Genetik depressiver Störungen - Übersichtsarbeit
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Zeitschrift für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie, 36 (1), 2008, 27–43 Übersichtsarbeit Genetik depressiver Störungen Gerd Schulte-Körne und Antje-Kathrin Allgaier Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie, Klinikum der Universität München Zusammenfassung: Depressive Störungen gehören weltweit zu den häufigsten psychiatrischen Erkrankungen, die die psychische und psycho- soziale Entwicklung der Erkrankten nachhaltig beeinflussen. Meist beginnen die Erkrankungen im Kindes- und Jugendalter. Anhand der Symp- tomatik, des Verlaufs und der Ursachen werden unipolare Depressionen von bipolaren Störungen, die durch depressive und manische Erkran- kungsphasen gekennzeichnet sind, unterschieden. Für die Entstehung dieser Erkrankungen spielen genetische Faktoren eine entscheidende Rolle. Familien- und Zwillingsstudien konnten das erhöhte Erkrankungsrisiko von Kindern in betroffenen Familien und die hohe Heritabilität, insbesondere von bipolaren Störungen, eindrücklich nachweisen. Die Suche nach prädisponierenden Krankheitsgenen mittels Kopplungs- und Assoziationsanalysen konnte in den vergangenen Jahren beachtliche Fortschritte erzielen. Insbesondere das s-Allel des Serotonintransporter- gens wurde wiederholt als Risikofaktor bestätigt. Meta-Analysen deuten allerdings auf relativ begrenzte Effekte einzelner Gene hin. Neben genetischen Komponenten sind Umweltfaktoren maßgeblich an der Krankheitsgenese beteiligt: Bei unipolaren Depressionen wird die Erkrankungswahrscheinlichkeit bei entsprechender genetischer Disposition wesentlich durch protektive oder pathogene Umweltfaktoren im Sinne einer engen Gen-Umwelt-Interaktion moduliert. Schlüsselwörter: Unipolare Depression, bipolare Störung, Genetik, Gen-Umwelt-Interaktion Summary: The genetics of depressive disorders Among the most common severe psychiatric disorders worldwide, depressive disorders are a leading cause of morbidity, the onset usually oc- curring during childhood or adolescence. Symptomatology, prevalence, outcome and treatment differentiate depressive disorder nosologically as being either unipolar depression or bipolar disorder, which is characterized by one or more episodes of mania with or without episodes of depression. Genetic factors decisively influence the susceptibility to depressive disorders. Family studies and twin studies have been essential in defin- ing the magnitude of familial risk and liability to heritability, particularly in the case of bipolar disorder. In recent years, linkage and associa- tion studies have made great strides towards identifying candidate genes. Particularly the s-allele of the serotonin transporter has been repeat- edly confirmed to be a risk factor. Meta-analyses suggest, however, that the genetic contributions of the ascertained loci are relatively small. Along with genetic factors, environmental factors are heavily involved. Gene-environment action plays a pivotal role, particularly in unipo- lar depression. The genetic disposition seems to be modulated by a protective or pathogenic environment. Early-onset disorders must be further investigated in future as studies to date are somewhat limited. Keywords: unipolar depression, bipolar disorder, genetics, gene-environment interaction Hintergrund Schwere der Erkrankungsphasen sowie dem Krankheits- verlauf. Es werden unipolare Erkrankungen, in deren Ver- Depressive Störungen gehören zu den häufigsten psychia- lauf ausschließlich depressive Episoden auftreten, von bi- trischen Erkrankungen der gesamten Lebensspanne, die in polaren Erkrankungen, die durch das Vorliegen von umfassender Weise Kinder, Jugendliche und Erwachsene in depressiven und manischen Krankheitsphasen charakteri- ihrem Fühlen, Denken, Erleben und Handeln beeinträchti- siert sind, unterschieden. Kernsymptome depressiver Epi- gen. Einer Schätzung der Weltgesundheitsorganisation zu- soden nach ICD-10 sind gedrückte Stimmung, Freudlosig- folge gehören depressive Störungen hinsichtlich Mortalität keit und Interessenverlust sowie eine Verminderung des und Funktionseinschränkungen nach dem Herzinfarkt zu Antriebs mit eingeschränkter Aktivität. Weitere häufige den zweithäufigsten Erkrankungen weltweit (vgl. z.B. Mur- Symptome sind kognitive Störungen sowie multiple soma- ray & Lopez, 1997). tische Beschwerden (Tab. 1). Diese Kriterien gelten gleicher- Im ICD-10 und DSM-IV werden verschiedene Formen maßen für depressive Erkrankungen in der Adoleszenz und depressiver Störungen voneinander abgegrenzt, basierend im Erwachsenenalter (Lewinsohn et al., 2003; Lewinsohn auf spezifischen Symptomkonstellationen, der Dauer und et al., 1998), im Kindesalter sind altersspezifische Aus- DOI 10.1024/1422-4917.36.1.27 Z. Kinder-Jugendpsychiatr. Psychother. 36 (1), © 2008 by Verlag Hans Huber, Hogrefe AG, Bern
28 Schulte-Körne, G. und Allgaier A.-K.: Genetik depressiver Störungen Tabelle 1 Symptomatologie depressiver und manischer Episoden Depressive Episode Manische Episode Affektstörung Affektstörung • Gedrückte Stimmung / Traurigkeit • Gehobene (oder gereizte) Stimmung • Freudlosigkeit • Deutlicher Stimmungswechsel • Angst Antriebsstörung Antriebsstörung • Verminderte Aktivität • Aktivitätssteigerung • Interessenverlust • Rededrang • Ermüdbarkeit • Vermindertes Schlafbedürfnis • Riskantes Verhalten, Hemmungslosigkeit • Verlust sozialer Hemmungen Kognitive Störungen Kognitive Störungen • Formale Denkstörungen (Denkhemmung, Verlangsamung) • Formale Denkstörungen (Ideenflucht, Gedankenjagen) • Gefühle von Wertlosigkeit • Größenideen • Selbstunsicherheit • Überhöhte Selbsteinschätzung • Konzentrationsstörungen • Zukunftsangst • Grübeln, Todes- und Suizidgedanken Somatische Beschwerden • Schlafstörungen (Ein-, Durchschlafstörungen, frühmorgendliches Erwachen) • Appetitverlust (oder -steigerung) • Entsprechende Gewichtsveränderung • Libidoverlust • Vegetative Beschwerden (Kopf-, Bauchschmerzen, Verdauungsstörungen) drucksformen entsprechend zu berücksichtigen. Häufig ist Im Gegensatz zu depressiven Störungen zeichnen sich das klinische Bild einer Depression bei Kindern durch aus- manische Episoden durch gehobene oder gereizte Stim- geprägte Ängstlichkeit gekennzeichnet; diese kann auch der mung und eine Steigerung des Antriebsniveaus aus. Typi- Entwicklung einer depressiven Störung vorausgehen oder sche Merkmale sind überhöhte Selbsteinschätzung, Rede- als eigenständige komorbide Erkrankung neben der De- drang, Verlust sozialer Hemmungen und ein vermindertes pression bestehen (Kovacs et al., 1989; Williamson et al., Schlafbedürfnis (Tab. 1). Neben diesen Merkmalen sind im 2005). Weitere Symptome, die im Kindesalter auf eine mög- Kindes- und Jugendalter Stimmungsschwankungen, ein ge- liche depressive Erkrankung hinweisen können, sind ver- steigertes Energieniveau, Hyperaktivität und erhöhte Ab- stärkte Irritierbarkeit, Agitation oder eine mürrisch-reizba- lenkbarkeit häufige erste Symptome (Kowatch et al., 2005). re dysphorische Stimmung (Sonnenmoser, 2007). In Erkrankungen, in deren Verlauf ausschließlich manische Abgrenzung zu vor allem in der Pubertät häufigen Stim- Episoden auftreten, sind äußerst selten, typisch ist die bi- mungsschwankungen sind klinisch relevante depressive polare Störungsform mit einem Wechsel manischer und Störungen durch ihre Intensität, Dauerhaftigkeit und feh- depressiver Episoden. Sind die manischen Episoden hier- lende emotionale Reagibilität gekennzeichnet; sie führen bei stark ausgeprägt, wird nach DSM-IV eine Bipolar I-Stö- zu deutlichen funktionellen Einschränkungen und stellen rung klassifiziert, im Falle schwächerer, hypomaner For- eine Veränderung gegenüber dem prämorbiden Verhalten men eine Bipolar II-Störung. dar (Zalsman et al., 2006a). Diese Kriterien spiegeln sich Unipolare Erkrankungsverläufe sind häufiger als bipo- im Klassifikationssystem der ICD-10 wider: Ausschlagge- lare. Die Punktprävalenz unipolarer depressiver Störungen bend für die Diagnosestellung des häufigsten Subtyps der beträgt ca. 5% (Alonso et al., 2004; Wittchen et al., 2000), unipolaren Depression, der depressiven Episode, ist das die Lebenszeitprävalenz wird auf 14–18% geschätzt (Alon- Vorhandensein von mindestens 4 von insgesamt 10 Krite- so et al., 2004; Kessler et al., 2005), wobei Frauen doppelt rien über eine Dauer von mindestens 2 Wochen (Rem- so häufig betroffen sind wie Männer. Studien jüngeren Da- schmidt et al., 2006). Als weiterer häufiger Subtyp davon tums, möglicherweise bedingt durch den Einsatz sensitive- abzugrenzen ist die Dysthymie: Sie ist durch eine etwas rer diagnostischer Kriterien und Instrumente, zeigen eine leichter ausgeprägte Symptomatik gekennzeichnet, die je- Tendenz zur Zunahme depressiver Erkrankungen, insbe- doch über einen Zeitraum von mindestens zwei Jahren an- sondere in jüngeren Altersgruppen (Alonso et al., 2004; Bir- dauert. maher et al., 1996; Wittchen, 2000). Z. Kinder-Jugendpsychiatr. Psychother. 36 (1), © 2008 by Verlag Hans Huber, Hogrefe AG, Bern
Schulte-Körne, G. und Allgaier A.-K.: Genetik depressiver Störungen 29 Bereits im Kindesalter liegt die Punktprävalenzrate änderungen der Neurotransmission in den serotonergen, nor- depressiver Störungen bei ca. 1–3% (Fleming & Offord, adrenergen und dopaminergen Neurotransmittersystemen. 1990), in der Adoleszenz nimmt die Prävalenz auf das Dop- Eine Auslenkung der Balance dieser Neurotransmittersys- pelte zu (Lewinsohn et al., 1998). Bis zum Eintritt in die teme entsteht auf der Basis prädisponierender genetischer Pubertät sind Mädchen und Jungen in etwa gleich häufig Faktoren (Maier et al., 2000; Merikangas et al., 2002), Per- betroffen, ab der Adoleszenz beträgt das Verhältnis von sönlichkeitsfaktoren wie z.B. erhöhter Angstneigung, Neu- Frauen zu Männern ca. 2:1 (Angold et al., 1998; Cohen et rotizismus und Introversion und belastenden Faktoren wie al., 1993; Reinherz et al., 1993). z.B. einer frühen Traumatisierung durch Misshandlung und Für bipolare Erkrankungen werden eine Punktprävalenz sexuellen Missbrauch. Die Interaktion von genetischer Prä- von ca. 1% und ein Lebenszeitrisiko von 1–4% angenom- disposition und Umweltfaktoren ist, wie aktuelle Studien men (Kessler et al., 2005). Im Unterschied zur unipolaren zeigen, ein gut validiertes Ursachenmodell (Abb. 1). Depression sind Männer und Frauen in etwa gleich häufig betroffen. Sowohl unipolare als auch bipolare Störungen weisen einen episodischen Krankheitsverlauf mit großer in- terindividueller Variabilität auf, wobei bipolare Störungen Genetik sich tendenziell durch häufigere Krankheitsphasen aus- zeichnen. Etwa 10–30% der Patienten mit affektiven Er- krankungen entwickeln einen chronischen Erkrankungs- Familienstudien verlauf (Keller, 1994; Wolfersdorf & Heindl, 2003), ca. 15% versterben durch Suizid (Guze & Robins, 1970). Das Risi- Die familiäre Häufung des Auftretens depressiver Erkran- ko eines ungünstigen Krankheitsverlaufs mit höherem kungen ist heute auf breiter Basis belegt (Tab. 2): Im Ver- Schweregrad und häufigeren Rezidiven ist größer, wenn de- gleich zur Allgemeinbevölkerung haben Verwandte de- pressive Störungen sich erstmalig bereits im Kindes- und pressiver Patienten ein etwa drei- bis fünffach erhöhtes Jugendalter manifestieren (Dunn & Goodyer, 2006; Leve- Risiko, selbst an einer Depression zu erkranken (Farmer et rich et al., 2007; Mondimore et al., 2006). Dies entspricht al., 2000; Weissman et al., 2006; Weissman et al., 2005). Befunden einer stärkeren genetischen Belastung bei Early- Familiengenetische Untersuchungen seit den 60er-Jahren Onset Störungen (Levinson, 2006; Todd & Botteron, 2002). haben dazu beigetragen, unipolare und bipolare Erkran- kungsformen voneinander zu unterscheiden (Angst, 1966; Leonhard, 1959; Perris, 1966). Liegt eine unipolare Störung Ätiopathogenese vor, steigt das Erkrankungsrisiko überwiegend für unipola- re Depressionen. Bei Patienten mit einer bipolaren depres- Für die Ätiologie depressiver Störungen wird heute allge- siven Erkrankung besteht jedoch für Verwandte ersten und mein ein multifaktorielles Modell postuliert, in welches zweiten Grades eine höhere Wahrscheinlichkeit sowohl für verschiedene Einflussfaktoren in unterschiedlicher Ge- bipolare als auch für unipolare Depressionen. Das gehäuf- wichtung eingehen. Gut repliziert sind die Befunde zu Ver- te Auftreten unipolarer Depressionen in Familien von Pa- Genetische Umweltfaktoren Gen-Umwelt- Prädisposition Interaktion Psychosoziale Intermediierende Systeme: Organische Faktoren: Traumata, Faktoren Verlusterlebnisse, (Hirnerkrankung, chronische Neurobiochemische (Serotonin, Noradrenalin, körperliche Überlastung, Stress Allgemein- Dopamin) und neuroendokrinologische erkrankung, Korrelate (Cortisol) Substanzen) Persönlichkeitsvariablen Depressive Symptomatik Abbildung 1: Multifaktorielles Modell der Ätiopathogenese depressiver Erkrankungen. Z. Kinder-Jugendpsychiatr. Psychother. 36 (1), © 2008 by Verlag Hans Huber, Hogrefe AG, Bern
Tabelle 2 30 Familiäre Häufung affektiver Störungen Studie Probanden Verwandte ersten Grades Verwandte zweiten Grades Rende et al., 2007 438 Kinder und Jugendliche mit BP-I Betroffene mit Ersterkrankungsalter < 12 J Betroffene mit Ersterkrankungsalter (N = 255), BP-II (N = 30) oder BP-NNB (Gruppen 1 und 2) hatten signifikant häufiger < 12 J (Gruppen 1 und 2) hatten signifikant (N = 153), mindestens ein Familienmitglied mit häufiger mindestens ein Familienmitglied unterteilt nach Alter und Ersterkrankungsalter: depressiver Erkrankung: mit depressiver Erkrankung 72,9% bzw. 84,6% (Gruppen 1 bzw. 2), 76,4% bzw. 72,6% (Gruppen 1 bzw. 2), Gruppe 1: Alter und EEA < 12 J (N = 192) 63,1% (Gruppe 3) 59,4% (Gruppe 3) Gruppe 2: Alter ≥ 12 J, EEA < 12 J (N = 136) Kein signifikanter Unterschied bezüglich Manie: Kein signifikanter Unterschied bezüglich Gruppe 3: Alter und EEA ≥ 12 J (N = 110) 37,5% vs. 38,2% vs. 26,9% für Gruppen 1–3 Manie: 41,3% vs. 33,9% vs. 30,7% für Gruppen 1–3 Hirshfeld-Becker et al., 2006 Kinder von Eltern mit BPD (Gruppe 1: N = 34), BP-I in Gruppe 1 signifikant häufiger: Kinder von Eltern mit Panikstörung oder MD 5,9% vs. 0,0% vs. 0,0% (Gruppen 1–3) (Gruppe 2: N = 179) und Kinder von Eltern ohne affektive Störung oder Angststörung Keine signifikanten Unterschiede bzgl. MD (Gruppe 3: N = 95) Mondimore et al., 2006 638 Patienten mit RD (EEA < 31 J), Wahrscheinlichkeit für chronischen Verlauf Gruppe 1: chronischer Verlauf: N = 226 für Verwandte von Gruppe 1 signifikant erhöht Gruppe 2: Kein chronischer Verlauf: N = 412 (37,8% vs. 20,2%; OR: 2,52), und 1085 Verwandte ersten Grades mit MD insbesondere bei frühem EEA (< 13 J) in Gruppe 1 steigt das Risiko einer chronischen Depression für die Verwandten (OR: 6,17) Weissman et al., 2006 Prospektive Längsschnittstudie über 20 J: Erkrankungsraten innerhalb des Katamnese- Jugendliche mit Eltern mit MD zeitraums für MD in Gruppe 1 signifikant erhöht: (Gruppe 1: N = 101) Gruppe 1: MD: 65%, DYS: 31%, BP-I/BP-II: 14% Jugendliche mit Eltern ohne MD Gruppe 2: MD: 27%, DYS: 24%, BP-I/BP-II: 0% (Gruppe 2: N = 50) Z. Kinder-Jugendpsychiatr. Psychother. 36 (1), © 2008 by Verlag Hans Huber, Hogrefe AG, Bern Weissman et al., 2005 3-Generationenstudie (gleiches Sample wie Die Assoziation zwischen elterlicher und Weissman et al., 2006): kindlicher Depression wird stark dadurch 161 Enkelkinder und ihre Eltern und Großeltern moduliert, ob mindestens ein Großelternteil Gruppe 1: Großeltern ohne MD, Eltern ohne MD von MD betroffen ist: Gruppe 2: Großeltern ohne MD, Eltern mit MD Diagnosehäufigkeiten der Enkelgeneration: Gruppe 3: Großeltern mit MD, Eltern ohne MD Schulte-Körne, G. und Allgaier A.-K.: Genetik depressiver Störungen Gruppe 4: Großeltern mit MD, Eltern mit MD Gruppe 1: MD: 8,6%, DYS: 2,9% Gruppe 2: MD: 0,0%, DSY: 0,0% Gruppe 3: MD: 6,7%, DYS: 3,3% Gruppe 4: MD: 18,3%, DYS: 15,5%
Tabelle 2 Familiäre Häufung affektiver Störungen (Fortsetzung) Lieb et al., 2002 2427 jugendliche Teilnehmer der Studie Die Gruppen 2 bzw. 3 weisen gegenüber «Early Developmental Stages of Gruppe 1 ein signifikant erhöhtes Risiko Psychopathology»: auf für MD (OR: 2,5 bzw. 2,8), DYS Gruppe 1: Kein Elternteil mit MD (OR: 2,9 bzw. 3,9) und BP-I (OR 3,2 bzw. 5,7) Gruppe 2: Ein Elternteil mit MD Gruppe 3: Beide Elternteile mit MD Depressionsraten der Jugendlichen: Gruppe 1: MD: 12,3%, DYS: 1,8%, BP-I: 1,0% Gruppe 2: MD: 26,1%, DYS: 5,3%, BP-I: 3,2% Gruppe 3: MD: 28,5%, DYS: 6,8%, BP-I: 5,7% Depression der Eltern ist mit geringerem EEA und schlechterem Verlauf bei den Kindern assoziiert (Schweregrad, Beeinträchtigung, Episodenzahl) Geller et al., 2001 10-Jahres-Katamnese von Kindern mit MD Signifikant erhöhte Raten für MD sowie für BP-I (N = 72) und gesunden Kontrollen (N = 28) und BP-II, d.h. häufiger Wechsel von unipolarer zu bipolarer Depression im Erkrankungsverlauf: MD: 36,1% vs. 14,3% BP-I : 33,3% vs. 0,0% BP-II: 15,3% vs. 7,1% Zubenko et al., 2001 81 Erwachsene Probanden mit early-onset Lebenszeitprävalenzen Verwandte ersten Grades: Lebenszeitprävalenzen RD (≤ 25 J) MD: 37,8%, BP-I: 2,5%, BP-II: 2,5% entferntere Verwandte und deren Verwandte ersten Grades (N = 407) MD: 18,4%, BP-I: 1,2%, BP-II: 0,8% sowie entferntere Verwandte (N = 835: Verwandte zweiten (N = 780), dritten (N = 43) und vierten Grades (N = 12)) Kovacs et al., 1997 125 Kinder mit affektiver early-onset Störung: Familien mit betroffenen Kindern Verwandte zweiten Grades: N = 99 mit MD/DYS: Gruppe 1 (Gruppen 1 und 2) haben ein um den Gruppe 1: MD: 22,1%, RD: 11,4%, N = 26 mit BP-I/BP-II: Gruppe 2 Faktor 5 erhöhtes Risiko, dass mindestens Manie: 2,0% N = 55 psychiatrische Kontrollen: Gruppe 3 ein Familienmitglied von einer Gruppe 2: MD: 22,9%, RD: 5,7%, und deren Verwandte ersten (N = 362) und Lifetime-MD betroffen ist (OR: 5,1) Manie: 4,2% zweiten Grades (N = 1022) Gruppe 3: MD: 20,8%, RD: 6,6%, Verwandte ersten Grades: Manie: 1,0% Schulte-Körne, G. und Allgaier A.-K.: Genetik depressiver Störungen Gruppe 1: MD: 53,7%, RD: 24,7%, Manie: 4,8% Gruppe 2: MD: 70,8%, RD: 33,3%, Manie: 6,5% Gruppe 3: MD: 44,2%, RD: 17,3%, Manie: 6,3% Williamson et al., 1995 76 Jugendliche mit MD und ihre Verwandten Die Lifetimeraten für MD sind signifikant erhöht Keine signifikante Erhöhung der Raten ersten (N = 228) und zweiten (N = 736) Grades, (25% vs. 13%; OR: 2,2), kein Unterschied für MD oder Manie 34 gesunde Kontrollen mit Verwandten ersten bzgl. manischen Erkrankungen (N = 107) und zweiten (N = 323) Grades Z. Kinder-Jugendpsychiatr. Psychother. 36 (1), © 2008 by Verlag Hans Huber, Hogrefe AG, Bern 31
32 Schulte-Körne, G. und Allgaier A.-K.: Genetik depressiver Störungen tienten mit bipolarer Erkrankung legt den Schluss nahe, dass beide Erkrankungsformen gemeinsame genetische Ursa- chen teilen. Faktoren, die das Erkrankungsrisiko beeinflussen, sind der Schweregrad und das Ersterkrankungsalter. Eine Form des Schweregrades ist der rezidivierende Verlauf, der häu- fig mit einer erhöhten familiären Belastung einhergeht (Sul- Verwandte zweiten Grades livan et al., 2000; Zubenko et al., 2001). Die Bedeutung des Erkrankungsalters zeigte sich bei bipolaren Störungen. So fanden Rende et al. (2007), dass Probanden mit einem Be- ginn der bipolaren Störung vor dem 12. Lebensjahr signi- fikant häufiger eine positive Familienanamnese für depres- sive Erkrankungen hatten. Außerdem war die Häufigkeit von Angststörungen, Aufmerksamkeitsdefizitstörungen bzw. Hyperaktivität, Substanzabhängigkeit und Suizidalität bei Verwandten ersten Grades signifikant gegenüber den Fa- milienmitgliedern von Probanden mit Erkrankungsbeginn (65% vs. 37%), kein signifikanter Unterschied Erkrankte Kinder hatten signifikant häufiger häufiger an MD (63% vs. 34%) und an BPD jenseits des 12. Lebensjahres erhöht. Mütter betroffener Kinder litten signifikant (8% vs. 0%), die Väter unterschieden sich Die Mehrzahl der Familienstudien untersucht die fami- eine positive Familienanamnese für MD liäre Häufung bei erwachsenen Patienten, die an einer De- pression erkrankt sind. Nachdem in den letzten Jahren die hinsichtlich BPD (13% vs. 5%) steigende Zahl von Kindern und Jugendlichen, die eine depressive Störung entwickeln, bekannt wurde, werden zu- Verwandte ersten Grades nehmend auch Kinder betroffener Eltern untersucht (siehe Tab. 2). diesbezüglich nicht Kinder mit einem betroffenen Elternteil erkranken häu- fig früher an einer depressiven Störung (unipolare Depres- sion und bipolare Störung) und sind meist schwerer be- troffen im Vergleich zu Kindern nicht-erkrankter Eltern. Sind beide Eltern betroffen, steigt das Risiko weiter (Lieb et al., 2002, vgl. Tab. 2). Ein chronischer Verlauf dieser früh beginnenden depressiven Erkrankungen bis ins Erwachse- nenalter ist wahrscheinlich (Wickramaratne et al., 2000). Hirshfeld-Becker et al. (2006) untersuchten Kinder von Eltern mit bipolarer Erkrankung. Bereits im Alter von 7 Jah- 63 stationär behandelte Kinder mit MD, ren war die Rate bipolarer Erkrankungen bei den Kindern erhöht. Ferner erhöhte die Erkrankung der Eltern das Risi- ko für unipolare Depressionen, das gesamte Spektrum der 63 psychiatrische Kontrollen Angststörungen und für ADHS bei den Kindern. Familiäre Häufung affektiver Störungen (Fortsetzung) Zwillingsstudien Neben Familienstudien zeigen vor allem Zwillingsstudien Probanden die Bedeutung genetischer Faktoren für depressive Störun- RD: Rezidivierende depressive Störung gen. Als gesichert kann heute gelten, dass die Heritabilität bipolarer Erkrankungen deutlich höher ist als bei unipola- ren Erkrankungen. Studien jüngeren Datums ermittelten für NNB: Nicht näher bezeichnet bipolare Störungen Konkordanzraten zwischen 40 und 70% EEA: Ersterkrankungsalter BPD: Bipolare Depression BP-II: Bipolar II-Störung MD: Majore Depression für monozygote und zwischen 5 und 10% für dizygote Zwil- BP-I: Bipolar I-Störung linge (Cichon & Rietschel, 2007; Maier, 2004), die Herita- Weller et al., 1994 bilität liegt zwischen 70–90% (Craddock & Forty, 2006). DYS: Dysthymie OR: Odds Ratio Das bedeutet, dass der genetische Anteil, der individuelle Phänotypenunterschiede erklärt, um ein Vielfaches höher Tabelle 2 ist als der Anteil von Umweltfaktoren. J: Jahre Studie Für unipolare Depressionen werden Konkordanzraten von 23–50% bei monozygoten und 14–37% bei dizygoten Z. Kinder-Jugendpsychiatr. Psychother. 36 (1), © 2008 by Verlag Hans Huber, Hogrefe AG, Bern
Tabelle 3 Zwillingsstudien Studie Probanden: N und Alter Phänotyp Konkordanzrate Heritabilität Kendler et al., 2006 15 493 männliche, weibliche und gemischt- MD Tetrachorische Korrelationen: Frauen: 42% geschlechtliche Zwillingspaare, w-w: MZ = 0.44, DZ = 0.16 Männer: 29% Swedish Twin Registry, m-m: MZ = 0.31, DZ = 0.11 Jahrgänge 1900–1958 m-w: DZ = 0.11 Kieseppä et al., 2004 26 gleichgeschlechtliche Zwillingspaare, BP-I MZ = 43%, DZ = 6% 93% Jahrgänge 1940–1957 McGuffin et al., 2003 67 Paare, 30 MZ, 37 DZ: BPD, BPD und UPD BPD: MZ = 40%, DZ = 5,4% BPD: 85% 177 Paare, 68 MZ, 109 DZ: UPD UPD: MZ = 44,1%, DZ = 20,2% UPD: 72% Glowinski et al., 2003 1708 weibliche, jugendliche Zwillingspaare, MD 12–14 J: MZ = 10%, DZ = 0% Frauen: 40,4% 55% MZ, 45% DZ, 15–16 J: MZ = 21%, DZ = 27% Alter: 12–23 J, M: 15,5 J, SD: 2,4 J 17–18 J: MZ = 33%, DZ = 17% ≥ 19 J: MZ = 45%, DZ = 13% Cardno et al., 1999 49 gleichgeschlechtliche Zwillingspaare, Manie MZ: 36,4%, DZ: 7,4% 84% 22 MZ, 27 DZ, Maudsley Twin Register Kendler et al., 1999 3790 männliche, weibliche und gemischt- MD w-w MD: MZ = 47,6%, DZ = 42,6% Frauen: 39% geschlechtliche Zwillingspaare, m-m MD: MZ = 31,1%, DZ = 25,1% Männer: 39% Virginia Twin Registry, m-w MD: DZ = 32,5% Alter w-w: 22–59 J, M: 34,6 J, SD: 7,5 J, w-m MD: DZ = 21,5% Alter m-m, m-w: 18–60 J, M: 35,1 J, SD: 9,2 J Lyons et al., 1998 3372 männliche Paare: MD und DYS m-m MD: MZ = 22,5%, DZ = 14,0% MD: 36% 1874 MZ, 1498 DZ, Vietnam Era Twin Registry, Schweregrad: Schweregrad: Jahrgänge 1939–1957, Leichte MD: MZ = 2.4%, DZ = 5,2% Leichte MD: 0% Alter: 36–55 J, M: 44,6 J, SD: 2,8 J Mittelgradige MD: MZ = 3,3%, DZ = 5,1% Mittelgradige Schwere/psychotische MD: MZ = 14,7%, MD: 1% DZ = 6,1% Schwere/psychotische MD: 39% EEA MD: EEA MD: < 30 J: MZ = 22,1%, DZ = 6,2% < 30 J: 47% Schulte-Körne, G. und Allgaier A.-K.: Genetik depressiver Störungen > 30 J: MZ = 7,7%, DZ = 3,8% > 30 J: 10% m-m DYS: MZ = 7,4%, DZ = 8,7% DYS: 0% Z. Kinder-Jugendpsychiatr. Psychother. 36 (1), © 2008 by Verlag Hans Huber, Hogrefe AG, Bern 33
34 Schulte-Körne, G. und Allgaier A.-K.: Genetik depressiver Störungen Zwillingen berichtet (Craddock & Forty, 2006; Maier, 2004). Die Heritabilität für unipolare Erkrankungen liegt in der Mehrzahl der Studien im Bereich von 35–70% (vgl. z.B. Sullivan et al., 2000). Eine Übersicht über die ermittelten Heritabilität BPD: 79% Konkordanzraten und geschätzten Heritabilitätswerte in MD: 60% großen Zwillingsstudien der letzten Jahre gibt Tabelle 3. Die Fragestellung, wie hoch die gemeinsame genetische Varianz von unipolarer und bipolarer Depression ist, wur- de in einer Studie von McGuffin et al. (2003) untersucht. Die Autoren kommen zu dem Schluss, dass beide Erkran- kungsformen etwa ein Drittel der genetischen Varianz tei- len. Die Bedeutung genetischer Faktoren im Hinblick auf de- pressive Erkrankungen bei Kindern ist bisher kaum unter- MD: MZ = 43,4%, DZ = 24,8% BPD: MZ = 38,5%, DZ = 4,5% sucht (Althoff et al., 2005; Thapar & Rice, 2006). Arbeiten zu unipolarer Depression basierten primär auf Selbst- und Fremdratings depressiver Symptome ohne Einsatz einer operationalisierten Diagnostik. Eine Arbeit jüngeren Da- tums an einem Kollektiv Jugendlicher bildet diesbezüglich Konkordanzrate eine Ausnahme; hier wurden DSM-IV-Diagnosen zugrun- de gelegt (Glowinski et al., 2003, Tab. 3). Die Heritabilität für depressive Störungen nahm vom 12. bis zum 23. Le- bensjahr zu. Hinsichtlich bipolarer Störungen kommen Alt- hoff et al. (2005) in einem aktuellen Review zu dem Er- gebnis, dass bislang nur eine relevante, speziell auf das Kinder- und Jugendalter fokussierende Zwillingsstudie pu- bliziert sei. Hudziak et al. (2005) schätzen die Heritabilität der früh beginnenden bipolaren Störung in einer großen amerikanischen Zwillingsstichprobe anhand der CBCL auf Phänotyp MD und ca. 60%. BPD Molekulargenetik Sowohl unipolare als auch bipolare Depressionen gelten wie die überwiegende Zahl psychiatrischer Störungen als KG: Swedish Twin Registry: 269 Paare Index-Stichprobe: Swedish Psychiatric genetisch komplexe Erkrankungen, da eine multifaktorielle Genese wahrscheinlich ist, zu der neben einer unbekannten Anzahl krankheitsdisponierender Gene Umweltfaktoren, Gen-Gen- und Gen-Umwelt-Interaktionen gehören (Maier, Twin Registry: 217 Paare, Probanden: N und Alter 2004; Warnke & Grimm, 2006). Die Suche nach potentiell krankheitsverursachenden Genvarianten konzentriert sich im Wesentlichen auf zwei m-w: gemischtgeschlechtliches Zwillingspaar Untersuchungsmethoden, die Assoziations- und die Kop- plungsanalyse. Sowohl Kopplungs- als auch Assoziations- analysen zeigen aufgrund kleiner Stichprobengrößen, klinisch heterogen zusammengesetzter und zum Teil unzu- m-m: männliches Zwillingspaar w-w: weibliches Zwillingspaar reichend charakterisierter Stichproben eine Tendenz zu Zwillingsstudien (Fortsetzung) UPD: Unipolare Depression falsch positiven Befunden, so dass eine Replikation positi- EEA: Ersterkrankungsalter BPD: Bipolare Depression SD: Standardabweichung MD: Majore Depression ver Befunde essentiell ist, um von validen Forschungser- BP-I: Bipolar I-Störung gebnissen sprechen zu können (Maier, 2004). KG: Kontrollgruppe Kendler et al., 1995 DYS: Dysthymie M: Mittelwert Kopplungsanalysen Tabelle 3 J: Jahre Studie Seit Mitte der 80er-Jahre werden mit Hilfe genetischer Mar- ker Kopplungsuntersuchungen bei affektiven Störungen Z. Kinder-Jugendpsychiatr. Psychother. 36 (1), © 2008 by Verlag Hans Huber, Hogrefe AG, Bern
Schulte-Körne, G. und Allgaier A.-K.: Genetik depressiver Störungen 35 durchgeführt. Inzwischen ist es gelungen, chromosomale schizophrene Störungen gefunden worden, z.B. 13q33 Regionen einzugrenzen, in denen sich höchstwahrschein- (McGuffin et al., 2005). Möglicherweise korrespondiert die- lich Kandidatengene befinden. Einschränkend ist festzu- ser molekulargenetische Befund mit der z.T. überlappenden stellen, dass keine der Regionen konsistent über alle Stu- klinischen Symptomatik der beiden Störungen. dien hinweg nachgewiesen werden konnte, was zum einen Die Divergenz der gefundenen chromosomalen Regio- die Vielzahl beteiligter Gene widerspiegelt, zum anderen nen weist aber auch auf die genetische und klinische Hetero- die Variabilität der verschiedenen Studien bezüglich Phä- genität der bipolaren Störungen hin. Ferner unterstreicht die notypdefinition, Stichprobengröße, Ethnizität der Stich- Divergenz der Ergebnisse der Metaanalysen die Bedeutung proben sowie der eingesetzten molekulargenetischen und der Methodik der Phänotypisierung, der klinischen Ein- statistischen Methoden. ordnung der Symptome und auch der methodischen Unter- Für unipolare Depressionen sind bislang nur vereinzel- schiede der referierten Analysen (Cassidy et al., 2007; Eg- te Kopplungsuntersuchungen publiziert worden. Die Chro- ger et al., 2001; Levinson, 2005). mosomregion 15q25–q26 wurde als Kandidatenregion für unipolare Depression bestätigt (Holmans et al., 2007; Hol- mans et al., 2004; Levinson et al., 2007). Weitere Kandi- Assoziationsanalysen datengenregionen wurden darüber hinaus auf den Chro- mosomen 1p36, 12q23.3–q24.11 und 13q31.1–q31.3 Eine Vielzahl von Assoziationsuntersuchungen liegt mitt- identifiziert (McGuffin et al., 2005). lerweile vor, jedoch nur in wenigen Studien wurden de- Im Gegensatz zu den unipolaren Störungen liegt für die pressiv erkrankte Kinder und Jugendliche eingeschlossen. bipolaren Störungen eine Vielzahl von Kopplungsstudien Das Auffinden von Kandidatengenen wird erheblich da- vor (Abb. 2). durch erschwert, dass Gen- und Umwelteffekte eng mit- Für bipolare Störungen sind bislang drei Metaanalysen einander interagieren und es Hinweise dafür gibt, dass eine veröffentlicht, welche die bisherigen Ergebnisse aus syste- spezifische genetische Prädisposition erst in der Kombina- matischen Kopplungsuntersuchungen resümieren und zu tion mit speziellen Belastungsfaktoren klinisch manifest recht unterschiedlichen Ergebnissen kommen (Badner & wird (vgl. Gen-Umwelt-Interaktion). Insgesamt ist der der- Gershon, 2002; McQueen et al., 2005; Segurado et al., 2003). zeitige Stand im Hinblick auf potentielle Kandidatengene Eine aktuelle Übersicht von Craddock und Forty (2006) be- für depressive Störungen hinter der ursprünglichen Erwar- schreibt sieben Kandidatengenregionen. Die am besten re- tung zurückgeblieben (Maier, 2004; Maier & Merikangas, plizierten chromosomalen Regionen sind 6q, 8q, 13q und 2003). 22q (Cichon & Rietschel, 2007). Der Beitrag dieser einzel- Die Suche nach einem Kandidatengen für affektive Stö- nen Loci für bipolare Störungen ist insgesamt jedoch gering. rungen konzentrierte sich primär auf Gene des serotoner- Einzelne Regionen sind auch als Kandidatengenregion für gen Systems (Tab. 4). Einer der wesentlichsten Indikatoren Abbildung 2: Übersicht genom- weiter Kopplungsstudien von Craddock, N. & Forty, L. (2006). Genetics of affective (mood) disorders. European Journal of Human Genetics, 14, 660–668. UP steht für unipolare depressive Störung, BP für bipolare Störung, SABP steht für schizoaffektive Störung, bipolarer Typ. Z. Kinder-Jugendpsychiatr. Psychother. 36 (1), © 2008 by Verlag Hans Huber, Hogrefe AG, Bern
Tabelle 4 36 Molekulargenetische Untersuchungen zur unipolaren und bipolaren Depression im Kindes- und Jugendalter seit 2002 Genlocus Funktion Studie Stichprobe Relevanz 5-HTTLPR Serotonintransporter Dorado et al., 2007 70 erwachsene Patienten mit MD, S-Allel signifikant häufiger in der gesunde KG Patientengruppe 5-HTTLPR Serotonintransporter Cervilla et al., 2006 737 erwachsene Probanden aus 5-HTTLPR s/s-Genotyp signifikant Primary-Care-Zentren häufiger bei Probanden mit MD; Assoziationsstärke in Abhängigkeit vom MD-Schweregrad 5-HTTLPR Serotonintransporter Nobile et al., 2004 68 Patienten, davon 41 Eltern-Kind 5-HTTLPR s/s-Genotyp bzw. S-Allel Triaden, mit early-onset MD oder assoziiert mit depressiver early-onset Störung Dysthymie, gesunde KG 5-HTTLPR Serotonintransporter Eichhammer et al., 2003 8 gesunde Versuchspersonen mit einmaliger 5-HTTLPR-Genotyp l/l zeigt signifikant Citalopramgabe stärkere intrakortikale Inhibition 5-HTTLPR Serotonintransporter Yu et al., 2002 212 Patienten mit MD 5-HTTLPR-Genotyp l/l mit signifikant besserer Response auf Fluoxetin assoziiert 5-HTTLPR Serotonintransporter Bellivier et al., 2002 217 erwachsene Patienten mit BPD VNTR-Polymorphismus beeinflusst VNTR Intron 2 Ersterkrankungsalter, S-Allel signifikant häufiger bei early-onset BPD BDNF Nervenwachstumsfaktor Green et al., 2006 962 Patienten mit BPD, gesunde KG Zusammenhang mit Val66Met nur für Patienten mit Rapid-cycling Typ BDNF Nervenwachstumsfaktor Strauss et al., 2005 258 Eltern-Kind Triaden mit early-onset MD, Val66Met assoziiert mit early-onset MD, Dysthymie oder BPD Dysthymie bzw. BPD BDNF Nervenwachstumsfaktor Geller et al., 2004 53 Eltern-Kind Triaden mit early-onset BPD Bevorzugte Transmission des Val66Met- Allels Z. Kinder-Jugendpsychiatr. Psychother. 36 (1), © 2008 by Verlag Hans Huber, Hogrefe AG, Bern G72/G30 Aktivator der D- Chen et al., 2004 139 Patienten mit BPD, Signifikanter Zusammenhang auf Chromosom 13q Aminosäureoxidase (DAOA) gesunde KG mit Nukleotidpolymorphismen G72 Aktivator der D-Aminosäure- Schumacher et al., 2004 300 Patienten mit BPD, gesunde KG Signifikanter Zusammenhang mit oxidase (DAOA) Nukleotidpolymorphismen G30/DAOA Aktivator der D-Aminosäure- Williams et al., 2006 706 Patienten mit BP-I, Signifikante Assoziation mit mehreren Schulte-Körne, G. und Allgaier A.-K.: Genetik depressiver Störungen oxidase (DAOA) gesunde KG Nukleotidpolymorphismen G72/G30 Aktivator der D-Aminosäure- Hattori et al., 2003 Daten aus 2 großen Familienstudien Transmission eines bestimmten oxidase (DAOA) zu BPD Haplotyps spricht für Assoziation COMT-Gen Beteiligung an Metabolisierung Massat et al., 2005 378 Patienten mit MD (120 mit Signifikante Assoziation von COMT auf Chromosom 22q von Monoaminen early-onset ≤ 25 J), 506 mit BPD Val/Val-Genotyp und early-onset MD (222 mit early-onset ≤ 25 J), gesunde KG COMT-Gen Beteiligung an Metabolisierung Shifman et al., 2004 217 Patienten mit BP-I, gesunde KG Assoziation zwischen COMT und BP-I, auf Chromosom 22q von Monoaminen stärkerer Zusammenhang für Frauen
Schulte-Körne, G. und Allgaier A.-K.: Genetik depressiver Störungen 37 für die Bedeutung dieses Systems ist die Wirksamkeit der selektiven Serotonin-Wiederaufnahmehemmer (SSRI) in der Pharmakotherapie depressiver Erkrankungen. Darüber Einige Haplotypen zeigen signifikanten hinaus konnten bei Patienten mit depressiver Störung in zahlreichen Hirnregionen Beeinträchtigungen serotonerger Signifikante Unterschiede in der Funktionen nachgewiesen werden (Arango et al., 2002). Zentraler Ansatzpunkt der SSRIs ist der Serotonintrans- Zusammenhang mit BPD porter, der Serotonin aus dem synaptischen Spalt resor- biert. Das 5-HT SLC6A4-Gen auf Chromosom 17q ist von Haplotypverteilung großer Bedeutung für den Serotonintransporter. Ins- besondere die Promotorregion des Serotonintransporter- gens 5-HTTLPR, welche die Genexpression steuert, wur- de mehrfach mit dem Auftreten depressiver Störungen assoziiert gefunden (Lotrich & Pollock, 2004). Eine beein- trächtigte Funktionalität des Serotonintransportersystems aufgrund einer geringeren Expression des Serotonintrans- Molekulargenetische Untersuchungen zur unipolaren und bipolaren Depression im Kindes- und Jugendalter seit 2002 (Fortsetzung) porters wurde wiederholt beschrieben. Bei Trägern des SLC6A4-Allels des Serotonintransporters (5-HTTLPR s/s bzw. 5-HTTLPR s/l) besteht ein erhöhtes Risiko, eine De- pression zu entwickeln (Lesch et al., 1996). Wie bei Kan- didatengenuntersuchungen meist der Fall sind die Befun- de diesbezüglich jedoch nicht homogen und z.T. auch 529 Patienten mit BP-I, widersprüchlich (Nöthen et al., 2004). Eine Metaanalyse, 82 Patienten mit BPD, in welche Daten von mehreren tausend Probanden eingin- gen, kam zu dem Ergebnis, dass der Effekt einzelner Gene insgesamt klein ist. Für unipolare Depression ergab sich ei- gesunde KG gesunde KG ne signifikant erhöhte Häufigkeit des Genotyps 5-HTTLPR s/s, für bipolare Störung lag keine überzufällig häufig auf- tretende Assoziation vor (Lotrich & Pollock, 2004). Para- doxerweise ist dieser Befund der geringeren Expression des Serotonintransporters und der daraus folgenden funktio- nellen Beeinträchtigungen nicht ohne weiteres in Über- Hodgkinson et al., 2004 einstimmung mit dem pathogenetischen Modell der Depression zu bringen (Mill & Petronis, 2007): Der Sero- Green et al., 2005 tonintransporter transportiert Serotonin aus dem sy- naptischen Spalt zurück und beendet damit die postsynap- tische Serotoninwirkung, was bei Trägern von 5-HTTLPR s/s mit eingeschränkter Effizienz geschieht. Dies führt bei Trägern des Risiko-Allels zu einer vergleichsweise länge- ren Serotoninwirkung im synaptischen Spalt. Genau dieser Wirkmechanismus liegt selektiven Serotonin-Wiederauf- nahmehemmern zugrunde, um Depressionen effektiv zu be- handeln. Gut belegt und mit den obigen Befunden in Einklang sind BDNF: Brain derived neurotrophic factor COMT: Catechol-O-Methyl-Transferase hingegen Befunde eines Zusammenhangs zwischen 5- HTTLPR-Polymorphismus und dem Ansprechen auf eine Pharmakotherapie mit SSRI: Patienten mit dem Genotyp 5- HTTLPR l/l, die einen effizient arbeitenden Serotonintrans- porter aufweisen, respondieren signifikant schneller und BPD: Bipolare Depression MD: Majore Depression besser auf die Behandlung mit SSRIs durch entsprechende BP-I: Bipolar-I Störung Hemmung des Transportermechanismus (Rausch, 2005; KG: Kontrollgruppe auf Chromosom 1q auf Chromosom 8p Smits et al., 2007; Smits et al., 2004). Neben den beschriebenen Kandidatengenen des seroto- Neuregulin 1 nergen Systems wurde eine Reihe von weiteren Kandida- Tabelle 4 tengenen gefunden, die mit der bipolaren Störung assozi- J: Jahre DISC1 iert sind (Tab. 4). So gibt es Hinweise auf eine Beteiligung genetischer Marker im Gen G72, einem Aktivator der D- Z. Kinder-Jugendpsychiatr. Psychother. 36 (1), © 2008 by Verlag Hans Huber, Hogrefe AG, Bern
38 Schulte-Körne, G. und Allgaier A.-K.: Genetik depressiver Störungen Aminosäureoxidase (DAOA) bzw. im Gen G30 (Abou Jam- handlung das Risiko für depressive Erkrankungen und auch ra et al., 2006; Detera-Wadleigh & McMahon, 2006; Far- für andere psychische Störungen erhöhen (Brown et al., mer et al., 2007), die ebenfalls mit schizophrenen Erkran- 2007; Brown et al., 1999; Molnar et al., 2001). Insbeson- kungen assoziiert werden (Detera-Wadleigh & McMahon, dere bei schwerem, lang andauerndem (sexuellem) Miss- 2006; Kato, 2007). G72/G30 ist auf Chromosom 13q loka- brauch ist das Erkrankungsrisiko erhöht. Außerdem führt lisiert, welches bereits in Kopplungsanalysen als potentiel- eine schwere Traumatisierung häufig zu einem früheren le Kandidatenregion postuliert wurde (s.o.). Ersterkrankungsalter, zu einem schlechteren Ansprechen Ebenfalls viel Aufmerksamkeit hat die Untersuchung des auf antidepressive Behandlung sowie zu einem höheren Ri- Brain derived neurotrophic factor (BDNF) erhalten. Hier- siko für einen rezidivierenden Verlauf der Depression. Bei bei handelt es sich um einen Nervenwachstumsfaktor, der der Interpretation dieser Befunde ist jedoch zu berücksich- bereits pränatal und bis ins Erwachsenenalter die neurona- tigen, dass die Komponenten des Missbrauchs per se nicht le Plastizität beeinflusst. Eine Nukleotidvariation, die eine von anderen, damit häufig verknüpften Risikofaktoren ein- Substitution der Aminosäure Valin durch Methionin bein- deutig abgegrenzt werden können, beispielsweise depres- haltet (Val66Met-Polymorphismus), wurde mehrfach in Ver- siven Erkrankungen in der Elterngeneration, Ehekonflikten bindung mit der bipolaren Störung, aber auch mit unipola- und niedriger sozialer Schicht (Fergusson et al., 1996). Das ren Depressionen gebracht (Neves-Pereira et al., 2002; Risiko der Entwicklung einer depressiven Erkrankung bei Sklar et al., 2002; Strauss et al., 2005; Strauss et al., 2004). Missbrauchsopfern ist besonders groß, wenn gleichzeitig Dieser Zusammenhang konnte jedoch in einer Reihe von eine positive Familienanamnese für depressive Erkrankun- Arbeiten nicht nachgewiesen werden (Hong et al., 2003; gen besteht. In diesem Fall kommt auch Verlusterlebnissen, Kunugi et al., 2004; Nakata et al., 2003; Oswald et al., 2004; insbesondere dem Tod naher Bezugspersonen, eine ent- Skibinska et al., 2004) und wurde verschiedentlich kritisch scheidende Bedeutung für die Auslösung einer depressiven kommentiert: Nach Ansicht von Groves (2007) wider- Episode zu (Brent et al., 1993). spricht dieses Ergebnis anderen Befunden, dass gerade das Ob gravierende Stressoren zu einer depressiven Erkran- Methionin-Allel mit höherer Aktivität des BDNF einher- kung führen, wird mit großer Wahrscheinlichkeit auch geht und protektiv gegenüber Depressionen wirken müsste. durch die genetische Ausstattung moduliert. Dafür sprechen auch die Ergebnisse der Studien von Sen et In einer Reihe von Untersuchungen wurde gezeigt, dass al. (2003), wonach das Val-Allel mit erhöhten Neurotizis- Träger des s-Allels des Serotonintransportergens (5- musscores assoziiert war, und von Lang et al. (2005), der HTTLPR s/s oder s/l) in Kombination mit belastenden Life- erhöhte Werte für Traitangst bei Trägern des Val/Val-Ge- events (z. B. Arbeitslosigkeit, Schulden) und/oder Trauma- notyps gegenüber von Val/Met oder Met/Met fand. tisierung (körperliche und seelische Misshandlung) mit Weitere Gene, die in Verbindung mit bipolaren Erkran- größerer Wahrscheinlichkeit an einer Depression erkranken kungen gebracht wurden, sind das COMT- (Catechol-O- (Cervilla et al., 2007; Kaufman et al., 2004). Erstmals wur- Methyltransferase-) Gen (Übersichten bei Craddock & de der Zusammenhang zwischen einem Risikogenotyp und Forty, 2006; Farmer et al., 2007), DISC1- (disrupted in schi- Umweltbelastung von Caspi et al. (2003) empirisch bestä- zophrenia1-) Gen (z.B. Kato, 2007) sowie Neuregulin 1 tigt (Abb. 3). Eine Misshandlung erhöhte erst dann das Er- (Übersichten bei Craddock & Forty, 2006; Farmer et al., krankungsrisiko für eine Depression, wenn der Risikoge- 2007). notyp vorlag (das s-Allel des Serotonintransportergens) (Caspi et al., 2003). Durch die Verstärkung der Wirkung von gravierenden Gen-Umwelt-Interaktion Lebensereignissen bei Trägern des kurzen s-Allels besteht darüber hinaus eine erhöhte Wahrscheinlichkeit für eine de- Dass neben den genetischen Komponenten ungünstige Um- pressive Erkrankung mit höherem Schweregrad (Zalsman weltbedingungen für die Entstehung depressiver Störungen et al., 2006b). ebenso entscheidend sein können, zeigen auch die Ergeb- Eine neue Studie konnte hingegen keinen Zusammen- nisse der Zwillingsstudien, die abhängig von der Form der hang zwischen dem Genotyp und Life-events in Abhän- depressiven Störung zu einer maximalen Heritabilitäts- gigkeit des Vorliegens des Risiko-Allels (s/s und s/l) finden schätzung von 85% kommen (s.o.). Sind Eltern von einer (Chipman et al., 2007). Uher und McGuffin (2007) kom- depressiven Erkrankung betroffen, tragen deren Kinder mentieren in einer Übersichtsarbeit der Studien aus den Jah- nicht nur ein erhöhtes genetisches Erkrankungsrisiko, son- ren 2003–2007 diese divergierenden Befunde. Sie resü- dern weisen darüber hinaus häufig weitere psychische Vul- mieren, dass in insgesamt 15 Studien die modulierende nerabilitätsfaktoren auf. So zeichnen sich depressive Eltern Rolle des Serotonintransportergens gezeigt werden konn- vermehrt durch einen passiven, vernachlässigenden und ab- te. Außerdem wird der Zusammenhang auch durch neuro- weisenden Interaktionsstil aus und sind Modell für negati- physiologische Untersuchungen (Canli et al., 2006) und ex- ve Selbstattribution, dysfunktionale kognitive Schemata perimentelle Arbeiten an Tieren gestützt (Barr et al., 2004). und geringe Selbstwirksamkeitserwartung (Frye & Garber, Umgekehrt können bestimmte protektive Faktoren das 2005; Hammen et al., 2004). Studien der Life-event-For- Risiko der Entwicklung einer depressiven Störung redu- schung konnten zeigen, dass Vernachlässigung und Miss- zieren, auch wenn eine spezielle genetische Vulnerabilität Z. Kinder-Jugendpsychiatr. Psychother. 36 (1), © 2008 by Verlag Hans Huber, Hogrefe AG, Bern
Schulte-Körne, G. und Allgaier A.-K.: Genetik depressiver Störungen 39 Ausblick Die molekulargenetischen Untersuchungen tragen wesent- lich zum Ursachenverständnis der depressiven Störungen bei. Insbesondere die Bedeutung der Interaktion zwischen Genen und der Gen-Umwelt-Interaktion wurde eingehend untersucht und zeigt erstmals empirisch den Stellenwert dieser Interaktionen für psychiatrische Erkrankungen. Bis- her sind kaum funktionell relevante Mutationen gefunden worden. Es wird eine wesentliche Aufgabe sein, die gene- tischen Mechanismen zu verstehen, die für die Entstehung einer Depression prädisponieren. Bisher wurden Kinder und Jugendliche nur vereinzelt in genetische Studien ein- geschlossen. Die vorhandenen Studien, die jüngere Alters- gruppen berücksichtigen, weisen aber darauf hin, dass das Ersterkrankungsalter ein entscheidender Prognosefaktor Abbildung 3: Darstellung des Zusammenhangs zwischen Miss- für den weiteren Erkrankungsverlauf ist. Early-onset For- handlung zwischen dem 3. und 11. Lj und der Erkrankungswahr- men sind mit einem höheren Schweregrad, verstärkter Re- scheinlichkeit für depressive Störung in Abhängigkeit vom Ge- zidivneigung und einer deutlich erhöhten familiären Belas- notyp (aus Caspi, A., Sugden, K., Moffitt, T. E., Taylor, A., Craig, I. W., Harrington, H., McClay, J., Mill, J., Martin, J., Braithwai- tung für depressive Störungen verbunden. Ihre Erforschung te, A. & Poulton, R., 2003. Influence of life stress on depression: ist insofern von besonderer Wichtigkeit, zumal hier von ei- moderation by a polymorphism in the 5-HTT gene. Science, 301, ner stärkeren genetischen Beteiligung ausgegangen werden 386–389). kann (Levinson, 2006; Rende et al., 2007; Todd & Botteron, 2002). Ein weiterer Bereich, in dem großer Forschungsbedarf gegeben ist: So wiesen beispielsweise misshandelte Risi- besteht, betrifft den Einfluss des Geschlechts auf das Er- kokinder mit dem Genotyp 5-HTTLPR s/s einen nur mini- krankungsrisiko. Es ist bekannt, dass bis zum Eintritt in die malen Anstieg in Depressionsscores auf, wenn unterstüt- Pubertät kein geschlechtsspezifischer Effekt nachweisbar zende Bezugspersonen verfügbar waren (Kaufman et al., ist, ab der Adoleszenz jedoch ein deutliches Überwiegen 2004). In einer neueren Studie konnte die Arbeitsgruppe um von unipolaren Depressionen bei Frauen zu finden ist (An- Kaufman zeigen, dass das Risiko der Entwicklung einer de- gold et al., 1998; Cohen et al., 1993; Reinherz et al., 1993). pressiven Erkrankung bei Kindern durch eine stützende Welche Parameter für die größere Vulnerabilität von Frau- soziale Umgebung auch dann reduziert werden kann, wenn en ab der Pubertät verantwortlich sind, ist bisher weitge- neben dem Risiko-Genotyp 5-HTTLPR s/s zusätzlich ein hend ungeklärt. weiterer Genotyp vorliegt, der vermutlich mit einem In den kommenden Jahren können die sich rasch weiter- erhöhten Depressionsrisiko assoziiert ist, der BDNF entwickelnden molekulargenetischen Methoden dazu bei- Val66Met (Kaufman et al., 2006). Auch beim Vorliegen tragen, die Genetik depressiver Störungen bei Kindern und zweier genetischer Risikofaktoren war die Auftretens- Jugendlichen an klinisch gut charakterisierten, großen wahrscheinlichkeit nur in Kombination mit Misshandlung Stichproben zu erforschen und unser Wissen entscheidend bei gleichzeitigem Fehlen protektiver Faktoren signifikant zu vergrößern. erhöht (Kaufman et al., 2006). Diese Ergebnisse von Inter- aktionseffekten von BDNF Val66Met-Polymorphismus, 5- HTTLPR und negativen Life-events in der Kindheit Literatur konnten von Wichers et al. (2007) an einer Stichprobe Er- Abou Jamra, R., Schmael, C., Cichon, S., Rietschel, M., Schu- wachsener repliziert werden. Interessant an der Studie von macher, J. & Nothen, M. M. (2006). The G72/G30 gene locus Wichers und Mitarbeitern ist, dass der BDNF-Genotyp in psychiatric disorders: a challenge to diagnostic boundaries? (Met) und negative Erlebnisse im Kindesalter direkt das De- Schizophrenia Bulletin, 32, 599–608. pressionsrisiko erhöhen. Das s-Allel des Serotonintrans- Alonso, J., Angermeyer, M. C., Bernert, S., Bruffaerts, R., Brugha, porters hatte zusätzlich modifizierende Einflüsse, indem T. S., Bryson, H., de Girolamo, G., Graaf, R., Demyttenaere, K., Gasquet, I., Haro, J. M., Katz, S. J., Kessler, R. C., Kovess, das Vorliegen des s/s- oder s/l-Genotyps das Erkrankungs- V., Lepine, J. P., Ormel, J., Polidori, G., Russo, L. J., Vilagut, risiko weiter erhöhte. Die besondere Bedeutung dieser kom- G., Almansa, J., Arbabzadeh-Bouchez, S., Autonell, J., Bernal, plexen Gen-Umwelt-Interaktionen könnte auch darin lie- M., Buist-Bouwman, M. A., Codony, M., Domingo-Salvany, gen, dass die genetische Ausstattung eines Menschen nicht A., Ferrer, M., Joo, S. S., Martinez-Alonso, M., Matschinger, nur dessen Empfindlichkeit gegenüber Umwelteinflüssen H., Mazzi, F., Morgan, Z., Morosini, P., Palacin, C., Romera, B., Taub, N. & Vollebergh, W. A. (2004). Prevalence of men- beeinflusst, sondern auch Einfluss nimmt auf sein Exposi- tal disorders in Europe: results from the European Study of tionsverhalten gegenüber bestimmten Umgebungskonstel- the Epidemiology of Mental Disorders (ESEMeD) project. Ac- lationen (Wichers et al., 2007). ta Psychiatrica Scandinavica, 109, 21–27. Z. Kinder-Jugendpsychiatr. Psychother. 36 (1), © 2008 by Verlag Hans Huber, Hogrefe AG, Bern
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