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Journal für Neurologie, Neurochirurgie und Psychiatrie www.kup.at/ JNeurolNeurochirPsychiatr Zeitschrift für Erkrankungen des Nervensystems Neuropsychologische und Homepage: psychiatrische Komorbiditäten bei www.kup.at/ Epilepsien JNeurolNeurochirPsychiatr Lehner-Baumgartner E Online-Datenbank mit Autoren- Journal für Neurologie und Stichwortsuche Neurochirurgie und Psychiatrie 2009; 10 (3), 30-38 Indexed in EMBASE/Excerpta Medica/BIOBASE/SCOPUS Krause & Pachernegg GmbH • Verlag für Medizin und Wirtschaft • A-3003 Gablitz P.b.b. 02Z031117M, Verlagsor t : 3003 Gablitz, Linzerstraße 177A /21 Preis : EUR 10,–
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Komorbiditäten bei Epilepsien Neuropsychologische und psychiatrische Komorbiditäten bei Epilepsien E. Lehner-Baumgartner Kurzfassung: Neuropsychologische Beein- Begleiterkrankung bei Epilepsie dar, zudem ist and severity as well as gender. (3) Functional trächtigungen stellen ein gravierendes Problem eine Depression ein Risikofaktor für das Neu- factors including antiepileptic drugs, psychiatric für viele Epilepsiepatienten dar und werden im Auftreten einer Epilepsie. Diese bidirektionale comorbidities as well the consequences of sei- Wesentlichen durch die 3 folgenden Faktoren Beziehung könnte durch gemeinsame Patho- zures and of interictal epileptiform discharges. verursacht und beeinflusst: (1) Morphologische mechanismen beider Erkrankungen erklärt wer- Psychiatric disorders (depression, psychosis, Faktoren – Lokalisation und Art der epileptoge- den. Obwohl das Vorliegen und der Schwere- and anxiety disorders) occur significantly more nen Läsion. Zudem können umschriebene Läsio- grad einer Depression die wichtigsten Prädikto- often in epilepsy patients as compared to nor- nen auch zu funktionellen Beeinträchtigungen in ren für die Lebensqualität bei Epilepsiepatien- mal controls and patients suffering from other von der Läsion entfernten Hirnregionen führen, ten darstellen, werden Depressionen bei Epilep- chronic diseases. Psychiatric disorders can oc- was durch eine Störung von funktionellen Netz- siepatienten unterdiagnostiziert und unterbe- cur either in a fixed temporal relationship with werken erklärt werden kann. (2) Klinische und handelt. Eine psychopharmakologische Behand- seizures (pre-ictal, ictal, and post-ictal psychiat- demographische Faktoren (Alter zu Erkrankungs- lung sollte bei Vorliegen einer Begleitdepres- ric disturbance) or can become manifest inde- beginn, Erkrankungsdauer, Anfallsfrequenz und sion unverzüglich initiiert werden, das epilepto- pendently from the seizures (interictal psychiat- -schwere, Geschlecht. (3) Funktionelle Faktoren gene Potenzial von Antidepressiva stellt dabei ric disturbance). Depression represents the most (antikonvulsive Medikation, allfällige psychiatri- ein vernachlässigbares Risiko dar. frequent psychiatric comorbidity in epilepsy pa- sche Komorbiditäten, Effekte von Anfällen und tients. On the contrary, depression is a risk fac- interiktale epileptiforme Entladungen). Psychia- Abstract: Neuropsychological and Psychi- tor for the development of new-onset epilepsy. trische Erkrankungen (Depressionen, Psychosen atric Comorbidities in Epilepsy. Neuropsy- This bidirectional relationship can be explained und Angststörungen) treten bei Epilepsiepatien- chological disturbances, which represent a ma- by common pathogenic mechanisms underlying ten signifikant häufiger auf als in der Allgemein- jor problem for many epilepsy patients, are both epilepsy and depression. Although depres- bevölkerung und als bei anderen chronischen Er- caused and influenced by 3 major mechanisms: sion represents the most important determinant krankungen. Psychiatrische Störungen können (1) morphological factors, i. e. localization and of quality of life, depression is under-diagnosed entweder in einer fixen zeitlichen Beziehung zu type of the epileptogenic lesion. Furthermore, und under-treated in epilepsy patients. Epilepsy den Anfällen auftreten (präiktale, iktale und circumscribed lesions can cause functional defi- patients with comorbid depression should be postiktale psychiatrische Störungen) oder sich cits in remote brain regions due to functional treated with antidepressant drugs at an early unabhängig vom Auftreten der Anfälle manifes- disturbances of neuronal networks. (2) Clinical stage. The epileptogenic potential of these drugs tieren (interiktale psychiatrische Störung). Die and demographic factors including age at sei- generally is negligible. J Neurol Neurochir Depression stellt die häufigste psychiatrische zure onset, disease duration, seizure frequency Psychiatr 2009; 10 (3): 30–8. Einleitung Tabelle 1: Psychiatrische Komorbidität bei Epilepsie. Aus [1]. Die hohe Prävalenz und klinische Bedeutung neuropsychologi- Epilepsie Allgemeinbevölkerung scher und psychiatrischer Komorbiditäten bei Epilepsiepati- enten sind in den vergangenen Jahren zunehmend als zentra- Depression 11–55 % 2–4 % les Problem der klinischen Epileptologie identifiziert worden. Angststörung 15–25 % 2,5–6,5 % Suizid 5–10 % 1–2 % So beeinträchtigen neuropsychologische Störungen Epilep- Psychose 2–8 % 0,5–0,7 % siepatienten oft mehr als die Anfälle. In einer repräsentativen Dissoziative Anfälle 1–10 % 0,1–0,2 % Umfrage zu kognitiven Beeinträchtigungen bei Epilepsie ADHD („Attention Deficit (Cognitive Function Survey), die vom International Bureau Hyperactivity Disorder“) 10–40 % 2–10 % for Epilepsy im Jahr 2004 an über 5000 Patienten durchge- führt wurde, fanden es 44 % der Patienten schwierig, etwas (Tab. 1). So findet man Depressionen in 11–55 %, Angst- Neues zu lernen und 45 % der Patienten charakterisierten sich störungen in 15–25 %, Psychosen in 2–8 %, ADHD („Atten- als in ihren Denkabläufen mäßig bis deutlich verlangsamt. Für tion Deficit Hyperactivity Disorder“) in 10–40 % und disso- viele Patienten war eine Verbesserung ihrer kognitiven Fähig- ziative Anfälle in 1–10 %. Die Suizidrate liegt bei Epilepsie- keiten das aus ihrer Sicht wichtigste Therapieziel. patienten bei 5–10 % [2–8]. Die psychiatrische Komorbidität bei Epilepsien ist signifikant höher als bei anderen chroni- Psychiatrische Erkrankungen treten bei Epilepsiepatienten schen Erkrankungen wie z. B. bei Asthma, Diabetes oder signifikant häufiger auf als in der Allgemeinbevölkerung Migräne [4, 9]. Dies lässt auf eine gemeinsame biologische Grundlage von psychiatrischen Erkrankungen und Epilepsien schließen [10–14]. Aus dem Institut für Klinische, Biologische und Differenzielle Psychologie, Universität Wien Korrespondenzadresse: Mag. Dr. phil. Eva Lehner-Baumgartner, Institut für Klini- Ziel der vorliegenden Übersicht ist eine kurze Zusammenfas- sche, Biologische und Differentielle Psychologie, Universität Wien, A-1010 Wien, sung der wichtigsten Aspekte der neuropsychologischen und Liebiggasse 5; E-Mail: eva.lehner-baumgartner@meduniwien.ac.at psychiatrischen Komorbiditäten bei Epilepsiepatienten. 30 J NEUROL NEUROCHIR PSYCHIATR 2009; 10 (3) For personal use only. Not to be reproduced without permission of Krause & Pachernegg GmbH.
Komorbiditäten bei Epilepsien lungsstörungen, zerebrovaskuläre Erkrankungen, Traumata, Tumoren oder Enzephalitiden zu neuropsychologischen Be- einträchtigungen führen, die dem ersten Anfall vorausgehen. Kognitive Defizite und epileptische Anfälle sind dann zwei unterschiedliche Symptome einer Grunderkrankung [21]. Aber auch bei Kindern und Erwachsenen mit neu diagnosti- zierten idiopathischen und kryptogenetischen Epilepsien, bei denen sich in der Kernspintomographie definitionsgemäß ein Normalbefund zeigt, konnten Beeinträchtigungen in prak- tisch allen kognitiven Dimensionen nachgewiesen werden. Zudem haben viele dieser Patienten bereits vor Beginn ihrer Erkrankung Schulschwierigkeiten und/oder zeigen Verhal- tensauffälligkeiten. Diese neuropsychologischen Störungen könnten somit Ausdruck der sich entwickelnden Epilepsie Abbildung 1: Ursachen für neuropsychologische Störungen bei Epilepsiepatienten bzw. des Prozesses der Epileptogenese sein [21, 23–25]. Neuropsychologische Komorbiditäten Die Frage, ob eine chronische Epilepsie zu einer progressiven neuropsychologischen Beeinträchtigung führt, wird in der Ursachen Literatur kontrovers diskutiert. Viele Epilepsiepatienten ha- Neuropsychologische Störungen bei Epilepsiepatienten wer- ben – wie oben erwähnt – bereits zu Beginn ihrer Erkrankung den im Wesentlichen durch die 3 folgenden Faktoren verur- neuropsychologische Beeinträchtigungen, die dann über die sacht und beeinflusst [15–22] (Abb. 1): ersten 5–10 Jahre relativ stabil bleiben. Im Langzeitverlauf • Morphologische Faktoren: Hier sind die Effekte von um- scheint die Progression von kognitiven Defiziten sehr lang- schriebenen strukturellen Läsionen (so genannte epilepto- sam und dem physiologischen Alterungsprozess parallel vor- gene Läsion, d. h. die strukturelle Läsion, die für die An- anzuschreiten [22, 26–28]. Eine erfolgreiche Therapie kann fallserkrankung ursächlich verantwortlich ist), von diffusen diese Progression grundsätzlich aufhalten oder umkehren. Hirnschädigungen und schließlich von epilepsiechirurgi- Allerdings ist festzuhalten, dass Epilepsiepatienten mit einem schen Eingriffen zu unterscheiden. Das neuropsychologi- niedrigeren kognitiven Ausgangsniveau demgemäß früher als sche Beeinträchtigungs-Profil wird dabei sowohl durch die die Allgemeinbevölkerung mit Gedächtnisproblemen kon- Lokalisation als auch die Art der epileptogenen Läsion (sta- frontiert sein werden [22]. In Populationsstudien konnte eine tionäre versus progressive Läsion) beeinflusst. Zudem kön- erhöhte Demenzrate bei Epilepsiepatienten nachgewiesen nen umschriebene Läsionen auch zu funktionellen Beein- werden [29, 30]. trächtigungen in von der Läsion entfernten Hirnregionen führen (z. B. frontale und laterale temporale Funktionsstö- rungen bei Patienten mit mesialer Temporallappenepilep- Neuropsychologische Befunde bei unterschied- sie), was durch eine Störung von funktionellen Netzwerken lichen Epilepsiesyndromen erklärt werden kann. Diffuse Hirnschädigungen können Im Folgenden sollen neuropsychologische Befunde bei eini- häufig zu Epilepsien und neuropsychologischen Störungen gen wichtigen Epilepsiesyndromen exemplarisch dargestellt führen. Schließlich müssen noch die neuropsychologischen werden. Effekte von epilepsiechirurgischen Eingriffen erwähnt wer- den, wobei insbesondere auf postoperative Gedächtnis- und Temporallappenepilepsien Sprachbeeinträchtigungen verwiesen sei. Die Temporallappenepilepsien (TLE) repräsentieren mit ca. • Klinische und demographische Faktoren: Hier sind das 60 % die größte Gruppe der fokalen Epilepsien. Patienten mit Alter zu Erkrankungsbeginn, die Erkrankungsdauer, die TLE leiden häufig an Gedächtnisstörungen. Bei der mesialen Anfallsfrequenz und -schwere und das Geschlecht zu er- TLE – der häufigsten Epilepsieform überhaupt – kommt es zu wähnen. Ein früher Erkrankungsbeginn, eine lange Epilep- strukturellen Veränderungen im Bereich des Hippokampus siedauer, häufige generalisierte tonisch-klonische Anfälle und des enthorhinalen Kortex, also in Schlüsselstrukturen für sowie rezidivierende Status epileptici sind dabei Risiko- das episodische deklarative Gedächtnis. Demgemäß bestehen faktoren für kognitive Beeinträchtigungen. bei Patienten mit linksseitiger mesialer TLE materialspezifi- • Funktionelle Faktoren: Dabei sind die Effekte der anti- sche Störungen des verbalen Gedächtnisses, wobei insbeson- konvulsiven Medikation, einer allfälligen psychiatrischen dere die langfristige Konsolidierung und der Abruf gestört Komorbidität sowie von Anfällen und interiktalen epilepti- sind. Bei Patienten mit rechtsseitiger mesialer TLE sind Be- formen Entladungen zu nennen. einträchtigungen des nicht-verbalen, visuellen Gedächtnisses wesentlich weniger konsistent festzustellen. Dies könnte einerseits durch verbale Kompensationsstrategien bei nicht- Neuropsychologische Störungen im zeitlichen verbalen Gedächtnisaufgaben sowie andererseits durch eine Verlauf räumlich ausgedehntere Repräsentation des nicht-verbalen Neuropsychologische Störungen können bereits vor Beginn Gedächtnisses erklärt werden. Patienten mit rechtsseitiger der Epilepsie bestehen. Naturgemäß können unterschiedliche mesialer TLE zeigten jedoch konsistente Einschränkungen in Ursachen von symptomatischen Epilepsien wie Entwick- Gedächtnis-Subfunktionen, wie z. B. im räumlichen Gedächt- J NEUROL NEUROCHIR PSYCHIATR 2009; 10 (3) 31
Komorbiditäten bei Epilepsien nis sowie in der Identifikation von berühmten Gesichtern. lappenepilepsien gefundenen Leistungsdefizite (verminderte Atypische neuropsychologische Befunde, wie z. B. eine Be- motorische Koordination und/oder Aufmerksamkeitsstörun- einträchtigung des nicht-verbalen Gedächtnisses bei Patien- gen und/oder Beeinträchtigungen in den Exekutivfunktionen ten mit linksseitiger TLE können durch einen so genannten und/oder eine globale Beeinträchtigung der kognitiven Leis- „Crowding“-Effekt erklärt werden, d. h. durch einen inter- tungsfähigkeit) kein charakteristisches Beeinträchtigungs- hemisphärischen Shift der Sprachrepräsentation werden ur- profil zeigen und häufig nur im Gesamtleistungsprofil inter- sprünglich rechtshemisphärisch repräsentierte Funktionen pretierbar sind [19, 20, 40–42]. zugunsten der verbalen Gedächtnisverarbeitung unterdrückt. Bei Patienten mit neokortikalen TLE finden sich Störungen Idiopathische generalisierte Epilepsien der Lernleistung und des Arbeitsgedächtnisses im Gegensatz Idiopathische generalisierte Epilepsien sind durch eine geneti- zu den Konsolidierungs- und Abrufstörungen bei Patienten sche Prädisposition und einen normalen Befund in der Mag- mit mesialer TLE. Dies unterstreicht die unterschiedlichen netresonanztomographie gekennzeichnet. Trotzdem können Funktionen von mesialen und neokortikalen Strukturen für auch bei diesen Patienten neuropsychologische Beeinträchti- Lern- und Gedächtnisprozesse [19, 20, 31–33]. gungen nachgewiesen werden. So zeigen sich bei Patienten mit juveniler myoklonischer Epilepsie diskrete Beeinträchti- Zudem finden sich bei Patienten mit TLE häufig Benenn- und gungen von Frontallappenfunktionen (u. a. in den Bereichen Wortfindungsstörungen. Beeinträchtigungen des visuellen Aufmerksamkeit, exekutive Leistungen, Arbeitsgedächtnis konfrontativen Benennens sprechen dabei für eine infero- und komplexe visuomotorische Funktionen), was in guter temporale Dysfunktion, Beeinträchtigungen des auditori- Übereinstimmung zu volumetrischen MR- und Spektroskopie- schen konfrontativen Benennens hingegen für eine zusätzlich Befunden steht, in denen ebenfalls frontale Veränderungen laterale temporale Dysfunktion [34]. nachgewiesen werden konnten. Ansonsten können bei Patien- ten mit idiopathischen generalisierten Epilepsien oft Normal- Neben diesen spezifischen neuropsychologischen Störungen befunde oder lediglich diskrete und unspezifische neuropsy- finden sich bei Patienten mit (mesialer) TLE häufig auch dif- chologische Leistungsdefizite gefunden werden [19, 43–46]. fuse und generalisierte kognitive Beeinträchtigungen, die nicht alleine durch eine hippokampale Funktionsstörung erklärt werden können [33, 35]. Diese Befunde stehen in guter Kognitive Beeinträchtigungen durch Antiepi- Übereinstimmung mit rezenten Neuroimaging-Studien, in leptika denen ausgedehnte extrahippokampale Veränderungen als Antiepileptika, die über eine Verminderung der bei der Epi- Ausdruck einer Netzwerkdysfunktion bei mesialer TLE doku- lepsie abnorm gesteigerten Exzitation wirken, können des- mentiert werden konnten. So zeigt sich in der PET ein ausge- halb auch zu einer Beeinträchtigung von physiologischen dehnter Hypometabolismus, der neben mesialen und lateralen Hirnfunktionen mit entsprechenden kognitiven Nebenwir- temporalen Strukturen auch den Thalamus, die Basalganglien kungen führen. Die negativen kognitiven Effekte der Anti- sowie den frontalen und parietalen Kortex erfasst [36, 37]. epileptika sind dabei im Allgemeinen wesentlich geringer als Der Hypometabolismus im Bereich des Thalamus korreliert die kognitiven Beeinträchtigungen im Rahmen der Epilepsie- dabei mit dem Ausmaß der Gedächtnisstörungen [38]. Wäh- erkrankung, können allerdings für die Patienten eine zusätzli- rend präfrontale Funktionen wie Aufmerksamkeit und Exeku- che kognitive Einschränkung bedeuten. Zumeist sind globale tivfunktionen bei Patienten mit mesialer TLE im Allgemeinen Funktionen, wie mentale und psychomotorische Geschwin- nicht beeinträchtigt sind, zeigen sich bei Patienten mit sekun- digkeit sowie Aufmerksamkeitsfunktionen betroffen. Gene- där generalisierten tonisch-klonischen Anfällen ein präfronta- rell erhöhen eine Polytherapie und hohe Dosen das Risiko für ler Hypometabolismus in der PET und korrespondierende kognitive Nebenwirkungen [47]. Störungen der Aufmerksamkeit und Exekutivfunktionen [39]. Volumetrische MR-Studien zeigten ausgedehnte extrahippo- Von den klassischen Antiepileptika zeigen Carbamazepin, kampale Veränderungen im Bereich des entorhinalen Kortex, Phenytoin und Valproinsäure geringe und vergleichbare kog- des Fornix, des Gyrus parahippocampalis, des Corpus amyg- nitive Nebenwirkungen in den Bereichen psychomotorische daloideum, der Basalganglien, des Thalamus, sowie tempora- Geschwindigkeit, Aufmerksamkeit, Lernen und Gedächtnis. ler und extratemporaler kortikaler Strukturen und des Zere- Das kognitive Nebenwirkungsprofil von Phenobarbital ist bellums. Korrelationen zwischen neuropsychologischen und etwas ungünstiger [47, 48]. strukturellen Befunden konnten dabei für eine Beeinträchti- gung der Verarbeitungsgeschwindigkeit und einer Volumen- Von den neuen Antiepileptika haben insbesondere Lamotri- reduktion der weißen Substanz sowie für eine Beeinträchti- gin, Levetiracetam, Gabapentin und Pregabalin ein günstiges gung des prozeduralen Gedächtnisses und einer zerebellären kognitives Nebenwirkungsprofil und verursachen weniger Atrophie nachgewiesen werden [22]. Durch diese Befunde kognitive Nebenwirkungen als die klassischen Antiepileptika muss somit das Konzept der MTLE von einer umschriebenen [49]. Topiramat hat von den neuen Antiepileptika das größte Hirnerkrankung zu einer ausgedehnten Erkrankung von zere- Risiko für kognitive Nebenwirkungen, wobei es hier auch zu bralen Netzwerken revidiert werden. spezifischen Funktionsstörungen mit negativen Auswirkun- gen auf die Sprachfunktionen (z. B. Wortflüssigkeit) kommen Frontallappenepilepsien kann [50, 51]. Dieses Risiko kann durch eine langsame Titra- Der komplexe anatomische und funktionelle Aufbau des tion und eine niedrige Dosierung signifikant vermindert wer- Frontallappens mit seinen zahlreichen neuronalen Vernetzun- den. Auch für Zonisamid wurden negative kognitive Effekte gen zu anderen Hirnstrukturen erklärt, warum die bei Frontal- beschrieben [52]. 32 J NEUROL NEUROCHIR PSYCHIATR 2009; 10 (3)
Komorbiditäten bei Epilepsien Neuropsychologie in der operativen Epilepsie- behandlung Bei Patienten mit fokalen, therapierefraktären Epilepsien be- steht die Möglichkeit einer epilepsiechirurgischen Behand- lung. In Abhängigkeit vom kognitiven Ausgangsstatus, dem Alter und der Operationsart können sich postoperative Defi- zite zeigen, die sowohl quantitativ als auch qualitativ über die bereits präoperativ beeinträchtigten Leistungen hinausgehen. Die Neuropsychologie kann über die Beschreibung der funk- tionellen Integrität der von der Epilepsie betroffenen bzw. nicht betroffenen Hirnregion prognostische Aussagen über die zu erwartende Leistungsentwicklung und Anfallskontrolle nach operativen Eingriffen treffen und ermöglicht dadurch die Qualitätskontrolle und -sicherung einer epilepsiechirurgi- schen Behandlung [31]. Abbildung 2: Zeitliche Beziehung psychiatrische Störung vs. epileptischer Anfall. Aus [1]. Durchführung neuropsychologischer Untersu- chungen im klinischen Setting Epilepsie und Depressionen Im Idealfall sollte bereits nach der Diagnosestellung und noch vor Beginn der antikonvulsiven Therapie eine neuropsycho- Epidemiologie logische Untersuchung (testpsychologische Leistungsdiag- Die Depression stellt die häufigste psychiatrische Begleit- nostik, psychopathologisches Screening und Verhaltensbeob- erkrankung bei Epilepsie dar. Die Häufigkeit von Depressio- achtung) durchgeführt werden, da nur so der Ausgangsstatus nen korreliert dabei mit der Anfallskontrolle: Sie liegt der kognitiven Funktionen erfasst werden kann. In den meis- zwischen 3 und 9 % bei gut kontrollierter Epilepsie, jedoch ten Fällen wird jedoch eine neuropsychologische Untersu- zwischen 20 und 55 % bei Patienten mit therapieresistenten chung erst dann angeordnet, wenn die Patienten oder deren Epilepsien [54]. Bei Epilepsiepatienten besteht eine im Ver- Angehörige über entsprechende Funktionsdefizite berichten gleich zur Allgemeinbevölkerung 5–10-fach erhöhte Suizid- oder wenn der Patient einer präoperativen Abklärung unterzo- rate [2, 6]. gen wird. Bei der Erhebung eines neuropsychologischen Sta- tus sollte darauf geachtet werden, dass die Untersuchung un- Umgekehrt belegen mehrere Studien, dass eine positive ter stabiler Medikation und Anfallssituation sowie in einem Anamnese für eine Depression einen signifikanten Risiko- ausreichenden zeitlichen Abstand zum letzten Anfall durch- faktor für das Neuauftreten einer Epilepsie darstellt [55, 56]. geführt wird, um so postiktale Defizite auszuschließen zu In einer rezenten Populationsstudie konnte nachgewiesen können. werden, dass eine positive Anamnese für eine Major Depres- sion das Risiko für das Auftreten von unprovozierten Anfäl- Es sollten grundsätzlich standardisierte psychologische und len um den Faktor 1,7 erhöht (95%iges Konfidenzintervall neuropsychologische Verfahren zum Einsatz kommen, die [CI]: 1,1–2,7). Zudem hatten Patienten nach einem Suizid- einerseits an Epilepsiepatienten normiert und validiert wur- versuch ein 5,1-fach erhöhtes Risiko, unprovozierte Anfälle zu den und andererseits die Voraussetzungen für die Durchfüh- erleiden (95%-CI: 2,2–11,5), dies auch nach Adjustierung für rung von Testwiederholungen erfüllen (Parallelformen). Eine die Kovariablen Alter, Geschlecht, kumulativer Alkoholkon- Zusammenstellung international häufig verwendeter Testver- sum, Major Depression und Symptome der Depression [57]. fahren findet sich bei Helmstaedter [17] und Jones-Gotman [53]. Gemeinsame Pathomechanismen von Epilepsie Psychiatrische Komorbiditäten und Depression Die bidirektionale Beziehung zwischen Epilepsie und De- Die Einteilung von psychiatrischen Störungen bei Epilepsie- pression könnte durch gemeinsame Pathomechanismen bei- patienten erfolgt gemäß ihrer zeitlichen Beziehung zu den epi- der Erkrankungen erklärt werden. Hier sind einerseits eine leptischen Anfällen und deren Behandlung (Abb. 2). So kön- veränderte serotoninerge, noradrenerge, dopaminerge und nen psychiatrische Störungen entweder in einer fixen zeitli- GABAerge Neurotransmission sowie andererseits struktu- chen Beziehung zu den Anfällen auftreten (man unterscheidet relle und funktionelle Veränderungen im mesialen Temporal- dabei präiktale, iktale und postiktale psychiatrische Störun- lappen, im orbitofrontalen Kortex und im Bereich subkorti- gen) oder sich unabhängig vom Auftreten der Anfälle mani- kaler Strukturen bei beiden Erkrankungen anzuführen [11]. festieren (interiktale psychiatrische Störung). In seltenen Fäl- len kommt es ausschließlich in Phasen der Anfallsfreiheit zu Für die Bedeutung einer veränderten serotoninergen, nor- psychiatrischen Störungen, während diese bei Wiederauftre- adrenergen, dopaminergen und GABAergen Neurotransmis- ten der Anfälle remittieren (alternative psychiatrische Stö- sion bei Epilepsie und Depression sprechen dabei die folgen- rung). Schließlich können psychiatrische Störungen auch den Befunde: durch Antiepileptika verursacht oder verschlechtert werden • Ein Tiermodell der so genannten „genetic epilepsy-prone [8]. rats“ (GEPR-3 und GEPR-9) ist durch eine angeborene Stö- J NEUROL NEUROCHIR PSYCHIATR 2009; 10 (3) 33
Komorbiditäten bei Epilepsien rung der prä- und postsynaptischen serotoninergen und Protonen-MR-Spektroskopie und dem Schweregrad einer noradrenergen Transmission gekennzeichnet. Klinisch be- Depression bei Patienten mit Temporallappenepilepsie stehen bei diesen Tieren akustisch ausgelöste generalisierte [69]. In einer rezenten Studie konnte eine signifikante posi- tonisch-klonische Anfälle und besonders bei den GEPR-9 tive Korrelation zwischen dem Volumen des Corpus amyg- ein deutlich beschleunigtes Kindling. Zudem zeigen die daloideum und dem Schwergrad einer begleitenden Depres- Tiere endokrine Störungen ähnlich wie depressive Patien- sion bei Patienten mit Temporallappenepilepsie nachgewie- ten (u. a. erhöhte Kortisolspiegel, mangelnde Sekretion von sen werden [70]. Wachtumshormonen sowie eine Hypothyreose). Während • Bei Patienten mit positiver Depressionsanamnese konnten Substanzen, die die serotoninerge und noradrenerge Trans- in der Phase der Remission verminderte Volumina der Hip- mission beeinträchtigen, eine Anfallsexazerbation nach pokampusformationen nachgewiesen werden [71], wobei sich ziehen, führen Substanzen, die die serotoninerge sich eine signifikante Korrelation zwischen dem Hippo- Transmission verbessern (selektive Serotonin-Wiederauf- kampusvolumen und der Depressionsdauer zeigte [72]. Die nahmehemmer [SSRI]) zu einer Reduktion der Anfalls- Entwicklung einer Hippokampusatrophie konnte durch die frequenz [11, 58, 59]. Gabe von Antidepressiva verhindert werden, was auf einen • Verschiedene Antiepileptika (Carbamazepin, Valproin- neuroprotektiven Effekt von Antidepressiva hinweist [73]. säure, Lamotrigin) wirken auch serotoninerg. Zudem kann Als pathogenetische Mechanismen für die Entwicklung ei- bei GEPR der antikonvulsive Effekt von Carbamazepin ner Hippokampusatrophie bei Depressionen werden einer- durch eine Serotonin-Depletion blockiert werden [60, 61]. seits eine erhöhte Glukokortikoid-Exposition durch exzes- • Der antikonvulsive Wirksamkeit der Vagus-Nerv-Stimula- sive Aktivierung der Hypothalamus-Hypophysen-Neben- tion (VNS) wird wahrscheinlich durch eine Aktivierung nierenachse diskutiert, wie sie bei nahezu der Hälfte der von noradrenergen Neuronen im Locus coeruleus vermittelt Patienten mit Depressionen gefunden werden [74]. Im Tier- [62, 63]. Dieser Mechanismus dürfte auch für die anti- experiment konnte eine Schädigung hippokampaler Neuro- depressiven Effekte der VNS verantwortlich sein [59]. nen unter prolongierter Glukokortikoid-Exposition nachge- • In klinischen Studien konnte bei Patienten mit Temporal- wiesen werden [75]. Zudem könnte die Hippokampus- lappenepilepsie mittels des Serotonin-Rezeptor-Liganden atrophie auch über den Brain-Derived Neurotrophic Factor [11C]WAY-100 635 in der Positronenemissions-Tomogra- (BDNF) vermittelt werden. BDNF ist ein neuronaler phie (PET) eine reduzierte Serotonin-Bindung im Hippo- Wachstumsfaktor, der über Protein-Tyrosin-Kinase-Rezep- kampus und Corpus amygdaloideum ipsilateral zum epilep- toren (TrkA, TrkB, TrkC und p75) eine vermehrte Neuro- tischen Fokus nachgewiesen werden, und zwar auch bei genese bewirkt [59]. Akuter und chronischer Stress führen normalem MRT und FDG-PET. Eine reduzierte Bindung zu einer Konzentrationsabnahme des BDNF im Gyrus zeigte sich auch im anterioren Gyrus cinguli, im Inselkortex dentatus, der Pyramidenzellschicht des Hippokampus, im und im lateralen temporalen Kortex ipsilateral zum epilepti- Corpus amygdaloideum und im Neokortex und in weiterer schen Fokus, sowie im kontralateralen Hippokampus und in Folge zu einer Hippokampusatrophie [76]. Die chronische den Raphé-Kernen, d. h. in den Projektionsgebieten des Applikation von Antidepressiva kann die durch Stress ver- epileptischen Hippokampus. Zudem fand sich eine signifi- ursachte Abnahme von BDNF verhindern [77]. In Post- kante negative Korrelation zwischen der Serotonin-Bin- mortem-Untersuchungen konnte bei depressiven Patienten dung im ipsilateralen Gyrus cinguli und den Montgomery- unter antidepressiver Medikation eine erhöhte BDNF- Åsberg-Depression Scores [64]. Immunoreaktivität im mesialen Temporallappen nachge- wiesen werden [78]. Sowohl bei Epilepsien als auch bei Depressionen finden sich • Patienten mit einer neu diagnostizierten Epilepsie und einer strukturelle und funktionelle Veränderungen im mesialen positiven Anamnese für eine Depression haben eine 2,27- Temporallappen, im orbitofrontalen Kortex und im Bereich fach geringere Chance, unter einer antiepileptischen Thera- subkortikaler Strukturen: pie anfallsfrei zu werden als Patienten ohne eine Depression • Die mesiale Temporallappenepilepsie ist die häufigste Epi- in der Anamnese [79]. Zudem stellt eine anamnestisch zu lepsieform überhaupt, das pathologisch-anatomische Sub- erhebende Depression einen negativen Prognosefaktor für strat ist die mesiale Temporallappensklerose (MTS), die Anfallsfreiheit nach einem epilepsiechirurgischen Eingriff durch eine Hippokampusatrophie mit selektivem Pyrami- dar [80, 81]. Diese Studien legen nahe, dass eine Depression denzellverlust im CA1-Sektor und Prosubiculum, gefolgt zu einer Augmentation von neuropathologischen Verände- von einem Zellverlust im CA4-Sektor (Hilus), im CA3- rungen bei der Temporallappenepilepsie führt sowie nega- Sektor und im Gyrus dendatus charakterisiert ist, während tive Effekte auf den Verlauf und die Behandelbarkeit einer der CA2-Sektor und das Subiculum nicht betroffen sind Epilepsie besitzt [13]. [65, 66]. Patienten mit mesialer Temporallappenepilepsie • Bei Temporallappenepilepsie mit einer begleitenden De- zeigen signifikant höhere Depressionsscores als Patienten pression findet man im FDG-PET einen verminderten orbi- mit neokortikalen temporalen Läsionen [67]. Bei Patienten tofrontalen Glukosemetabolismus [82, 83]. Zudem konnten mit rechtsseitiger mesialer Temporallappenepilepsie ergab in SPECT- und PET-Studien ein verminderter regionaler sich eine negative Korrelation zwischen dem Volumen des zerebraler Blutfluss und ein verminderter Glukosemetabo- linken Hippokampus und den Depressionsscores, d. h. Pati- lismus im präfrontalen Kortex und im anterioren Gyrus enten mit rechtsseitiger mesialer Temporallappenepilepsie cinguli nachgewiesen werden [84]. Quantitative MRI-Stu- und Depression haben einen kleineren linken Hippokampus dien zeigten signifikante Volumenverminderungen medial [68]. Zudem besteht eine signifikante Korrelation zwischen orbitofrontal im Bereich des Gyrus rectus [85]. In guter dem Ausmaß von hippokampalen Veränderungen in der Übereinstimmung dazu fanden sich bei älteren depressiven 34 J NEUROL NEUROCHIR PSYCHIATR 2009; 10 (3)
Komorbiditäten bei Epilepsien Patienten Volumenverminderungen im anterioren Gyrus Tabelle 2: Epilepsie und Psychosen. Aus [1]. cinguli, im Gyrus rectus und im orbitofrontalen Kortex • Iktale Psychosen [86]. Schließlich konnte in Post-mortem-Untersuchungen bei depressiven Patienten eine verminderte Kortexdicke, ein reduziertes Volumen der Neurone, sowie verminderte • Postiktale Psychosen • Alternativpsychosen } episodische Psychosen (zeitlicher Bezug zum Anfall) chronische Psychosen (kein neuronale und gliale Zelldichten in den Schichten II–IV des • Interiktale Psychosen ⇒ zeitlicher Bezug zum Anfall) rostralen orbitofrontalen Kortex nachgewiesen werden. Im kaudalen orbitofrontalen Kortex waren die gliale Zelldichte und das Volumen der Neurone in den Schichten V–VI ver- leptogene Potenzial von Antidepressiva ein vernachlässig- mindert. Zudem zeigte sich im dorsolateralen präfrontalen bares Risiko darstellt [54, 59]. Kortex eine verminderte neuronale und gliale Zelldichte in den supra- und infragranulären Schichten [87]. Epilepsie und Psychosen Epidemiologie Diagnostik von Depressionen bei Epilepsie- Die Prävalenz psychotischer Störungen bei Epilepsiepatien- patienten ten liegt zwischen 2 und 8 %. Die Einteilung der epileptischen Das Vorliegen und der Schweregrad einer Depression sind die Psychosen erfolgt gemäß ihrem zeitlichen Bezug zum epilep- wichtigsten Prädiktoren für die Lebensqualität von Epilepsie- tischen Anfall (Tab. 2). Dabei können so genannte episodi- patienten und für die Lebensqualität entscheidender als die sche Psychosen (iktale, postiktale und Alternativpsychosen), Anfallsfrequenz [88–90]. Dies unterstreicht die Notwendig- die in einem fixen zeitlichen Bezug zum Anfallsgeschehen keit einer frühzeitigen Diagnose und Behandlung. stehen, und chronische Psychosen (interiktale Psychosen) ohne zeitlichen Bezug zu den Anfällen unterschieden werden Dennoch werden Depressionen bei Epilepsiepatienten unter- [7, 96–99]. diagnostiziert und -behandelt: So waren in einer Studie 60 % der Epilepsiepatienten mit Depressionen für mehr als ein Jahr symptomatisch, bevor eine Behandlung indiziert wurde [91]. Iktale Psychosen Hierfür können folgende Gründe angeführt werden: Iktale Psychosen stellen die klinische Manifestation eines • Die Patienten dissimulieren ihre Depressivität aus Angst nicht-konvulsiven Status epilepticus (einfach fokaler Status, vor weiterer Stigmatisierung. komplex fokaler Status oder Absencenstatus) dar. Die Symp- • Psychiatrische Symptome werden bei Epilepsiepatienten tomatik besteht in Wahnvorstellungen, illusionären Verken- nicht systematisch erhoben. Gemäß einer Umfrage der nungen, Halluzinationen, zudem können auch affektive Symp- „American Academy of Neurology“ befragen nur 7 % der tome wie panische Angst und depressive Verstimmungen so- Neurologen ihre Epilepsiepatienten routinemäßig hinsicht- wie fluktuierende Bewusstseinsstörungen, Automatismen lich des Vorliegens von depressiven Symptomen [92]. und Lidmyoklonien auftreten. Das EEG liefert den entschei- • Patienten und Ärzte interpretieren die Symptome einer denden diagnostischen Beitrag [96–98]. Depression als normale Reaktion bzw. Adaptation an eine chronische Erkrankung. • Depressionen präsentieren sich bei Epilepsiepatienten oft Postiktale Psychosen atypisch und erfüllen nicht die Kriterien einer Major De- Postiktale Psychosen, die 25 % der epileptischen Psychosen pression. Blumer [93] prägte hierfür den Begriff der „inter- repräsentieren, sind durch psychotische und affektive Symp- iktalen dysphorischen Störung“ (IDS), die durch ein chro- tome (paranoide Wahninhalte) charakterisiert, die nach einer nisch verlaufendes intermittierendes Bild wechselnder dem Anfallsereignis folgenden, längstens 7 Tage andauern- heterogener affektiver Symptomatik und die folgenden den symptomfreien Periode auftreten (luzides Intervall). Die 8 Schlüsselsymptome gekennzeichnet ist: labile depressive Symptomatik stellt dabei nicht nur eine Aggravierung des vor Symptome (depressive Stimmung, Anergie, Schmerzen, dem Anfallsereignis bestehenden psychiatrischen Status oder Insomnie), labile affektive Symptome (Phobie, Angst) der Persönlichkeit dar und ist nicht durch andere medizinisch- sowie spezifische Symptome (paroxysmale Irritabilität, psychiatrische Ursache erklärbar (z. B. Drogenintoxikation, euphorische Stimmungen). Kanner [94] betonte den chroni- metabolische Entgleisung, etc.). Das Bewusstsein ist nicht schen Verlauf mit symptomfreien Intervallen und prägte wesentlich beeinträchtigt (wie etwa beim Delir), die Symp- den Begriff der „dysthymic-like disorder of epilepsy“. tome sind zeitlich limitiert und dauern üblicherweise Tage, • Die typischen Nebenwirkungen von Antiepileptika (z. B. selten Wochen an [96–98, 100]. Konzentrationsstörungen, Müdigkeit, Schlafstörungen etc.) sowie neuropsychologische Störungen im Rahmen der Epi- lepsie (z. B. Gedächtnisstörungen) können die Diagnose Alternativpsychosen einer Depression bei Epilepsiepatienten erschweren. Des- Unter Alternativpsychose (Synonym: forcierte Normalisie- halb wurde kürzlich ein speziell konzipierter Fragebogen rung, paradoxe Normalisierung) versteht man eine inverse zur Diagnose von Depressionen bei Epilepsiepatienten Beziehung zwischen Anfallskontrolle bzw. Normalisierung (Neurological Disorders Depression Inventory for Epilepsy des EEGs einerseits und psychotischen Symptomen ande- [NDDI-E]) erarbeitet [95]. rerseits. Landolt [101] beschrieb erstmals das Auftreten von • Angst vor Anfallsexazerbation durch Verabreichung von psychotischen Episoden bei Normalisierung des EEGs und Antidepressiva, wobei hier betont werden soll, dass das epi- prägte hierfür den Begriff der „forcierten Normalisierung“. J NEUROL NEUROCHIR PSYCHIATR 2009; 10 (3) 35
Komorbiditäten bei Epilepsien Tellenbach [102] erweiterte das Konzept auf die Manifesta- Tabelle 3: Epilepsie und Angststörungen. Aus [1]. tion von Psychosen bei Anfallsfreiheit – womit die Notwen- digkeit einer EEG-Untersuchung umgangen wurde – und Präiktale Angst – Prodromalphase mit Angst Stunden bis Tage vor einem Anfall führte hierfür den Begriff der „Alternativpsychose“ ein. Wolf und Trimble [103] schlugen den Begriff „paradoxe Normali- Iktale Angst sierung“ vor. – Epileptische Aktivität im Corpus amygdaloideum, im anterioren Gyrus cinguli, im orbitofrontalen und präfrontalen Kortex Heute wird eine Alternativpsychose definiert durch eine – Höheres Risiko für interiktale Angststörungen Verhaltensstörung mit akutem/subakutem Beginn begleitet Postiktale Angst von einer Denk- und Wahrnehmungsstörung, einer signifi- – Angst nach einem Anfall, Dauer: Stunden bis Tage kanten Änderung der Affektivität (Depression oder Manie), Interiktale Angst sowie einer Angststörung mit Ich-Störung oder dissoziativen – Angst im Rahmen einer Komorbidität von Angsterkrankung Symptomen, die im Zusammenhang mit einer 50%igen Ab- und Epilepsie nahme der Zahl der interiktalen Spikes im EEG im Vergleich – Angst als iatrogen verursachte Komorbidität (Nebenwirkung der antiepileptischen oder epilepsiechirurgischen Therapie) zum Vorbefund oder mit einer kompletten Anfallsfreiheit von – Angst als psychologische/psychodynamische Reaktion auf die mindestens einer Woche (berichtet durch einen Außenstehen- Tatsache, an Epilepsie erkrankt zu sein den) auftritt [104, 105]. Alternativpsychosen sind selten, sie machen 1 % der epilepti- men einer Komorbidität von Angsterkrankung und Epilepsie; schen Psychosen aus [98]. Die Pathomechanismen sind un- Angst als iatrogen verursachte Komorbidität (Nebenwirkung klar, wobei u. a. ein exzessiver Dopamineffekt verantwortlich der antiepileptischen oder epilepsiechirurgischen Therapie); gemacht wurde [106]. Andere Autoren postulieren eine Rolle Angst als psychologische/psychodynamische Reaktion auf des Kindling-Phänomens in der Pathogenese von Alternativ- die Tatsache, an Epilepsie erkrankt zu sein [109–111]. psychosen [104]. Risikofaktoren für Angststörungen bei Epilepsien sind neuro- biologische Faktoren (Temporallappenepilepsie, epilepto- Interiktale Psychosen gene Zone im Bereich des rechten Temporallappens, hohe Bei den interiktalen Psychosen, die 20 % der epileptischen Anfallsfrequenz sowie schwere Anfälle), pharmakologische Psychosen ausmachen, manifestieren sich die psychotischen Faktoren (Beeinträchtigungen im Stoffwechsel von Norepi- Symptome zeitlich unabhängig vom Anfallsgeschehen. Nur nephrin, Dopamin, Serotonin, GABA, ACTH und Neuropep- 50–70 % der Patienten erfüllen die diagnostischen Kriterien tid Y) sowie psychosoziale Faktoren (Angst als psychologi- einer Schizophrenie, insbesondere besteht keine Negativ- sche Reaktion auf die Anfälle und deren Unvorhersehbarkeit, symptomatik (Apathie, Affektverflachung, Anhedonie etc.), Einschränkungen im Alltagsleben, vermindertes Selbstwert- die Persönlichkeit und die interpersonellen Beziehungen blei- gefühl, Stigma, soziale Ausgrenzung) [109–111]. ben erhalten. Illusionäre Verkennungen, religiöse Anmu- tungserlebnisse und paranoid-halluzinatorische Symptome Schlussfolgerungen stehen im Vordergrund. Insgesamt ist die Symptomatik mil- der und der Verlauf günstiger als bei einer Schizophrenie [97, Kognitive Beeinträchtigungen stellen ein gravierendes Pro- 98]. Dies konnte auch in einer rezenten prospektiven Studie blem für viele Epilepsiepatienten dar und werden im Wesent- bestätigt werden, in der Epilepsiepatienten mit interiktalen lichen durch 3 Faktoren verursacht und beeinflusst: (1) Mor- Psychosen und Schizophreniepatienten hinsichtlich Psycho- phologische Faktoren (epileptogene Läsion, diffuse Hirn- pathologie und Krankheitsverlauf systematisch verglichen schädigungen, epilepsiechirurgische Eingriffe). Das neuro- wurden [107]. Die Epilepsiepatienten wiesen in der negativen psychologische Beeinträchtigungs-Profil wird dabei sowohl Subskala der Positive and Negative Syndrome Scale (PANSS) durch die Lokalisation als auch die Art der epileptogenen Lä- signifikant niedrigere Werte auf als die Schizophreniepatien- sion beeinflusst. Zudem können umschriebene Läsionen auch ten. Die Ansprech- und Remissionsraten nach einer Beobach- zu funktionellen Beeinträchtigungen in von der Läsion ent- tungszeit von einem Jahr waren bei den Epilepsiepatienten fernten Hirnregionen führen, was durch eine Störung von höher als bei den Schizophreniepatienten, ebenso waren die funktionellen Netzwerken erklärt werden kann. (2) Klinische erforderlichen Neuroleptika-Dosen signifikant niedriger. und demographische Faktoren (Alter zu Erkrankungsbeginn, Erkrankungsdauer, Lateralisation und Lokalisation der epi- Angststörungen leptogenen Zone, Anfallsfrequenz und -schwere, Geschlecht). (3) Funktionelle Faktoren (antikonvulsive Medikation, allfäl- Die Prävalenz von Angststörungen bei Epilepsiepatienten lige psychiatrische Komorbidität, Anfälle, interiktale epilep- liegt zwischen 15 und 25 % [8, 108]. Angststörungen bei tiforme Entladungen). Neben den kognitiven Defiziten sollen Epilepsiepatienten können wie folgt klassifiziert werden aber auch die vorhandenen Ressourcen aufgezeigt und gezielt (Tab. 3): Präiktale Angst (Prodromalphase mit Angst Stunden genutzt werden, um die psychosoziale und sozioökonomische bis Tage vor einem Anfall), iktale Angst (verursacht durch Situation des individuellen Patienten optimieren zu können. epileptische Aktivität im Corpus amygdaloideum, im anterio- ren Gyrus cinguli, im orbitofrontalen und präfrontalen Kor- Psychiatrische Störungen bei Epilepsie besitzen eine signifi- tex), postiktale Angst (Angst nach einem Anfall für die Dauer kant höhere Prävalenz als in der Allgemeinbevölkerung und von Stunden bis Tagen) und interiktale Angst (Angst im Rah- bei anderen chronischen Erkrankungen. Umgekehrt stellen 36 J NEUROL NEUROCHIR PSYCHIATR 2009; 10 (3)
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