Nationale Strategie gegen Antisemitismus und für jüdisches Leben

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Nationale
Strategie gegen
Antisemitismus
und für jüdisches
Leben
Inhalt

Präambel .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  . 2

Einführung . .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  . 8

Querschnitts­dimensionen
A) Querschnittsdimension Betroffenenperspektive .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  . 12
B) Querschnittsdimension Strukturbildung .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  . 15
C) Querschnittsdimension Digitalität. .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  . 19

Handlungsfelder
1 ..	 Handlungsfeld Datenerhebung, Forschung und Lagebild .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  . 22
2 ..	 Handlungsfeld Bildung als Antisemi­tis­musprävention .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  . 26
3 . Handlungsfeld Erinnerungskultur, Geschichtsbewusstsein und Gedenken .  .  .  .  .  .  . 32
4 ..	 Handlungsfeld Repressive Antisemitismusbekämpfung und Sicherheit .  .  .  .  .  .  .  .  .  . 38
5 ..	 Handlungsfeld Jüdische Gegenwart und Geschichte .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  . 42

Ausblick. .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  . 47
2

     Präambel

Die erste Nationale Strategie gegen Antisemitis­    Die deutsche Verantwortung für die Schoa
mus und für jüdisches Leben (NASAS) hat zum         und ihre Folgen
Ziel, Jüdinnen und Juden in Deutschland zu
stärken und ihre Lebensrealitäten sichtbarer zu     Antisemitismus, Pogrome und Gewalt gegen
machen. Sie soll dazu beitragen, jüdische Gegen­    Jüdinnen und Juden sind ein Kontinuum in der
wart und Geschichte in ihrer Vielfalt und Viel­     deutschen und europäischen Geschichte. Der
schichtigkeit zu zeigen und zu vermitteln. Sie      extremste und furchtbarste Ausdruck von
versteht Antisemitismus als Problem der gesam­      Judenhass1 in der Menschheitsgeschichte war
ten Gesellschaft und soll dazu befähigen, ihn auf   die Schoa, die systematische industrielle Ermor­
allen politischen und gesellschaftlichen Ebenen     dung europäischer Jüdinnen und Juden durch
zu verhindern und zu bekämpfen. Jüdinnen und        Deutsche im Nationalsozialismus. Antisemitis­
Juden sollen sich des Rückhalts der Bundesre­       mus war seine Kernideologie. Die Schoa war und
gierung und der Bevölkerung sicher sein. Dass       ist singulär in ihrem Ausmaß sowie in ihrer Art
es in Deutschland wieder eine starke und aktive     und Weise: Ihr Ziel war die Auslöschung des
jüdische Gemeinschaft gibt, ist ein Vertrauens­     europäischen Judentums und von allem, was als
beweis. Die Bundesregierung wird fortwährend        jüdisch wahrgenommen wurde.
dafür arbeiten, dieses Vertrauen weiter aufzu­
bauen, zu erhalten und ihm gerecht zu werden.       Deshalb ist die Verantwortung für die Schoa
                                                    aus Sicht der Bundesregierung für Deutschland
In den letzten Jahren ist es bereits gelungen,      ein Erbe, das sie aktiv und mit dem Imperativ
wichtige Strukturen zu schaffen, das Bewusstsein    annimmt, dass nie wieder Ähnliches geschehe 2.
für die Gefahr, die von Antisemitismus ausgeht,     Die Bundesregierung versteht die Verantwortung
zu schärfen und die Perspektiven von Jüdinnen       für die Schoa als historische Grundlage und Be­
und Juden stärker einzubeziehen. Antisemitismus     gründung der gegenwärtigen Demokratie. Ohne
bedroht unsere Demokratie als Ganzes, nicht         die Anerkennung dieses Erbes sind unsere heuti­
nur Jüdinnen und Juden. Sein Ausmaß ist ein
Indikator für den Zustand der Demokratie. Anti­     1 Dieser Begriff wird hier synonym zum Begriff Antisemitismus
semitismus zu bekämpfen, ist eine gesamtgesell­     verwendet.

schaftliche Daueraufgabe.                           2 Vgl. Theodor W. Adorno [1966]: Erziehung nach Auschwitz. In:
                                                    ders.: Erziehung zur Mündigkeit. Vorträge und Gespräche mit Hellmut
                                                    Becker 1959–1969. Frankfurt (M.) 1971, S. 88–104. Hier S. 88.
Präambel                                                                                                           3

ge Staatsform, unsere freiheitliche demokratische                     wortung für die globale Auseinandersetzung
Grundordnung und unser politisches Selbstver­                         mit Antisemitismus prägt unsere Politik in sämt­
ständnis als wehrhafte Demokratie nicht zu ver­                       lichen internationalen Zusammenhängen und
stehen. Die Verantwortung für die Schoa begrün­                       Organisationen, in der Europäischen Union (EU)
det das deutsche Verhältnis zum Judentum und zu                       und den bilateralen Beziehungen mit den Län­
Israel als Zufluchtsort für jüdische Menschen aus                     dern dieser Erde. Das umfasst die Unterstützung
aller Welt. Der industriell verübte Massenmord ist                    jüdischen Lebens, den Kampf gegen Holocaust­
eine Zäsur und ein präze­denzloses Verbrechen ge­                     leugnung und -verfälschung und für die Erin­
gen die Menschheit3.                                                  nerung an die Schoa. Die Zusammenarbeit mit
                                                                      der Zivilgesellschaft als eine Kernaufgabe deut­
Multiperspektivische Erinnerungsformen sind                           scher Auslandsvertretungen sichert zudem die
wichtig. Durch die Schoa hat die Bekämpfung                           Ko­härenz unseres innen- und außenpolitischen
des Antisemitismus jedoch gerade im deutschen                         Eintretens gegen Antisemitismus und für jüdi­
Kontext einen besonderen Stellenwert. Das muss                        sches Leben.
in Debatten um andere Genozide und politische
Kontexte berücksichtigt werden. Die deutsche                          Um wirksam gegen Antisemitismus vorzugehen,
Verantwortung für die Erinnerung an die Schoa                         setzt sich die Bundesregierung in der EU und
und den Nationalsozialismus sowie die Bekämp­                         darüber hinaus für die kontinuierliche Weiter­
fung von Antisemitismus beinhalten aus diesem                         entwicklung eines europäischen Instrumentari­
Grund den Schutz von Jüdinnen und Juden in                            ums ein. So tritt sie in der EU-Ratsarbeitsgruppe
aller Welt sowie, als Teil der deutschen Staats­                      „Grundrechte, Bürgerrechte und Freizügigkeit“
räson, die Sicherheit des Staates Israel. Das bedeu­                  (FREMP) dafür ein, dass das Thema Antisemitis­
tet, jedem Angriff auf Israels Existenz entgegen­                     mus regelmäßig aufgenommen und im Rat
zutreten. Die Bundesregierung steht daher dafür                       für Justiz und Inneres behandelt wird. Sie unter­
ein, antisemitische Anfeindungen und Angriffe,                        stützt die Arbeit der 1993 von den Mitgliedstaa­
Holocaustleugnung, -relativierung und -verfäl­                        ten des Europarats gegründeten „Europäischen
schung zu benennen und zu verurteilen.                                Kommission gegen Rassismus und Intoleranz“
                                                                      (ECRI), eines einzigartigen Gremiums zur Über­
Antisemitismus als globale Herausforderung                            wachung der Menschenrechte. Deutschland ist
                                                                      aktiv in der Organisation für Sicherheit und
Die besondere Verantwortung Deutschlands,                             Zusammenarbeit in Europa (OSZE) bei der
Antisemitismus zu erkennen, zu benennen und                           Bekämpfung von Antisemitismus in all seinen
zu bekämpfen, zeigt sich auch in der deutschen                        Ausprägungen und bei der Stärkung jüdischen
Außenpolitik. Der Leitgedanke deutscher Verant­                       Lebens im OSZE-Raum.

3 „Crimes against humanity“, Verbrechen gegen die Menschheit,         In den Vereinten Nationen (VN) arbeitet die
wird im Deutschen meist als „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“     Bundesregierung im Kampf gegen Antisemitis­
übersetzt. Zwar ist beides der Fall; der englische Begriff zielt in
diesem Kontext jedoch nicht auf psychologische Eigenschaften
                                                                      mus eng mit Israel und gleichgesinnten Staaten
oder das unmenschliche Handeln von Tätern, sondern darauf, dass       zusammen. Eine wichtige Initiative war die
bestimmte Verbrechen die Menschheit als solche betreffen. Vgl.        von Israel vorgelegte und von Deutschland mit
Hannah Arendt: Eichmann in Jerusalem. Ein Bericht von der
                                                                      eingebrachte VN-Resolution über die Leugnung
Banalität des Bösen. Hamburg 1978; Mirjam Wenzel: Gericht und
Gedächtnis: Der deutschsprachige Holocaustdiskurs der sechziger       des Holocaust vom 20. Januar 2022, die erstma­
Jahre. Göttingen 2009.                                                lig auch Holocaustverfälschung thematisiert.
4                                                                                                              NASAS

Zugleich unterstützt die Bundesregierung eine        Antisemitismus in all seinen Formen bekämpfen
verstärkte Zusammenarbeit mit Israel in VN-          – die Arbeitsdefinition von Antisemitismus der
Foren zu Fragen der globalen Ordnung, wie            Internationalen Allianz für Holocaust-Gedenken
zu Klimapolitik oder der Ausgestaltung von           (IHRA)
Friedenseinsätzen.
                                                     Antisemitismus ist ein eigenständiges Phänomen.
Die Menschenrechtslage in Israel und den paläs­      Diese Haltung vertritt und vermittelt die Bundes­
tinensischen Gebieten inklusive der andauernden      regierung auch international. Der moderne
Besatzungssituation differenziert und kritisch zu    Antisemitismus ist historisch und empirisch mit
thematisieren und dabei gleichzeitig der Singula­    Rassismus verbunden und als Vorurteilsstruktur
risierung Israels entgegenzutreten, ist ebenfalls    eng mit anderen Phänomenen der Gruppenbezo­
ein Anliegen der Bundesregierung in internatio­      genen Menschenfeindlichkeit4 verknüpft. Dennoch
nalen Gremien. Sie pflegt bilaterale und multi­      weist Antisemitismus Spezifika auf, die ihn von
laterale Formate zur Bekämpfung von Antisemi­        anderen Formen der Diskriminierung unter­
tismus und zur Förderung jüdischen Lebens und        scheiden. Entsprechend der Definition der IHRA
entwickelt diese weiter. Die deutschen Auslands­     (International Holocaust Remembrance Alliance)
vertretungen unterstützen mit ihrer Kultur-,         und den darin angeführten, nicht abschließenden
Öffentlichkeits- und Gesellschaftsarbeit jüdisches   Beispielen versteht die Bundesregierung Antise­
Leben in engem Austausch mit den jüdischen           mitismus nicht als Unterform von Rassismus. Er
Gemeinden. Die Bundesregierung ermuntert die         ist „eine bestimmte Wahrnehmung von Juden“5, die
politischen Stiftungen und Mittler, ihr Augenmerk    letztlich keinen Bezug zu tatsächlichen jüdischen
in der Auslandsarbeit auf die Antisemitismusbe­      Menschen hat. Dies teilt er mit Rassismus. Im
kämpfung zu richten, und setzt sich dafür auch       Gegensatz zu diesem erfahren Jüdinnen und Juden
gegenüber religiösen Netzwerken ein.                 zwar einerseits eine Abwertung, werden aber an­
                                                     dererseits zugleich als übermächtig vorgestellt.
Für die Bundesregierung ist die Ermittlung und       Das begründet auch den Zusammenhang von
Restitution von im Nationalsozialismus, insbe­       Antisemitismus und Verschwörungsmythen.
sondere aus jüdischem Besitz, verfolgungsbedingt
entzogenem Kulturgut eine zentrale Aufgabe.          Für alle Formen von Antisemitismus ist kollekti­
Die Beratende Kommission trägt zur Beilegung         vistisches Denken zentral, bei dem eine imagi­
von Meinungsverschiedenheiten über die Rück­         nierte Gemeinschaft vor das Individuum gestellt
gabe von Objekten bei. Das mit Mitteln der           wird. Vor allem die Erinnerung an die Schoa be­
Beauftragten der Bundesregierung für Kultur          droht eine solche Identifikation mit der Nation.
und Medien ausgestattete Deutsche Zentrum            Allen Formen von Antisemitismus ist zudem
Kulturgutverluste bietet finanzielle Unterstützung   eine Täter­Opfer­Umkehr gemein: Die Opfer
für Projekte zur Provenienzforschung. Diese          von Antisemitismus werden zu Tätern erklärt
werden von Kulturgut bewahrenden Einrich­            und zur Projektionsfläche für Vorwürfe und
tungen wie Museen, Bibliotheken und Archiven
in Deutschland durchgeführt. Erkenntnisse aus        4 https://www.bpb.de/themen/rechtsextremismus/
dieser Forschung ergänzen die Bildungsarbeit         dossier-rechtsextremismus/214192/gruppenbezogene-
                                                     menschenfeindlichkeit/.
zur Erinnerungskultur.
                                                     5 https://www.holocaustremembrance.com/de/resources/
                                                     working-definitions-charters/arbeitsdefinition-von-antisemitismus.
Präambel                                                                                         5

Zuschreibungen. Eine weitere Besonderheit           Die Existenz und Vielfalt jüdischer Gegenwart ist
von Judenhass ist seine Chiffrierung mit Codes,     großen Teilen der nicht jüdischen Bevölkerung
die zum Beispiel in Form von immer wieder           nur wenig bekannt. Das führt dazu, dass anti­se­
aktualisierten Bildern, Symbolen, grafischen        mi­­tische Vorstellungen und Ressentiments un­
Darstellungen und Filmen verbreitet werden,         kritisch übernommen und leichter reproduziert
heute in globalem Maßstab über das Internet.        werden. Die Sichtbarmachung und Stärkung
                                                    jüdischer Lebensrealitäten kann deshalb auch
Antisemitismus widerspricht, ebenso wie alle        zur Vorbeugung von Antisemitismus beitragen,
anderen Formen der Gruppenbezogenen Men­            wenn sie mit den betroffenen Gemeinschaften
schenfeindlichkeit, den Werten und Normen           und Personen abgestimmt ist.
des Grundgesetzes, der verfassungsrechtlichen
Grundlage der Bundesrepublik Deutschland.           Rechtliche und politische
Neben der IHRA-Arbeitsdefinition zu Antise­         Rahmenbedingungen
mitismus geben auch die anderen seit 2016 ver­
abschiedeten Arbeitsdefinitionen der IHRA eine      Das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutsch­
wichtige Orientierung. Besondere Bedeutung          land formuliert an erster Stelle, dass die Würde
kommt der Arbeitsdefinition zu Holocaustver­        des Menschen unantastbar ist (Art. 1 Abs. 1 GG).
fälschung zu.                                       In einer wehrhaften Demokratie muss der Staat
                                                    die Rechtsgleichheit aller auf allen Ebenen ge­
Jüdische Lebensrealitäten in Deutschland            währleisten. Er muss Angriffen auf die Menschen­
                                                    würde entgegentreten und darf solche Angriffe
Die Bekämpfung von Antisemitismus ist im            nicht fördern, weder mit finanziellen Mitteln
Hinblick auf das bestehende jüdische Leben in       noch durch die Bereitstellung anderer Ressourcen.
Deutschland ein zentrales politisches Ziel der      Neben dem Grundgesetz ist eine universalistische
Bundesregierung. Die Förderung jüdischen            Perspektive der Grund dafür, dass die Bundes­­
Lebens ergibt sich unter anderem aus der histo­     regierung Jüdinnen und Juden schützt sowie
rischen Verantwortung Deutschlands für die          unterstützt und dass sie Antisemitismus ent­
jüdische Gemeinschaft. Jüdische Gegenwart und       schieden bekämpft. Die Allgemeine Erklärung
Geschichte sollen in Deutschland sichtbar und       der Menschen­rechte 1948 war eine direkte Folge
gestärkt werden. Das geschieht mit dem Ziel,        der Auseinandersetzung mit der Schoa als Ver­
jüdische Gegenwart und Geschichte als selbst­       brechen gegen die Menschheit.
verständlichen Teil unserer vielfältigen Gesell­
schaft anzuerkennen und zu verankern.               Zu den Lehren aus dem Nationalsozialismus auf
                                                    staatsorganisatorischer Ebene gehört die föde­
Die Diversität jüdischer Identitäten und Lebens­    rale Struktur der Bundesrepublik Deutschland.
welten zeigt sich in einer vielfältigen jüdischen   Die Dezentralisierung sollte Machtkonzentration
Gegenwart: Sie umfasst unterschiedliche Fami­       auflösen und dadurch verhindern, dass Macht
lien- und Migrationsgeschichten, nationale und      derart missbraucht werden kann wie zwischen
internationale Bezüge sowie individuelle Bio­       1933 und 1945. Aufgrund dieser Aufgabenvertei­
grafien. Die Mehrheit der heute in Deutschland      lung liegt die Mehrheit der Bereiche, in denen
lebenden Jüdinnen und Juden ist nach dem Ende       Antisemitismus bekämpft wird, in der Zuständig­
des Kalten Krieges aus dem Gebiet der ehemali­      keit der Länder, vor allem die Bereiche Bildung,
gen Sowjetunion eingewandert.                       Kultur, Polizei, Justiz und Wissenschaft.
6                                                                                                                      NASAS

Der Rat der Europäischen Union hat die Mit­                     Antisemitismus als fortwährende und
gliedstaaten schon 2018 in seiner „Erklärung zur                aktuelle Bedrohung
Bekämpfung von Antisemitismus und zur
Entwicklung eines gemeinsamen Sicherheits­                      Antisemitismus ist eine Wahrnehmungsstruktur,
konzepts für einen besseren Schutz jüdischer                    die vereinfachende, falsche und gefährliche
Gemeinschaften und Einrichtungen in Europa“ 6                   Antworten auf komplexe soziale und politische
aufgefordert, „eine ganzheitliche Strategie zur                 Phänomene liefert, vor allem in Krisenzeiten.
Verhütung und Bekämpfung aller Formen von                       In Deutschland zeigt sich Antisemitismus heute
Antisemitismus“ vorzulegen. Mit der unter deut­                 insbesondere in Verschwörungsmythen, wie
scher EU-Ratspräsidentschaft 2020 beschlossenen                 sie etwa im Rahmen der Demonstrationen gegen
Erklärung des Rates dazu hat sich die EU ver­                   die Coronamaßnahmen der Bundesregierung
pflichtet, Prävention und Bekämpfung von                        sichtbar wurden, in Bezug auf Israel sowie vor
Antisemitismus als Querschnittsthema in allen                   allem in einer holocaustbezogenen Erinnerungs­
Politikbereichen anzugehen. Laut der 2021 ver­                  abwehr. Antisemitische Äußerungen sind in
öffentlichten „Strategie der EU zur Bekämpfung                  den letzten Jahren weltweit durch das Internet
von Antisemitismus und zur Förderung jüdischen                  massiv angestiegen. Verrohungstendenzen und
Lebens (2021–2030)“ sollten die Mitgliedstaaten                 Desinformation im Internet stellen eine der
bis Ende 2022 nationale Strategien vorlegen.                    größten Herausforderungen der Gegenwart dar.

Die nun für Deutschland vorliegende Nationale                   Antisemitismus ist in allen extremistischen Phä­
Strategie gegen Antisemitismus und für jüdisches                nomenbereichen vorzufinden, wenn auch Aus­
Leben ist eine kompakte und von einzelnen Maß­                  prägungen und Formen wesentlich differieren.
nahmen abstrahierende, ganzheitliche Strategie,                 Die größte Relevanz besitzt der Antisemitismus
die auf eine langfristige Perspektive abhebt. Sie               weiterhin im Rechtsextremismus, wo er zu
bildet die relevanten Handlungsfelder und de­                   den ideologischen Kernelementen zählt. Der
ren Verbindungen ab, identifiziert Schnittstellen               Anteil der rechtsextremistisch motivierten anti­
zwischen politischen Ebenen und Akteuren und                    semitischen Straftaten ist dementsprechend
soll eine kontinuierliche Evaluation und gegebe­                besonders hoch, was sowohl die Statistik zur
nenfalls Neuausrichtung bestehender Politik er­                 Politisch motivierten Kriminalität (PMK-Statis­
möglichen. Sie ergänzt die bisherigen Strategien                tik) als auch die Zahlen des Bundesverbands
und Maßnahmen in diesem Bereich, insbeson­                      der Recherche- und Informationsstellen Antise­
dere den Kabinettausschuss zur Bekämpfung von                   mitismus e. V. (Bundesverband RIAS) belegen.7
Rechtsextremismus und Rassismus.
                                                                Dennoch ist Antisemitismus nicht nur ein Prob­
                                                                lem des rechtsextremen Rands der Gesellschaft.
                                                                Er zieht sich durch die gesamte europäische
                                                                Geistes- und Kulturgeschichte und ragt bis weit

6 Erklärung zur Bekämpfung von Antisemitismus und zur           7 Vgl. https://www.bmi.bund.de/SharedDocs/downloads/DE/
Entwicklung eines gemeinsamen Sicherheitskonzepts für einen     veroeffentlichungen/nachrichten/2022/pmk2021-factsheets.pdf;j
besseren Schutz jüdischer Gemeinschaften und Einrichtungen in   sessionid=AAEF9C1FD85396CFA4D339B7B98A503D.1_cid287?__
Europa – Schlussfolgerungen des Rates vom 6. Dezember 2018      blob=publicationFile&v=2 und https://report-antisemitism.de/do-
(Nr. 15213/18).                                                 cuments/Antisemitische_Vorfaelle_in_Deutschland_Jahresbericht_
                                                                RIAS_Bund_2021.pdf.
Präambel                                           7

in die gesellschaftliche Mitte hinein. So werden
zum Beispiel antisemitische und antidemokra­
tische Verschwörungserzählungen nicht nur
von marginalisierten gesellschaftlichen Gruppen
verbreitet, sondern sie wurden zuletzt im Zu­
sammenhang mit der Coronapandemie auch
von bürgerlichen Milieus aufgegriffen.

Antisemitismus muss gesellschaftlich wie staat­
lich aktiv entgegengetreten werden. Der erste
Schritt dazu ist, ihn als solchen zu erkennen.
Ein freiheitlich-demokratischer Staat ist darauf
angewiesen, dass seine Gesellschaft auch solche
menschenfeindlichen Inhalte bekämpft, die
zwar zulässig, aber nicht legitim sind. Die NASAS
liefert dafür Hilfestellung und Orientierung.
8                                                                                                         NASAS

     Einführung

Die NASAS ist ein Instrument zur Umsetzung eines ganzheitli-
chen, politikfeld-, ressort- und ebenenübergreifenden Ansatzes
der Antisemitismusbekämpfung. Sie zielt auf die Schaffung
von Strukturen für das gemeinsame und zielgerichtete Handeln
staatlicher und zivilgesellschaftlicher Akteure. Sie liefert
Orientierung und zeigt auf, welche Handlungsfelder einbezogen
werden müssen, um Judenhass als gesellschaftlichem Quer-
schnittsphänomen vorzubeugen und ihn angemessen breit zu
bekämpfen.

Die NASAS ist auf jeder politischen und sozialen    Der Ist-Zustand und der aktuelle Planungsstand
Ebene anwendbar. Sinn und Zweck der Strategie       von Maßnahmen zur Bekämpfung von Antisemi­
ist es, die Fragen zu beantworten: „Tun wir – als   tismus sind, bezogen auf die Bundesregierung,
Bundesregierung, Bundesland, Bürgerverein,          in verschiedenen bestehenden Dokumenten
Sportverein oder Unternehmen – genug, um            nach­lesbar.8 Diese Bestandsaufnahmen beantwor­
Antisemitismus zu bekämpfen? Falls nicht, was       ten die Fragen „Was tun wir gegen Antisemitismus,
ist noch zu tun und wie sollen wir es tun?“ Sie     welche konkreten Pläne haben wir?“. Um über den
dient als Leitbild und damit auch als Instrument,   Status quo hinaus ermitteln zu können, was noch
um den Ist-Zustand zu überprüfen, laufende          zu tun ist, sind ein Konzept und ein Kompass
Maßnahmen einzuordnen und gegebenenfalls
anzupassen. Mit ihr kann bestimmt werden,           8 Etwa in der Strategie der Bundesregierung zur Extremismus-
was fehlt, um optimale Bedingungen für die          prävention und Demokratieförderung, im Abschlussbericht und
                                                    Maßnahmenkatalog des Kabinettausschusses zur Bekämpfung
Prävention und Bekämpfung von Judenhass zu          von Rechtsextremismus und Rassismus, im Nationalen Aktionsplan
schaffen und Jüdinnen und Juden bestmöglich         gegen Rassismus, im Nationalen Aktionsplan Integration und
einzubeziehen und zu unterstützen.                  zuletzt im Nationalen Aktionsplan gegen Rechtsextremismus.
Einführung                                                                                              9

notwendig. Wir müssen wissen, welche Hand-               feld Antisemitismusbekämpfung und jüdisches
lungsfelder dafür zentral sind und welche Ziele          Leben in Deutschland einordnen lassen. Die
darin jeweils erreicht werden sollen.                    Handlungsfelder sind eng miteinander verknüpft
                                                         und werden von drei Querschnittsdimensionen
Die NASAS benennt zu diesem Zweck zum einen              ergänzt. Diese acht Elemente der NASAS wurden
übergeordnete und zum anderen konkrete Ziele             in einer zweiten Konsultation jüdischer und nicht
der Bundesregierung. Je nach Akteur und poli­            jüdischer zivilgesellschaftlicher Organisationen
tischer Ebene können eigene Ziele und Maßnah­            nochmals überprüft sowie in Workshops exem­
men abgeleitet oder angepasst werden.                    plarisch angewandt. Das Feedback wurde in den
                                                         Erstellungsprozess eingespeist.
Methodisches Vorgehen
                                                         Das 5×3-Modell aus fünf Handlungsfeldern
Den bisherigen Handlungsrahmen der Bundesre­             und drei Querschnittsdimensionen
gierung bildeten die Strategie der Bundesregierung
zur Extremismusprävention und Demo­kratie­               Die NASAS benennt die fünf zentralen Hand­
för­de­rung, der 2. Bericht des Unabhängigen Ex­         lungsfelder mit entsprechenden Zielen wie folgt:
perten­kreises Antisemitismus, der Nationale
                                                         1. Datenerhebung, Forschung und Lagebild
Aktionsplan gegen Rassismus, der Bericht der
Bundesregierung zur Umsetzung der Handlungs­             2. Bildung als Antisemitismusprävention
empfehlungen des Unabhängigen Expertenkreises
                                                         3. Erinnerungskultur, Geschichtsbewusstsein
Antisemitismus sowie der Abschlussbericht und
                                                            und Gedenken
Maßnahmenkatalog des Kabinettausschusses
zur Bekämpfung von Rechtsextremismus und                 4. Repressive Antisemitismusbekämpfung
Rassismus. Aus diesem Rahmen wurden zwölf                   und Sicherheit
zentrale Kategorien erarbeitet. Diese wurden
                                                         5. Jüdische Gegenwart und Geschichte
mit der Bitte um Stellungnahme an mehr als 40
jüdische und nicht jüdische zivilgesellschaftliche
Organisationen sowie den Beratungskreis des              Die Handlungsfelder sind auf jede politische
Beauftragten der Bundesregierung für jüdisches           und soziale Ebene übertragbar:
Leben in Deutschland und den Kampf gegen An­
                                                         ∙ Wie Informationen gesammelt und an An­
tisemitismus übermittelt. Die erhaltenen Einga­
                                                           sprechpersonen oder Meldestellen weiterge­
ben wurden wissenschaftlich ausgewertet und
                                                           geben und in ein Lagebild eingespeist werden
einer systematischen Analyse mithilfe eines Pro­
                                                           (1.), ist für die Freiwillige Feuerwehr ebenso re­
gramms zur qualitativen Datenanalyse9 unterzo­
                                                           levant wie für ein Bundesland.
gen, um sicherzustellen, dass alle Vorschläge an­
gemessen berücksichtigt wurden.                          ∙ Für Antisemitismus zu sensibilisieren und die
                                                           Geschichte der Schoa zu vermitteln (2.), kann
Auf diese Weise wurden fünf zentrale Handlungs­            in mittelständischen Familienunter­nehmen
felder ermittelt, in die sich die vorgeschlagenen          wie auch bei Fortbildungen im öffentlichen
sowie bereits laufenden Maßnahmen im Themen­               Dienst geschehen.

                                                         ∙ Wie Erinnerung und Gedenken gestaltet
9 Qualitative Datenanalyse ist ein Methodenbereich der
empirischen Sozialforschung.                               werden und Geschichtsbewusstsein aufgebaut
10                                                   NASAS

  wird (3.), sollte eine Schule ebenso bewusst pla­
  nen wie Bundesbehörden oder Unternehmen.

∙ Mit welchen Sanktionen Antisemitismus
  begegnet wird (4.), ist für die Polizei ebenso
  wichtig wie für einen Sportverein.

∙ Jüdinnen und Juden zu stärken und Begeg­
  nungen mit ihren Lebensrealitäten zu er­
  möglichen (5.), kann ein Jugendclub genauso
  umsetzen wie eine staatliche Organisation.

Die drei Querschnittsdimensionen sind:

A) Betroffenenperspektive

B) Strukturbildung

C) Digitalität

In die fünf Handlungsfelder fließen Handlungs­
aufträge aus den drei Querschnittsdimensionen
ein. Handlungsfelder und Querschnittsdimen­
sionen kombiniert ergeben das 5×3-Modell.

Die Querschnittsdimensionen und Handlungs­
felder werden im Folgenden erläutert. Für eine
ganzheitliche und nachhaltige Prävention
und Bekämpfung von Antisemitismus sollten
sie gleichermaßen berücksichtigt werden. Aus­
gewählte Beispiele aus Bund und Ländern ver­
anschaulichen, wie Maßnahmen zur Erreichung
der im 5×3-Modell enthaltenen Ziele in der
Praxis ausgestaltet sein können.
Einführung                                                                                        11

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                                                                                     Ged ichts-
                                                                                             n
                                                                                         enke
             Jüdi d Gesch

                                                                                           h
                                                                             sein tur, Gesc
                un
                 sche

                                                                                 und
                      Geg hte

                                                                     bew ungskul
                         enw
                          ic

                                                                         usst
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                                                                        ner
                                                                    Erin

                                   Repressive Antisemitismus-
                                   bekämpfung und Sicherheit

         Betroffenenperspektive                   Strukturbildung                       Digitalität
12                                                                                                                                 NASAS

       Querschnitts-
       dimension A

                                                                           Perspektiven der von Antisemitismus Betroffenen
Betroffenenperspektive                                                     einbeziehen. Der Unabhängige Expertenkreis
                                                                           Antisemitismus hat die Einbeziehung jüdischer
Antisemitismus ist eine Gefahr für die demokra­                            Perspektiven insbesondere für die Bereiche des
tische Gesellschaft als Ganzes, Jüdinnen und                               Auf- und Ausbaus von Melde-, Dokumentations-,
Juden sind aber direkt von ihm bedroht. Sie ma­                            Analyse- und Beratungsstrukturen empfohlen
chen konkrete Erfahrungen mit Antisemi­tismus.                             sowie in der Forschung und für Gremien- und
Er beeinträchtigt ihren Alltag. Aus der ständigen,                         Präventionsarbeit.11 Übergeordnete Ziele sind
erzwungenen Auseinandersetzung damit resul­                                die Schaffung von Empathie für Betroffene
tieren unmittelbare und deutliche Wahrnehmun­                              in Geschichte und Gegenwart, die angemessene
gen von Antisemitismus, die der nicht jüdischen                            Vertretung ihrer Belange sowie echte Inklusion
Bevölkerung meist unbekannt bleiben. Vergrö­                               und Partizipation im Sinne einer Überwindung
ßert wird diese sogenannte                                                 der Trennung in jüdische und nicht jüdische
Wahrnehmungsdiskrepanz durch die niedrige                                  Mitglieder der Gesellschaft.
Meldequote10 von antisemitischen Vorfällen und
Straftaten und durch die häufig unzureichende                              Antisemitismus wird intersektional bzw. interre­
Sensibilität für die Ausprägungen von Antisemi­                            lational erlebt, wenn Menschen mehrfachen
tismus bei der nicht jüdischen Bevölkerung. Die                            Diskriminierungen ausgesetzt sind. So kann eine
Formulierung von Zielen und Maßnahmen zur                                  Person gleichzeitig von Antisemitismus und
Antisemitismusprävention und -bekämpfung                                   weiteren Phänomenen der Gruppenbezogenen
sowie zur Stärkung jüdischen Lebens in Deutsch­                            Menschenfeindlichkeit betroffen sein, die auf
land muss daher jüdische Stimmen und die                                   Ideologien der Ungleichheit gründen12 und zuei­
                                                                           nander in Wechselwirkung stehen: Bei antisemi­
10 Laut den Ergebnissen der letzten Umfrage der Agentur der Euro­          tischen Geschlechterbildern sind etwa Zuschrei­
päischen Union für Grundrechte (FRA) gaben 78 Prozent der befrag­
ten Jüdinnen und Juden in Deutschland an, den am schwersten
                                                                           11 Vgl. Antisemitismus in Deutschland – aktuelle Entwicklungen.
empfundenen antisemitischen Vorfall während der letzten fünf Jahre
                                                                           Bericht des Unabhängigen Expertenkreises Antisemitismus. Berlin
weder der Polizei noch einer anderen Organisation mitgeteilt zu haben.
                                                                           2017, S. 115.
Vgl. FRA: Experiences and perceptions of antisemitism. Second survey
on discrimination and hate crime against Jews in the EU, 2018, S. 55 ff.
                                                                           12 Vgl. RIAS-Jahresbericht 2021, S. 12 f.
Querschnittsdimension A                             13

bungen von Weiblichkeit und Männlichkeit
stark verzerrt. Solche Verschränkungen sollten
ebenfalls berücksichtigt werden.

Bereits umgesetzt wird die Einbeziehung jüdi­
scher Perspektiven zum Beispiel beim Bundes­
verband RIAS, der von der Bundesregierung
gefördert wird, sowie im Bundesprogramm
„Demokratie leben!“. Bei der Entwicklung von
Bildungs- und Präventionsprogrammen wurde
die Einbeziehung jüdischer Perspektiven
inzwischen im Themenfeld Antisemitismus als
Kriterium für die Förderung von Projekten fest­
geschrieben. Der 2021 bei der Bundeswehr ein­
gesetzte Militärbundesrabbiner steht jüdischen
und nicht jüdischen Soldatinnen und Soldaten
beratend zur Seite und wirkt bei Bildungsan­
geboten mit. Auch an der Erarbeitung der NASAS
waren zahlreiche jüdische Organisationen
beteiligt. Ziel der Bundesregierung ist es, solche
Beteiligungsprozesse zu verstetigen. Der Beauf­
tragte der Bundesregierung für jüdisches Leben
in Deutschland und den Kampf gegen Antisemi­
tismus wird die regelmäßige Einbeziehung jü­
discher Expertise bei Fragen der Antisemitismus­
bekämpfung, der Aufarbeitung antisemitischer
Vorfälle und der Sichtbarmachung jüdischen
Lebens weiter fördern.
14                                                                                            NASAS

∙ Baden-Württemberg hat 2021 Polizeirab-        ∙ In Zusammenarbeit mit der Jüdischen
  biner eingeführt, die Polizistinnen und Po­     Landesgemeinde werden in Thüringen seit
  lizisten beratend zur Seite stehen und Bil­     30 Jahren jährlich landesweite Jüdisch-
  dungsarbeit leisten. Auch Sachsen-Anhalt        Israelische Kulturtage veranstaltet.
  hat 2022 ein Polizeirabbinat eingeführt.
                                                ∙ Die Beratungsstelle bei antisemitischer
∙ Sachsen-Anhalt hat 2020 ein „Landespro­         Gewalt und Diskriminierung OFEK e. V.
  gramm für jüdisches Leben und gegen             berät Betroffene antisemitischer Vorfälle
  Antisemitismus“ beschlossen. Das Pro­           aus einer jüdischen Perspektive in
  gramm bindet Jüdinnen und Juden aktiv           Sachsen und Sachsen-Anhalt. Der Träger
  ein. Mit Beginn des Schuljahres 2021/2022       soll zukünftig verstärkt Präventionsmaß­
  wurde jüdischer Religionsunterricht als         nahmen anbieten.
  Pilotprojekt in einer Grundschule in Halle
  (Saale) eingeführt.                           ∙ Meldestellen zur Dokumentation anti­
                                                  semitischer Vorfälle unterhalb der Straf­
∙ Der Film „Jung und Jüdisch in Baden-            barkeitsschwelle und eine Betroffenen­
  Württemberg“ ist der Beitrag des Landes         beratung wurden in den meisten Bundes­
  zum Festjahr „1700 Jahre jüdisches Leben        ländern eingerichtet. In Brandenburg
  in Deutschland“. Darin sprechen junge Jü­       berät die Fachstelle Antisemitismus
  dinnen und Juden über ihr Leben und ihre        Politik, Verwaltung, Verbände und andere
  Sichtweisen auf die Gegenwart. Der Film         Rat­suchende und bietet Fortbildungen
  wird ergänzt durch pädagogische Hand­           an. Sie kooperiert mit dem Verein Opfer­
  lungsmaterialien und steht allen Interes­       perspektive.
  sierten zur Verfügung.
Querschnittsdimension B                                                                             15

     Querschnitts-
     dimension B

                                                      von Antisemitismus und zum Schutz jüdischen
Strukturbildung                                       Lebens (BLK), die 2019 per Beschluss der Minis­
                                                      terpräsidentenkonferenz eingerichtet wurde. In
Die Bildung nachhaltiger Strukturen auf lokaler,      diesem Gremium tauschen sich die Antisemitis­
nationaler und internationaler Ebene trägt er­        musbeauftragten von Bund und Ländern regel­
heblich dazu bei, die ganzheitliche, ebenen- und      mäßig aus. Aufgrund der positiven Erfahrungen
politikfeldübergreifende Arbeit gegen Antisemi­       der letzten Jahre wird die Bundesregierung
tismus zu stärken. Ein Beispiel dafür sind Formate    den Ländern eine strukturelle Stärkung dieses
für regelmäßigen Austausch. Strukturbildung ist       Gremiums vorschlagen. Ziel der Bundesregierung
deshalb ein Ziel an sich. Dazu gehört die Institu­    ist es, eine eigene Geschäftsstelle beim Beauftrag­
tionalisierung bestehender Formate im Sinne           ten der Bundesregierung für jüdisches Leben in
ihrer Etablierung und Stärkung ebenso wie die         Deutschland und den Kampf gegen Antisemitis­
Initialisierung und Verstetigung von Vernet-          mus einzurichten. Die BLK-Geschäftsstelle ist ein
zungsprozessen.                                       wichtiger Meilenstein für die Fortentwicklung
                                                      der Zusammen­arbeit zwischen Bund und Län­
In Behörden, Schulen, Polizei, Justiz sowie an­       dern sowie für die im Koalitionsvertrag verein­
deren Bereichen des öffentlichen Lebens sollten       barte strukturelle Stärkung des Beauftragten.
Strukturen zur Antisemitismusprävention und
zur Sensibilisierung geschaffen werden. Auch in       Eine solche Schaffung von Schnittstellen zwischen
den öffentlich-rechtlichen Medienanstalten und        verschiedenen Akteuren ist auf allen Ebenen
an Hochschulen sollten entsprechende Stellen          wünschenswert: zwischen Bund, Ländern, Kom­
eingerichtet werden.                                  munen und der Europäischen Union sowie zwi­
                                                      schen Staat und Zivilgesellschaft, Wissenschaft
Die in den Bundesländern bereits erfolgte Ein­        und Praxis.
setzung von Antisemitismusbeauftragten bei
den Generalstaatsanwaltschaften ist ein wichti­       Diesen Ansatz verfolgt auch das Projekt „Rassis­
ger Schritt. Sie ist eine direkte Folge der erfolg­   mus, Antisemitismus, Rechtsextremismus –
reichen Zusammenarbeit in der Gemeinsamen             Stärkung von Strafverfolgung & Opferschutz“
Bund-Länder-Kommission zur Bekämpfung                 des Deutschen Instituts für Menschenrechte, mit
16                                                                                                                         NASAS

dem zunächst in drei Bundesländern Strukturen                     Gemeinschaften sowie relevante Stellen regelmä­
der Zusammenarbeit zwischen verschiedenen                         ßig zusammenkommen, um aktuelle Entwick­
Akteuren (Justiz, Staatsanwaltschaft, Polizei,                    lungen und Arbeitsfortschritte zu besprechen.
Opferschutzverbände) aufgebaut bzw. erweitert
werden sollen. Die Ergebnisse des Projekts wer­                   Gesetzgebung ist eine weitere Form der Struktur­
den bundesweit verbreitet und auf diese Weise                     bildung. Das Netzwerkdurchsetzungsgesetz (Netz­
weiteren Ländern beim Ausbau solcher Struktu­                     DG) regelt seit Januar 2018 bußgeldbewehrte
ren nützlich sein.                                                Compliance-Pflichten für Anbieter großer
                                                                  sozialer Netzwerke mit mehr als zwei Millionen
Solche Vernetzungsformate gewährleisten Wis­                      Nutzerinnen und Nutzern in Deutschland. Es
senstransfer und haben sich bewährt. Sie sind                     verpflichtet die Anbieterinnen und Anbieter,
in verschiedensten Bereichen anzustreben und                      ein nutzerinnen- und nutzerfreundliches Ver­
sollten stets jüdische und andere zivilgesell­                    fahren zur Übermittlung von Beschwerden über
schaftliche Akteure beteiligen. Das setzt auch                    bestimmte strafbare Inhalte zur Verfügung zu
der Beratungskreis des Bundesbeauftragten                         stellen (zum Beispiel Beleidigungen und antise­
um.13 Ziel der Bundesregierung ist es, außerdem                   mitische Volksverhetzung) und sie auf strafrecht­
ein regelmäßiges, deutschlandweites Austausch­                    liche Relevanz zu prüfen. Rechtswidrige Inhalte
forum unter Leitung des Bundesbeauftragten                        sind innerhalb von 24 Stunden bzw. 7 Tagen zu
einzurichten, das staatliche Antisemitismus­                      löschen.14
beauftragte, zivilgesellschaftliche Akteure und
weitere relevante Stellen vernetzt. Zentral ist                   Der Bund unterstützt seit Längerem zivilgesell­
dabei die Einbindung von Vertreterinnen und                       schaftliche Projekte für Demokratie und Vielfalt
Vertretern jüdischer Gemeinden und Organisa­                      sowie gegen Extremismus. Die entsprechenden
tionen. Die Einrichtung eines solchen Forums                      Förderprogramme sind jedoch aufgrund ihrer
ist ein wichtiger Meilenstein für die notwendige                  Struktur und Befristung nicht geeignet, dauer­
Verstetigung von Austauschprozessen.                              hafte und verlässliche Rahmenbedingungen für
                                                                  die engagierte Zivilgesellschaft zu schaffen. Ange­
Mit der im Oktober 2021 vorgelegten Strategie                     sichts der in den vergangenen Jahren nochmals
der EU zur Bekämpfung von Antisemitismus                          deutlich gewachsenen gesellschaftlichen Heraus­
und zur Förderung jüdischen Lebens (2021–2030)                    forderungen durch rechtsextreme, rassistische,
hat die EU-Kommission eine permanente Ar­                         antisemitische und andere menschen- und
beitsgruppe etabliert, in der die Mitgliedstaaten,                demokratiefeindliche Phänomene reichen sie
Vertreterinnen und Vertreter aus den jüdischen                    in ihrer jetzigen Form nicht aus. Im Koalitions­
                                                                  vertrag der Regierungsparteien wurde deshalb
13 Seit September 2019 wird der Beauftragte der Bundesregie-      vereinbart, dass die Bundesregierung „zur ver­
rung für jüdisches Leben in Deutschland und den Kampf gegen       bindlichen und langfristig angelegten Stärkung
Antisemi­tismus von einem unabhängigen Beratungskreis unter-
stützt. Die acht jüdischen und nicht jüdischen Expertinnen und
                                                                  der Zivilgesellschaft […] bis 2023 nach breiter
Experten aus Wissenschaft, Bildungspraxis und Zivilgesellschaft   Beteiligung ein Demokratiefördergesetz einbrin­
sind im Juli 2019 per Kabinettbeschluss in den Beratungskreis     gen“ möchte.
berufen worden. Damit hat die Bundesregierung eine Forderung
aus dem Bundestagsbeschluss BT-Drs. 19/444 „Antisemitismus
entschlossen bekämpfen“ umgesetzt. Mehr Informationen unter       14 Ab voraussichtlich Anfang 2024 wird das NetzDG in weiten
https://www.antisemitismusbeauftragter.de/Webs/BAS/DE/            Teilen aufzuheben sein, weil es durch den vorrangigen Digital
beauftragter/gremien/beratungskreis/beratungskreis-node.html.     Services Act verdrängt wird.
Querschnittsdimension B                              17

Dessen zentrales Ziel soll die Schaffung eines ge­
setzlichen Auftrags des Bundes zur Erhaltung
und Stärkung des zivilgesellschaftlichen Engage­
ments im Bereich der Demokratieförderung,
Vielfaltgestaltung und Extremismusprävention
sein. Diese Förderung soll längerfristig, altersun­
abhängig und bedarfsorientierter als bisher
ausgestaltet sein, um mehr Planungssicherheit
für die Zivilgesellschaft zu schaffen. Die Verab­
schiedung eines Demokratiefördergesetzes ist
auch ein wichtiger Meilenstein bei der Instituti­
onalisierung von Instrumenten der Antisemitis­
musbekämpfung.

Die NASAS ist selbst insofern strukturbildend,
als dass sie künftiges Regierungshandeln prägen
soll. Ziel der Bundesregierung ist es daher, bei
der Förderpraxis im Bereich jüdisches Leben und
Antisemitismusbekämpfung das 5×3-Modell ein­
zubeziehen und die IHRA-Arbeitsdefinition ge­
genstandsangemessen zu berücksichtigen.
18                                                                                                 NASAS

∙ Berlin hat 2019 ein „Landeskonzept zur            lagen für einen oder eine Beauftragte für
  Weiterentwicklung der Antisemitismus-             jüdisches Leben und gegen Antisemitismus.
  Prävention“ verabschiedet. Dazu gehört
  ein „Runder Tisch gegen antisemitische          ∙ Brandenburg hat 2021 die „Zentralstelle
  Gewalt“ (RTaG). Daran sind neben staat­           Hasskriminalität“ bei der Generalstaatsan­
  lichen Stellen zivilgesellschaftliche Träger      waltschaft eingerichtet, innerhalb derer ein
  und jüdische Institutionen beteiligt.             fester Ansprechpartner für antisemi­tische
                                                    Vorfälle zuständig ist. Im Thüringer Minis­
∙ Bayern hat 2022 ein Gesamtkonzept be­             terium für Migration, Justiz und Verbrau­
  schlossen. Es beinhaltet die Entwicklung ei­      cherschutz ist seit 2019 für den Bereich der
  nes Online-Portals, das über Antisemitis­         Strafverfolgungsbehörden in der Justiz ein
  musbekämpfung in Bayern informiert und            Beauftragter für jüdisches Leben und die
  Materialien bereitstellt. Das Projekt wird        Bekämpfung von Antisemitismus bestellt.
  von einer Interministeriellen Arbeitsgruppe
  (IMAG) unter Beteiligung aller relevanten       ∙ Bayern schuf 2021 einen Antisemitismus-
  Ressorts und der Zivilgesellschaft begleitet.     beauftragten für die bayerische Justiz.
                                                    Dieser zieht als Staatsanwalt Ermittlungs­
∙ Schleswig-Holstein hat 2022 eine IMAG             verfahren landesweit an sich und ist An­
  zur Erarbeitung eines Landesaktionsplans          sprechpartner für jüdische Gemeinden.
  gegen Antisemitismus einberufen. Die
  jüdischen Landesverbände werden sie als         ∙ Hamburg hat einen Runden Tisch gegen
  dauerhafter Gast beraten.                         Antisemitismus und zum Schutz jüdischen
                                                    Lebens eingerichtet, an dem sich staatliche,
∙ Niedersachsen hat als Teil seines Landes-         zivilgesellschaftliche und jüdische Akteure
  programms für Demokratie und Men-                 austauschen und die gemeinsame Arbeit
  schenrechte eine Fachgruppe Antisemitis-          weiter entwickeln. In Schleswig-Holstein
  mus eingerichtet, die jüdische und nicht          soll der Runde Tisch „SHalom&Moin“, den
  jüdische Mitglieder aus Staat, Zivil­gesell­      der Landtag gemeinsam mit dem Beauf­
  schaft und Wissenschaft vernetzt.                 tragten für jüdisches Leben und gegen Anti­
                                                    semitismus gegründet hat, als Dialogplatt­
∙ Rheinland-Pfalz hat 2022 ein Antisemitis-         form ebenfalls jüdische und nicht jüdische
  musbeauftragtengesetz verabschiedet, das          Akteure aus Politik und Zivilgesellschaft
  dem oder der Antisemitismusbeauftragten           zusammenbringen.
  ein Akteneinsichts- und Auskunftsrecht
  gegenüber den Landesbehörden zusichert.         ∙ Das vom sächsischen Beauftragten initiier­
  Die Stelle einer oder eines Beauftragten für      te Netzwerk Jüdisches Sachsen berät in
  jüdisches Leben und Antisemitismusfragen          ­regelmäßigen Abständen über Verbesse­
  gibt es seit 2017.                                rungen von Strukturen und Angeboten im
                                                    Beratungs-, Bildungs- und Fortbildungs­
∙ Das Saarland schuf 2018 mit dem Landes-            bereich.
  beauftragtengesetz die rechtlichen Grund­
Querschnittsdimension C                                                                        19

     Querschnitts-
     dimension C

                                                    zu stärken. Denn durch die Digitalisierung ent­
Digitalität                                         stehen nicht nur neue Möglichkeitsräume,
                                                    sondern auch Gefahren durch die Verbreitung
Die Digitalisierung sämtlicher Lebensbereiche       von antisemitischen Narrativen, Verschwörungs­
bringt Herausforderungen und Chancen mit            mythen, Hass und Hetze. Daher fördert der Be­
sich. In unserem Alltag sind digi­tale Kommuni­     auftragte der Bundesregierung für jüdisches
kationsmedien vorherrschend und prägen unser        Leben in Deutschland und den Kampf gegen
Denken und Handeln. Ziele und Maßnahmen             Antisemitismus seit 2020 die von der Amadeu An­
in allen Handlungsfeldern sollen deshalb            tonio Stiftung jährlich veranstalteten Bildungs-
daraufhin überprüft werden, ob Digitalität          und Aktionswochen gegen Antisemitismus. Ziel
hinreichend berücksichtigt wird: sowohl als         der Bundesregierung ist es zudem, den Kampf
Gegenstand von Forschung und Monitoring,            gegen antisemitische Desinformation als Gegen­
als Treiber für Innovation und Träger von           stand strategischer Kommunikation im Kontext
Risiken wie auch als Medium neuer Formen            zeitgemäßer Public Diplomacy zu verankern.
des Transfers und der Interaktion.
                                                    Digitale Gewalt in Form von Beleidigungen, Be­
Digitale Angebote und Möglichkeiten sind allge­     drohungen und Hassrede ist eine Gefahr für den
genwärtig und aus dem Alltag vieler Menschen        freien gesellschaftlichen Meinungsaustausch
nicht mehr wegzudenken. Sie eröffnen erweiterte     und somit für die Demokratie selbst. Hass im
Zugänge zur Interaktion: Nutzerinnern und           Netz fördert die Gewaltbereitschaft im analogen
Nutzer können sich auf den unterschiedlichsten      Raum und kann Nährboden für extremistische
gesellschaftlichen und politischen Feldern ver­     Gewalttaten sein; Radikalisierung geschieht im
netzen und eigene Inhalte produzieren; bisher       Netz oftmals schneller als offline. Die Formate
unerreichte Menschen können angesprochen            sozialer Medien begünstigen Polarisierungen
werden. Für Politik, Kultur und Wissenschaft sind   und sogenannte digitale Echokammern, in denen
digitale Technologien ein zentrales Werkzeug, um    sich Gleichgesinnte bestärken.
Wissen zugänglich zu machen und zu vermitteln.
                                                    Um Hass und antisemitischen Inhalten im Netz
Ziel der Bundesregierung ist es, die Medienkom­     künftig besser entgegenzutreten, sollte die
petenz in allen Alters- und Bevölkerungsgruppen     Meldung derartiger Inhalte vereinfacht werden.
20                                                  NASAS

Daneben ist vor allem eine Verantwortungsüber­
nahme der Betreiber sozialer Netzwerke not­
wendig. Ein direkter Kommunikationskanal für
die Opfer sowie alle Userinnen und User in den
sozialen Netzwerken ist daher unbedingt erfor­
derlich. Organisationen mit nachgewiesener
Sachkompetenz wie der Bundesverband RIAS
sollten als vertrauenswürdige Hinweisgeber (so­
genannte „Trusted Flagger“) anerkannt werden,
die Inhalte vereinfacht melden können. Das sieht
so der Digital Services Act der EU vor. Zur Förde­
rung von Medienkompetenz und zur Arbeit gegen
Online-Hass hat die Bundesregierung das Kompe­
tenznetzwerk „Hass im Netz“ und eine gleich­na­mi­
ge Bundesarbeitsgemeinschaft ins Leben gerufen.
Diese fungiert auch als Ansprech- und Koopera­
tionspartnerin für das Engagement und die weite­
re Vernetzung in diesem Bereich.
Querschnittsdimension C                                                                          21

 ∙ Die Zentral- und Ansprechstelle Cyber-         ∙ In Rheinland-Pfalz bietet die KZ-Gedenk-
   crime (ZAC NRW) Nordrhein-Westfalen              stätte Osthofen digitale Rundgänge an.
   hat sich als bundesweit größte Cyber­            Bayern hat in Kooperation mit den Central
   crime-Einheit der Justiz etabliert. Sie ist      Archives of the Jewish People in Jerusalem
   unter anderem zentral zuständig für her­         das digitale Portal „Jüdisches Leben in
   ausgehobene Verfahren wegen politisch            Bayern“ eingerichtet.
   motivierter Hassrede in Internetforen.
                                                  ∙ Im Landesarchiv Schleswig-Holstein wird
 ∙ Niedersachsen hat 2020 die Zentralstelle         eine private Datenbank mit 15.000 jüdi­
   zur Bekämpfung von Hasskriminalität im           schen Biografien aus dem Land aufbereitet,
   Internet (ZHIN) bei der Staatsanwaltschaft       die der Öffentlichkeit zugänglich gemacht
   Göttingen errichtet. Sie hat eine Internet-      werden soll.
   plattform eingerichtet, über die strafrecht­
   lich relevante Vorfälle angezeigt werden       ∙ Die Extended-Reality-App „Operation
   können.                                          Legendär“ erzählt von dem Rabbiner Israel
                                                    Jacobsohn und seinem Wirken in Seesen/
 ∙ In Bayern bietet die Justiz seit 2021 mit        Niedersachsen. Im Stil einer Graphic
   der Recherche- und Informationsstelle            Novel wird diese jüdische Geschichte rund
   Antisemitismus Bayern (RIAS Bayern) ein          um das Reformjudentum interaktiv wie­
   Online-Meldeverfahren für Opfer juden-           derentdeckt.
   feindlicher Straftaten an. Auf Wunsch
   der Betroffenen meldet RIAS Bayern             ∙ Der Beauftragte der Landesregierung Ba-
   antisemitische Hatespeech direkt an die          den-Württemberg gegen Antisemitismus
   Generalstaatsanwaltschaft München.               veröffentlicht seit 2020 den Podcast „Ver-
                                                    schwörungsfragen“. In mehr als 40 Folgen
 ∙ Die Meldestelle HessengegenHetze initiier­       klärt er über Verschwörungsmythen und
   te 2021 mit der Hochschule Darmstadt             ihre Verbindung zu Antisemitismus auf und
   und dem Fraunhofer Institut SIT das For­         beleuchtet aktuelle Themen und Vorfälle.
   schungsprojekt „DeTOx – Detektion von
   Toxizität und Aggressionen in Postings und
   Kommentaren im Netz“. Es entwickelt
   automatisierte Erkennungs- und Klassi­
   fikationsverfahren für Fake News und
   Hate­speech.
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     Handlungsfeld 1
Handlungsfeld 1                                                                                      23

                                                        polizeiliche Sonderauswertungen sowie das Lage­
Datenerhebung,                                          bild Antisemitismus des Bundesamts für Verfas­

Forschung und Lagebild                                  sungsschutz, das aktuelle Entwicklungen und
                                                        Schwerpunkte phänomenübergreifend beleuchtet.

Die Forschung über Antisemitismus untersucht            Weiterhin tragen Beratungs- und Meldestellen
die historischen Zusammenhänge und die aktu­            sowie deren Dachverbände wie insbesondere
ellen Formen des Phänomens. Forschung und               der Bundesverband RIAS sowie der Verband der
Datenerhebung liefern die Grundlage für evidenz­        Beratungsstellen für Betroffene rechter, rassis­
basiertes Handeln in allen Bereichen der Präven­        tischer und antisemitischer Gewalt e. V. (VBRG)
tion und Bekämpfung von Antisemitismus.                 und der Bundesverband Mobile Beratung e. V.
Insbesondere, wenn jüdische Gegenwart und               (BMB) zu einer umfassenden Lagedarstellung
Geschichte erforscht werden, tragen sie auch zur        und einer Reduzierung des Dunkelfeldes bei. Sie
Sichtbarkeit von Jüdinnen und Juden bei. Über­          erfassen auch antisemitische Vorfälle unterhalb
greifende Ziele sind hier, das Wissen über Anti-        der Strafbarkeitsschwelle. Die Berichterstattung
semitismus zu erweitern, um seine Formen und            wird weiter ergänzt durch ein qualitativer an­
seine Verbreitung besser zu verstehen. Erforscht        gelegtes Lagebild, das die Amadeu Antonio Stif­
werden sollen auch die Wirksamkeit von Maß-             tung ein- bis zweimal jährlich erstellt, sowie
nahmen zur Antisemitismusbekämpfung und                 Feldbeob­achtungen, zum Beispiel des Jüdischen
die Lebensrealitäten von Jüdinnen und Juden.            Forums für Demokratie und gegen Antisemi­
                                                        tismus e. V. (JFDA) und des Zentrums Demokra­
Besonders wichtig sind Erkenntnisse zu aktuellen        tischer ­Widerspruch e. V. (democ).
Formen von Antisemitismus in Deutschland
sowie zu globalen Entwicklungen und ihren Aus­          Diese Strukturen gilt es auszubauen, zu vernetzen
wirkungen auf die deutsche Gesellschaft und             und zu unterstützen. Ziel der Bundesregierung
Politik. Die Förderrichtlinie „Aktuelle Dynamiken       ist es, auch auf europäischer Ebene die Koordi­
und Herausforderungen des Antisemitismus“               nierung von Datenerhebungen zu verbessern.
des Bundesministeriums für Bildung und For­             Dazu arbeitet sie mit der von der Europäischen
schung (BMBF) weist in diese Richtung: Sie soll         Menschenrechtsagentur (European Union
fundierte Erkenntnisse zu Antisemitismus in sei­        Agency for Fundamental Rights, FRA) geleiteten
nen verschiedenen Ausprägungen generieren, um           Arbeitsgruppe der EU-Kommission „Working
ihn möglichst zielgerichtet bekämpfen zu können.        Group on hate crime recording, data collection
                                                        and encouraging reporting“ zusammen. Ziel
Ein weiteres zentrales Ziel in diesem Handlungs-        der Bundesregierung ist es, darüber hinaus das
feld ist die Optimierung der Datenerhebungen            Angebot der bundesweit online zugänglichen
und des Datenaustauschs. Das umfasst zum einen          Meldestellen breiter bekanntzumachen, etwa
die Datenerhebungen durch Behörden wie die              auch im organisierten Sport und an Schulen.
PMK-Statistik, in der die polizeilich erfassten anti­   Die Benennung von Ansprechpersonen und die
semitischen Straftaten differenziert nach Phäno­        Veranstaltung von Informationskampagnen
menbereichen gelistet werden. Die Statistik und         zu den bestehenden Angeboten können viel be­
ihre Erfassungskriterien werden ständig weiterent­      wirken. Dabei sollte bei der Erfassung antisemi­
wickelt, um relevante neue Entwicklungen a­ däquat      tischer Vorfälle auf die bestehenden Strukturen
abzubilden. Ergänzt wird die PMK-Statistik durch        des Bundesverbands RIAS aufgebaut werden.
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Der Beauftragte der Bundesregierung für jüdi­       Vernetzung staatlicher und zivilgesellschaftlicher
sches Leben in Deutschland und den Kampf            Stellen sowohl unter- als auch miteinander.
gegen Antisemitismus wird den Ausbau, die
Bekanntmachung und die Vernetzung der               Neben Daten und Erkenntnissen sollten Erfah­
Melde- und Informationsstellen weiter fördern.      rungen aus der Praxis einbezogen werden, um
                                                    Forschungslücken zu füllen. Diese bestehen etwa
Ein weiteres Ziel ist in diesem Handlungsfeld,      in Bezug auf antisemitische Einstellungen, spezi­
den Wissenstransfer zwischen wissenschaftli-        fische Formen von heutigem Antisemitismus
cher Forschung, Behörden und zivilgesellschaft-     wie dem auf Israel bezogenen oder bezüglich
lichen Organisationen sowie Beratungs- und          jüdischer Zuwanderung. Das ermöglicht es,
Monitoringstellen zu fördern und auszubauen,        Praxisprojekte und Präventionsmaßnahmen
etwa durch regelmäßige Austauschverfahren           anzupassen und behördliches Handeln zu ver­
und neue Kommunikationskanäle. Ein etablier­        bessern. So können relevante Bereiche wie isra­
ter Partner der Bundesregierung ist in diesem       el­bezogener Judenhass, Holocaustleugnung,
Bereich der Bundesverband RIAS, der als Teil        Holo­caust­rela­ti­vierung, Antisemitismus im
des Kompetenznetzwerks gegen Antisemitismus         Rechtsextremismus und Islamismus sowie
(KOMPAS) als einer von fünf zivilgesellschaft­      Antisemitismus in der Mitte der Gesellschaft
lichen Trägern der Antisemitismusprävention im      adressiert werden. Präventiv-pädagogische
Rahmen des Bundesprogramms „Demokratie              Arbeit sollte gezielt gefördert werden. Dabei sind
leben!“ gefördert wird. Schirmherr des Bundes­      insbesondere die Expertise und Perspektive von
verbands ist der Beauftragte der Bundesregierung    Betroffenen zu berücksichtigen.
für jüdisches Leben in Deutschland und den
Kampf gegen Antisemitismus.

Der Bundesverband RIAS will eine bundesweit
einheitliche Erfassung und Dokumentation
antisemitischer Vorfälle gewährleisten. Er koope­
riert dazu mit zivilgesellschaftlichen Trägern,
Beratungs- und Monitoringstrukturen vor Ort
sowie mit einigen Landeskriminalämtern. Beim
Aufbau von Meldestellen durch zivilgesellschaft­
liche Träger sollten die jüdischen Gemeinden
der jeweiligen Regionen einbezogen werden, um
die Betroffenenperspektive zu berücksichtigen.

Um möglichst umfangreiche Daten zu sammeln
und Antisemitismus in all seinen Erscheinungs­
formen sichtbar zu machen, sollte zudem der
Datenaustausch zwischen den verschiedenen
Akteuren geregelt und verbessert werden. Ziel
der Bundesregierung ist es, die Schaffung von
Schnittstellen und die Verstetigung von Aus­
tauschverfahren voranzutreiben. Das gilt für die
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