Die "Spanische Grippe" 1918/19 - Eckard Michels - Institut für Zeitgeschichte

 
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                 Zwischen 25 und 39 Millionen Opfer weltweit – kein Krieg, kein Genozid, son-
           dern eine gewöhnliche Seuche: Die spanische Grippe traf 1918 auf eine Welt, die vom
           Ersten Weltkrieg zutiefst gezeichnet und erschöpft war. Aber war diese Pandemie tat-
           sächlich eine Folge des Krieges? Und vor allem: Welchen Einfluss hatte sie auf den
           Ausgang dieses globalen Konflikts? Eckard Michels, ein in London lehrender Histori-
           ker, räumt mit vielen falschen Vorstellungen auf und präsentiert überraschende Ant-
           worten. ■■■■

           Eckard Michels

           Die „Spanische Grippe“ 1918/19
           Verlauf, Folgen und Deutungen in Deutschland im Kontext des Ersten Weltkriegs

           Die Influenza (Grippe) ist eine akute Viruserkrankung, die sowohl im Tierreich
           wie auch bei Menschen vorkommt. Sie ist eine sehr ansteckende, aber in der Regel
           selten tödlich verlaufende Krankheit. Ihre Bekämpfung gestaltet sich schwierig,
           weil das Virus beständig mutiert. Die alljährlichen Grippewellen werden durch
           geringfügige Veränderungen des Virus verursacht, Antigen-Drift genannt. Die-
           ser erfordert es, die Zusammensetzung der seit den 1940er Jahren entwickelten
           Grippe-Impfstoffe jährlich den aktuell zirkulierenden Varianten des Krankheits-
           erregers anzupassen. Grundsätzliche Veränderungen des Krankheitserregers, als
           Antigen-Shift bezeichnet, erfolgen, wenn zwei Virenstämme, etwa ein humaner
           und ein Schweine- oder Vogelgrippenvirus sich in Tieren zu einem neuen Sub-
           typ verbinden. Wenn Menschen und Tiere auf engstem Raum zusammenleben,
           etwa in Gebieten intensiver Geflügel- oder Schweinezucht, kann dieser auf den
           Menschen übergehen. Durch den Antigen-Shift umgeht das Virus die von Men-
           schen durch frühere Grippewellen erworbene partielle Immunität1. Ein Antigen-
           Shift kann eine Pandemie auslösen wie die „russische“ Grippe von 1889–1892, die
           „spanische“ von 1918/19, die „asiatische“ von 1957, die „Hong Kong“ Grippe von
           1968 oder die seit Frühjahr 2009 grassierende Neue Influenza A/H1N1, auch
           „Schweinegrippe“ genannt. Von einer Influenzapandemie spricht man, wenn der-
           selbe Erregerstamm mehrere Kontinente erfasst. Charakteristisch für eine Pande-
           mie sind: die Infektion eines wesentlich höheren Prozentsatzes der Bevölkerung,
           ein schwererer Krankheitsverlauf und eine erheblich höhere Mortalität als bei
           „saisonalen“, durch einen bloßen Antigen-Drift ausgelösten Grippewellen. Doch

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                Zur Influenza vgl. Robert Koch Institut (Hrsg.), Nationaler Pandemieplan. Teil III: Wissen-
                schaftliche Zusammenhänge der Pandemieplanung in Deutschland, Berlin 2007, S. 13–27. –
                Dieser Aufsatz basiert auf meinem im Juni 2007 an der Helmut-Schmidt-Universität in Ham-
                burg gehaltenen Habilitationsvortrag. Ich danke Hans-Joachim Braun, Michael Epkenhans,
                Nikolaus Katzer, Klaus-Jürgen Müller, Jutta Nowosadtko und Bernd Wegner für die Fragen
                und Anregungen während des Kolloquiums, die z. T. Eingang in diese wesentlich erweiterte
                und aktualisierte Version gefunden haben.
                ©Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte
     VfZ 1/2010 © Oldenburg 2010 DOI 10.1524/vfzg.2010.0001
Jahrgang 58 (2010), Heft 1
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2 Aufsätze

              diese Merkmale sind nicht zwingend notwendige Voraussetzungen, um eine Grip-
              pewelle als Pandemie zu definieren. Hiervon zeugt das Beispiel der im Juni 2009
              von der World Health Organisation (WHO) der Vereinten Nationen als Pandemie
              qualifizierten „Schweinegrippe“. Sie ist die erste Influenzapandemie seit 1968.
                  Die tödlichste aller bekannten Influenzapandemien ist bislang die „spanische“
              Grippe gewesen. Sie verbreitete sich zwischen Frühjahr 1918 und Anfang 1919
              in drei Wellen über die Welt. Zudem stellt die spanische Grippe vermutlich die
              Seuche in der Geschichte dar, welche innerhalb eines relativ kurzen Zeitraums
              tatsächlich alle Kontinente erfasste und in absoluten Zahlen mehr Opfer als
              alle anderen Epidemien forderte. Ging man in den zwanziger Jahren zunächst
              von weltweit etwa 22 Millionen Verstorbenen aus, so sind nach neueren Berech-
              nungen zwischen 25 und 39 Millionen2, nach einer anderen Schätzung auch bis
              zu 50 Millionen Menschen umgekommen, wobei selbst diese Zahl noch um bis zu
              50 Prozent zu niedrig liegen könnte3. Die große Bandbreite bei den geschätzten
              Menschenverlusten resultiert vor allem aus fehlenden Gesundheitsstatistiken für
              weite Teile Asiens, Afrikas, aber auch das vom Bürgerkrieg zerrissene Russland.
              Die spanische Grippe stellte gleichwohl „the single worst demographic disaster
              of the 20th century“ dar4. Auch in Deutschland forderte sie mehr Opfer als alle
              anderen Epidemien der letzten eineinhalb Jahrhunderte.
                  Der tiefe demographische Einschnitt, den die spanische Grippe verursachte,
              kontrastiert auf den ersten Blick mit dem erstaunlichen Befund, dass diesem Er-
              eignis relativ wenig Aufmerksamkeit zugekommen ist, und zwar sowohl in den
              damaligen wie auch in den nachfolgenden Gesellschaften. So schrieb die New York
              Times am 5. November 1918, nachdem bereits mehrere tausend Menschen in der
              Stadt an der Krankheit gestorben waren: „Perhaps the most notable peculiarity of
              the influenza epidemic is the fact that it has been attended by no traces of panic or
              even excitement.“5 Die Seuche ist zumindest in den Gesellschaften Nordamerikas
              und Europas nicht zum „Erinnerungsort“ geworden. Die Historiographie hat sich
              bis in die siebziger Jahre hinein nicht mit dieser Seuche beschäftigt. Allerdings
              ist dieses Ereignis auch nicht vergessen oder von der Historiographie vernach-
              lässigt worden6. Vor allem im angelsächsischen Raum, insbesondere in und für

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                   Vgl. K. David Patterson/Gerald F. Pyle, The Geography and Mortality of the 1918 Influenza
                   Pandemic, in: Bulletin of the History of Medicine 65 (1991), S. 4–21.
               3
                   Vgl. Niall P. A. S. Johnson/Jürgen Müller, Updating the Accounts. Global Mortality of the
                   1918–1920 “Spanish” Influenza Pandemic, in: Bulletin of the History of Medicine 76 (2002),
                   S. 105–115.
               4
                   Howard Phillips/David Killingray, Introduction, in: Dies. (Hrsg.), The Spanish Influenza
                   Pandemic of 1918–1919. New Perspectives, London 2003, S. 1–25, hier S. 2.
               5
                   Zit. nach Alfred Crosby, America’s Forgotten Pandemic. The Influenza of 1918, Cambridge
                   1989, S. 314.
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                   Vgl. Crosby, Forgotten Pandemic; Pete Davies, Catching Cold. 1918’s Forgotten Tragedy and
                   the Scientific Hunt for the Virus that Caused it, London 1999; Manfred Vasold, Die Grippe
                   am Ende des Ersten Weltkrieges, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 2. 3. 2005, S. 8; Utz
                   Thimm, Die vergessene Seuche. Die „Spanische Grippe“ von 1918/19, in: Mitteilungen des
                   Oberhessischen Geschichtsvereins Gießen 92 (2007), S. 117–136.
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                                                                                                         VfZ 1/2010
Jahrgang 58 (2010), Heft 1
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Eckard Michels: Die „Spanische Grippe“ 1918/19 3

           die USA7, sind hierzu in den letzten vier Jahrzehnten zahlreiche (populär-)wissen-
           schaftliche Publikationen erschienen8. Die spanische Grippe hat sogar Eingang in
           die Populärkultur gefunden, wie ein „Peanuts“-Cartoon des bereits im Jahre 2000
           verstorbenen Charles M. Schulz bezeugt, der seinen Helden Charlie Brown in ei-
           ner Episode über einen Schulaufsatz zu diesem Thema grübeln lässt. Unlängst
           sind auch erste kurze Gesamtdarstellungen zum Thema auf Deutsch veröffent-
           licht worden9.
              Nicht zuletzt schürte die 1997 zuerst in Hong Kong aufgetretene und sich seit
           2003 über weite Teile Asiens und Europas verbreitende Vogelgrippe, an der mehr
           als die Hälfte der bislang etwa 400 infizierten Menschen gestorben sind, weltweit
           Befürchtungen, dass eine neue Grippepandemie bevorstehe. Die Vogelgrippe be-
           wirkte, dass seit der Jahrtausendwende die WHO wie auch die nationalen Regie-
           rungen Influenzapandemie-Pläne erstellt haben, um im Falle eines Seuchenzuges
           angemessen reagieren zu können. Die Ereignisse von 1918/19 wurden dabei ge-
           legentlich als eine Art warnendes historisches Szenario herangezogen und haben
           das Interesse an den Ereignissen vor 90 Jahren weiter angefacht10. So warb der
           Fischer-Verlag im Jahre 2007 für das Taschenbuch der amerikanischen Wissen-
           schaftsjournalistin Gina Kolata über die Suche von US-Forschern nach dem Influ-
           enzavirus von 1918 mit dem Aufkleber „Vogelgrippe: Das passiert, wenn wir nicht
           handeln“11! Das bundeseigene Robert-Koch-Institut für Infektionskrankheiten
           in Berlin nahm in seinen Informationen über die Gefahren der Vogelgrippe als
           möglichen Auslöser einer Pandemie menschlicher Influenza ebenfalls Bezug
           auf die Ereignisse von 1918/19, wenn auch in abwiegelnder Form: Es sei wegen
           des Fortschritts in der Medizin heute mit weit weniger Opfern zu rechnen, im
           schlimmsten Fall mit etwa 100 000 Toten in der Bundesrepublik12. Dank nunmehr
           vorhandener moderner Impfstoffe, aber auch dank Antibiotika, die es 1918 noch
           nicht gab, können große Teile der Bevölkerung immunisiert werden oder aber
           im Falle des Ausbruchs der Krankheiten vor bakteriellen Lungenentzündungen

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                Neben Crosby, Forgotten Pandemic, sind die wichtigsten Studien John M. Barry, The Great
                Influenza. The Epic Story of the Deadliest Plague in History, New York 2004, sowie Carol R.
                Byerly, Fever of War. The Influenza Epidemic in the US Army during World War I, New York
                2005.
            8
                Einen Überblick über die Entwicklung der Historiographie zur spanischen Grippe bietet
                Howard Philipps, The Reappearing Shadow of 1918. Trends in the Historiography of the
                1918–1919 Influenza Pandemic, in: Canadian Bulletin of Medical History 21 (2004), S. 121–
                134. Vgl. auch die von Jürgen Müller zusammengestellte internationale Bibliographie in:
                Philipps/Killingray (Hrsg.), Spanish Influenza, S. 301–351.
            9
                Vgl. Wilfried Witte, Tollkirschen und Quarantäne. Die Geschichte der Spanischen Grippe,
                Berlin 2008; Manfred Vasold, Die Spanische Grippe. Die Seuche und der Erste Weltkrieg,
                Darmstadt 2009.
           10
                Vgl. Guy Beiner, Out in the Cold and Back. New Found Interest in the Great Flu, in: Cultural
                and Social History 3 (2006), S. 496–505.
           11
                Vgl. Gina Kolata, Influenza. Die Jagd nach dem Virus, Aktualisierte Neuausgabe, Frankfurt
                a. M. 2006.
           12
                http://www.rki.de/cln_048/nn_200120/SharedDocs/FAQ/Influenzapandemie/FAQ20
                (Zugriff 31. 5. 2007).
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4 Aufsätze

              geschützt werden, welche die bei weitem häufigste tödliche Nebenkomplikation
              der Pandemie von 1918/19 darstellten. Sie forderten möglicherweise mehr Opfer
              als die Grippe selbst.
                 Voraussetzung für eine durch die Vogelgrippe ausgelöste Pandemie wäre al-
              lerdings eine bislang noch nicht vorhandene Übertragbarkeit von Mensch zu
              Mensch des Erregers H5N1. Diese genetische Veränderung hat hingegen das im
              April 2009 erstmals massenhaft in Mexiko diagnostizierte „Schweinegrippen-Vi-
              rus“ erfolgreich vollzogen. Es weist zudem starke genetische Ähnlichkeiten mit
              dem Virenstamm von 1918 auf, was sich unter anderem in der identischen Be-
              zeichnung als H1N1 niederschlägt. Diese resultiert daher, dass sich bei beiden
              Virenstämmen die Oberflächenstrukturen durch das Vorhandensein von jeweils
              nur einem Glykoprotein Hämagglutinin (daher H1) und einem Glykoprotein
              Neuraminidase (daher N1) ähneln. Das Vogelgrippevirus H5N1 tötet bis zu 80
              Prozent aller Infizierten, aber es springt nur sehr schwer von Mensch zu Mensch
              über. Die Schweinegrippe hingegen tötete bislang (Stand Ende Oktober 2009)13
              nur wenige Infizierte, verbreitet sich dafür aber rasanter unter den Menschen
              und befällt – was an die Ereignisse von 1918/19 erinnert – vor allem jüngere Men-
              schen.
                 Trotz dieser aktuellen Entwicklungen fehlt die Pandemie von 1918/19 in den
              neueren Gesamtdarstellungen zur deutschen Geschichte oder zum Reich im
              Ersten Weltkrieg14. Hans-Ulrich Wehlers voluminöse „Deutsche Gesellschaftsge-
              schichte“ ist eine Ausnahme, denn er erwähnt die Seuche, die etwa 300 000 Opfer
              gefordert habe, immerhin kurz, datiert sie jedoch fälschlicherweise auf einen un-
              bestimmten Zeitpunkt nach dem Ende des Krieges15. Die wenigen sich mit diesem
              Ereignis befassenden, seit Anfang der neunziger Jahre meist an entlegener Stel-
              le erschienenen, in Teilen eher spekulativen Studien zur spanischen Grippe in
              Deutschland nähern sich entweder dem Ereignis auf relativ schmaler empirischer
              Basis unter einer lokalgeschichtlichen Perspektive16 oder sie stellen die damaligen

              13
                   http://www.rki.de, Epidemiologischer Wochenbericht des Robert-Koch-Instituts zur Situati-
                   on der Influenza A/H1N1 Woche 14.–20. 10. 2009 (Zugriff 27. 10. 2009).
              14
                   Vgl. Thomas Nipperdey, Deutsche Geschichte 1866–1918, 2 Bände, München 1990/92;
                   Wolfgang J. Mommsen, Die Urkatastrophe Deutschlands. Der Erste Weltkrieg 1914–1918,
                   Stuttgart 2002; Roger Chickering, Das Deutsche Reich und der Erste Weltkrieg, München
                   2002; Heinrich August Winkler, Der lange Weg nach Westen, Bd. 1: Deutsche Geschichte vom
                   Ende des Alten Reiches bis zum Untergang der Weimarer Republik, München 2000.
              15
                   Vgl. Hans-Ulrich Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte, Bd. 4: Vom Beginn des Ersten
                   Weltkriegs bis zur Gründung der beiden deutschen Staaten 1914–1949, München 2003,
                   S. 232.
              16
                   Vgl. Stephen G. Fritz, Frankfurt, in: Fred R. van Hartesveldt (Hrsg.), The 1918–19 Pandemic
                   of Influenza. The Urban Impact in the Western World, New York 1992, S. 13–32; Manfred
                   Vasold, Die Grippeepidemie in Nürnberg 1918 – eine Apokalypse, in: 1999 (Zeitschrift für
                   die Geschichte des 20. und 21. Jahrhunderts) 10 (1995), S. 12–37; Kristin Olm, Die spani-
                   sche Grippe in Sachsen in den Jahren 1918 und 1919, Diss. med. Leipzig 2001; Manfred Va-
                   sold, Die Grippe-Pandemie von 1918/19 in der Stadt München, in: Oberbayerisches Archiv
                   127 (2003), S. 395–414; Matthias Kordes, Die so genannte Spanische Grippe von 1918 und
                   das Ende des Ersten Weltkrieges in Recklinghausen, in: Vestische Zeitschrift 101 (2006/7),
                   S. 119–146.
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Eckard Michels: Die „Spanische Grippe“ 1918/19 5

           medizinischen Fachdebatten um den Charakter der Epidemie in den Vorder-
           grund17. Der Verlauf der Seuche auf nationaler Ebene sowie mögliche regionale
           Unterschiede bleiben aufgrund des dominierenden lokalen Blickwinkels unbe-
           rücksichtigt. Zudem fokussieren sich die Studien vornehmlich auf die zweite, we-
           sentlich tödlichere Herbstwelle. Die demographischen Auswirkungen der Grippe
           werden nicht international verglichen, sodass die Frage ungeklärt bleibt, inwie-
           weit sich die deutsche Situation von der anderer Nationen unterschied. Durch die
           Konzentration auf die Grippe als Phänomen der Heimatfront, nicht etwa auch
           von Heer und Marine, blieben bislang wichtige militärische Quellen zu Ausmaß
           und Verbreitungswegen der Grippe in Deutschland unberücksichtigt. Dabei lie-
           fert gerade das Militär Historikern wegen der im 19. und zu Beginn des 20. Jahr-
           hunderts wesentlich besseren gesundheitlichen Überwachung und Versorgung
           von Soldaten zuverlässigeres Material zu vielen medizinhistorischen und demo-
           graphischen Fragestellungen als Quellen ziviler Provenienz18. Die bisherigen Stu-
           dien zur spanischen Grippe in Deutschland fragen ferner nicht nach möglichen
           Wechselwirkungen zwischen der spezifischen Kriegssituation einerseits und der
           Deutung der Seuche durch Zivilgesellschaft wie Militär andererseits19.
              Wie hat sich also die Kriegssituation auf Verbreitung, Ausmaß und Deutung der
           Grippe in Deutschland ausgewirkt? Hat die spanische Grippe 1918 möglicherwei-
           se die politische und militärische Desintegration des Kaiserreichs beschleunigt?
           Oder ist die Seuche eher durch das parallele Ende von Krieg und Kaiserreich
           marginalisiert worden? Können die damaligen Reaktionen auf die Seuche als ein
           Beispiel dienen, an dem sich der militärische wie politische Zusammenbruch des
           Kaiserreichs im Herbst 1918 wie in einer Art Brennglas gebündelt nachvollzie-
           hen lässt? Schließlich: Kann man überhaupt von einer einheitlichen Grippe-Er-
           fahrung 1918 in Deutschland sprechen? Zu Beantwortung dieser Fragen werden
           erstmals Front wie Heimat, zivile wie militärische Quellen gleichermaßen Berück-
           sichtigung finden.

           I. Die erste Welle: Ausbreitung, Wirkung und Deutung

           Das Grippevirus H1N1, der zum Auslöser der Pandemie wurde, ist vermutlich
           im Januar oder Februar 1918 im Mittleren Westen der USA von Geflügel oder

           17
                Vgl. Wilfried Witte, Erklärungsnotstand. Die Grippe-Epidemie 1918–1920 in Deutschland
                unter besonderer Berücksichtigung Badens, Herbolzheim 2006.
           18
                So etwa für Tropenkrankheiten basierend auf Quellen der britischen und französischen
                Kolonialarmeen; vgl. Philipp D. Curtain, Death by Migration. Europe’s Encounters with the
                Tropical World in the 19th Century, Cambridge 1989. Für die statistische Erfassung der spa-
                nischen Grippe in den US-Streitkräften vgl. Byerly, Fever, S. 79 f.
           19
                Eine Ausnahme hinsichtlich der aufgezählten Desiderata bildet die ausgezeichnete Arbeit
                vom Marc Hieronimus, Krankheit und Tod 1918. Zum Umgang mit der Spanischen Grippe
                in Frankreich, England und dem Deutschen Reich, Berlin 2006. Sie ist zudem, basierend auf
                den Erfahrungen von Marseille, Manchester und Köln, die erste Studie überhaupt, welche
                aus lokalgeschichtlicher Perspektive mehrere Länder vergleicht. Allerdings ist der Referenz-
                punkt vornehmlich Frankreich. Die Ausführungen über den möglichen Einfluss der Grippe
                auf die Kriegführung 1918 bleiben kursorisch, militärische Quellen unberücksichtigt.
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6 Aufsätze

              Schweinen auf den Menschen übergesprungen. Es fand vor allem in den über-
              füllten Ausbildungslagern des sich in Aufstellung befindlichen US-Expeditions-
              korps für Europa reichlich Gelegenheit zur Verbreitung. Die ersten Massener-
              krankungen sind Anfang März 1918 im Camp Funston in Kansas verbürgt. Mitte
              April 1918 erreichte die Influenza mit den US-Truppentransporten dann Frank-
              reich, wo man die ersten Fälle in Bordeaux registrierte20. Die Frühjahrspandemie
              führte in allen betroffenen Ländern zwar zu vielen Erkrankungen, die aber zu-
              meist harmlos verliefen. Allerdings kamen auch schon im Frühjahr gelegentlich
              äußerst heftige Grippefälle vor, die insbesondere bei Menschen im eigentlich wi-
              derstandsfähigsten Alter zu einem schnellen Tode führten. Bei den Obduktionen
              der Opfer fielen den Ärzten bereits jetzt vereinzelt die dann in der Herbstwelle
              oft anzutreffenden völlig zerstörten, mit Blut und Flüssigkeit durchtränkten Lun-
              genflügel auf21.
                 Die Öffentlichkeit der sich im Krieg befindlichen europäischen Großmächte
              wurde auf die Seuche zunächst Ende Mai 1918 durch die Berichterstattung der
              damals nicht der Zensur unterliegenden spanischen Presse über die Epidemie in
              dem neutralen Land aufmerksam. Dies trug der Seuche den bis heute gebräuch-
              lichen Namen „spanische Grippe“ bzw. damals auch „spanische Krankheit“ ein.
              Dabei schleppten vermutlich spanische Rückkehrer, die in der französischen
              Kriegsindustrie gearbeitet hatten, die Grippe auf der iberischen Halbinsel ein22.
              Die Magdeburger Zeitung titelte am 29. Mai „Der schwarze Tod in Spanien?“. Etwa
              ein Drittel der Bevölkerung inklusive des Königs und einiger Minister seien von
              einer rätselhaften Krankheit befallen. Das Hamburger Fremdenblatt beruhigte am
              selben Tag unter der Überschrift „Über die angeblich mysteriöse Krankheit in
              Spanien“, dass es sich bei der Seuche vermutlich um die Influenza handele, die
              Europa zuletzt im Jahre 1889 stark heimgesucht habe23.
                 Die Frühjahrsepidemie kam vermutlich durch französische Kriegsgefangene,
              die an der Westfront gemacht worden waren, nach Deutschland24. Die Grippe er-
              fasste zunächst ab Anfang Mai das Feldheer im Westen, wo sie Ende Juni stark
              verbreitet war und in der ersten Juli-Dekade den Höchststand an Erkrankungen

              20
                   Vgl. Barry, Influenza, S. 91–99; Crosby, Forgotten Pandemic, S. 25.
              21
                   Bayerisches Hauptstaatsarchiv/Kriegsarchiv (künftig: BayHStA), Mkr 10058, Berichte der
                   Militärärztlichen Akademie an das Kriegsministerium betr. Influenzaerkrankungen, 2. 7.
                   und 9. 7. 1918.
              22
                   Vgl. Beatriz Echeverri, The Spanish Influenza Seen from Spain, in: Phillips/Killingray
                   (Hrsg.), Spanish Influenza, S. 173–190.
              23
                   Sammlungen zeitgenössischer deutscher Presseberichte über die spanische Grippe, in: Ge-
                   heimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz in Berlin (künftig: GStA PK), I. HA Rep. 76 VIII
                   B (Preußisches Kultusministerium/Medizinalabteilung), Bd. 3835, sowie zur Grippe und an-
                   deren Gesundheitsfragen, in: Bundesarchiv Berlin (künftig: BAB), R8034II (Pressearchiv des
                   Reichslandbundes), Bde. 1788 u. 1789. Alle im Folgenden zitierten Zeitungsartikel stammen
                   aus diesen Aktenbänden.
              24
                   Vgl. Carl Fahrig, Grippe, in: Ludwig Aschoff (Hrsg.), Handbuch der ärztlichen Erfahrungen
                   im Weltkriege, Bd. 8: Pathologische Anatomie, Leipzig 1921, S. 144–152, hier S. 144.
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Eckard Michels: Die „Spanische Grippe“ 1918/19 7

           erreichte, also etwa drei Wochen später als bei den Entente-Truppen25. Während
           der Krankenstand unter den deutschen Truppen an der Westfront im März, April
           und Mai jeweils um 300 000 Mann oszillierte, stieg er im Juni 1918 als Folge der
           Grippe auf 382 000 an, davon 139 000 Influenzafälle, im Juli auf 685 000, darun-
           ter 399 000 Influenza-Kranke26. Bei der 4., 6. und 17. Armee des bayerischen
           Heeres waren in der ersten Julidekade bei einer Gesamtstärke von 1 103 653 Mann
           114 214 Soldaten krank gemeldet, davon lagen 86 411 oder etwa 8 Prozent der
           Ist-Stärke mit Grippe danieder. In der letzten Julidekade waren in allen drei Ar-
           meen nicht einmal mehr 10 000 Soldaten wegen Grippe außer Gefecht gesetzt27.
           Die Erkrankungen verliefen im Heer wie überall während der ersten Welle der
           Pandemie zumeist leicht und waren nach etwa vier bis sechs Tagen vorüber. Die
           weitaus meisten Fälle konnten in den frontnahen Krankenrevieren behandelt
           werden. Einweisungen wegen Komplikationen in die besser ausgestatteten rück-
           wärtigen Lazarette waren selten nötig28. Allerdings gab es im Westheer erhebliche
           Unterschiede in der Morbidität. Während in manchen Einheiten ein Großteil der
           Soldaten erkrankte, blieben andere fast völlig verschont29.
               Die Grippe traf das Westheer in der letzten Phase jener Offensiven, mit de-
           nen die 3. Oberste Heeresleitung (OHL) unter Paul von Hindenburg und Erich
           Ludendorff seit März 1918 versuchte, eine Wende an der Westfront zu erzwin-
           gen, bevor die seit Anfang des Jahres zunehmend eintreffenden US-Truppen das
           Kräfteverhältnis auf diesem Kriegsschauplatz endgültig zu ungunsten der deut-
           schen Truppen verändern würden30. Die Epidemie war durchaus ein Faktor, den
           die OHL bei ihren Planungen berücksichtigen musste. So schrieb Ludendorff in
           seinen Kriegserinnerungen in Bezug auf die Situation im Juni, als er einen letzten
           Angriff gegen die französischen Truppen anvisierte: „Unsere Armee hatte gelitten.
           Die Grippe griff überall um sich, ganz besonders schwer wurde die Heeresgrup-
           pe Kronprinz Rupprecht betroffen. Es war für mich eine ernste Beschäftigung,
           jeden Morgen von den Chefs die großen Zahlen von Grippeausfällen zu hören
           und ihre Klagen über die Schwäche der Truppen, falls der Engländer nun doch
           angriffe. Er war jedoch noch nicht soweit. Auch die Grippefälle vergingen. Sie lie-

           25
                Niall Johnson, Aspects of the Historical Geography of the 1918/19 Influenza Pandemic in
                Britain, PhD Cambridge 2001, S. 111, gibt als Höhepunkt der Epidemie unter den Entente-
                truppen an der Westfront die dritte Juniwoche an.
           26
                Bundesarchiv (Hrsg.), Der Weltkrieg 1914–1918, Bd. 14: Die Kriegführung an der Westfront
                im Jahre 1918, Berlin 1956, S. 517.
           27
                BayHStA, Mkr HG Rupprecht, Bd. 59, Auszug aus dem Sanitätsbericht des Armeearztes 4.
                Armee 1.4.–30. 6. 1918 (27. 7. 1918), sowie Bd. 58, Truppenkrankenrapporte der 4., 6. und
                17. Armee für Juli 1918.
           28
                Ebenda, Bd. 59, Auszug aus dem Sanitätsbericht des Armeearztes der 4. Armee vom 1. 4.–
                30. 6. 1918 (27. 7. 1918); für die US-Army vgl. Byerly, Fever, S. 72.
           29
                Vgl. Walter Samuel, Betrachtungen über die Grippeepidemie im Felde im Juni und Juli 1918,
                Diss. med., Berlin 1918, S. 7–9.
           30
                Vgl. Dieter Storz, „Aber was hätte anders geschehen sollen?“ Die deutschen Offensiven an
                der Westfront 1918, in: Jörg Duppler/Gerhard P. Groß (Hrsg.), Kriegsende 1918. Ereignis,
                Wirkung, Nachwirkung, München 1999, S. 51–95.
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8 Aufsätze

              ßen oft eine größere Schwäche zurück, als ärztlicherseits angenommen wurde.“31
              In einer im Dezember 1918 eingereichten Dissertation eines Oberarztes über die
              Erfahrungen mit der Grippe im Frühjahr bzw. Frühsommer an der Westfront hieß
              es: „durch die außerordentlich schnelle Ausbreitung war die Zahl der Erkrankten
              so erheblich angewachsen, dass des Öfteren die Gefechtstätigkeit vieler Truppen
              in Frage gestellt war“32. „Nachdem wir eine Woche in vorderster Linie gelegen
              hatten, mussten wir nochmals die Hauptwiderstandlinie besetzen, da unser Ab-
              lösungsbataillon durch die spanische Grippe fast ausgelöscht war. Auch von un-
              seren Leuten meldeten sich täglich mehrere krank. […] Doch erfuhren wir, dass
              sich die Seuche auch auf der Gegenseite mehr und mehr ausbreitete; allerdings
              waren wir infolge der schlechten Verpflegung anfälliger. Gerade die jungen Leu-
              te starben über Nacht hinweg“, schrieb Ernst Jünger in den „Stahlgewittern“ zur
              Situation Anfang Juli. Auf der Gegenseite stellte man Vermutungen über den Zu-
              sammenhang von Grippeepidemie und deutscher Offensivkraft an. Ein britischer
              Sanitätsoffizier notierte am 7. Juli in seinem Tagebuch: „Wonderful weather conti-
              nues and yet no renewal of the Boche offensive. Many theories – shortage of men?
              Internal trouble? An epidemic of 3-day fever?“33
                 Die OHL befragte am 30. Juni die für die letzte Offensive vorgesehenen drei
              deutschen Armeen, ob sie es wegen der Grippeepidemie für notwendig hielten,
              die Operationen um einige Tage hinter den ursprünglich für den 10. Juli anbe-
              raumten Angriffstermin zu verschieben. Zwei der drei befragten Großverbände
              plädierten dafür, trotz Grippe möglichst früh anzutreten. Lediglich die 7. Armee
              bat zunächst um einen dreitägigen Aufschub wegen der unter ihren Soldaten gras-
              sierenden Seuche. Sie revidierte diese Ansicht jedoch zwei Tage später, verlangte
              aber nun eine Verschiebung wegen Transportproblemen, sodass die Offensive
              gegen die französischen Stellungen letztlich nicht am 10., sondern am 15. Juli
              losbrach34. In der ersten Sitzung des Hauptausschusses des Reichstags nach der
              Sommerpause am 24. September 1918, in welcher Heeresspitze und Regierung
              die Vertreter der Parteien über die politische und militärische Lage informierten
              und für eine Fortführung des Krieges plädierten, wurde die Epidemie dafür mit-
              verantwortlich gemacht, dass die letzte deutsche Offensive an der Westfront vom
              15.–17. Juli gegen die Franzosen scheiterte. Die Krankheit sei auch der Grund
              für die Verzögerung der Operation gewesen. Dadurch hätten die französischen
              Streitkräfte, die um den bevorstehenden Angriff wussten, genug Zeit gehabt, ihre
              ersten, exponierten Linien zu räumen und den deutschen Vorstoß in der zwei-
              ten Linie aufzufangen35. Dieser Versuch, das Scheitern der letzten Westoffensive
              unter anderem der Grippe zuzuschreiben, zeugt von der verzweifelten Situation

              31
                   Erich Ludendorff, Meine Kriegserinnerungen, Berlin 1919, S. 514.
              32
                   Hans Lohse, Klinische Erfahrungen über das Auftreten der Grippe des Jahres 1918 im Be-
                   reich einer Armee des westlichen Kriegsschauplatzes, Diss. med., Kiel 1919, S. 7 f.
              33
                   Ernst Jünger, In Stahlgewittern, Stuttgart 452007, S. 296; Johnson, Aspects, S. 177.
              34
                   Vgl. Bundesarchiv (Hrsg.), Der Weltkrieg, Bd. 14, S. 441.
              35
                   Vgl. Der Hauptausschuß des Deutschen Reichstags 1915–1918, eingeleitet von Reinhard
                   Schiffers, bearb. von Reinhard Schiffers und Manfred Koch, Bd. 4: 191.–275. Sitzung 1918,
                   Düsseldorf 1983, S. 2293 f.
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Eckard Michels: Die „Spanische Grippe“ 1918/19 9

           der Heeresführung im Herbst 1918. Ihr war jede Ausrede recht, um sich der Ver-
           antwortung für die militärische Niederlage zu entziehen. Tatsächlich ließ sich die
           OHL in ihren Entscheidungen im Juni/Juli 1918 nicht durch die Grippe beirren.
              Anders sah es für die betroffenen Mannschaften aus. Die Erkrankungen hin-
           terließen eine anhaltende körperliche Schwäche nach dem eigentlichen Abklin-
           gen der Symptome36, sodass die Einwirkung der Grippe auf die physische Konsti-
           tution und Moral der Soldaten und damit auf die Kampfkraft stärker war, als es
           sich an der reinen Zahl der Krankmeldungen ablesen lässt37. Zudem kursierten
           viele Gerüchte und Vermutungen über Ursprung und Charakter der Krankheit
           nicht nur in den Schützengräben, sondern auch bei den zum Teil unerfahrenen
           jüngeren Truppenärzten. Auch das trug zur allgemeinen Verunsicherung bei.
           Sie äußerte sich beispielsweise darin, dass die Krankheit als „Sumpffieber“ oder
           „Noyon-Krankheit“ bezeichnet wurde. Die Soldaten machten unter anderem die
           schlechte Kost sowie sexuelle Abstinenz für die Krankheit verantwortlich38. Die-
           se psychologische Wirkung der Seuche betont ein vertrauliches Rundschreiben
           des Chefs des Heeressanitätswesens im Großen Hauptquartier. Generalarzt Otto
           von Schjerning ermahnte die nachgeordneten Sanitätsformationen, der Krank-
           heit nicht, wie bisher geschehen, zu viel Bedeutung beizumessen. Es handele sich
           nach bisherigen Beobachtungen eher um eine harmlose Erkrankung, die ohne
           ernstliche Gesundheitsschädigungen schnell vorübergehe. Es bestehe kein Anlass
           zur Beunruhigung39. Bereits im Vorfeld der Offensiven war von der militärischen
           Führung angeordnet worden, mit krankheitsbedingten Einweisungen von Solda-
           ten in Lazarette äußerst restriktiv zu verfahren. Einerseits werde jeder Mann ge-
           braucht, andererseits gebe es aber eine Tendenz in der Truppe, sich auf alle mög-
           lichen Arten dem Frontdienst zu entziehen und stattdessen einen Platz in einem
           der Lazarettzüge nach Deutschland zu ergattern40. So schrieb der an der Westfront
           dienende Dominik Richter über die Grippe: „Immer mehr Soldaten erkrankten
           und schlurften halbtot herum […]. Obwohl sie sich krank meldeten, kam kaum
           einer ins Lazarett, denn es hieß, es gebe keine Leichtkranken und Leichtverwun-
           deten mehr, nur noch Schwerverwundete und Tote.“41
              Die gemeldeten Grippefälle in den deutschen Armeen an der Westfront, die
           zudem auf einer sehr restriktiven Einweisungspolitik in die Krankenreviere ba-
           sierten, spiegeln also lediglich die quantitative Wirkung der Seuche wider, sagen
           aber nichts über ihre psychologische Wirkung auf die Moral der Truppe aus. Und
           in letzterer liegt die Bedeutung der ersten Grippewelle auf die deutschen Trup-

           36
                Vgl. Lohse, Klinische Erfahrungen, S. 10 u. S. 14; für die US-Army Byerly, Fever, S. 71 f.
           37
                Vgl. ebenda, S. 118–120.
           38
                Vgl. Lohse, Klinische Erfahrungen, S. 7; Samuel, Betrachtungen, S. 25.
           39
                BayHStA, HG Rupprecht, Bd. 58, Rundschreiben des Chefs des Heeressanitätswesens von
                Schjerning, 24. 6. 1918.
           40
                Heeressanitätsinspektion des Reichskriegsministeriums (Bearb.), Sanitätsbericht über das
                Deutsche Heer im Weltkriege 1914–1918, Bd. 2: Der Sanitätsdienst im Gefechts- und Schlach-
                tenverlauf im Weltkrieg 1914–1918, Berlin 1938, S. 755–757.
           41
                Dominik Richter, Beste Gelegenheit zum Sterben. Meine Erlebnisse im Kriege 1914–1918,
                München 1989, S. 83.
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10 Aufsätze

              pen an der Westfront im Frühsommer 1918: Die Frühjahrserkrankungen verei-
              telten nicht, wie von der militärischen Führung im Nachhinein behauptet, eine
              ansonsten womöglich erfolgreiche deutsche Offensive. Sie beschleunigten aber
              den ohnehin sich vollziehenden inneren Auflösungsprozess der deutschen Streit-
              kräfte. Denn sie steigerten die allgemeine Kriegsmüdigkeit und Erschöpfung un-
              ter den Soldaten. Die restriktive Handhabung der Krankmeldungen, die letztlich
              einer mangelnden Empathie für die Bedürfnisse der Soldaten gleichkam, konnte
              nur die Verbitterung der Mannschaften gegenüber ihren Vorgesetzten oder dem
              Militär als Gesamtinstitution verstärken. Damit erhöhte die Epidemie die Bereit-
              schaft, sich an dem „verdeckten Militärstreik“ der letzten Kriegsmonate, wie es
              Wilhelm Deist genannt hat42, zu beteiligen.
                 Durch Fronturlauber, Verwundeten- und Kriegsgefangenentransporte gelangte
              die Krankheit Anfang Mai ins Reich. Betroffen wurden zunächst die dortigen Gar-
              nisonen des Besatzungsheeres, deren Soldaten wiederum die Zivilbevölkerung
              infizierten. Unter dieser breitete sich die Krankheit seit Mitte Juni 1918 von Wes-
              ten nach Osten aus43. Seit den letzten Junitagen berichtete die deutsche Presse
              regelmäßig über den Fortgang der Grippeepidemie in Deutschland. So schrieb
              der Berliner Lokalanzeiger am 28. Juni, die „spanische Krankheit“, die eigentlich
              eine Influenza sei, habe Nürnberg erreicht. Am 3. Juli meldeten die Vossische Zei-
              tung und die Leipziger Volkszeitung jeweils die Ankunft der Seuche in Berlin bzw.
              Leipzig. Vereinzelt berichtete die Presse über Arbeitseinschränkungen bei Post,
              Eisenbahn und öffentlichem Nahverkehr. Die Presse klammerte jeden Hinweis
              auf Erkrankungen im Feldheer aus, denn nichts sollte die Öffentlichkeit hinsicht-
              lich des Fortgangs der Offensivoperationen an der Westfront beunruhigen. Der
              Grundtenor der Berichterstattung im Reich war beruhigend und abwiegelnd. Es
              wurde nach anfänglichem Rätseln über den Charakter der Krankheit in Spanien
              stets darauf hingewiesen, als die Epidemie erst einmal die Reichsgrenzen erreicht
              hatte, dass es sich bei ihr lediglich um Grippeerkrankungen handele, die fast
              immer einen gutartigen Verlauf nähmen. Von Todesopfern war nichts zu lesen44.
              Der Heidelberger Mediävist Karl Hampe schrieb am 5. Juli in sein persönliches
              „Kriegstagebuch“: „Hier ist jetzt die ‚spanische Krankheit‘ ziemlich verbreitet.
              Die biedere alte Grippe ist durch Aufenthalt im Ausland wieder interessanter ge-
              worden. Von erheblicher Bedeutung ist die Seuche nicht.“45
                 Die meisten Erkrankungen kamen in der Zivilbevölkerung und im Westheer
              in der ersten Julihälfte vor. Wie im Westheer unter den verschiedenen Verbän-
              den gab es allerdings ein großes regionales Gefälle in der Zahl der Erkrankungen.
              Manche Orte Preußens wie Düsseldorf, Hildesheim und Danzig blieben fast gänz-

              42
                   Wilhelm Deist, Der militärische Zusammenbruch des Kaiserreichs. Zur Realität der „Dolch-
                   stoßlegende“, in: Ders. (Hrsg.), Militär, Staat und Gesellschaft. Studien zur preußisch-deut-
                   schen Militärgeschichte, München 1991, S. 211–233, hier S. 230.
              43
                   BayHStA, Mkr 13790, Bericht über die Grippeepidemie des Jahres 1918 im Bereich des bay-
                   erischen Besatzungsheeres, 4. 6. 1919.
              44
                   So etwa das „Berliner Tageblatt“ vom 30. 6. und 3. 7. 1918 und die „Berliner Morgenpost“ vom
                   2. 7. 1918. Vgl. zum Presseecho auch Kordes, Spanische Grippe, S. 132 f.
              45
                   Karl Hampe, Kriegstagebuch 1914–1919, München 2004, S. 708.
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Eckard Michels: Die „Spanische Grippe“ 1918/19 11

           lich verschont, das Industrierevier an der Ruhr hingegen wurde stark von der Seu-
           che erfasst46. Auffallend war bereits während der ersten Welle, dass vor allem die
           jüngeren, physisch eigentlich resistentesten Jahrgänge erkrankten und nicht un-
           bedingt, wie bei normalen Grippewellen, ältere, geschwächte Menschen. Dieser
           Umstand wurde damals mit einer möglichen Immunität letzterer durch die drei
           Jahrzehnte zurückliegende Pandemie von 1889/90 erklärt47.
              Mögliche Zusammenhänge zwischen der Kriegssituation, insbesondere dem
           Mangel an Lebensmitteln, aber auch Medikamenten, Mitteln zur Körperpflege
           und Desinfektion, Kohlen zum Beheizen der Wohnungen oder geeigneter Klei-
           dung bei gleichzeitig schwerer Arbeit in den Rüstungsindustrien und der daher
           stark geschwächten Widerstandskraft der Bevölkerung wurden in der Presse (wie
           auch in den Behörden) ebenso wenig diskutiert wie das Ausmaß der Grippewelle.
           Vielmehr mieden die Zeitungen alle Hinweise darauf, dass es einen Zusammen-
           hang zwischen allgemeiner Versorgungssituation und Zustand der Volksgesund-
           heit geben könnte. Als Erklärung für die rasche Ausbreitung der Grippe bot die
           Presse stattdessen das relativ kühle und regnerische Juniwetter an. Im letzten Juli-
           Drittel verschwand das Thema wieder aus den Schlagzeiten.
              Der Reichsgesundheitsrat, ein Gremium von medizinischen Vertretern der
           Bundesstaaten zur Beratung der Reichsregierung, das im Jahre 1900 aufgrund
           des „Gesetzes über die Bekämpfung gemeingefährlicher Krankheiten“ gegrün-
           det worden war, trat wegen der Epidemie am 10. Juli 1918 in Berlin zusammen,
           obwohl Influenza nicht in diesem Gesetz aufgeführt war. Verwirrung stiftete bei
           den Fachleuten der Umstand, dass man bei den Untersuchungen der Erkrank-
           ten keineswegs immer im Sputum den sogenannten „Pfeiffer-Bazillus“ feststell-
           te. Richard Pfeiffer, ebenfalls Angehöriger des Reichsgesundheitsrats, Schüler
           von Robert Koch und in Breslau lehrender Bakteriologe, hatte diesen Bakteri-
           enstamm 1892 als vermeintlichen Auslöser der Grippe identifiziert. Dies war im
           Zuge einer durch die Entdeckungen Kochs regelrecht ausgelösten „Jagd“ nach
           Erregern von Infektionskrankheiten und in der Atmosphäre eines vorüberge-
           henden allgemeinen medizinischen Fortschrittsoptimismus geschehen, diesen
           Geißeln der Menschheit mittels der Bakteriologie bald Herr werden zu können48.
           Weder 1892 noch 1918 wusste man, dass Influenza nicht eine bakterielle, sondern
           eine Virusinfektion ist und damit die von Pfeiffer beschriebenen Bakterien nicht
           der Auslöser von Grippe sein konnten. Sie waren höchstens eine ihrer Begleiter-
           scheinungen. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts verfügte die Medizin noch nicht
           über Elektronenmikroskope, mit denen man im Vergleich zu Bakterien wesent-
           lich kleinere Viren als Krankheitserreger hätte identifizieren können. Erst 1933
           wurde schließlich der Influenzavirus entdeckt.

           46
                Vgl. Otto Peiper, Die Grippeepidemie in Preußen im Jahre 1918/19, Berlin 1920, S. 3.
           47
                Vgl. den Bericht der „Täglichen Rundschau“ vom 24. 7. 1918 über eine Diskussion zur Grippe
                auf einem „kriegsärztlichen Abend“ in Berlin.
           48
                Vgl. Christoph Gradmann, Krankheit im Labor. Robert Koch und die medizinische Bakterio-
                logie, Göttingen 2005, S. 14.
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                 Trotz des nicht immer möglichen Nachweises des „Pfeiffer-Bazillus“ einigte
              sich der Reichsgesundheitsrat aufgrund der beobachteten Krankheitssymptome
              darauf, dass es sich bei der Epidemie definitiv um Influenza handele, die aller-
              dings wesentlich harmloser sei als die letzte Epidemie von 1889/90. Es sei keines-
              falls, wie im Mai von der Presse zunächst kolportiert, eine neuartige „spanische
              Krankheit“. Es gebe weder wirksame präventive Schutzmaßnahmen gegen die An-
              steckungen, sodass seuchenpolizeiliche Maßnahmen sinnlos seien, noch Heilmit-
              tel gegen die Krankheit. Es sei den Erkrankten aber unbedingte Schonung anzu-
              raten, damit sie schnell wieder genesen könnten. Die Zeitungen sollten über die
              Sitzung des Reichsgesundheitsrats berichten, um die beruhigende Botschaft, es
              handele sich bei der Seuche nur um Grippe, sozusagen mit amtlichem Siegel ver-
              sehen einmal mehr verbreiten zu können49. Entsprechende Meldungen tauchten
              einige Tage später in den Zeitungen auf.
                 Die Zeitungen hielten sich in der Berichterstattung über die Frühjahrsgrip-
              pewelle, sobald diese die Reichsgrenzen erreicht hatte, an den Komment, keine
              Meldungen zu bringen, welche die deutsche Öffentlichkeit im vierten Kriegsjahr
              irgendwie hätten beunruhigen oder welche zu Spekulationen über einen Zusam-
              menhang zwischen dem Auftreten der Epidemie und der spezifischen Kriegssitu-
              ation hätten Anlass geben können. Die uniforme Berichterstattung resultierte aus
              der Zensur der Presse durch die Militärbehörden, die auf jeden Fall den „Burg-
              frieden“ aufrechterhalten und die Öffentlichkeit in Sicherheit wiegen sollte50. Sie
              war aber auch, wie die einen anderen Ton anschlagende Berichterstattung über
              die Herbstwelle zeigt, zu diesem Zeitpunkt noch Produkt einer Art Selbstzensur
              der Journalisten51 in der Phase der letzten Westoffensive und damit einer, aller-
              dings rasch schwindenden, Hoffnung auf einen baldigen, für Deutschland gün-
              stig ausfallenden Frieden. Diese letzte Kriegsanstrengung und der dafür nötige
              Konsens an der Heimatfront sollte nicht durch eine kritische oder sensationshei-
              schende Berichterstattung über die Grippe unterminiert werden.
                 Das Zusammentreffen dieser beiden fundamentalen Ereignisse: der Ausbruch
              der ersten weltweiten Grippeepidemie seit dreißig Jahren und ein Krieg in bisher
              ungekannten Ausmaßen brachte die Zeitgenossen dazu, einen kausalen Zusam-
              menhang zwischen beiden Ereignissen anzunehmen und Spekulationen über
              den Ursprung und das Ausmaß der Krankheit anzustellen. Das war nicht nur in
              Deutschland so. In den USA verdächtigte die Öffentlichkeit beispielsweise deut-
              sche Spione, die Krankheit eingeschleppt zu haben. Ferner geriet das Bayer-Pro-
              dukt Aspirin in den Ruf, von den Deutschen so manipuliert worden zu sein, dass
              es nun die Krankheit verursachte. In Westeuropa, aber auch in Südafrika gab es
              Vermutungen, dass der deutsche Giftgaseinsatz an der Westfront mit dem Auftre-

              49
                   BAB, R1501/11740, Protokoll der Besprechung des Reichsgesundheitsrats am 10. 7. 1918
                   vom 24. 7. 1918.
              50
                   Zur Pressezensur in Deutschland vgl. Martin Creutz, Die Pressepolitik der kaiserlichen Regie-
                   rung während des Ersten Weltkriegs. Die Exekutive, die Journalisten und der Teufelskreis der
                   Berichterstattung, Frankfurt a. M. 1996.
              51
                   So auch Hieronimus, Krankheit, S. 175, in Bezug auf die Presseberichterstattung über die
                   Grippe in Frankreich, Großbritannien und Deutschland.
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Eckard Michels: Die „Spanische Grippe“ 1918/19 13

           ten der Krankheit in Verbindung stehe. In Frankreich spekulierte die Presse, dass
           die Infektion entweder von deutschen U-Booten angelandet oder von Kriegsge-
           fangenen eingeschleppt worden sei52.
              Solche Verschwörungstheorien über die Seuche als ein vom Feind bewusst ver-
           ursachtes Unheil lassen sich für Deutschland nicht nachweisen. Für die deutsche
           Bevölkerung lag es hingegen nahe, die Gründe für das Auftreten der Grippeepi-
           demie in der Versorgungssituation zu suchen. Der Gesundheitszustand der Deut-
           schen hatte sich seit 1916 als Folge der britischen Seeblockade, des Fehlens von
           Arbeitskräften und Zugtieren durch die Einziehung zum Militär und der dadurch
           einhergehenden Minderung der Lebensmittelproduktion, durch die schlechte
           Ernte des Jahres 1916 und den harten Winter 1916/17 vor allem in den Städten
           rapide verschlechtert. Davon zeugte insbesondere die stark wachsende Zahl von
           Tuberkulose-Fällen. Selbst der Vormarsch harmloserer Hautkrankheiten wie der
           Bartflechte – die Barbiere hatten keinen Alkohol mehr zum Desinfizieren ihrer
           Rasierwerkzeuge – symbolisierten den allgemeinen Mangel und dessen gesund-
           heitliche Folgen53.
              Zwar veröffentlichten die Behörden in den Kriegsjahren bewusst keine Infor-
           mationen mehr über den Gesundheitszustand der Bevölkerung, um diese nicht
           zu beunruhigen. Vielmehr frohlockte die Presse seit 1914, dass die klassischen
           Kriegsseuchen der Vergangenheit: also Cholera, Pocken, Fleckfieber, Typhus
           und Ruhr, in diesem Konflikt dank der modernen Medizin erstmals keine Gefahr
           mehr darstellten54. Die Schönfärberei in der Presse, die auch den hygienisch-bak-
           teriologischen Fortschrittsoptimismus der damaligen Mediziner widerspiegelte,
           die den Krieg gleichsam als großes Laboratorium betrachteten55, verhinderte al-
           lerdings nicht, dass die Öffentlichkeit im vierten Kriegsjahr Spekulationen über
           den Zusammenhang von Versorgungssituation und nachlassender Volksgesund-
           heit anstellte. Bei Hampe hieß es Anfang Juni 1918: „Man hört jetzt viel, dass
           die dauernde Unterernährung ungünstig auf die Fruchtbarkeit von Frauen und
           Mädchen wirkt. Die Gebärmutter schrumpft und die Periode hört auf.“56 Im Mo-
           natsbericht für August über die Stimmung der Bevölkerung in Sachsen berichtete

           52
                Vgl. Crosby, Forgotten Pandemic, S. 217 (USA); Johnson, Aspects, S. 173 (Großbritannien
                und Südafrika); Hieronimus, Krankheit, S. 137 (Frankreich).
           53
                Vgl. Franz Bumm (Hrsg.), Deutschlands Gesundheitsverhältnisse unter dem Einfluss des
                Weltkrieges, 2 Bände, Stuttgart 1928. Zur Bartflechte Roger Chickering, The Great War and
                Urban Life in Germany. Freiburg 1914–1918, Cambridge 2007, S. 348.
           54
                So etwa zu Beginn des Krieges der Artikel des Mitarbeiters im Reichsgesundheitsamt Otto
                Lentz, Die Bekämpfung der Infektionskrankheiten unter Berücksichtigung der Verhältnis-
                se im Kriege und die Mitwirkung der Krankenkassen, in: Ortskrankenkasse (Zeitschrift des
                Hauptverbandes deutscher Ortskrankenkassen) 1 (1914), S. 386–394, oder der bekannte
                Berliner Bakteriologe August von Wassermann in einem Artikel vom 5. 3. 1916 im „Berliner
                Tageblatt“ mit dem Titel „Der Weltkrieg als Erprober der modernen Medizin“.
           55
                Vgl. Wolfgang Eckart, „Der größte Versuch, den die Einbildungskraft ersinnen kann“. Der
                Krieg als hygienisch-bakteriologisches Laboratorium und Erfahrungsfeld, in: Ders./Chris-
                toph Gradmann (Hrsg.), Die Medizin und der Erste Weltkrieg, Pfaffenweiler 1996, S. 299–
                319.
           56
                Hampe, Kriegstagebuch, S. 699.
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              das XIX. Armeekorps: „Infolge ungenügender Ernährung hat die Widerstands-
              fähigkeit der Bevölkerung recht nachgelassen. Die Leute können oft kaum noch
              ihre Arbeit verrichten. Jede an sich harmlose Krankheit macht sie arbeitsunfähig.
              Die Zahl der Fälle, in denen die Ärzte als Grund körperlichen Unbehagens Un-
              terernährung feststellen, mehren sich von Tag zu Tag. Dies muss naturgemäß die
              Unzufriedenheit noch steigern. Es erscheint deshalb erwägenswert, auf die Ärzte
              in geeigneter Form einzuwirken, dass sie mit solchen Äußerungen dem Kranken
              bzw. deren Umgebung gegenüber möglichst vorsichtig sind, weil dadurch die an
              sich schon vorhandene Erregung gesteigert wird.“57 Am 17. Oktober 1918, auf
              dem Höhepunkt der zweiten Grippewelle, schrieb das Kriegsernährungsamt
              an das Kaiserliche Gesundheitsamt, es kursierten in der Bevölkerung geradezu
              phantastische Angaben über die Krankheits- und Sterblichkeitsziffern als Folge
              der Ernährungssituation. Das Kriegernährungsamt bat daher den Adressaten, auf
              die Bevölkerung durch gegenteilige öffentliche Stellungnahmen beruhigend ein-
              zuwirken58.
                 Am 15. Juni war zudem eine weitere Kürzung der Brotrationen von den Be-
              hörden verkündet worden, die für weiteren Unmut sorgte. Die erste Grippewelle
              traf Deutschland ausgerechnet zu einem Zeitpunkt, als die Vorräte des Vorjahres
              auf dem Tiefpunkt angekommen waren, die neue Ernte hingegen noch nicht
              eingebracht war. Diese Periode war schon in den vorherigen Kriegsjahren stets
              stimmungsmäßig ein besonders kritischer Moment gewesen, in dem viele Ge-
              rüchte entstanden59. So konnte die erste Welle der spanischen Grippe von der
              Öffentlichkeit in Deutschland als weiteres Indiz für die sich rapide verschlech-
              ternde Volksgesundheit als Folge des allgemeinen Mangels angesehen werden.
              Andernfalls war es für sie schwer zu erklären, dass eine bislang eher als harmlos
              eingeschätzte, seit Jahrzehnten nicht mehr epidemisch aufgetretene Krankheit
              ausgerechnet nach vier Kriegsjahren und sich immer mehr verschärfenden Le-
              bensbedingungen solche Ausmaße annahm. In Frankfurt, wo statt durchschnitt-
              lich 2 500 bis 3 000 Kalorien pro Einwohner in der Vorkriegszeit mittlerweile nur
              noch 1 500 zur Verfügung standen und ein durchschnittlicher Gewichtsverlust
              der Bevölkerung in vier Jahren von 23 Prozent zu verzeichnen gewesen war, kur-
              sierten entsprechende Gerüchte. Im Ruhrgebiet wurde die Epidemie schlichtweg
              als „Hungerkrankheit“ bezeichnet60.
                 Gleichwohl ist in keinem der monatlichen Stimmungsberichte der stellvertre-
              tenden Generalkommandos zwischen Mai und Juli 1918 die erste Welle der spa-
              nischen Grippe explizit als Faktor aufgeführt, welcher die Stimmung in der Bevöl-
              kerung negativ beeinflusste oder sich als störendes Element für die wirtschaftliche
              Mobilisierung erwies. Das Gleiche gilt für die Lageeinschätzungen des Berliner

              57
                   BayHStA, Mkr 12852, Zusammenstellung der Monatsberichte der stellvertretenden General-
                   kommandos für den August 1918, 3. 9. 1918.
              58
                   BAB, R1501/109176.
              59
                   Vgl. Karl-Ludwig Ay, Die Entstehung einer Revolution. Die Volksstimmung in Bayern wäh-
                   rend des Ersten Weltkriegs, Berlin 1968, S. 182.
              60
                   Vgl. Fritz, Frankfurt, S. 16.
             ©Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte
                                                                                                   VfZ 1/2010
Jahrgang 58 (2010), Heft 1
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Eckard Michels: Die „Spanische Grippe“ 1918/19 15

           Polizeipräsidenten. Diese verzeichneten zwar ebenfalls für den Zeitraum zwischen
           Mai und Juli 1918 eine sich insgesamt verschlechternde Stimmung in der Bevöl-
           kerung durch die Lebensmittelknappheit, vor allem aber wegen des Ausbleibens
           sichtbarer Erfolge trotz der wiederholten Offensiven der deutschen Truppen an
           der Westfront61. Die Grippe war zu diesem Zeitpunkt lediglich ein, den Behörden
           allerdings nicht gesondert berichtenswertes Ereignis.
              In Wirklichkeit aber gab es, ganz im Gegensatz zur Vermutung der damaligen
           Öffentlichkeit (und einiger späterer Historiker)62, keine direkte Verbindung
           zwischen Morbidität und Mortalität der Grippe einerseits und der allgemeinen
           Versorgungssituation in Deutschland andererseits. Bei der zweiten Grippe-Welle
           im Herbst wurden die ländlichen Gebiete des Reichs, in denen die Lebensmit-
           telversorgung wesentlich besser war, ebenso stark von der Grippe heimgesucht
           wie die unter Hunger leidende Stadtbevölkerung63. Der Pathologe Carl Fahrig
           schrieb nach dem Ersten Weltkrieg, basierend auf seinen Erfahrungen bei der
           bayerischen militärärztlichen Akademie: „Die Bösartigkeit der Seuche hängt
           anscheinend nicht mit dem schlechten Stand der Ernährung im abgesperrten
           Deutschland zusammen, da die Grippe in der viel besser versorgten Schweiz noch
           ungünstiger verlief als bei uns. Der Ernährungszustand der von mir sezierten Sol-
           daten war durchschnittlich nicht schlecht, in einem Viertel der Fälle vorzüglich.“64
           Die Mediziner in Deutschland gingen davon aus, dass zwar die schlechte Ernäh-
           rungssituation in Deutschland nicht das Ansteckungsrisiko und die Schwere der
           Erkrankung beeinflusst, die Rekonvaleszenz aber hinausgezögert habe65. Schließ-
           lich belegt auch die Zahl der Grippe-Toten in der bestens ausgerüsteten und ver-
           pflegten US-Army, deren Rekruten einer rigorosen gesundheitlichen Überprü-
           fung unterworfen worden waren66, dass unzureichende Ernährung nicht einen
           schwereren Verlauf der Grippeepidemie nach sich zog. Von den vier Millionen
           1918 mobilisierten US-Soldaten starben 43 000 an Grippe, also etwa 1 Prozent der
           Eingezogenen. Von den rund acht Millionen deutschen Soldaten des Jahres 1918,
           welche wesentlich schlechter versorgt waren als die Amerikaner und zudem be-
           reits seit vier Jahren im Einsatz gestanden hatten, fielen dagegen 20 000 bis 25 000
           der Seuche zum Opfer, also etwa 0,3 Prozent67.

           61
                Vgl. Dokumente aus geheimen Archiven, Bd. 4: Berichte des Berliner Polizeipräsidenten zur
                Stimmung und Lage der Bevölkerung in Berlin 1914–1918, bearb. von Ingo Materna und
                Hans-Joachim Schreckenbach, Weimar 1987.
           62
                Wehler, Gesellschaftsgeschichte, Bd. 4, S. 232, schreibt, die Grippe habe die durch den Krieg
                geschwächte Bevölkerung Europas überfallen und dort 30 Millionen Tote [sic] gefordert.
           63
                GStA PK, I. HA Rep. 76 VIIIB, Bd. 3836, Bericht des Regierungspräsidenten in Breslau an
                den preußischen Minister des Innern, 7. 4. 1919.
           64
                Fahrig, Grippe, in: Aschoff (Hrsg.), Handbuch der ärztlichen Erfahrungen, Bd. 8, S. 145.
           65
                Vgl. Martin Hahn, Influenza, Genickstarre, Tetanus, Weil’sche Krankheit, in: Bumm (Hrsg.),
                Deutschlands Gesundheitsverhältnisse, Bd. 1, S. 329–351, hier S. 333.
           66
                Vgl. Byerly, Fever, S. 31f.
           67
                Für die US-Verluste vgl. Crosby, Forgotten Pandemic, S. 207; die deutschen Verluste nach
                H. Bogusat, Die Influenzaepidemie 1918/19 im Deutschen Reiche, in: Arbeiten aus dem
                Reichsgesundheitsamt 53 (1923), S. 443–466.
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Jahrgang 58 (2010), Heft 1
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