Das schottische Unabhängigkeitsstreben und die EU - Einleitung - Stiftung ...
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NR. 38 MAI 2021 Einleitung Das schottische Unabhängigkeitsstreben und die EU Der lange Weg zum Referendum und die kritischen Fragen für die Europäische Union Nicolai von Ondarza Die Schottische Nationalpartei (SNP) ist bei den Regionalwahlen im Mai 2021 wieder mit Abstand stärkste Kraft geworden und hätte mit den schottischen Grünen die Mehrheit, um ein zweites Unabhängigkeitsreferendum anzustoßen. Doch der Weg dahin ist unsicher. Anders als 2014 ist die Zustimmung des britischen Parlaments wenig wahrscheinlich und die Kompetenz des schottischen Parlaments zum Beschluss einer weiteren Volksabstimmung umstritten. Das stellt auch die Europäische Union vor Herausforderungen. Der erneute Drang zur Unabhängigkeit ist eng mit dem aus schottischer Sicht ungewollten EU-Austritt verbunden. Aber der harte Brexit macht die Unabhängigkeit mit potentieller EU-Mitgliedschaft noch komplizierter. Zwar wird die EU kaum verhindern können, dass sie in die Debatte zwischen Edinburgh und London hineingezogen wird. Dennoch ist sie gut beraten, das schottische Unabhän- gigkeitsstreben weiterhin als interne Angelegenheit des Vereinigten Königreichs zu behandeln. Die SNP konnte mit 47,7 Prozent erneut die zentrale Wahlversprechen der SNP, aber Wahlen in Schottland gewinnen, braucht auch der schottischen Grünen. für eine eigene Mehrheit aber die Unter- Dabei ist die Frage der schottischen Un- stützung der schottischen Grünen. Diese abhängigkeit mittlerweile eng mit dem sind bei den Wahlen ebenfalls für ein Brexit verbunden. Noch 2014 sprachen sich neues Unabhängigkeitsreferendum einge- 55 Prozent der schottischen Bevölkerung treten. Gemeinsam stellen die beiden Par- einschließlich der damals wahlberechtigten teien nun 72 der 129 Sitze und konnten in Schottland ansässigen EU-Bürgerinnen ihren Sitzanteil weiter ausbauen. Die SNP und -Bürger gegen die Abspaltung vom Ver- begreift dies als Mandat der schottischen einigten Königreich aus. Neben den wirt- Bevölkerung, in der ersten Hälfte der neuen schaftlichen Risiken lautete eines der Legislaturperiode eine zweite Volksabstim- Hauptargumente der damaligen »Better mung zur Unabhängigkeit auf den Weg zu Together«-Kampagne, dass ein unabhängi- bringen. Im Wahlkampf bildete dies nach ges Schottland automatisch aus der EU der weiteren Bekämpfung der Pandemie das ausgeschlossen und ein rascher Wiederbei-
tritt als eigenständiges Mitglied unsicher schneidend verändert, dass ein zweites Un- sei. Auch wenn sich die EU selbst aus der abhängigkeitsreferendum gerechtfertigt sei. Kampagne heraushielt, wurde diese Sicht- Gleichzeitig gilt der Brexit für die SNP als weise vom damaligen EU-Kommissions- Paradebeispiel dafür, dass die demokrati- präsidenten Barroso unterstützt. Mit Ver- sche Willensbildung der Schotten im Ver- weis auf die Nichtanerkennung Kosovos einigten Königreich regelmäßig übergangen durch Spanien erklärte er, ein Neubeitritt wird. Zusätzlich verbindet die SNP auch Schottlands zur EU sei »extrem schwer, argumentativ die Unabhängigkeit mit der wenn nicht unmöglich«. potentiellen Rückkehr in die EU. SNP-Partei- chefin und schottische Erste Ministerin Nicola Sturgeon rief die EU gar dazu auf, Der Brexit als Katalysator für die einen Platz für Schottland freizuhalten. Unabhängigkeit Analysen zeigen jedoch, dass nicht der Brexit allein den fundamentalen Meinungs- Bekanntermaßen hat sich das Verhältnis umschwung zugunsten der Unabhängigkeit zwischen schottischer Unabhängigkeit und bewirkt hat. Zwar haben einige proeuropäi- EU-Mitgliedschaft vollständig gewandelt. sche Unabhängigkeitsgegner zur »Yes«-Seite Beim EU-Referendum 2016 stimmten 62 Pro- gewechselt. Es gibt aber auch Schotten, die zent der schottischen Bevölkerung für den 2014 für die Unabhängigkeit gestimmt Verbleib in der EU und 38 Prozent dagegen. haben, aber entweder auch für den Brexit Das änderte aber nichts am Gesamtergebnis, waren oder nach den Erfahrungen mit da die Schotten nur 8 Prozent der Bevöl- diesem die wirtschaftlichen Risiken der kerung des Vereinigten Königreichs aus- Unabhängigkeit scheuen. Ausschlaggebend machen. Auch im weiteren Prozess sprach war die Kombination aus dem Brexit, der sich die schottische Regierung für einen Regierungsübernahme durch Boris Johnson möglichst weichen Brexit aus und betonte, und dem sehr unterschiedlichen Corona- wie wichtig der Zugang zum Binnenmarkt Management zwischen Schottland und einschließlich der Freizügigkeit für die England. Erst dieses Zusammenwirken hat schottische Wirtschaft sei. Diese Position dazu geführt, dass die Unabhängigkeits- floss indes nicht in die Verhandlungsstrate- befürworter Ende 2020 und Anfang 2021 gie der konservativ geführten Regierungen zeitweise einen zum Teil klaren Vorsprung unter Theresa May und Boris Johnson ein. in Umfragen hatten. Forderungen nach einem Sonderstatus Verstärkt durch den Brexit hat sich Schottlands ähnlich wie im Falle Nord- zudem die schottische weiter von der briti- irlands wies die britische Regierung (aber schen Politik entfremdet. Seit 2015 ist auch die EU) zurück. Schottlands Politik so von der SNP domi- Im weiteren Verlauf stimmte das schotti- niert, dass diese (auch wegen des britischen sche Parlament, ebenso wie die Parlamente Mehrheitswahlrechts) durchgängig mehr von Nordirland und Wales, sowohl gegen Sitze in Schottland gewonnen hat als Kon- das Austrittsabkommen als auch das Han- servative, Labour und Liberaldemokraten dels- und Kooperationsabkommen (HKA) zusammen. Zurzeit sind es 44 von 59 Man- mit der EU, das den harten Brexit vollendete. daten. Labour, früher jahrzehntelang die In beiden Fällen waren die Voten rechtlich vorherrschende Partei in Schottland, stellt für Westminster nicht bindend. Das House of nur noch einen einzigen schottischen Abge- Commons ignorierte die Ablehnung und rati- ordneten. Seit 2010 war es für den Ausgang fizierte die Abkommen mit seiner konser- der Wahlen im Vereinigten Königreich vativen Mehrheit. Aus Sicht der SNP wurde unerheblich, wie die Wahlen in Schottland Schottland damit nicht nur gegen seinen ausgingen. Ihre Mehrheiten erlangten die Willen aus der EU geführt, sondern zum Tories stets in England und Wales. Die SNP harten Brexit gezwungen. Daher habe der aber nimmt in London eine reine Opposi- Brexit die Situation Schottlands so ein- tionsrolle ein und hat erfolgreich das Narra- SWP-Aktuell 38 Mai 2021 2
tiv eines Widerspruchs zwischen schotti- ko einer Volksabstimmung zur Unabhängig- schen Interessen und der Politik der Regie- keit in Kauf. Politisches Kalkül war damals, rung Johnson geprägt. In den ebenfalls im dass die Befürworter die Mehrheit verfehlen Mai 2021 stattfindenden englischen Lokal- würden, ein schnelles Referendum mit die- und Regionalwahlen hat sich der Stimmen- sem Resultat das Streben nach Unabhän- anteil der Konservativen auf Kosten von gigkeit entscheidend schwächen würde und Labour noch einmal deutlich erhöht, was die Frage »für mindestens eine Generation« das Narrativ der SNP einer Vorherrschaft ad acta gelegt werden könne. David Came- der Tories in England verstärkt. ron ging dieses kalkulierte Risiko auch des- Schon 2020 wollte die SNP-geführte halb ein, weil die Zustimmung zur Unab- schottische Regierung ein zweites Referen- hängigkeit bei nicht einmal 30 Prozent lag, dum einleiten, unterbrach die Planungen als das Referendum angesetzt wurde. Anders aber mit dem Argument, zunächst alle poli- als beim späteren EU-Referendum ging die tischen Kräfte auf die Eindämmung der Rechnung auf, auch wenn das Ergebnis mit Pandemie zu konzentrieren. Mit der erneu- 45 zu 55 Prozent spürbar knapper ausfiel ten Mehrheit der Unabhängigkeitsbefürwor- als erwartet. ter will die Regierung aber nun ihr Wahl- kampfversprechen einlösen und im Laufe Risikoreiche Abwägung für der ersten Hälfte der neuen Legislatur- Boris Johnson periode ein zweites Referendum initiieren. 2021 ist die politische und in der Folge wohl auch die rechtliche Ausgangslage anders. Der lange Weg zum 2014 fehlten der SNP vier Sitze, 2021 nur Unabhängigkeitsreferendum noch einer zur absoluten Mehrheit im schot- tischen Parlament. Zwar hat sie mit 47,7 Ob das schottische Parlament jedoch die Prozent erheblich mehr Stimmenanteil als Kompetenz hat, eigenständig eine Volks- Boris Johnsons Konservative im Vereinigten abstimmung zur Unabhängigkeit auf den Königreich (43,6 Prozent). Dank der unter- Weg zu bringen, ist rechtlich und politisch schiedlichen Wahlsysteme verfügt Johnson hoch umstritten und wird auch für die EU jedoch über eine komfortable absolute außerordentlich wichtig sein. 2014 waren Mehrheit im britischen Unterhaus. David Rechtmäßigkeit und Legitimität des Un- Cameron reichten dort 2015 sogar 36,9 abhängigkeitsreferendums einwandfrei Prozent für eine absolute Mehrheit, mit der geklärt. So verständigten sich der damalige er dann das EU-Referendum auf den Weg britische Premierminister David Cameron brachte. Im schottischen Parlament hat die und der schottische Erste Minister Alex SNP mit den Grünen zwar eine klare Majo- Salmond 2012 in der »Vereinbarung von rität für ein weiteres Unabhängigkeitsrefe- Edinburgh« darauf, dass sowohl die schot- rendum. Politisch aber schwächt das Ver- tische als auch die britische Regierung das fehlen einer eigenen Mehrheit dennoch die Ergebnis einer Volksabstimmung anerken- Erzählung der SNP von einem eindeutigen nen würden, die auf solider rechtlicher Mandat der schottischen Bevölkerung. Basis, mit neutraler Fragestellung und Ungewiss ist zudem, ob die schottische unter fairen Bedingungen stattfinden sollte. Regierung hierzu vom britischen Parlament Hierfür übertrug das britische Parlament abermals die spezifische, eindeutige Zustän- durch eine Änderung des Scotland Act dem digkeit übertragen bekommt. Premier Boris schottischen Parlament für begrenzte Zeit Johnson hat dies nach den Wahlen bereits und einmalig die Sonderzuständigkeit, ein für absehbare Zeit abgelehnt. Schottlands Referendumsgesetz zu erlassen. Bevölkerung, so Johnson, habe sich 2014 Die britische Regierung nahm damit im unmissverständlich gegen die Unabhängig- Unterschied etwa zu spanischen Regierun- keit entschieden, und das damalige Refe- gen gegenüber Katalonien bewusst das Risi- rendum behalte mindestens für eine Gene- SWP-Aktuell 38 Mai 2021 3
ration seine demokratische Gültigkeit. Auch Volksabstimmung auf den Weg bringen zwischen dem ersten und dem zweiten EU- kann. Schon in den Jahren 2012 bis 2014 Referendum im Vereinigten Königreich hatte die SNP argumentiert, die schottische (1975 und 2016) hätten mehr als 40 Jahre Regierung habe zu ihrer rechtlichen und gelegen. Schon 2017 hatte die SNP mit Ver- politischen Absicherung zwar das gesetzlich weis auf den Brexit und die letzten schot- verankerte Plazet Londons eingeholt, aber tischen Wahlen die Autorisierung für ein zwingend notwendig sei das nicht gewesen. neues Referendum gefordert. Dieses An- Im Zentrum der Debatte steht der Scot- sinnen wies die damalige Premierministerin land Act von 1998, der im britischen Rechts- May aber zurück, da es »nicht die Zeit system dem schottischen Parlament seine dafür« sei und zunächst der Brexit-Prozess Kompetenzen zuweist. Gesetzgeberische Be- bewältigt werden müsse. schlüsse des schottischen Parlaments außer- Dieser ist zwar nun vollzogen, aber halb dieser Zuständigkeiten sind nichtig. sowohl die Konservativen mit dem Premier Nicht statthaft unter anderem sind demnach an der Spitze als auch Labour sind weiter- Beschlüsse, welche »die Union der König- hin gegen ein zweites Referendum. Vor reiche Schottland und England« sowie das allem Johnson spielt weiter auf Zeit. Hinzu Parlament des Vereinigten Königreichs kommt, dass eine neue Volksabstimmung betreffen. ein wesentlich höheres Risiko birgt als jene Auf Basis dieser Rechtslage akzeptiert im Jahr 2014. Aktuelle Umfragen zur schot- auch die SNP-geführte schottische Regie- tischen Unabhängigkeit prognostizieren rung, dass das schottische Parlament die höchstens einen winzigen Vorsprung für Union mit dem Vereinigten Königreich den Verbleib im Vereinigten Königreich, nicht einseitig aufheben und die Unabhän- wenn nicht gar eine knappe Mehrheit für gigkeit erklären kann. Zwischen britischer den Austritt. Zudem organisierten 2014 und schottischer Regierung sowie in der Tories, Labour und Liberaldemokraten eine britischen Rechtswissenschaft ist jedoch gemeinsame »Better Together«-Kampagne. umstritten, ob bereits ein Unabhängigkeits- Heute würde sich Labour zwar nicht für die referendum an sich damit ausgeschlossen schottische Unabhängigkeit aussprechen, ist, wenn es nicht zuvor von Westminster aber auch nicht mehr zusammen mit den autorisiert wurde. So war beispielsweise Konservativen Wahlkampf machen. Nicht auch das EU-Referendum von 2016 recht- zuletzt ähneln viele Argumente gegen die lich unverbindlich, obwohl es später eine Unabhängigkeit jenen gegen den Brexit. starke politische Bindekraft entfaltet hat. Diese können Johnson und seine Brexiteers Laut Rechtsprechung des Obersten Gerichts- kaum glaubwürdig vortragen. Boris Johnson hofs des Vereinigten Königreichs bedurfte würde also riskieren, als der Premiermini- es auch nach dem Brexit-Votum der briti- ster in die Geschichte einzugehen, der – schen Bevölkerung eines vom Parlament mit dem Brexit – das Vereinigte Königreich beschlossenen Gesetzes, bevor Premier- dem Zerfall preisgegeben hat. In dem sich ministerin Theresa May formell den Aus- nun abzeichnenden Machtkampf zwischen tritt aus der EU gemäß Artikel 50 des Ver- SNP-geführter Regierung in Edinburgh und trags über die Europäische Union in Gang Johnsons Regierung wird das britische Parla- setzen konnte. ment diesmal, anders als 2014, seine Ge- Analog dazu argumentiert die SNP, auch nehmigung wohl verweigern. das schottische Parlament könne eigen- ständig ein konsultatives Referendum auf Optionen für die SNP den Weg bringen. Zur Vorbereitung hat die SNP mit ihrer Parlamentsmehrheit schon in Trotz oder gerade wegen der klaren Rechts- der abgelaufenen Legislaturperiode zwei lage von 2014 ist jedoch ungewiss, ob das Gesetze verabschiedet, welche die britische schottische Parlament auch ohne vorherige Königin mit ihrer Unterschrift bereits in Autorisierung durch Westminster eine Kraft gesetzt hat. Das erste, der Referendums SWP-Aktuell 38 Mai 2021 4
(Scotland) Act, enthält die Grundlagen für Gesetz das schottische Parlament passieren, Volksabstimmungen, für deren Ansetzung dessen Mehrheit nun sicher ist. Die SNP nun nur noch ein kurzes Gesetz des schotti- wird sich den günstigsten Zeitpunkt hierfür schen Parlaments notwendig ist. Die Regeln aussuchen. Angekündigt hat sie ein Gesetz entsprechen weitgehend den landesweiten für die erste Hälfte der neuen Legislatur- Bestimmungen des Vereinigten König- periode, also bis Mitte 2023. Die unmittel- reichs, und die Referendumsfrage müsste bare Phase der Pandemie wird sie noch ab- von der britischen unabhängigen Wahl- warten und danach auf die Umfragen kommission geprüft werden. Das zweite, schauen. Dann werden die Verhandlungen der Scottish Elections (Franchise & Representation) mit der britischen Regierung über eine Act, regelt unter anderem Fragen, die für Autorisierung und im Falle einer Ableh- den Referendumsausgang wichtig sind. nung ein Verfahren vor dem Obersten Dazu gehört das Wahlrecht, welches für Gerichtshof mindestens ein halbes Jahr alle legal in Schottland ansässigen Personen dauern. Für den weiteren Verlauf sind im ab 16 Jahren gilt, also weiterhin auch für Referendums (Scotland) Act Bedingungen dort lebende EU-Bürgerinnen und -Bürger. festgelegt: So muss die Abstimmungsfrage Nach ihrem Wahlsieg will die SNP zu- von der Unabhängigen Wahlkommission nächst von der britischen Regierung for- geprüft werden. Für beide Seiten wird je dern, ein Referendum gemäß dem Scotland eine offizielle Kampagne ausgewählt. Es Act von 1998 zu autorisieren. Damit möchte gilt eine Mindestdauer für die öffentliche die SNP sich rechtlich absichern und Debatte vor dem Abstimmungstag. Beim politische Legitimität im In- und Ausland ersten Unabhängigkeitsreferendum hat gewinnen, besonders mit Blick auf die EU. dieser Prozess mehr als drei Jahre gedauert. Sollten die Regierung Johnson und das Nun sind zwar bereits wichtige recht- britische Parlament die Autorisierung liche Grundlagen geschaffen worden, aber erwartungsgemäß verweigern, will die SNP voraussichtlich wird das Verfahren vor dennoch ein Referendumsgesetz auf den dem Obersten Gerichtshof hinzukommen. Weg bringen. Es ist davon auszugehen, dass Daher dürfte frühestens in der zweiten der Oberste Gerichtshof des Vereinigten Jahreshälfte 2022 mit einem Unabhängig- Königreichs ein solches Gesetz, das zuvor keitsreferendum zu rechnen sein, wenn nicht vom britischen Parlament autorisiert nicht erst 2023. Johnson könnte sogar ver- wurde, vor Inkrafttreten prüfen muss – suchen, ein Referendum auf die Zeit nach mit offenem Ausgang. Noch hat sich den nächsten britischen Wahlen 2024 zu die SNP nicht festgelegt, wie sie reagieren verschieben. Je nach den Umfragen, die ak- würde, sollte der Oberste Gerichtshof – wie tuell wieder auf eine knappe Mehrheit für das spanische Verfassungsgericht im Falle den Verbleib hindeuten, könnte die SNP Kataloniens – das angestrebte Referendum auch aus wahltaktischen Gründen anstre- untersagen. Zu erwarten ist damit ein län- ben, die Volksabstimmung auf einen für sie gerer juristischer und politischer Macht- günstigeren Termin zu schieben. kampf zwischen der SNP und der Regierung Zweitens wird sich zumindest mittel- Johnson darüber, ob ein Referendum ein- fristig wohl kein »katalanisches Szenario« geleitet werden soll, und wenn ja, von wem. ergeben, also kein verfassungswidriges Unabhängigkeitsreferendum gegen den Kein Referendum vor 2022 Willen der britischen Regierung. Auch wenn die SNP ein Referendumsgesetz ohne Aus dieser rechtlichen Gemengelage lassen Westminsters Autorisierung einbringt, wird sich zwei wichtige politische Schlussfolge- es vom Obersten Gericht geprüft werden. rungen ziehen. Erstens wird ein zweites Erst wenn das Gericht dem schottischen Unabhängigkeitsreferendum nicht kurz- Parlament diese Kompetenz abspricht, muss fristig erfolgen. Zwar muss auf Grundlage die SNP entscheiden, ob sie weiter versucht, des Referendums (Scotland) Act nur ein kurzes sich mit der britischen Regierung zu eini- SWP-Aktuell 38 Mai 2021 5
gen, oder stattdessen auf andere Weise eine aufzuspalten. Überdies würde der Umgang Volksbefragung durchsetzen möchte. mit der Sondersituation in Nordirland zu- sätzlich erschwert. Eine solche Schwächung des weiterhin für die EU und Deutschland Handlungsoptionen für die EU wichtigen Partners Vereinigtes Königreich sowie die damit verbundene Belastung für Die Referendumspläne der SNP bringen die das europäisch-britische Verhältnis liegt Europäische Union angesichts ihrer ohne- nicht im gemeinsamen Interesse. hin angespannten Beziehungen zum Ex- Politisch noch sensibler wird die Dis- Mitglied Vereinigtes Königreich in eine kussion, falls es 2022 oder später tatsäch- heikle politische Lage. Das Streben nach der lich zu einem zweiten Unabhängigkeitsre- Unabhängigkeit Schottlands ist eng mit ferendum kommt. Wie sich Institutionen dem Brexit verknüpft, und die SNP-Führung und einzelne Staaten der EU dazu positio- macht keinen Hehl aus ihren Ambitionen, nieren, dürfte in dieser Zeit großen Wider- dass Schottland wieder EU-Mitglied werde. hall in der schottischen und britischen Darum wird es für die EU und auch Deutsch- Debatte finden. Ein besonderes Augenmerk land schwierig werden, politisch neutral zu dürfte sich dabei auf Deutschland, Spanien bleiben. Die schottische Unabhängigkeit (wegen Katalonien), Frankreich und Irland wird keine rein innenpolitische Angelegen- richten. Das wirft Fragen hinsichtlich der heit des Vereinigten Königreichs bleiben. eigenen Glaubwürdigkeit und des späteren Jede Äußerung zu dem Prozess wird in der Umgangs mit beiden potentiellen Resulta- britischen und schottischen Presse als Ein- ten der Volksabstimmung auf. Auch hier mischung genutzt oder verteufelt werden. wird gelten, dass jede Äußerung zur Unab- Auf der anderen Seite hat sich die Erste hängigkeit und zur möglichen Aufnahme Ministerin Nicola Sturgeon bereits öffent- eines unabhängigen Schottlands in die EU lich an Deutschland und andere EU-Staaten instrumentalisiert wird. Zu beachten ist, gewandt, eine Tür für Schottland in der EU dass Schottland sich auch im Falle eines offen zu halten. Nicht zu unterschätzen ist Yes-Votums nicht über Nacht für unabhän- zudem der Anreiz für proeuropäische poli- gig erklären würde. Stattdessen würde es tische Akteure und Kommentatoren, die sich erst in einem längeren Aushandlungs- schottische Unabhängigkeit und damit das verfahren im Laufe der nächsten Jahre vom Auseinanderbrechen des Vereinigten König- Vereinigten Königreich lösen, fast vergleich- reichs zur dramatischen Konsequenz des bar mit dem Artikel-50-Prozess. Brexits zu erklären. Gerade deshalb sind die EU und Deutsch- Vier kritische Fragen für die EU land gut beraten, politisch sehr vorsichtig mit der Frage der schottischen Unabhän- Erst wenn dieses Verfahren läuft, also die gigkeit umzugehen. Kurzfristig gilt dies Bevölkerung Schottlands unmissverständ- nun für die Zeit nach den Wahlen. Solange lich für dessen Ausscheiden aus dem Ver- die schottische und die britische Regierung einigten Königreich votiert hat, muss auch darüber verhandeln oder vor Gericht strei- die EU kritische Fragen zur schottischen ten, ob es ein zweites Referendum geben Unabhängigkeit klären. Vier davon sind darf, ist es im Interesse der EU, in diesen besonders heikel für die Union. Sie wird zunächst einmal innenpolitischen Konflikt mit ihnen wohl schon bald konfrontiert nicht weiter hineingezogen zu werden. werden, sollte sich aber hüten, voreilige Auch Aufrufe wie jener von 170 europäi- Antworten darauf zu geben. schen und britischen Personen des öffent- Die erste Frage berührt die EU-Mitglied- lichen Lebens im April 2021, die EU solle schaft an sich. Wie jeder europäische Staat ein unabhängiges Schottland willkommen hätte auch ein unabhängiges Schottland heißen, dürften in London als Versuch gemäß Artikel 49 EUV das Recht, einen An- gewertet werden, das Vereinigte Königreich trag auf Beitritt zur EU zu stellen. Mittler- SWP-Aktuell 38 Mai 2021 6
weile obsolet aufgrund des Brexits sind die gener Abkommen zugestanden werden Diskussionen von 2014 über eine »interne sollte, um Mitglied der Common Travel Erweiterung« oder den direkten Übergang Area zwischen Irland und dem Vereinigten vom Vereinigten Königreich zur EU-Mitglied- Königreich zu bleiben. schaft. Jedoch ist die EU nicht verpflichtet, Auch die dritte Frage dreht sich um ein Schottland aufzunehmen. Außerdem müss- potentielles Opt-out, nämlich die Währung. te es die Kopenhagener Kriterien in Bezug Schon beim Referendum 2014 spielte dies auf Demokratie und Rechtsstaatlichkeit, eine wichtige Rolle. Damals sprach sich die funktionierende wirtschaftliche Ordnung SNP-Regierung unter dem Eindruck der und Übernahme des EU-Acquis erfüllen. Da Eurokrise dafür aus, nach der Unabhängig- das Vereinigte Königreich nach dem Brexit keit das britische Pfund zu behalten. Dies zunächst den kompletten EU-Acquis in wurde von der »Better Together«-Kampagne nationales Recht überführt hat, dürfte trotz als unglaubwürdig kritisiert und war eins erster Divergenzen eine Heranführung an ihrer Hauptargumente, um das hohe wirt- EU-Recht relativ schnell zu bewältigen sein. schaftliche Risiko der Unabhängigkeit dar- Wichtigstes politisches Kriterium für Staa- zustellen. Aktuell hat die SNP für ein un- ten wie Spanien dürfte indes sein, ob das abhängiges Schottland eine eigene Wäh- Referendum verfassungsgemäß stattgefun- rung versprochen und zugesichert, vor der den und die Unabhängigkeit in enger Ab- Einführung des Euro, falls sie denn statt- stimmung mit der britischen Regierung finden soll, ein weiteres Referendum abzu- erklärt wurde – ob also zusätzlich zum halten. Zwar muss ein neues EU-Mitglied Brexit sich auch das Prozedere deutlich von seine Währung nicht unmittelbar durch jenem im Fall Katalonien unterscheidet. den Euro ersetzen. Zumindest langfristig Die zweite Frage betrifft die Grenze zum ist aber, so die bisherige Praxis, auch ein restlichen Vereinigten Königreich. Infolge Euro-Beitritt obligatorisch. Vor einem des harten Brexits wären nach einem EU- zweiten Unabhängigkeitsreferendum wird Beitritt Schottlands Grenzkontrollen an der daher voraussichtlich über zwei Schwer- dann entstehenden schottisch-britischen punktthemen zu diskutieren sein. Zum Grenze notwendig. Zwar wäre diese voraus- einen dürfte es darum gehen, ob die EU sichtlich politisch weniger aufgeladen als Schottland bei einem Beitritt zum Euro die nordirisch-irische Grenze zwischen EU verpflichten würde, der im Vereinigten und Vereinigtem Königreich. Dennoch wäre Königreich nach wie vor einen äußerst sie wirtschaftlich und politisch ein großer schlechten Ruf hat. Zum anderen wird die Einschnitt. Dies gilt umso mehr, als Schott- SNP mit der Frage konfrontiert werden, lands Handel mit dem restlichen Vereinig- ob eine eigenständige Währung und eine ten Königreich weitaus umfangreicher ist eigene Zentralbank bzw. der Euro und die als mit der EU. Wie schon die Brexit-Befür- EZB in der Lage wären, die gleiche wirt- worter vor dem EU-Referendum in Abrede schaftliche Stabilität zu gewährleisten wie stellten, dass der EU-Austritt wirtschaftliche das britische Pfund und die Bank of England. Konsequenzen und neue Handelsschranken Die vierte Frage schließlich tangiert die für das Vereinigte Königreich mit sich Fischereipolitik. Dabei geht es weniger um bringen würde, so bestreitet nun die SNP, ihre wirtschaftliche Bedeutung. Angesichts dass Grenzkontrollen an der schottisch- der ausgedehnten territorialen Gewässer britischen Grenze notwendig wären. Aus Schottlands ist sie wie beim Brexit ein hoch EU-Perspektive wären sie aber zumindest politisches und emotionales Thema. Zwar für den Warenverkehr beim Beitritt zu Zoll- haben schottische Fischer mehrheitlich den union und Binnenmarkt der Union zwin- Brexit befürwortet, sind aber seit dem Ende gend erforderlich. Für den freien Personen- der Übergangszeit besonders stark vom verkehr wäre zu prüfen, ob Schottland ana- harten Brexit und den daraus erwachsenden log zu Irland (und wie zuvor dem Vereinig- Schwierigkeiten beim Export ihrer Ware in ten Königreich) ein Opt-out aus dem Schen- die EU betroffen. Eine der politisch heikel- SWP-Aktuell 38 Mai 2021 7
sten Verhandlungen, obwohl die Fischerei leicht. Ebenso wenig sollte er Anlass zu nur ein Viertelprozent der schottischen Häme oder Ansporn seitens der EU sein. Wirtschaft ausmacht, wäre daher die Abwä- Die Analyse der rechtlichen Bedingungen gung zwischen dem Zugang von EU-Fischern für ein zweites Referendum zeigt, dass die zu schottischen Gewässern, der Wieder- absolute Mehrheit der Unabhängigkeits- herstellung des Zugangs zum EU-Markt und befürworter von SNP und schottischen Grü- neuen Schranken beim Zugang zu briti- nen allein dafür nicht ausreicht. Für voll- schem Markt und britischen Gewässern. ständige Rechtssicherheit und politische Nicht direkt die EU betreffend, aber den- Legitimität wäre es unerlässlich, dass West- noch aus deutscher Perspektive wichtig sind minster eine solche Volksabstimmung auto- © Stiftung Wissenschaft schließlich die potentiellen Auswirkungen risiert. Das freilich lehnen Boris Johnson und Politik, 2021 auf die Außen-, Sicherheits- und Verteidi- und seine Konservativen bis dato ab. Aller Alle Rechte vorbehalten gungspolitik. Ein unabhängiges Schottland Voraussicht nach wird ein langwieriger wäre zunächst nicht mehr Mitglied der politischer Konflikt folgen, womöglich auch Das Aktuell gibt die Auf- Nato. Bei Überwachung und Verteidigung eine Auseinandersetzung vor dem Obersten fassung des Autors wieder. des Luft- und Seeraumes in Europa ent- Gerichtshof des Vereinigten Königreichs. Vor In der Online-Version dieser stände der Allianz daher eine große Lücke. dem zweiten Halbjahr 2022 wird es daher Publikation sind Verweise Zudem steht die SNP den britischen Kern- kein Unabhängigkeitsreferendum geben. auf SWP-Schriften und waffen höchst kritisch gegenüber, denn die Für die EU und Deutschland gilt es in dieser wichtige Quellen anklickbar. mit nuklearen Trident-Interkontinental- Phase, alle Fragen rund um die schottische SWP-Aktuells werden intern raketen bestückten vier britischen Atom-U- Unabhängigkeit als innenpolitische Themen einem Begutachtungsverfah- Boote sind in schottischen Häfen stationiert. zu behandeln und sich nicht einzumengen. ren, einem Faktencheck und Die schottischen Grünen lehnen Nuklear- Käme es zu einem zweiten Referendum, einem Lektorat unterzogen. waffen prinzipiell ab. Vergleichbar sichere bliebe der Ausgang mehr als ungewiss. Ende Weitere Informationen Alternativen zu den schottischen Stützpunk- 2020 und Anfang 2021 lagen die Unabhän- zur Qualitätssicherung der ten gibt es im restlichen Vereinigten König- gigkeitsbefürworter in mehreren Umfragen SWP finden Sie auf der SWP- Website unter https://www. reich nicht. Deswegen gehen britische Ver- zum Teil deutlich vorn. Grund war die Kom- swp-berlin.org/ueber-uns/ teidigungsexperten davon aus, dass vorüber- bination aus ungewolltem hartem Brexit qualitaetssicherung/ gehend sogar eine Stationierung in einem und dem schlechten Covid-19-Management anderen Nato-Staat wie Frankreich oder den im Vereinigten Königreich. In puncto Pan- SWP USA notwendig werden könnte. Auch die demiebekämpfung stand Schottland auch Stiftung Wissenschaft und Politik Frage einer Nato-Mitgliedschaft an sich dürf- durch die entschlossenere Politik der SNP- Deutsches Institut für te in Schottland umstritten sein. Irland bei- Regierung zunächst besser da. Aber infolge Internationale Politik und spielsweise ist nach der Unabhängigkeit be- der Impfkampagne, die anders als Lock- Sicherheit wusst neutral geblieben, um sich nicht an down-Entscheidungen im Vereinigten König- militärischen Interventionen des Vereinig- reich zentral und offensichtlich erfolg- Ludwigkirchplatz 3–4 ten Königreichs beteiligen zu müssen. reicher als in der EU gemanagt wurde, hat 10719 Berlin Telefon +49 30 880 07-0 sich das Bild gewandelt. Seit Februar 2021 Fax +49 30 880 07-100 weisen die Umfragen einen leichten Trend www.swp-berlin.org Ausblick in Richtung Verbleib aus. swp@swp-berlin.org Im längeren Verlauf ist daher anders als Der Brexit hat den Zusammenhalt des Ver- 2014 ein sehr knapper Ausgang zu erwar- ISSN (Print) 1611-6364 ISSN (Online) 2747-5018 einigten Königreichs stark belastet und ten, bei dem die Stimmung auch kurz vor doi: 10.18449/2021A38 auch die Frage der schottischen Unabhängig- dem Referendum noch kippen kann. Des keit wiederbelebt, die eigentlich nach dem Sieges gewiss kann sich keine der beiden Referendum 2014 im Sinne ihrer Gegner Seiten sein. Die EU sollte auf keines der geg- »für mindestens eine Generation« geklärt nerischen Lager wetten, geschweige denn schien. Dennoch ist der Weg zur Abspaltung die Unabhängigkeit aktiv unterstützen. Schottlands weder programmiert noch Dr. Nicolai von Ondarza ist Leiter der Forschungsgruppe EU / Europa. SWP-Aktuell 38 Mai 2021 8
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