, hat im Vergleich keiner Phase verbringt man mehr tagten rasch zu. Die betreuenden Komitee Familienphasen unterbrochen, zu jenen mit einer guten Ausbil- Zeit zu Hause als im Alter. Wer Angehörigen stehen oft unter Hinter dem Netzwerk «Gutes war von Teilzeitarbeit, tiefen dung und höheren Lohneinkom- gebrechlich wird, braucht dann grossem Druck und die öffent- Alter» stehen zahlreiche Fach- Lohneinkommen und hoher unbe- men eine um vier bis fünf Jahre Unterstützung, um den Alltag lichen Angebotsstrukturen sind leute aus dem Alters- und Pflege- zahlter Care-Arbeit geprägt. Von tiefere Lebenserwartung. sinnvoll zu bewältigen. Oft sind es nicht flexibel genug. Zudem zeich- bereich sowie aktive und ehema- Armut im Alter sind also vor allem Auch dieser Sachverhalt ist Angehörige, welche diese Betreu- net sich ein gravierender Fach- lige Politiker. Das Initiativprojekt Frauen betroffen. von grosser alterspolitischer Be- ung übernehmen. Wo sie fehlen, kräftemangel ab. Nur wer über wurde einer breiten Vernehmlas- deutung. So stellt sich die Frage, bietet die Seniorenwirtschaft Hilfe viel Geld verfügt, kann sich privat sung unterzogen, welche aktuell Arme sterben früher ob es unter diesen Umständen an. Doch diese kostet. Anders als Leistungen einkaufen. Ein Gross- ausgewertet wird. Der Verein will Armut im Alter ist aber mehr, als fair ist, wenn für alle das gleiche die Pflege muss ein grosser Teil teil der Bevölkerung muss im Alter seine Initiative im Frühling 2020 nur zu wenig Geld zu haben. Ar- Rentenalter festgelegt wird. Wäre der Betreuung im Alter selber be- jedoch mit Fehl- und Unterversor- lancieren. Es gilt: Alle Personen mut im Alter ist eine prekäre Le- es nicht besser, wenn die Zahl der zahlt werden. Wer sich das nicht gung rechnen. in der Schweiz sollen bis ans benslage, die sich in vielen weite- Erwerbsjahre zur Festlegung der leisten kann, dem droht Vereinsa- Lebensende in einer ihrer indivi- ren Facetten zeigt, so zum Beispiel Pensionierung herangezogen wür- mung, Langeweile und das Gefühl Forderung duellen Situation angemessenen Carlo Knöpfel in den Dimensionen Gesundheit de? Dabei wären dann natürlich der Nutzlosigkeit. Diese Proble- Ein gutes Leben im Alter steht Weise betreut, gepflegt und in der und Wohnen. Die Lebenserwar- auch die Jahre der unbezahlten matik wird sich in den kommen- Wirtschaftswissenschafter, allen Menschen zu – unabhängig Alltagsbewältigung unterstützt Prof. Dr. Nach langjähriger tung der älteren Menschen ist in Care-Arbeit zu berücksichtigen. den Jahren weiter akzentuieren, Tätigkeit bei der Caritas heute von den Ressourcen, über die sie werden. den letzten hundert Jahren deut- weil die Familien kleiner werden, Professor für Sozialpolitik und verfügen. Die erforderliche All- lich angestiegen. Heute können Arme leben oft einsam nicht mehr am gleichen Ort leben Soziale Arbeit an der FHNW. tagsunterstützung muss für alle Neurentnerinnen mit zusätzlichen Wer ältere Menschen fragt, wie und die Erwerbsarbeit für Frauen Arbeits- und Forschungsschwer- erreichbar sein. Dafür braucht es punkte: Der gesellschaftliche 23 und Neurentner mit weiteren sie ihren Lebensabend verbringen an Bedeutung gewinnt. Alters- auf Verfassungsebene klare Ziele, Wandel und die soziale Sicher- 20 Jahren rechnen. Aber nicht nur wollen, hört von den allermeisten, politisch betrachtet, heisst das: heit, Fragen zu Armut, Arbeits- deren Umsetzung mit Mindest- das Geschlecht beeinflusst die dass sie möglichst lange zu Hause es braucht ein Anrecht auf gute losigkeit und Alter. vorgaben gesichert werden muss. Lebenserwartung, sondern auch bleiben möchten. Die Vertrautheit Betreuung im Alter. Finanzmittel müssen verfügbar Mehr wissen: die soziale Ungleichheit. Wer nur mit der Umgebung und die soziale carlo.knoepfel@fhnw.ch gemacht werden, um: www.gutes-alter.org 14 GERONTOLOGIE CH 1/2020 GERONTOLOGIE CH 1/2020 15
INTERVIEW «Altersarmut ist real» Welches Entwicklungspotenzial sehen Sie in den Surprise-Stadt- führungen? MC: Es bestehen bereits einige Markus Christen, 65, ist Surprise-Stadtführer Folgeangebote, so der Strassen- in Basel und weiss, was es bedeutet, aus chor, der gerade die Wiederauf- dem sozialen Netz zu fallen. Ein Gespräch. nahme seiner Konzertreihe prüft. Ein weiteres Highlight ist der Aufgezeichnet von: Miriam Moser Strassenfussball, aktuell bestehen bei uns 14 Liga-Teams. Mit einer Nationalmannschaft an einem N achdem Markus Christen Sie sind einer der drei Pioniere der öffentlichen Raum zu schützen, bei Surprise haben meine Lebens- Existenzminimum für die Partei Homeless World Cup im Ausland seine Arbeit verlor und in Sozialen Stadtrundgänge von Sur- wenn wir unsere Lebenserfahrung situation stabilisiert. Ich habe so- ein Problem darstellt. «Im Gegen- teilzunehmen ist ein bleibendes seinem erlernten Beruf als prise, die 2013 gegründet wurden. mit fremden Menschen teilen, gar meine politische Arbeit wieder teil, genau diese Stimmen brau- Erlebnis für alle Teilnehmenden. Typograf keine Stelle fand, wurde Dabei erzählen armutsbetroffene sondern trug auch dazu bei, uns aufgenommen. chen wir auch», hiess es. Deshalb Die Medienpräsenz, die diese er Chauffeur. Während einer Fahrt und obdachlose Menschen aus einen ehrlichen, ungeschönten werde ich wieder antreten. Angebote auslösen, hilft uns, erlitt er einen Sekundenschlaf und ihrem Alltag und zeigen Orte, an Blick auf die eigene Situation zu 2016 haben Sie die Wahl in den gegen gesellschaftliche Vorurteile verursachte einen Unfall. Obwohl denen man sonst achtlos vorüber- erarbeiten. Danach konnte ich Basler Grossen Rat knapp verpasst. Welche politischen Veränderungen anzukämpfen und soziale Verän- dabei niemand verletzt wurde, geht. Die Mission gegen aussen frei und ohne Scham über meine Planen Sie für 2020 einen neuen möchten Sie anstossen? derungen in Gang zu setzen. Denn entschied Christen, die Stelle zu ist, Vorurteile abzubauen. Doch Lebensumstände berichten. Zu Anlauf? MC: Neben der Förderung des es ist einfach so: Armut ist real kündigen. Er wollte nicht verant- worin sehen Sie Ihren persönlichen erleben, wie meine Biografie die MC: Ja, ich möchte es gerne noch sozialen Wohnungsbaus ist ein und letztendlich kann sie jede und worten, dass bei einem zweiten Nutzen? Zuhörenden erreichte, liess mei- einmal versuchen. Um negative wichtiges Ziel die Anpassung der jeden treffen. Mal Schlimmeres passieren wür- MC: Die Biografiearbeit, die wir im nen Selbstwert wieder gesunden Überraschungen zu vermeiden, Sozialversicherungsleistungen. de. Doch die erneute Stellensuche Rahmen von Surprise machten, und ich begann Freude an meiner habe ich im Voraus geklärt, ob Menschen, die im Verlauf ihres erwies sich für den damals 55-Jäh- diente nicht bloss dazu, uns im Arbeit zu bekommen. Die Jahre mein Rucksack als Mensch am Lebens nur wenig in die 1. und 2. rigen als hoffnungslos. Säule einzahlen konnten, haben im dritten Lebensabschnitt keine Herr Christen, was hat es mit Ihnen Möglichkeit mehr, ihre finanzielle gemacht, den Gang durch Ämter Situation zu verbessern. Obwohl und Bürokratie bis zur Aussteue- sich im Kanton Basel-Stadt in den rung durchlaufen zu müssen? vergangenen Jahren einiges be- Markus Christen: Die Jahre der Versu- wegt hat, scheint es mir wichtig, Mehr wissen: che, mit einer Stelle wieder im Le- die Lebenssituation der sogenannt Seit 1998 unterstützt Sur- ben Fuss zu fassen, haben Spuren Armutserfahrenen auch auf politi- prise sozial benachteiligte hinterlassen. Damals galt mein scher Ebene verstärkt ins Blickfeld Menschen in der Schweiz. Mit Erwerbsmöglichkeiten, Alter als schwierig, heute weiss zu rücken. Angeboten zur Teilhabe am man, dass Stellensuchende bereits gesellschaftlichen Leben und ab 45 grössere Schwierigkeiten Sehen Sie einen Zusammenhang niederschwelliger Beglei- haben als jüngere Personen. Die zwischen Armut und Alter? tung eröffnet Surprise ihnen Perspektiven und konkrete vielen Absagen nagen am Selbst- MC: Ja, selbstverständlich. Wie ich Handlungsfelder. Darüber vertrauen, und hätte mir jemand bereits erwähnt habe, reichen die hinaus sensibilisiert Surprise prophezeit, dass ich irgendwann Markus Christen, Ergänzungsleistungen für Per- die Öffentlichkeit für soziale den Mut aufbringen würde, vor der Armut und Aus- sonen, die über keine oder keine Gerechtigkeit, wirbt für ge- grenzung aus eigener sellschaftliche Vielfältigkeit Gruppen oder Schulklassen zu Erfahrung kennt, nennenswerte 2. oder 3. Säule ver- und stellt fachliche Expertise sprechen, wie ich das heute tue, erzählt aus seinem fügen, oft schlicht nicht aus. Dann zur Verfügung. hätte ich ihm nicht geglaubt. Leben. ist die Armut nah. www.surprise.ch Fotos: Surprise 16 GERONTOLOGIE CH 1/2020 GERONTOLOGIE CH 1/2020 17
PROJEKT Wohnen in der «Colocations» – Gemeinschafts- wohnungen für Personen mit Alzheimer: Prinzipien und mus und das Teilen mit anderen Mitbewohnenden und Gefährten stark reduziert. Demenz-WG Mehr wissen: Betriebsorganisation Avramito, M., Hugentobler, V. Angehörige: Die Integration von (2019). Les colocations: Angehörigen und Familien in die un modèle alternatif de Zwei Pilotprojekte in der Westschweiz. Wohngemeinschaft ist weniger logements pour les person- einfach als angenommen. Obwohl nes atteintes de la maladie Text: Valérie Hugentobler d’Alzheimer, in: Höpflinger, eine Demenz-WG sozialverträg- F., Hugentobler, V., Spini, D. licher ist als eine institutionelle (dir.). Habitat et vieillissement. Unterbringung, zeigten die Ange- Réalités et enjeux de la diver- Projekt: In der Westschweiz wur- Vermeidung eines kollektiven ten, die das Zusammenleben von hörigen im Pilotprojekt nur wenig sité. Age Report IV. Éditions den in den Jahren 2014 und 2016 Rhythmus, der als ungeeignet für älteren, dementen Menschen mit Präsenz und Engagement. Ihre Seismo. zwei Wohngemeinschaftsprojekte Menschen mit Alzheimer-Krank- anderen Bewohnenden geriat- Besuche und Interventionen in Hugentobler, V., Brzak, N., für Alzheimerkranke gestartet. heit gilt – und andererseits soll der rischer Einrichtungen mit sich der Wohngemeinschaft erfolgen (2018), Colocation Alzheimer: évaluation de deux modèles Initiiert von der Schweizerischen zentrale Platz der Angehörigen in bringt. Seither sind verschiedene in der Regel auf Ad-hoc-Basis, und (Topaze et Rubis), Lausanne, Alzheimer-Vereinigung und um- der Betreuung erhalten bleiben, Projekte entstanden, die sich ihre Beteiligung an der Gestaltung EESP. gesetzt von der Stiftung Saphir mit den andere Wohneinrichtungen gegenseitig beeinflussen: Cantou Individuelle Privatzimmer des täglichen Lebens sowie ihre Leenhardt, H., (2010), La vie en Unterstützung des Departements nur in begrenztem Umfang zu- in Frankreich, Demenz-Wohn- Mitwirkung an Entscheidungsfin- appartement communautaire Zentraler Wohnbereich – für Gesundheit und Soziales des lassen. gemeinschaften in Deutschland, dungen scheint begrenzt zu sein. (group living) pour les per- Ort der Gemeinschaft Kantons Waadt, soll dieses alter- Group-Living in Schweden, Mai- sonnes âgées qui ont besoin native Wohnmodell den Betrof- Trend: Während dieses Konzept son Carpe Diem in Kanada, etc. Fazit: Trotz dieser Einschränkun- d’aide et de soin: Document Offene gemeinschaftliche de travail pour la préparation fenen ermöglichen, weiterhin in einer Demenz-WG in der Schweiz (Leenhardt, 2010). Grossküche gen sind Wohngemeinschaften d’un cahier des charges, Asso- einem gewöhnlichen, nicht-medi- neu ist, basiert es auf europäi- ein innovatives Betreuungsmodell ciation Monsieur Vincent. Interaktion mit dem äusseren zinischen Umfeld zu leben. schen Modellen des Zusammen- Einfallsreichtum: In diesem Mo- Wohnumfeld: Zugänge der Be- und eröffnen unbestreitbar inte- wohnens älterer Menschen mit dell des Kleingruppenlebens mit wohnenden zur Nachbarschaft ressante Perspektiven angesichts Wohnungen: Die Wohngemein- kognitiver Beeinträchtigung. Die 24/7-Betreuung werden die Mit- der wachsenden Zahl von Men- schaften bestehen aus zwei Woh- ersten Modelle dieser Wohnform bewohnenden ermutigt, ihre Fä- Alltagsbegleiterin schen mit kognitiven Störungen nungen mit jeweils 6 Mietern, die entstanden Ende der 1970er-Jahre higkeiten und Ressourcen so lange Besuche, Partizipation von in der Schweiz. Sie schaffen eine jeweils ein von den Mietern ein- als Antwort auf die Schwierigkei- wie möglich zu nutzen. Einige von Angehörigen Zufriedenheit im Zusammenleben gerichtetes Einzelzimmer sowie und ermöglichen es, den Eintritt Gemeinschaftsräume haben: Bad, in eine medizinisch-soziale Ein- Küche, grosses Wohnzimmer, Bal- richtung zu vermeiden oder zu kon oder Garten. Das Konzept soll verzögern. Die beiden Evaluatio- eine soziale Unterstützung im All- ihnen gewinnen sogar eine Un- nen, die mit den Mitbewohnenden tag bieten, um ein Lebensumfeld abhängigkeit zurück, die ihnen zu des Kantons Waadt durchgeführt wie zu Hause zu fördern, jedoch Hause fehlte (z. B. selbständiges wurden, ergaben eine relativ lange sicher und betreut von Lebens- Waschen). Da sie in der Nähe ih- Aufenthaltsdauer (mehrere Jahre) gefährten. Die Betreuung erfolgt res früheren Wohnortes wohnen, für Personen, die sonst in eine durch eine ausserhalb der Wohn- können sie ihre Beziehungen und Langzeiteinrichtung hätten ein- Valérie Hugentobler gemeinschaft angesiedelte Haus- Aktivitäten (Teilnahme an einem treten müssen (Hugentobler und Soziologin, assoziierte hilfe- und Pflegeorganisation. Chor, wöchentliche Ausflüge mit Brzak, 2018). Professorin Hochschule für Unternehmungs- Freunden usw.) aufrechterhal- Soziale Arbeit und Gesundheit lustig: Bewohnende Lausanne (HES-SO), mitver- Ziel: Einerseits soll weiterhin ten. Das Risiko der sozialen und und Betreuende der antwortlich für das Netzwerk in einer Gemeinschaft und wie Demenz-WG auf relationalen Isolation wird durch Alter, Altern und Lebensende zu Hause gelebt werden – unter einem Stadtbummel. einen kollektiven Lebensrhyth- (AVIF) Foto: zvg 18 GERONTOLOGIE CH 1/2020 GERONTOLOGIE CH 1/2020 19
STUDIE Einschätzung sein soll». Dagegen ist vielen eine ruhige zukünftiger privater Wohn- Wohnung ein Anliegen, das sich mit dem möglichkeiten Älterwerden noch verstärkt. Das Bedürf- durch Personen nis nach Ruhe in den privaten Räumen im Alter 65+, bedeutet jedoch nicht, dass sich die äl- 2018 teren Menschen gesellschaftlich zurück- ziehen möchten. Die meisten – und zwar 28 % 25 % relativ unabhängig von Alter, Geschlecht der Befragten In einer kleineren oder sozioökonomischer Lage – wünschen geben an, in Wohnung sich eine Wohnlage mit guter Nachbar- ihrer Umge- 54 % 6% schaft. Doch wie soll diese Nachbarschaft bung fehle es In einem Haus 31 % Als Untermieter/in aussehen? Die Befragten geben einem mit verschiedenen In einer Wohnung, bei jemandem in der an Ärzten und Generationen generationengemischten Wohnumfeld im in der man eine Ansprech- Wohnung Vergleich zu einer generationengetrenn- Apotheken. person hat, wenn man Hilfe braucht ten Wohnsituation klar den Vorzug; eine Präferenz, die besonders im Tessin aus- D (Alterswohnung) 67 % ie Wohnmöglichkeiten fürs Alter geprägt ist. Das Wohnhaus, wo nur ältere 18 % sind in den letzten Jahren facetten- Menschen wohnen, wird am häufigsten In einem Haus, in der Befragten dem die Nachbarn reicher geworden und neue Wohn- von Befragten mit funktionalen Ein- formen sind entstanden. Mit dem Eintritt schränkungen bevorzugt. Entsprechend geben an, eine gute Nach- 10 % barschaft pflegen In einer grösseren Wohnung WG der Babyboomer in die nachberufliche führen funktionale Einschränkungen ihre Wohnum- gebung werde Phase wurde und wird zunehmendes In- auch zu einem stark erhöhten Interesse 12 % teresse an gemeinschaftlichem Wohnen an Alterswohnungen mit einer Ansprech- durch Lärm In einem Haus, in 10 % erwartet, da diese Generation mit solchen person für Hilfeleistungen. beeinträch- dem nur ältere In einer Wohnung, in der Wohnformen vertrauter ist als ältere Jahr- Menschen leben noch andere Leute leben tigt. 19 % gänge. Tatsächlich ist die Akzeptanz in Gemütlich und zentral gelegen In einer ruhigeren (Wohngemeinschaft) der jüngeren Rentnergeneration grösser, Neben einer ruhigen Lage gibt es noch Wohnung dennoch kann sich nur eine klare Minder- heit unter den 65-jährigen und älteren weitere Merkmale, die sich ältere Men- schen für ihre Privatwohnung wün- 5% Personen vorstellen, in einer Hausge- schen. Das wichtigste davon ist ein stark der Befragten Neue Rentner, meinschaft (selbstverwaltetes Wohnen, emotionaler bzw. subjektiver Wert: Die geben an, es aber mit je eigenen privaten Wohnberei- Wohnung muss gemütlich sein. Zudem gebe oft Är- chen) oder sogar in einer (Alters-)Wohn- wird auch eine zentrale Lage und die ger mit ande- neue Wohnbedürfnisse? gemeinschaft zu wohnen. Das zeigt die Befragung von über 2500 Personen aus dieser Altersgruppe, die im Rahmen des Nähe zu Einkaufsmöglichkeiten oft als sehr wichtig eingestuft, auch wenn diese Merkmale nicht immer Priorität genies- ren Hausbe- wohnern und Age Reports IV durchgeführt und durch sen. Dass Frauen nahegelegene Einkaufs- Nachbarn. Wie wollen ältere Menschen wohnen? Wie stellen den renommierten Gerontologen Fran- möglichkeiten höher gewichten würden sie sich ihre zukünftige Wohnung und Wohnumge- çois Höpflinger ausgewertet wurde. als Männer, bestätigt sich nur (noch) im Quelle: «Age Report IV» (2019), S. 85. Daten aus dem Jahr 2018. bung vor? Und unterscheiden sich die Wohnwünsche Tessin. Dass die Wohnung günstig ist, Privat, aber nicht isoliert spielt für Personen, die wenig formale älterer und jüngerer Generationen im Rentenalter? Das eigene Daheim ist ein Ort des Rück- Bildung genossen haben oder die sich in Aufschluss geben die Ergebnisse der ersten zugs, und nur wenige ältere Menschen einer schwierigen finanziellen Lage befin- gesamtschweizerischen Age-Wohnerhebung. hegen den Wunsch, «zusammen mit den, eine entscheidende Rolle. Bei diesen anderen Menschen zu wohnen» oder Personen gewinnt auch Nähe zu Angehö- Text: Andreas Sidler dass «um die Wohnung herum etwas los rigen an Relevanz. 20 GERONTOLOGIE CH 1/2020 GERONTOLOGIE CH 1/2020 21
NOTIZEN Alterswohnungen als zukünftige Wohnmöglichkeit: Akzeptanz Schlagfertige Reaktion bei Personen im Alter 65+ nach funktionaler Gesundheit, 2018 oder Dialogverweigerung? Ohne gesundheitlich Mit dem Totschlagargument 26% bedingte «OK Boomer» werden stereo- Einschränkungen type Ansichten der Babyboomer- Wohnungsgrösse und Hindernisfreiheit Bei leichten gesund- Generation zurückgewiesen und heitlich bedingten 37% Der Wohnflächenverbrauch im Alter ist in der Schweiz hoch und er steigt mit Einschränkungen belächelt. Die Millennials setzen dem Alter. Das ist aber nur bedingt auf Bei ziemlich schweren sich damit gegen häufige pauscha- ein ausgeprägtes Platzbedürfnis zurück- 42% bis schweren lisierende und abwertende Kritik zuführen. Obwohl rund ein Viertel der Einschränkungen Befragten eine geräumige Wohnung mit Buchtipp an jüngeren Generationen zur Wehr CH-D CH-F CH-I Platz für Gäste wichtig finden, ist dieses Gute Betreuung im Alter und signalisieren klar, dass jedes Kriterium nur für wenige entscheidend. Die Betreuung und Pflege im Alter ist weitere Wort zum Thema eins zu Wohn- und Hausgemeinschaften als zukünftige Es tritt vor allem bei Mieterinnen und neben der Finanzierung der Altersvor- Mietern gegenüber anderen Merkmalen Wohnmöglichkeit: Akzeptanz bei Personen im Alter sorge das zentrale Thema der Alterspo- viel wäre. «OK Boomer» wurde 2019 65+ nach Altersgruppe, 2018 zu einem der drei Deutschschweizer klar in den Hintergrund. Häufiger als eine litik in der Schweiz. Das Buch diskutiert Vergrösserung wird eine Verkleinerung die rechtliche Ebene der Betreuung und Wörter des Jahres gewählt. Wohngemeinschaft der Wohnung in Betracht gezogen. Von Eine Wohnung, in der 13% 7% 8% Pflege, die bis anhin weder gesetzlich den Befragten, die ihre Wohnung als zu noch andere Leute leben geregelt noch inhaltlich definiert ist. gross einstufen (19 %), ist es jedoch nur In der Praxis fehlen dementsprechend n! Hausgemeinschaft knapp die Hälfte, die sich vorstellen kann, sozialrechtliche Regulierungen, die de Ein Haus, in dem die in eine kleinere Wohnung umzuziehen. 28% 19% 16% Sicherung von Qualitätsstandards, der Bewohner für das Haus el Eine zu grosse Wohnung wird meist erst arbeitsrechtliche Schutz des Betreu- m verantwortlich sind an dann negativ bewertet, wenn funktionale 65–74 Jahre 75–84 85+ ungspersonals und die Integration der Einschränkungen auftreten. Auch die Betreuung in das System der sozialen t tz Quelle: «Age Report IV» (2019), S. 131. Daten aus dem Jahr 2018. Frage, ob eine Wohnung rollstuhlgängig Sicherheit. Im Hinblick auf diese Um- Je ist oder nicht, scheint erst zu diesem Zeit- stände und den gesellschaftlichen Wan- punkt relevant zu werden. del wird aufgezeigt, dass das Thema der Betreuung verstärkt in den Mittelpunkt Fazit der alterspolitischen Debatten rücken 2. Nationale Fachtagung GERONTOLOGIE CH Die Befragungsdaten zeugen von mehr- heitlich traditionellen Wohnwünschen muss. Autonomie der älteren Menschen in der Schweiz. Daran hat der Eintritt der Babyboomer in Andreas Sidler Politikwissenschafter, Leiter Carlo Knöpfel / Riccardo Pardini / dank Innovation!? die nachberufliche Phase wenig geändert: Bereich Forschung & Wissens- vermittlung der Age-Stiftung Claudia Heinzmann (2018): Gute Be- Best Practice-Modelle Eine private Wohnung sollte gemütlich und Projektverantwortlicher treuung im Alter in der Schweiz. Eine im Dienste der Senioren sein und in einem ruhigen Wohnumfeld für den «Age Report IV», der Bestandsaufnahme. Donnerstag, 10. September 2020 liegen, das gut an Dienstleistungen und durch die Age-Stiftung und die Fondation Leenaards her- Seismoverlag, Zürich. Universität Freiburg, Pérolles Infrastruktur angebunden ist und wo gute ausgegeben wird. nachbarschaftliche Beziehungen gepflegt Auf www.age-report.ch kön- Anmelden unter werden können. Je nach sozioökonomi- nen Sie den «Age Report IV» scher Lage und Familienorientierung ge- info@gerontologie.ch und zusätzliche Materialien winnen Wohnungskosten an Bedeutung. und Grafiken dazu beziehen. 22 GERONTOLOGIE CH 1/2020 GERONTOLOGIE CH 1/2020 23
RUBRIK Welche Werte in welchem Alter wichtig sind Valeurs jugées importantes selon la classe d’âge 24 GERONTOLOGIE CH 1/2020 Die Erhebung aua dem aktuellen Age Report Une enquête du dernier Age Report le montre: zeigt: Vergnügen («Fun/Spass») und Spannung le plaisir («divertissement/ amusement») et («Abenteuer/aufregendes Leben») sind Werte, l’excitation («aventure/vie palpitante») attirent die primär von den Jungen vertreten werden, surtout les jeunes, même si les jeunes retraités wobei das Vergnügen bei jungen Rentnerinnen redeviennent hédonistes. A contrario, plus les und Rentnern nochmals an Bedeutung gewinnt. années passent et plus on devient sensible aux Traditionelle Werthaltungen, wie Sitten befol- valeurs traditionnelles, comme le respect des gen oder Regeln einhalten, finden bei älteren coutumes et la discipline sociale. Quant à la Anteile nach Altergruppen, 2016 Befragten mehr Beachtung. Auch im höheren créativité, elle reste importante jusqu’à un âge Parts selon le groupe d’âge, 2016 Lebensalter bleibt die Kreativität wichtig. avancé. 75 + 59% 30% 33% 6% 68% 64% 40% 65 – 74 67% 46% 42% 11% 64% 55% 32% 55 – 64 67% 48% 36% 17% 69% 50% 30% 45–54 71% 43% 35% 15% 66% 54% 29% 35 – 44 71% 50% 39% 20% 60% 44% 32% 25 – 34 67% 52% 52% 38% 54% 44% 27% 15 – 24 63% 58% 69% 47% 58% 32% 23% Alter Kreativität Abwechslung Vergnügen Spannung Bescheidenheit Tradition/Sitten Regeln befolgen Âgé Créativité Expériences nouvelles Plaisir Excitation Discrétion Traditions/us, coutumes Discipline sociale Postmoderne Werthaltung Traditionelle Werthaltung Valeurs postmodernes Valeurs traditionnelles GERONTOLOGIE CH 1/2020 Autres enquêtes actuelles 25 RUBRIK www.age-stiftung.ch/publikationen/
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