"Neutrale" UEFA verbietet Regenbogenfarben

Die Seite wird erstellt Sven Janßen
 
WEITER LESEN
„Neutrale“ UEFA verbietet
Regenbogenfarben

Susanne Kühn, Infomail 1153, 22. Juni 2021

Doppelmoral und Doppelbödigkeit dürfen in der Welt des Profifußballs offenbar nicht fehlen. Den
jüngsten Akt in diesem Kapitel schrieb die Union der Europäischen Fußballverbände (UEFA) jüngst
im Rahmen der EM.

Beim Spiel zwischen Deutschland und Ungarn darf die Münchner Allianz-Arena nicht in den
Regenbogenfarben beleuchtet werden. Wörtlich heißt es: „Angesichts des politischen Kontextes
dieses speziellen Antrags – eine Botschaft, die auf eine Entscheidung des ungarischen nationalen
Parlaments abzielt – muss die UEFA diesen Antrag ablehnen.“

Schließlich, so der Verband weiter, sei man „politisch und religiös neutral“. Die Herren – Frauen
sind in den Entscheidungsgremien der UEFA praktisch nicht vertreten – halten das vielleicht sogar
für eine Art Entschuldigung. Jedoch, die „Überparteilichkeit“ der UEFA erweist sich als
Unterstützung für die rechte Orbán-Regierung. Selbst symbolische Kritik an der extrem
homophoben Gesetzgebung des ungarischen Parlaments und der Regierung wird auf ihr Geheiß
unterbunden.

Das reaktionäre Gesetz

Dabei hat es das am 15. Juni gebilligte Gesetz gegen sog. Homosexuellenpropaganda in sich. Filme,
Bücher sowie andere Medien und Darstellungen dürfen Minderjährigen grundsätzlich nicht mehr
zugänglich gemacht werden. Dies umfasst nicht nur Darstellungen in öffentlichen und privaten
Medien, sondern im Grunde auch in Bibliotheken. Darüber hinaus wird Aufklärung im
Schulunterricht tendenziell illegalisiert. Vorträge zu den Themen Homosexualität und
Geschlechtsumwandlungen dürfen in Zukunft nur noch von Organisationen gehalten werden, die von
der Regierung ausgewählt werden.

Das Werbeverbot gegen Homosexualität und Geschlechtsumwandlungen ist im Gesetz außerdem so
weit gefasst, dass theoretisch selbst das Tragen der Regenbogenfahne als „Werbung“ interpretiert
und bestraft werden kann. Schließlich werden bewusst Strafverschärfungen für Pädophilie,
Kinderschutz und ein Verbot der Propagierung von Homosexualität bei Minderjährigen vermengt,
um so dem Ganzen den Anstrich eines vorgeblichen Kinder- und Jugendschutzes zu verleihen.

Schöne Fußballwelt?

Die Einheit der schönen heilen Fußballwelt geht den geschäftstüchtigen Bossen des europäischen
Profi(t)fußballs offenkundig über alles. Da passt selbst eine Geste der Stadt München nicht ins Bild.
Da wird schon eine Kapitänsbinde in Regenbogenfarben, wie sie der Torwart Neuer trägt, zu einer
umstrittenen Sache und Anlass für Ermittlungen.

Die Entscheidung der UEFA wirft einmal mehr ein Schlaglicht auf den Profisport im Allgemeinen
und den Fußball im Besonderen. Schließlich sind Homophobie, Rassismus oder Sexismus leider
keine Besonderheit, sondern gehören zum Sport- und Stadionalltag. Ein Coming Out stellt bis heute
für viele homosexuelle SportlerInnen, ob Profis oder AmateurInnen, einen angstbesetzten Schritt
oder gar einen Spießrutenlauf dar – und zwar nicht nur in Ungarn.
Dass sich viele Spieler des EM-Teams, Spielerinnen des Frauen-Nationalteams, Profis anderer
Länder oder KommentatorInnen gegen Homophobie (und auch gegen Rassismus und Sexismus)
positionieren wollen, bedeutet zweifellos einen Fortschritt gegenüber den gar nicht allzu lange
zurückliegenden Zeiten, als das Thema Homosexualität im Sport vollkommen tabuisiert und unter
den Teppich gekehrt wurde.

Da der Fußball wie jede große Sportart vor allem ein gigantisches Milliardengeschäft mit
astronomischen Werbeeinnahmen ist, sind auch viele KritikerInnen der UEFA-Entscheidung nicht
frei von Doppelmoral, zumal wenn sie aus der Sportwelt, Vereinsvorständen oder gar dem
Sponsoring kommen.

So schön ein Beleuchten deutscher Stadien in den Regenbogenfarben auch sein mag, allzu weit über
Symbolik hinaus soll der Protest gegen rechte Politik, Homo- und Transphobie, Sexismus und
Rassismus nun auch nicht gehen. Schließlich folgt auf die EM die WM 2022 – in Katar. Dort sitzen
nicht nur reaktionäre, despotische Machthaber, dort werden nicht nur Frauen, Schwule, Lesben,
Transpersonen brutal unterdrückt. In dem Land sitzen auch einige der wichtigsten SponsorInnen
und EigentümerInnen des europäischen Vereinsfußballs. Vor allem aber, die WM will sich auch
kaum eine/r der Orbán-KritikerInnen entgehen lassen. 2022 will keiner von den verantwortlichen
Fußballbossen, keine TV-Anstalt, aber auch keiner der Profis fehlen. Von einer Absage der WM, von
einem Boykott mag niemand etwas wissen, auch wenn alle Stadien durch moderne Sklavenarbeit
erbaut wurden.

Fans und Vereinsmitglieder

Wenn wir Homophobie, Sexismus Rassismus, Überausbeutung beim Stadienbau und andere
Erscheinungen des modernen Profisports wirklich bekämpfen wollen, so dürfen wir uns dabei nicht
auf jene verlassen, die gegen Homophobie und andere reaktionäre Verhaltensweisen nur solange
einschreiten, als es ihre Geschäftsinteressen nicht schädigt. D. h. wir müssen jene gegen
Diskriminierung, Rassismus, Sexismus und Ausbeutung beim Bau von Sportanlagen organisieren,
die keine Geschäfts- und Gewinnabsicht mit dem Sport verfolgen – die Millionen lohnabhängiger
Fans und Vereinsmitglieder. Natürlich finden sich auch bei diesen oft reaktionäre Ideen, gegen die
linke und fortschrittliche Fans organisiert, aufklärend und offensiv angehen müssen. Aber im
Unterschied zu Vereinsbossen und anderen, die beim Milliardengeschäft Profifußball mit absahnen,
hat diese Masse kein materielles Interesse an der Aufrechterhaltung einer Profitmacherei, die
untrennbar mit Ausbeutung, Unterdrückung und Doppelmoral verbunden ist.

Ungarn: Orbán nutzt Pandemie, um Rechte
von Transpersonen anzugreifen

Rebecca Anderson, Infomail 1102, 6. Mai 2020

Am 30. März verlieh das ungarische Parlament Viktor Orbán auf unbestimmte Zeit die
Regierungsgewalt per Dekret. Der Vorwand für diese Machtübertragung war die Coronavirus-
Pandemie, aber die von der regierenden Fidesz-Partei (Fidesz-MPSZ; Ungarischer
BürgerInnenbund), die im Parlament über eine komfortable Zweidrittelmehrheit verfügt,
eingebrachte Gesetzgebung beinhaltet eine ganze Reihe von Maßnahmen im Zusammenhang mit der
reaktionären Gesellschaftspolitik der Regierung in Bezug auf Frauen und LGBTIAQ-Menschen.

Eine der Maßnahmen ist der Vorschlag, „Geschlecht“ auf allen Rechtsdokumenten durch
„Geburtsgeschlecht“ zu ersetzen – und damit das Recht von Transmenschen, ihr Geschlecht auf
offiziellen Dokumenten zu ändern, zu beseitigen. Transpersonen, die bereits den komplizierten und
bürokratischen Prozess der rechtlichen Geschlechtsänderung durchlaufen haben, werden
gezwungen, sich bei der Erneuerung offizieller Dokumente unter ihrem Geburtsgeschlecht
registrieren zu lassen. In dem Memorandum zur Erläuterung des Gesetzentwurfs heißt es: „Eine
vollständige Änderung des biologischen Geschlechts ist unmöglich“, und der Gesetzentwurf selbst
besagt, dass Geschlecht als „biologisches Geschlecht auf der Grundlage primärer
Geschlechtsmerkmale und Chromosomen“ definiert werden sollte.

Transunterdrückung

Der Gesetzesentwurf reduziert Geschlecht auf die Biologie, indem er leugnet, dass das Geschlecht
einer Person im Widerspruch zu ihrem individuellen Bewusstsein ihres Geschlechts, d. h. ihrer
Geschlechtsidentität, stehen kann. Gleichzeitig macht die Gesetzesvorlage die Öffentlichkeit auf die
„Gefahren“ aufmerksam, die es mit sich bringt, Transpersonen zu gestatten, ein freies Leben in
ihrem gewählten Geschlecht zu führen. Es ist kein Zufall, dass diese reaktionäre Haltung von einer
Regierung vertreten wird, deren nationalistischer Konservatismus und arbeiterInnenfeindliche
Kreuzzüge ein internationales Beispiel für die extreme Rechte gesetzt haben.

Transunterdrückung hängt unmittelbar mit der bürgerlichen Familie und ihrer Rolle in der
kapitalistischen Produktionsweise zusammen. Innerhalb der ArbeiterInnenfamilie arbeiten die
Frauen unbezahlt, um die nächste Generation von ArbeiterInnen zu reproduzieren, während die
bürgerliche Familie für die patrilineare Weitergabe von Eigentum sorgt. Um die Aufrechterhaltung
der Kernfamilie als soziale Institution zu garantieren, stützt sich der Kapitalismus auf stereotype
heteronormative Geschlechterrollen und Geschlechtsidentitäten, die durch jede bedeutende
gesellschaftliche Institution verstärkt werden.

Die Gesetzgebungsagenda der ungarischen Regierung zeigt, dass Transphobie und
Frauenfeindlichkeit untrennbar miteinander verbunden sind. Viktor Orbán hat zahlreiche finanzielle
Maßnahmen angekündigt, um Frauen zu ermutigen, mehrere Kinder zu bekommen, wodurch die
Kernfamilie in der ungarischen Gesellschaft gestärkt würde. Im vergangenen Jahr weigerte sich die
Regierung Viktor Orbán, eine EU-Resolution zur Gewalt gegen Frauen zu ratifizieren, weil diese
Geschlecht als soziales Konstrukt definierte. Im Jahr 2018 verbot seine Regierung das Studium der
Geschlechterforschung, weil es „eine Ideologie und keine Wissenschaft“ sei.

Die ungarische Regierung zog sich auch aus dem Eurovision Song Contest zurück, während eine
regierungsfreundliche Medienkampagne den Wettbewerb als „zu schwul“ und als eine
„Homosexuellen-Flottille“ angriff, die die psychische Gesundheit der Nation beeinträchtigen würde.
Viktor Orbán hat die ungarische LGBTIAQ-Gemeinde auch davor gewarnt, sich „provokativ“ zu
verhalten oder das Recht auf gleichgeschlechtliche Ehe zu fordern. Im Jahr 2017 war Viktor Orbán
Gastgeber und Redner auf einer Konferenz der berüchtigten Anti-LGBTIAQ-Gruppe „International
Organisation of the Family“.

„Self-ID“: Anerkennung der selbst gewählten Geschlechtsidentität

Das Recht auf Anerkennung der Geschlechtsidentität („Self-ID“) steht im Kampf für die
Transbefreiung an vorderster Stelle, wobei nur wenige Länder – Irland, Portugal – die ungehinderte
freie Wahl des Geschlechts auf allen Rechtsdokumenten zulassen. Ungarn war das vorletzte Land in
der EU, das eine gesetzliche Grundlage für die Anerkennung der Geschlechtszugehörigkeit
kodifiziert hat, wobei die Anforderungen erst 2017 geklärt wurden. Wie in Großbritannien setzt die
Anerkennung der Geschlechtsidentität auch hier eine psychiatrische Diagnose voraus.

In Großbritannien können einige Dokumente auf Anfrage geändert werden, aber dies ändert nicht
das juristische Geschlecht der Person, das an ihre Geburtsurkunde gebunden ist. Die Änderung
einer Geburtsurkunde setzt voraus, dass sich die Person einem zermürbenden zweijährigen Prozess
unterziehen muss, um ein medizinisches Gremium zu überzeugen. In diesem Prozess wird die
Transidentität medizinisch behandelt, was die Diagnose einer „Geschlechtsdysphorie“ erfordert,
bevor ein Zertifikat zur Anerkennung der Geschlechtszugehörigkeit erteilt wird. Dieses Vorgehen
zwingt Transpersonen auch dazu, sich sexistischen und reaktionären Verhaltens- und
Kleidungsstereotypen anzupassen, um zu „beweisen“, dass sie als das Geschlecht leben, zu dem sie
sich zugehörig fühlen.

Transpersonen sind eine der am stärksten unterdrückten Gruppen in der Gesellschaft. Bei der Job-
und Wohnungssuche sind sie mit erheblichen Hürden konfrontiert und leiden unter Belästigung und
Gewalt in ihren Familien, am Arbeitsplatz und auf der Straße.

Das Argument der Viktor Orbán-Regierung, dass die Geschlechtsidentität nicht „real“ sei und dass
nur die Biologie darüber entscheidet, ob jemand ein Mann oder eine Frau ist, basiert auf der Idee,
dass Geschlechterstereotypen natürlich sind. Es gibt auf der linken Seite diejenigen, die ebenfalls
die Rechte von Transpersonen verneinen, indem sie zustimmen, dass die Biologie der einzige
Bestimmungsfaktor für Männlichkeit oder Weiblichkeit ist, aber argumentieren, dass das soziale
Geschlecht einfach eine Reihe von Stereotypen ist, die ein falsches Bewusstsein schaffen, das das
Individuum und die Gesellschaft ablehnen müssen. Es stimmt zwar, dass das soziale Geschlecht ein
Konstrukt ist, aber zu leugnen, dass dieses eine mächtige Kraft ist, die von klein auf eine
geschlechtliche Identität und Sexualität prägt, die mit dem biologischen Geschlecht des Individuums
übereinstimmen kann oder auch nicht, bedeutet, die Realität abzulehnen. Die Argumente dieser
Linken gegen die Existenz einer geschlechtlichen Identität stimmen mit denen überein, die gegen
die Existenz von Homosexualität sprechen, und bezeichnen sie sehr oft als willkürliche Wahl oder
psychische Störung. Diejenigen SozialistInnen, die gegen das Recht auf Selbstbestimmung der
Geschlechtsidentität sind, sollten die Entwicklungen in Ungarn aufmerksam verfolgen, wo eine
ideologische Opposition gegen Transrechte angefacht und von einer rechtspopulistischen Regierung
benutzt wird, um ihre Agenda voranzubringen.

In Großbritannien wurde seinerzeit erwartet, dass die Reform des Gender Recognition Act das Recht
auf Selbstbestimmung der Geschlechtsidentität einführen würde. Nach großem Widerstand von
Konservativen und einigen Feministinnen der zweiten Welle wurden die Reformen jedoch
verschoben. Jetzt, mit einer populistischeren und sozialkonservativeren Regierung, scheint die Tory-
Partei einen Gang hochzuschalten, um eine Überprüfung des Gesetzes dazu zu nutzen, Transrechte
zurückzunehmen, anstatt sie auszuweiten. Die Ministerin für Gleichberechtigung, Liz Truss, sprach
sich kürzlich gegen Pubertätsblocker und die Einbeziehung von Transfrauen in Frauenräume aus
und bestand ebenfalls darauf, dass „Kontrollen und Gegengewichtige“ bezüglich Transrechten in
Kraft bleiben müssten. Die Regierung hat angekündigt, dass sie ihren Plan für den Gender
Recognition Act im Sommer auf den Weg bringen wird.

Jegliche Rechte für Transpersonen, die vor dem Recht auf Selbstbestimmung des Geschlechts
haltmachen – des Individuums, sein eigenes Geschlecht auf allen offiziellen Dokumenten anzugeben
und als dieses Geschlecht zu leben –, implizieren, dass der Staat und nicht das Individuum die Macht
haben soll, das Geschlecht einer Person festzulegen. Wenn auch aus keinem anderen Grund, sollten
SozialistInnen die Self-ID auf der Grundlage unterstützen, dass der kapitalistische Staat kein
unparteiischer Schiedsrichter für LGBTIAQ-Rechte ist und nie war.
Schlussfolgerung

Die LGBTIAQ- und die Frauenbewegung bedrohen nicht nur konservative Werte, sondern auch – in
dem Maße, wie sie in das heteronormative Familienideal eingreifen – die wesentliche soziale
Infrastruktur der kapitalistischen Gesellschaft. In wohlhabenderen Ländern hat ein langwieriger
Kampf Zugeständnisse errungen, aber der Aufstieg der populistischen Rechten erinnert uns daran,
dass Reformen immer rückgängig gemacht werden können, solange das soziale System, in dem die
Unterdrückung verwurzelt ist, bestehen bleibt. Deshalb ist für SozialistInnen die Verteidigung sozial
unterdrückter Gruppen wesentlich für den Kampf zum Sturz des Systems, das eine repressive
Sexualmoral, die geschlechtsspezifische Arbeitsteilung und ihre Basis, die bürgerliche Familie,
erzwingt.

Frauenbewegungen und die ArbeiterInnen- und Gewerkschaftsbewegung in allen Ländern sollten
sich gegen die staatliche Einmischung in das Recht des Individuums auf Selbstbestimmung seines
Geschlechts auf allen Rechtsdokumenten wenden. In Ungarn ist die Bedrohung für Frauen und
LGBTIAQ-Menschen bereits kritisch, und die Konzentration autokratischer Macht in den Händen von
Viktor Orbán bedeutet umfassendere Angriffe auf die demokratischen, Arbeits- und
Menschenrechte.

Ungarn: Generalstreik gegen
SklavInnengesetz nötig

Jeremy Dewar, Infomail 1038, 16. Januar 2019

Am 5. Januar strömten Zehntausende von ArbeiterInnen und
StudentInnen auf den Budapester Heldenplatz, um zu fordern, dass die
Fidesz-Partei (Ungarischer Bürgerbund) von Präsident Viktor Orbán „von der
Macht entfernt“ wird.

Wenn Orbán glaubte, dass der Wintereinbruch die
Anti-Regierungsbewegung vernichten würde, zerstörte diese nachdrückliche
Antwort stattdessen jede Hoffnung darauf. Drohende diktatorische Gesetze haben
Oppositionsparteien, Gewerkschaften, StudentInnen und Intellektuelle in eine
Massenbewegung auf den Straßen hineingezogen, vor allem in der Hauptstadt
Budapest, aber auch zum ersten Mal im ganzen Land.

Nun hat der Ungarische Gewerkschaftsbund MASZSZ mit 150.000
Mitgliedern einen Generalstreik am 19. Januar angedroht. „Die Regierung hat uns
in Stichgelassen “, erklärte László Kordás, Vorsitzender des Ungarischen
Gewerkschaftsdachverbands MASZDZ: „Das Land muss am selben Tag zur gleichen
Zeit zum Stillstand kommen.“

Ein anderer Gewerkschaftsfunktionär gab gegenüber dem
deutschen „Handelsblatt“ zu, dass dies auf Druck der Basis zurückzuführen sei:
„Einige unserer Mitglieder haben uns aufgefordert, das Land lahmzulegen“.
Die Bewegung begann im November letzten Jahres, als Fidesz,
das nach dem erdrutschartigen Wahlsieg im April über eine Zweidrittelmehrheit
im Parlament verfügt und so jedes beliebige Gesetz verabschieden kann, die
Mitteleuropäische Universität stilllegte, die von Orbáns Reizfigur, dem in den
USA lebenden Milliardär George Soros, gegründet und teilweise finanziert wurde.

Sklavengesetz

Am 12. Dezember schlossen sich dann Auto- und
ChemiearbeiterInnen, FleischpackerInnen und LehrerInnen den SchülerInnen und
WissenschaftlerInnen auf der Straße an, als das Parlament das sogenannte
„Sklavengesetz“ verabschiedete.

Dieses Gesetz erlaubt es UnternehmerInnen, ihre
Belegschaften für 400 zusätzliche Überstunden pro Jahr zu verpflichten, diese
zusätzliche Arbeitszeit zum normalen Tarif zu bezahlen und das Entgelt für bis
zu drei Jahre zurückzuhalten. Die ArbeiterInnen befürchten zu Recht, dass sie
entlassen würden, wenn sie sich weigern, die „Überstunden“ zu leisten, was
diese praktisch zur Dienstpflicht macht.

Vierhundert Stunden entsprechen fast zwei ganzen Mehrarbeitsstunden
pro Tag oder einem zusätzlichen Arbeitstag pro Woche.

Die aktuelle Entwicklung entbehrt nicht einer gewissen
Ironie. Fidesz wurde auf einer Plattform gewählt, die sich fast ausschließlich
auf die Beseitigung der Einwanderung konzentrierte, auf Rassismus und
Rechtspopulismus pur.

Diese Politik hat jedoch zu einem akuten Arbeitskräftemangel
in Ungarn geführt, insbesondere in der überaus wichtigen Automobilindustrie,
die von multinationalen Unternehmen wie BMW, Audi und General Motors dominiert
wird, wo die Beschäftigten im Durchschnitt 900 Euro pro Monat erhalten, einen
Bruchteil des IndustriearbeiterInnenlohns in Deutschland oder generell in
Westeuropa. Schätzungsweise eine Million, hauptsächlich junge ArbeiterInnen
haben das Land seit 2006, als Orbán an die Macht kam, verlassen und wurden
nicht ersetzt. Die neuen, von ArbeiterInnen treffend als „BMW-Gesetz“ bezeichnete Regelung soll
Abhilfe schaffen.

Weitere autoritäre Gesetze, die Ende 2018 verabschiedet
wurden, sind die Einrichtung neuer „Verwaltungsgerichte“ für Korruptionsfälle
und dergleichen. Diese Gerichte werden unter der direkten Kontrolle der
Regierungspartei stehen und damit die Unabhängigkeit der Justiz beenden, was
sehr geschickt ist, da die Regierung Fidesz’ zunehmend in einen Finanzskandal
verwickelt ist. Ein anderes bezieht die Mainstream-Medien, die sich bereits
weitgehend in der Tasche von Fidesz befinden, in ein einheitliches Konsortium
ein. Viele befürchten, dass dies das endgültige Ende des unabhängigen
Journalismus bedeuten würde.

Unterdrückung und Widerstand

Die erste Reaktion der Regierung bestand darin, die Bewegung
gewaltsam zu unterdrücken, am 12. Dezember Tränengas auf die DemonstrantInnen
abzufeuern, über 50 von ihnen zu verhaften und viele weitere zu verletzen.
Seitdem hat sie ihre Hunde zurückgerufen, verblüfft durch Meinungsumfragen, die
regelmäßig vermuten lassen, dass 80 Prozent der Bevölkerung das Sklavengesetz
missbilligen, und die Regierung die Art der Straßenbewegung befürchten lassen,
die Orbán selbst 2006 auf einem Ticket für Demokratie an die Macht brachte.

Jetzt haben sich die Oppositionsparteien dem Kampf
angeschlossen, wobei Abgeordnete teilweise das staatliche Fernsehzentrum
besetzen, um das Recht zu fordern, eine Erklärung zur Unterstützung der
Proteste vorzulesen. Bis jetzt wurde nur die Regierungslinie zu den
DemonstrantInnen ausgestrahlt, im Wesentlichen, dass es sich um eine von Soros ausgetüftelte
Verschwörung handelt. Diese Verbreiterung der Bewegung bringt aber auch ihre
Gefahren mit sich.

Erstens, den etablierten Parteien, einschließlich der
Sozialistischen Partei MSZP kann man nicht trauen. Sie haben sich in der
Vergangenheit als keine FreundInnen der ArbeiterInnenklasse erwiesen und sind
angesichts der zunehmenden Flut von Rassismus, insbesondere Antisemitismus,
ruhig geblieben. Ihr Hauptziel ist es, bei den wichtigen Europawahlen im Mai
gleiche Wettbewerbsbedingungen für sich zu schaffen.

Schlimmer noch, die faschistische Jobbik-Partei (Bewegung
für ein besseres Ungarn), die derzeit mit 8 Prozent Stimmenunterstützung
rechnen kann, hat sich opportunistisch als Verteidigerin für ArbeiterInnenrechte
positioniert. Gelbe Westen begannen sogar bei einigen der jüngsten
Demonstrationen aufzutauchen. Als Verfechterin der Nulleinwanderung, gewalttätig
antisemitisch und Förderin der autoritären Diktatur ist die Präsenz von Jobbik
eine klare Bedrohung für ArbeiterInnen, MigrantInnen und Frauen. Innerhalb der
Bewegung sollten SozialistInnen die ArbeiterInnenrechte mit der Frauenbewegung
und Kampagnen in Solidarität mit MigrantInnen und gegen Rassismus verbinden.
Die Aufnahme von antirassistischen und frauenfreundlichen Parolen neben
Selbstverteidigungsausschüssen ist der erste Schritt, um die extreme Rechte zu
isolieren und aus der Bewegung zu vertreiben.

Die ArbeiterInnen mussten den Aufruf zu einem Generalstreik
am 19. Januar ihren Gewerkschaftsführern aufzwingen. Aber die Gewerkschaften
sind schwach, der Organisationsgrad beträgt weniger als 10 Prozent. Um diese
Einschränkung zu überwinden, müssen die ArbeiterInnen in jedem Bezirk von
Budapest und in allen Städten und Gemeinden Aktionsräte bilden, die alle
Arbeitsplätze, ob gewerkschaftlich organisiert oder nicht, StudentInnen und
LandarbeiterInnen einbeziehen. Der Ablauf des Generalstreiks und die Richtung
der Bewegung müssen in die Hände dieser Aktionskomitees gelegt werden.

Orbán fürchtet die Opposition nicht, geschweige denn die
GewerkschaftsführerInnen. Was er fürchtet, ist, dass sich die Bewegung ihrer
Kontrolle entziehen und zu einer entwickeln könnte, die, wie bereits spontan
geschehen, seine Herrschaft bedroht. Wenn er politisch überlebt, mit ein oder
zwei kleinen Zugeständnissen, wird er einfach zurückkommen und ArbeiterInnen
und StudentInnen Zug um Zug abgreifen.

Um dies zu verhindern, müssen die ArbeiterInnen die
Aufhebung aller diktatorischen Gesetze Orbáns auf ihre Banner schreiben. Um die
wachsende Diktatur der Fidesz-Partei Orbáns zu beenden und zu verhindern, dass
Jobbik in ihre Fußstapfen tritt, ist eine neue Partei der ArbeiterInnenklasse
erforderlich, eine revolutionäre Partei, die die Krise lösen kann, die Ungarn
erfasst – im Interesse aller ArbeiterInnen, seien es UngarInnen, Roma oder
EinwanderInnen, ChristInnen, Juden/Jüdinnen oder MuslimInnen.

Wahlen in Ungarn: Orbán verfestigt seine
Macht, aber Zehntausende demonstrieren

Michael Märzen, Infomail 999, 19. April 2018

Seit acht Jahren regiert Viktor Orbán mit seinem „Ungarischen Bürgerbund“ (Fidesz-MPSZ). Die
ungarische Regierung war und ist eine der Vorreiterinnen der rechten Regierungen in Europa. Mit
offenem Rassismus gegenüber MuslimInnen und Flüchtlingen sowie vermehrt auch Antisemitismus
stellt die Fidesz-Regierung das Vorbild für viele rechtskonservative und rechtspopulistische Parteien
in Europa dar. Mit der jüngsten Wahl am 8. April konnte sie nicht nur erneut den ersten Platz
behaupten (49,27 %), sondern sogleich die verloren gegangene Zweidrittelmehrheit im Parlament
zurückholen. Damit kann Orbán seine Macht weiter verfestigen.

Autoritäre Umstrukturierung

In den Jahren seit 2010 machte Ungarn eine starke autoritäre Wende durch. Fidesz nutzte ihre bei
den Wahlen mit nur 52,7 % der Stimmen erreichte 2/3-Mehrheit an Mandaten im Parlament um den
Staatsapparat in ihrem Sinne umzugestalten. Orbán schritt – offenbar auch gegen die Empfehlung
vieler ParteikollegInnen – schnell zur Tat. Es wurde eine restriktive Mediengesetzgebung erlassen,
die es der Regierung erlaubt, hohe Strafen gegen unliebsame Beiträge zu verhängen und die
staatlichen Medien wurden unter die Fuchtel von Fidesz-AnhängerInnen gebracht. 2011 wurde mit
der 2/3-Mehrheit der Fidesz auch eine neue Verfassung beschlossen, die (vor allem mit der
Schwächung des Verfassungsgerichts) die Macht der regierenden Partei noch weiter zementierte.
Über die Jahre kamen weitere autoritäre Entwicklungen hinzu: Änderungen bei den Wahlgesetzen,
Einschränkungen für NGOs (insbesondere solche im Flüchtlingsbereich) und schließlich auch noch
die Betonung Orbáns, dass er eine „illiberale Demokratie“ anstrebe.

Außenpolitisch beansprucht Orbán die Stellung der EU-kritischsten Regierung für sich. Bei
zentralen Vorhaben der EU zeigte er sich ablehnend und blockierend (in vielen wichtigen Fragen
müssen EU-Beschlüsse einstimmig getroffen werden). Das ist sicher nicht die Ursache der Krise der
EU, verschärft diese aber, umso mehr als 2015 in Polen mit der PiS eine Fidesz ähnliche Partei an
die Macht kam. Zusätzlich dazu pflegt Orbán auch ein gutes Verhältnis zu Putin, der ein sogar noch
autoritäreres System betreibt.

Rassismus und Korruption

Durch kaum etwas aber sticht Orbáns Fidesz so hervor wie durch ihren Rassismus. Durch ihren
Erfolg ist sie darin auch Vorbild für viele rechte Parteien und PolitikerInnen. Der gesamte
Wahlkampf war von der Feindlichkeit gegenüber Flüchtlingen geprägt. Orbán phantasiert von einer
drohenden Massenzuwanderung, gesteuert von mächtigen FeindInnen im Ausland, um die
ungarische Nation zu zerstören. Damit lenkt er gekonnt von den sozialen Missständen im Land ab
wie etwa von der Armut, den niedrigen Löhnen, dem schlechten Gesundheits- und dem veralteten
Bildungssystem.

In der sogenannten Flüchtlingskrise baute Ungarn einen 4 Meter hohen Zaun an der serbischen
Grenze und legte sich bei der EU-weiten Verteilung von Geflüchteten quer. Seit einigen Jahren ist
neben der Hetze gegen Roma und Sinti auch der offene anti-muslimische Rassismus ein wichtiger
Bestandteil der Politik von Fidesz, die mit ihrer Kampagne gegen den in Ungarn geborenen US-
Multimilliardär George Soros aber auch vor dem Schüren von Antisemitismus nicht zurückschreckt.

Mit ihrer demagogischen und reaktionären Rhetorik gegen die EU und das „amerikanisch-jüdische“
Finanzkapital schafft es die Fidesz erfolgreich, ein populäres Image zu bewahren, obwohl Korruption
und Vetternwirtschaft für Orbán und Co. auf der Tagesordnung stehen. So haben fünf enge
Bekannte von Orbán alleine 5 % der EU- und Regierungsgelder für ihre diversen Unternehmen
erhalten.

Fragen der Opposition

Die zweitstärkste Partei nach der Fidesz ist mit 19,06 % die faschistische Jobbik (Bewegung für ein
besseres Ungarn). Sie hat sich in diesem Wahlkampf etwas moderater präsentiert, da sie politisch
kaum Zugewinne rechts der Fidesz erwarten konnte. Jobbik konnte ihr Ergebnis relativ stabil halten
und verlor 1,16 Prozent gegenüber 2014. Dies verdeutlicht, dass sich im Windschatten der
regierenden Fidesz eine faschistische Partei mit relativ stabiler Massenbasis etabliert hat.

Die Sozialistische Partei MSZP hingegen – bislang größte oppositionelle Kraft im Parlament – erlebt
wie schon 2010 eine starke politische Krise. Sie hat mehr als die Hälfte der Stimmen (13,66 Prozent)
verloren und sackte auf 11,91 Prozent ab. Die offen bürgerlichen liberalen Kräfte erreichten
zwischen 3 und 7 Prozent und können sich politisch kaum behaupten.

Nach der Wahl wurde von Oppositionsparteien der Verdacht auf Wahlbetrug geäußert, Stimmen
könnten vernichtet worden sein. Sie haben die Forderung nach einer Neuauszählung der Stimmen
erhoben. In weiterer Folge gingen mehrere zehntausend Menschen in Budapest gegen die
Regierung auf die Straße. Der Protest griff die Forderung der Opposition auf, forderte zugleich aber
auch ein neues Wahlrecht und Neuwahlen. Bei dem Protest waren einige EU-Fahnen zu sehen und
unterschiedliche VertreterInnen politischer Parteien nahmen daran teil, sogar die Jobbik.

Der politische Charakter der Proteste, aber auch die Schwäche der Opposition gegenüber Fidesz
wirft wichtige politische Fragen prinzipieller Natur auf. Das wird auch dadurch verdeutlicht, dass in
ausländischen kritischen Medien immer wieder die Meinung verbreitet wurde, die ungarische
Opposition müsse an einem Strang ziehen und die einflussreichsten OppositionskandidatInnen in
den Direktmandatswahlkreisen unterstützen. In der gegenwärtigen Lage hätte das vor allem die
Jobbik begünstigt, was für die ArbeiterInnenklasse kein bisschen besser gewesen wäre, im
Gegenteil. Aber auch wenn es nicht die Jobbik wäre, bedeutete das für fortschrittliche Kräfte die
Unterordnung unter bürgerliche Parteien. Dabei ist es die allererste Aufgabe in Ungarn, eine
wahrnehmbare, unabhängige proletarische Kraft zu schaffen und die Interessen der
ArbeiterInnenklasse eigenständig zu artikulieren. Denn Klasseninteressen der ArbeiterInnen sind
denen der Fidesz entgegengesetzt und nur über ein eigenständiges Sprachrohr wird die arbeitende
Klasse kollektiv in Aktion treten, um das autoritäre Orbán-Regime zu stürzen.
Sie können auch lesen