Israel vor wegweisenden Wahlen - Einleitung

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Israel vor wegweisenden Wahlen - Einleitung
NR. 18 APRIL 2019                          Einleitung

Israel vor wegweisenden Wahlen
Eine neue Rechtsregierung könnte den Staat grundlegend verändern
Peter Lintl

Das Ergebnis der für April 2019 angesetzten Parlamentswahlen in Israel könnte den
Charakter des Staates nachhaltig prägen. Das gilt für sein demokratisches Selbst-
verständnis ebenso wie für die Politik gegenüber den Palästinensern. Die Parteien am
rechten Rand sind erstarkt, und im rechten Lager werden Positionen vertreten, die
lange als randständig galten. Zentrale Wahlkampfthemen der Rechten sind nun die
(Teil-)Annexion des Westjordanlandes und eine weitgehende Einschränkung der Arbeit
des Obersten Gerichtshofs. Ministerpräsident Benjamin Netanyahu steht diesen Ent-
wicklungen nicht unkritisch gegenüber. Weil ihm aber eine Anklage wegen Korrup-
tion droht, ist er politisch nur eingeschränkt manövrierfähig. Er könnte einem Straf-
prozess entgehen, wenn ihm das Parlament Immunität gewährt. Dafür ist der Premier
auf die Stimmen der rechten Parteien angewiesen. Sein Herausforderer Benny Gantz
wirbt hingegen für eine Regierung, die Rechtsstaatlichkeit und nationale Einheit in
den Mittelpunkt stellt. Drei Szenarien für die Zeit nach der Wahl sind denkbar. Eher
unwahrscheinlich wäre dabei ein Sieg des Mitte-Links-Lagers. Ein Mitte-Rechts-Bünd-
nis wäre durch die mögliche Anklage gegen Netanyahu belastet. Bildet sich eine reine
Rechtskoalition, könnten eine Annexion des Westjordanlandes und eine gravierende
Schwächung der Prinzipien liberaler Demokratie die Folge sein.

Vier Jahre Koalition der Rechtsparteien in      glaubt eine knappe Mehrheit israelischer
Israel haben ein ambivalentes Bild in der       Bürger (53 Prozent) zum ersten Mal seit
Gesellschaft des Landes hinterlassen: Einer-    Beginn der Datenerhebung zu dieser Frage
seits bekommt der amtierende Premier Ben-       2003, dass die Gesamtsituation Israels gut
jamin Netanyahu von einer Mehrheit der          oder sehr gut ist. Andererseits ist die poli-
Israelis gute Noten für seine Wirtschafts-      tische Polarisierung innerhalb der Gesell-
sowie seine Außen- und Sicherheitspolitik,      schaft stärker denn je. Erstmalig wird die
zumindest was Syrien und den Iran betrifft.     Konfrontation zwischen dem linken und
Selbst die linksliberale Zeitung Haaretz        dem rechten politischen Lager als größte
attestiert ihm eine weitsichtige und richtige   gesellschaftliche Spannungslage angesehen
Syrienpolitik. Eine Ausnahme ist seine          und hat damit die Auseinandersetzung
Politik gegenüber dem Gazastreifen, mit der     zwischen Arabern und Juden von diesem
74 Prozent unzufrieden waren. Weiterhin         Platz verdrängt. Gespalten sind die beiden
Israel vor wegweisenden Wahlen - Einleitung
Lager auch in der Frage, ob die israelische      zwei weitere ehemalige Generalstabschefs
                 Demokratie in ernster Gefahr oder auf            gewinnen konnte, Gabi Ashkenazi und
                 einem guten Weg ist. Diese Polarisierung         Moshe Ya’alon.
                 nimmt durch den Wahlkampf weiter zu.                Auf der anderen Seite verlieren etablierte
                 Aus dem Mitte-Links-Lager wird der rechten       Parteien wie die Arbeitspartei dramatisch
                 Regierung vorgeworfen, sie wolle die Prin-       an Rückhalt. Andere wie Hatnua unter der
                 zipien liberaler Demokratie unterminieren.       einstigen Justiz- und Außenministerin Tzipi
                 Aus dem rechten Lager wird beklagt, alte         Livni ziehen sich zurück. Dagegen haben
                 linke Seilschaften hätten einen »tiefen Staat«   Parteien wie Zehut, die vorher eine Rand-
                 geschaffen, der auf undemokratischem             existenz fristeten, plötzlich Aussichten, die
                 Wege einen Machtwechsel herbeiführen             3,25-Prozent-Hürde zu überwinden.
                 wolle. Zutreffend heißt es im Israeli Demo-         Daher ist die bevorstehende Wahl alles
                 cracy Index, Israel ordne sich damit in eine     andere als übersichtlich: Insgesamt treten
                 Reihe westlicher Staaten ein, deren Gesell-      14 Parteien oder gemeinsame Listen an, die
                 schaft eine Polarisierung erfahre, die oft       laut Umfragen realistische Chancen auf
                 unter dem Sammelbegriff »Krise der libera-       den Einzug in die Knesset haben. Fünf davon
                 len Demokratie« firmiere.                        (Gesher, Zehut, Yisrael Beitenu, Kulanu,
                                                                  Ram-Balad) liegen in den Umfragen mal
                                                                  über, mal unter der 3,25-Prozent-Hürde,
                 Neue Parteien, alte Blöcke                       wenigstens zwei weitere (Meretz und Shas)
                                                                  sind zwar stabil, aber nur knapp darüber.
                 Als Folge der Grabenkämpfe sind im Wahl-         Die Koalitionsmöglichkeiten nach der Wahl
                 kampf 2019 Brüche alter Fraktionsgemein-         und die Balance zwischen den Blöcken wer-
                 schaften, neue Allianzen und Parteigrün-         den wesentlich davon abhängen, welche
                 dungen zu beobachten. Aussichtsreich ist         dieser Parteien ins Parlament gelangen.
                 hier vor allem das neue Parteienbündnis             Grundsätzlich bleibt Israel jedoch auch
                 Kahol Lavan, das aus Yesh Atid, der Ende         parteipolitisch in einen Mitte-Links-arabi-
                 2018 ins Leben gerufenen Hosen L’Israel          schen Block und einen rechts-ultraortho-
                 und der Kleinstpartei Telem besteht. Dieses      doxen Block gespalten.
                 Bündnis der politischen Mitte ist in den            Zu ersterem zählen die Parteien Hadash-
                 meisten Umfragen stärkste Kraft vor dem          Ta’al, Ram-Balad, Meretz, die Arbeitspartei,
                 Likud. Großen Anteil daran hat ihr Spitzen-      Kahol Lavan, Gesher und Kulanu (obwohl
                 kandidat Benny Gantz. Als erster Gegen-          diese als Mitte-Rechts-Partei Teil der aktuel-
                 kandidat seit vielen Wahlen verfügt der          len Regierungskoalition ist). Zu letzterem
                 ehemalige Generalstabschef der israeli-          gehören die ultraorthodoxen Parteien Ver-
                 schen Armee über ähnlich gute Umfrage-           einigtes Thorajudentum und Shas sowie
                 werte wie Premier Netanyahu. Sicherheit ist      der Likud, Yisrael Beitenu, die Neue Rechte,
                 in Israel das alles überschattende Thema         Zehut und die Vereinigung der Rechten
                 bei jeder Wahl. Kandidaten, denen es an          Parteien.
                 Glaubwürdigkeit in diesem Bereich man-
                 gelt, haben de facto keine Chance. Die
                 Premierminister, die gegen den Likud seit        Themen der Wahl
                 Anfang der 1990er Jahre eine Wahl gewan-
                 nen – Yitzhak Rabin, Ehud Barak und              Die Opposition setzt ihren Schwerpunkt im
                 Ariel Sharon –, waren ausnahmslos hoch-          Wahlkampf vor allem darauf, Netanyahu
                 rangige Militärs. Von daher spielt Gantz’        abzuwählen. Das ist auch das einigende
                 militärische Karriere nicht die einzig aus-      Band des ansonsten recht heterogenen Bünd-
                 schlaggebende, aber eine zentrale Rolle bei      nisses Kahol Lavan. Inhaltlich konzentriert
                 Umfragen zur Befähigung für das Amt des          die Opposition sich im Wahlkampf in erster
                 Premiers. Gestärkt wird seine Position noch      Linie auf Prinzipien wie Rechtsstaatlichkeit,
                 dadurch, dass er für das Parteienbündnis         moralische Integrität und die Frage, in

SWP-Aktuell 18
April 2019

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Grafik

Parlamentswahl in Israel 2019

Quelle: , Daten vom 1.3.–2.4.2019.

welchem Stil das Land regiert werden soll.            rechten Lagers – auch in Bezug auf den
Benny Gantz hat dies auf die Formel »Mem-             Friedensprozess. Anders als der Premier
shala Mamlachtit« gegenüber »Memshala                 verlangt Gantz, man solle sich wieder um
Malchutit« gebracht. Sinngemäß bedeutet               einen Friedensprozess bemühen, spricht
das die Wahl zwischen einer staatstragen-             aber nicht von einem palästinensischen
den, inklusiven Regierung und einer Regie-            Staat oder der Zweistaatenlösung. Statt-
rung, die den Staat wie ein »Königreich«              dessen bekräftigt er, Israel werde sich nicht
führt sowie persönliche und partikulare               aus den Siedlungsblöcken, dem Golan oder
Interessen über Allgemeinwohl und Rechts-             Ostjerusalem zurückziehen, und beklagt,
staat stellt. Damit nimmt Gantz Bezug auf             es gebe keinen Partner auf der anderen
die polarisierende Haltung der Regierung,             Seite. Diese Unklarheit ist generell ein Pro-
verbale Angriffe auf staatliche Einrichtun-           blem des politischen Zentrums: Laut einer
gen und den Obersten Gerichtshof sowie                Umfrage des Israel Democracy Institute
die Anklage, die Netanyahu wegen Bestech-             sagen sogar Wähler, die sich selbst im Zen-
lichkeit droht.                                       trum verorten, es sei nicht eindeutig, wofür
   Darüber hinaus bleibt die inhaltliche              Parteien der politischen Mitte genau stehen.
Auseinandersetzung zwischen Gantz und                    Die Arbeitspartei sucht eine neue Rolle,
Netanyahu relativ vage. Im Hinblick auf               nachdem sich die Zahl ihrer Mandate wahr-
Iran und Syrien divergieren ihre Positionen           scheinlich halbieren wird. Im Wahlkampf
kaum. Was die Politik gegenüber dem Gaza-             positioniert sie sich links und behauptet,
streifen betrifft, wirft Gantz Netanyahu              ohne eine starke Arbeitspartei werde Gantz
zwar Versagen vor, lässt aber im Unklaren,            ein Bündnis mit dem Likud eingehen.
wie er selbst vorgehen würde. In einem der            Zusammen mit Meretz und Hadash-Ta’al
ersten Wahlwerbespots wurde Gantz sogar               bildet die Arbeitspartei den kleinen Rest
als Hardliner porträtiert: Gezeigt wurde              der Parteien, die noch explizit für eine
ein zerstörtes Gaza nach den kriegerischen            Zweistaatenlösung eintreten.
Auseinandersetzungen 2014. Als einer der                 In den Reihen der arabischen Parteien
Erfolge wurde »1364 getötete Terroristen«             hat sich die Vereinte Liste in zwei neue
genannt. Marginal sind die Differenzen –              Listen aufgespalten, da sie sich über die
zu Netanyahu selbst, weniger zum Rest des             Mandatsverteilung und grundsätzlichere

                                                                                                                      SWP-Aktuell 18
                                                                                                                         April 2019

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Punkte nicht einig war: Während Ram-           die nach rechts offen ist: Seit der letzten
                 Balad eine Kooperation mit zionistischen       Legislaturperiode hat sich eine Debatte
                 Parteien weiterhin kategorisch ablehnt, will   innerhalb der Koalition und besonders
                 Hadash-Ta’al einen pragmatischeren Weg         zwischen Likud und Jüdischem Heim ent-
                 gehen und unter bestimmten Umständen           wickelt, wer »authentischer« rechte Posi-
                 eine Mitte-Links-Koalition unterstützen.       tionen vertritt. Diese Dynamik hat den
                                                                Diskurs innerhalb des rechten politischen
                                                                Lagers noch mehr vom Zentrum entfernt.
                 Die Rechte im Wahlkampf                        Das heißt, die eigentlichen Neuerungen
                                                                im Zuge dieser Wahlen finden im rechten
                 Netanyahu präsentiert sich im Wahlkampf        politischen Lager statt, das immer weiter
                 als kompetenter Außenpolitiker, der mit        nach rechts rückt.
                 den Führern der Großmächte dieser Welt
                 auf Augenhöhe diskutiert. Die Anerken-         Parteipolitischer Rechtsruck
                 nung der israelischen Annexion der Golan-
                 höhen durch die USA zwei Wochen vor der        Festzuhalten ist, dass im Parteienspektrum
                 Wahl kommt ihm dabei zupass und kann           der rechte Rand auf Kosten der moderaten
                 durchaus als Wahlkampfgeschenk an ihn          Rechten gestärkt wurde. Das ging vor allem
                 verstanden werden. Ansonsten setzt er stark    zu Lasten der Mitte-Rechts-Partei Kulanu.
                 auf die Botschaft, nur eine von ihm geführ-    Verfügt sie in der derzeitigen Knesset noch
                 te rechte Regierung könne die physische        über zehn Sitze, ist mittlerweile ungewiss,
                 Sicherheit und den jüdischen Charakter         ob sie wieder ins Parlament einziehen wird.
                 Israels garantieren. Dies wird ständig in      Zu beobachten ist eine parteipolitische Dif-
                 kurzen, einprägsamen Wahlkampfslogans          ferenzierung und ein Erstarken der Parteien
                 verbreitet, in denen vor der militärisch       am rechten Rand. Wurde dieser vorher
                 »schwachen« Linken und einem Erstarken         allein durch die Partei Jüdisches Heim ver-
                 der arabischen Parteien gewarnt wird. »Bibi    treten, sind es jetzt drei Parteien mit guten
                 oder Tibi« (Ahmad Tibi ist Ko-Vorsitzender     Aussichten auf Einzug in die Knesset: die
                 der arabischen Partei Hadash-Ta’al) und        Neue Rechte, die Vereinigung der Rechten
                 »Gantz ist links. Die Linke ist schwach«       Parteien und Zehut.
                 lauten die bekanntesten Parolen. Diese Aus-       Die Neue Rechte ist eine Ausgründung
                 drucksweise ist tonangebend in der israe-      aus dem Jüdischen Heim. Mit diesem
                 lischen Rechten geworden, seit Netanyahu       Schritt hatten sich die Parteispitzen Naftali
                 im Wahlkampf 2015 eine populistische           Bennett und Ayelet Shaked erhofft, ihre
                 Wende vollzogen hat. Im Angesicht einer        Wählerbasis über das nationalreligiöse Lager
                 drohenden Wahlniederlage mobilisierte          hinaus auf die säkulare Rechte auszudeh-
                 er damals noch am Wahltag seine Unter-         nen. Daraufhin schlossen sich die verbliebe-
                 stützer, als er behauptete, die Araber         nen Knessetmitglieder des Jüdischen Heims
                 würden in Scharen wählen und von den           mit Otzma Yehudit zur Vereinigung der
                 Linken mit Bussen zu den Wahlurnen             Rechten Parteien zusammen. Bemerkens-
                 gebracht. Mit dieser Äußerung und weite-       wert daran ist, dass Otzma Yehudit eine
                 ren im Verlauf des damaligen Wahlkamp-         Nachfolgepartei der 1988 wegen Rassismus
                 fes bezichtigte er die arabische Minderheit    aus der Knesset ausgeschlossenen Partei
                 implizit, als »fünfte Kolonne« zu agieren,     Kach ist. Sie vertritt einen jüdischen Supre-
                 und brachte sie unmittelbar in Zusammen-       matismus und offenen Rassismus. Otzma
                 hang mit dem israelisch-arabischen Kon-        Yehudit verlangt, das gesamte Westjordan-
                 flikt nach dem Motto: Eine Stimme für die      land zu annektieren, alle dem Staat gegen-
                 Linke ist eine Stimme für die Feinde des       über illoyalen Palästinenser bzw. Araber
                 Staates.                                       (nach ihrer Aussage 99 Prozent) auszuwei-
                    Damit hat er aber auch eine Dynamik in      sen, den Dritten Tempel auf dem Tempel-
                 Gang gesetzt (siehe SWP-Aktuell 60/2016),      berg wiederaufzubauen und die Moscheen

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dort abzureißen. Ferner kündigt sie in ihrem     als vollkommen verrückt angesehen. Wir
Wahlprogramm einen »totalen Krieg« gegen         haben das in den letzten Jahren in ein
die Feinde Israels an.                           Mainstreamthema verwandelt.« Ein Blick
   Die dritte Partei am rechten Rand, die        auf die parteipolitische Landschaft bestätigt
sich Hoffnungen auf einen Einzug in die          das: Die drei Parteien vom rechten Rand,
Knesset machen kann, ist Moshe Feiglins          also Neue Rechte, Vereinigung der Rechten
Zehut. Sie ist eine Partei der Extreme: Einer-   Parteien und Zehut, haben in ihren Pro-
seits vertritt sie einen äußerst libertären      grammen die (Teil-)Annexion des West-
Standpunkt, nach dem der Staat das Leben         jordanlandes fest verankert. Auch der Likud
der Bürger so wenig wie möglich reglemen-        spricht sich dafür aus, obwohl sich Netan-
tieren soll. Unter anderem verspricht sie im     yahu selbst aus diplomatischen Gründen
Wahlkampf, Marihuana zu legalisieren,            dagegen wendet. Diese Streitfrage ist der
womit sie anscheinend auch für die Mitte-        Grund dafür, dass es seit 2009 kein aktuel-
Links-Wählerschaft attraktiv ist. Anderer-       les Parteiprogramm des Likud mehr gibt.
seits steht Feiglin weit rechts, wenn es um      Allerdings befürworten 28 der 30 Knesset-
den Konflikt mit den Palästinensern geht:        abgeordneten des Likud (bis auf Tzachi
Laut Parteiprogramm soll das ganze West-         Hanegbi und Netanyahu) eine Annexion
jordanland annektiert und eine »jüdische         von Teilen oder des ganzen Westjordan-
Synagoge« (eine Metapher für den Tempel)         landes. Erst kürzlich hat die Lobbygruppe
auf dem Tempelberg wiedererrichtet wer-          Ribonut (Souveränität) ein Video veröffent-
den; außerdem sollen die in Gaza und im          licht, in dem zahlreiche Knessetabgeordne-
Westjordanland lebenden Palästinenser            te vor allem der Parteien Likud, Jüdisches
in arabische Nachbarländer ziehen. Nach          Heim und Neue Rechte ihre Unterstützung
Feiglin selbst steht die Partei den Positionen   für Annexionen aussprechen. Die ultra-
von Otzma Yehudit sehr nahe, mit dem             orthodoxen Parteien Vereinigtes Thora-
Unterschied, dass Zehut auf freiwillige          judentum und Shas geben sich in diesem
Übersiedlung und nicht auf Ausweisung            Punkt zögerlicher, da sie Koalitionspartner
der Palästinenser setzt. Damit zeichnet sich     des Likud sind.
innerhalb des rechten Lagers eine mehr
oder weniger deutliche parteipolitische          Transformation zu einer
Verschiebung ab – je nachdem, ob Zehut           majoritären Demokratie
den Einzug in die Knesset schafft. Aber
auch im rechten Mainstream, also beson-          Ein weiteres Thema im rechten Lager ist
ders in den Parteien Likud und Yisrael           der weithin geteilte Wunsch, Israel in eine
Beitenu, haben sich die Positionen weiter        majoritäre Demokratie zu verwandeln. In
nach rechts verschoben.                          liberalen Demokratien sollen Verfassungs-
                                                 prinzipien und ein System gegenseitiger
Forderung nach (Teil-)Annexion                   Kontrollen (Checks and Balances) Individual-
des Westjordanlandes                             und Minderheitenrechte schützen. Befür-
                                                 worter eines majoritären Systems behaup-
Die Forderung nach Annexion oder Teil-           ten nun, diese Prinzipien schränkten die
annexion gehört im rechten Lager mittler-        Demokratie ein und verzerrten den Willen
weile zum Standardrepertoire. Yuli Edel-         der Mehrheit. Deshalb versprechen Parteien
stein, Sprecher der Knesset und Kandidat         des rechten Lagers, das System gegenseitiger
auf Platz 2 der Likud-Liste, brachte diese       Kontrollen zwischen den Gewalten, vor
Diskursverschiebung in einem Interview im        allem die Kontrollfunktion der Justiz, weit-
Januar 2019 auf den Punkt: »Wir haben in         gehend abzuschwächen oder gar abzuschaf-
der nächsten Knesset die große Aufgabe, die      fen und die Stellung des Parlaments deut-
Souveränität über die Siedlungen in Jehuda       lich zu stärken. Gleichzeitig sollen Indivi-
und Samaria zu erklären. Noch vor einigen        dual- und Minderheitenrechte hinter jüdi-
Jahren wurde jeder, der darüber sprach,          schen Kollektivrechten zurückstehen. Ein

                                                                                                 SWP-Aktuell 18
                                                                                                    April 2019

                                                                                                             5
wichtiger Schritt in diese Richtung war das      zum Rassismus anstiften. Solche Beschlüsse
                 im Juli 2018 verabschiedete Nationalstaats-      trafen in steter Regelmäßigkeit arabische
                 gesetz (siehe SWP-Aktuell 50/2018). Die Vor-     Parteien (wie Ram-Balad) und Kandidaten
                 reiter des Gesetzes in der Regierungskoali-      (etwa der bereits genannte Ahmad Tibi), er-
                 tion artikulieren offen den aus ihrer Sicht      füllten aber gemäß dem Obersten Gerichts-
                 notwendigen Primat jüdischer Kollektiv-          hof nicht die gesetzlichen Kriterien. Wird
                 rechte. Justizministerin Shaked betonte, der     nun die Überstimmungsklausel verabschie-
                 jüdische Charakter des Staates müsse auch        det, gewinnt die politische Perspektive der
                 auf Kosten von Menschenrechten geschützt         Knesset die Oberhand über die juristische
                 werden. Tourismusminister Yariv Levin er-        Sicht des Gerichtshofs. Meistens entspinnen
                 klärte, das Judentum solle immer Vorrang         sich diese Differenzen zwischen Oberstem
                 vor anderen politischen Prinzipien haben.        Gerichtshof und Parlament an Fragen von
                 Bildungsminister Bennett verlangte, eine         Minderheitenschutz oder Gleichheitsprinzi-
                 Trennmauer zwischen den drei Gewalten            pien.
                 zu bauen: »Eine Gewalt darf nicht in die
                 Bereiche einer anderen intervenieren.«
                    In diesem Kontext haben rechte Parteien       Der drohende Strafprozess gegen
                 den Obersten Gerichtshof zum Hauptgegner         Netanyahu
                 gewählt. Justizministerin Shaked hat einen
                 Hundert-Tage-Plan vorgelegt, mit dem das         Verstärkt werden die Ressentiments gegen
                 Grundgesetz »Menschenwürde und Frei-             Justiz als Teil des »tiefen Staates« im Zu-
                 heit« von 1992, als »konstitutionelle Revolu-    sammenhang mit der drohenden Anklage
                 tion« bekannt, endgültig zurückgenommen          gegen Netanyahu wegen Korruption. Gene-
                 werden soll. In dem Gesetz waren erstmals        ralstaatsanwalt Avichai Mandelblit empfahl
                 liberale Prinzipien im Verfassungsrang           am 28. Februar 2019, Netanyahu wegen
                 verankert worden, aus denen der Oberste          Korruption in drei Fällen anzuklagen, und
                 Gerichtshof ein Normenkontrollrecht ab-          legte dazu einen 57-seitigen Bericht vor.
                 leitete. So wurden Normenkontrollklagen          So soll der Premier den führenden Kommu-
                 gegen Knesset-Beschlüsse möglich. Shaked         nikationsunternehmer Shaul Elovitch von
                 will Richter nur noch mit Zustimmung             staatlichen Regulierungen befreit haben,
                 von Knesset und Regierung ernennen lassen        damit dieser Geschäfte im Wert von um-
                 und eine Überstimmungsklausel (Piskat            gerechnet rund 250 Millionen Euro tätigen
                 HaHitgabrut) verabschieden, die dem Parla-       konnte. Im Gegenzug soll Elovitch dafür
                 ment erlauben würde, Urteile des Obersten        gesorgt haben, dass auf der zu seinem
                 Gerichts zu revidieren. Hinter diesem Plan       Konzern gehörenden Nachrichtenwebsite
                 steckt die Vorstellung, die Demokratie von       – der zweitgrößten Newswebsite Israels –
                 Fesseln zu befreien, indem dafür gesorgt         durchweg positiv über Netanyahu berichtet
                 wird, dass den Mehrheiten im Parlament           wurde. In dem Bericht des Generalstaats-
                 kaum mehr Beschränkungen durch das               anwalts werden über 100 Einzelbelege da-
                 Oberste Gericht auferlegt werden können.         für genannt.
                    Vor allem die Verabschiedung der Über-           Der nächste Schritt ist eine Anhörung
                 stimmungsklausel hätte weitreichende             Netanyahus, in der er Einwände gegen die
                 Auswirkungen, denn sie zielt auf ein Ende        Beschuldigungen vorbringen kann. Danach
                 juristischer Kontrolle der Legislative. So hat   entscheidet der Generalstaatsanwalt, ob er
                 der Oberste Gerichtshof häufiger Beschlüsse      tatsächlich Anklage erheben wird – wovon
                 der Knesset oder ihres Wahlausschusses           allgemein ausgegangen wird.
                 kassiert, Parteien oder Kandidaten von einer        Netanyahu hat erklärt, er wolle auch bei
                 Wahl auszuschließen. Laut Gesetz ist dies        einer Anklage im Amt bleiben. Er sei in der
                 statthaft, wenn diese Israel nicht als jüdi-     Lage, in der Anhörung sämtliche Vorwürfe
                 schen und demokratischen Staat anerken-          auszuräumen. Allerdings halten dies fast
                 nen, bewaffneten Kampf unterstützen oder         alle Kommentatoren für unwahrscheinlich.

SWP-Aktuell 18
April 2019

6
Gleichzeitig fahren der Premier und seine        anderen Politikern der Vereinigung zwei
Unterstützer eine massive Diskreditierungs-      Ministerposten und einem sogar einen
kampagne gegen die Klageerhebung und             Listenplatz beim Likud an. Netanyahu
deren Hintergründe. Die wichtigste Bot-          betrieb seine Lobbyarbeit vor dem Hinter-
schaft aus dem Lager Netanyahus lautet, die      grund des ungewissen Wahlausgangs und
drohende Klage sei auf das Bestreben links-      der Furcht, dass der rechte Block zu viele
liberaler Eliten zurückzuführen, die einen       Stimmen verlieren würde, wenn die klei-
»Staat im Staate« bzw. einen »tiefen Staat«      nen Rechtsparteien an der 3,25-Prozent-
etabliert hätten. Da die Linke es nicht schaf-   Klausel scheitern sollten.
fe, Netanyahu auf demokratischen Wege                Dieser Ansatz Netanyahus hat weit-
abzulösen, nutzten diese Eliten ihre Kon-        reichende Konsequenzen. Indem der Pre-
trolle über die Medien, um Druck auf Poli-       mier für die Integration einer rechtsextre-
zei und Staatsanwaltschaft auszuüben, dem        men Partei warb, vollzog er einen Bruch
diese schließlich nachgegeben hätten. Viele      mit bisherigen Grundlagen des Konsenses
Politiker aus dem rechten Spektrum, aber         in der israelischen politischen Kultur –
auch rechte Medien teilen diese Sichtweise.      auch wenn eine Abmachung existiert, laut
   Wie Netanyahu einer Anklage entgehen          der die Abgeordneten von Otzma Yehudit
will, ist noch nicht ganz klar. Zwei Szenari-    in die Opposition gehen werden. Mit seinem
en sind denkbar. Erstens kann die Knesset        Werben um die rechtsextreme Partei setzte
einem Abgeordneten oder Minister Immu-           Netanyahu eine Diskursverschiebung in
nität gewähren, falls sie zu der Überzeu-        Gang. Einige Abgeordnete von Meretz und
gung kommt, dass die Anklage nicht in            der Arbeitspartei beantragten im Wahl-
»guter Absicht« vorgebracht wurde. In diese      ausschuss der Knesset, Otzma Yehudit nicht
Richtung bewegt sich Netanyahus Medien-          zur Wahl zuzulassen. Der Ausschuss musste
kampagne. Zweitens gibt es konkrete Pläne,       unter dem Eindruck des Wahlkampfs nicht
das sogenannte Französische Gesetz zu ver-       nur eine Sachentscheidung treffen, sondern
abschieden, das einem amtierenden Minis-         auch artikulieren, wo er steht: links oder
terpräsidenten per se Immunität gewähren         rechts, für oder gegen Netanyahu. Mit einer
würde. Eine solche Gesetzesvorlage wurde         Mehrheit von 16 zu 15 (die Partei Kulanu
schon verschiedentlich von Unterstützern         enthielt sich) lehnte der Ausschuss es ab,
Netanyahus im Likud ins Spiel gebracht, im       den Spitzenkandidaten von Otzma Yehudit,
März 2019 aber auch von Bezalel Smotrich,        Michael Ben-Ari, auszuschließen. Das hat
einem Knessetmitglied des Jüdischen Heims.       Symbolwirkung, denn das Gremium, stell-
Netanyahu hat Ende März 2019 kundgetan,          vertretend für das Parlament, sanktioniert
er halte es für unwahrscheinlich, dass er        die Positionen der Partei und legitimiert sie
ein solches Gesetz unterstützen würde –          damit als einem demokratischen Parlament
ausgeschlossen hat er es nicht. Dabei scheint    angemessen. Damit verschieben sich die
klar, dass ein solches Vorhaben die Unter-       Grenzen des legitim Sagbaren, da auf diese
stützung der Parteien des rechten politi-        Weise auch rechtsextreme Positionen nobi-
schen Spektrums benötigt. Viele Politiker        litiert werden. Zwar schloss der Oberste
der Rechten – mit der bemerkenswerten            Gerichtshof Ben-Ari nachträglich wegen
Ausnahme Bennetts – haben auch schon             Rassismus von der kommenden Parlaments-
verkündet, dass sie dazu bereit wären,           wahl aus. Die Diskursverschiebung lässt
während die Parteien des Mitte-Links-Spek-       sich aber nicht mehr ohne weiteres rück-
trums ihre Ablehnung signalisierten.             gängig machen.
   Dass Netanyahu auf rechte Parteien
angewiesen ist, macht sich auch im Wahl-
kampf bemerkbar. Der Einschluss von
Otzma Yehudit in die Vereinigung der
Rechten Parteien erfolgte tatsächlich unter
massivem Druck Netanyahus. Er bot den

                                                                                                 SWP-Aktuell 18
                                                                                                    April 2019

                                                                                                             7
Drei Szenarien für die                                          mit Kahol Lavan würde Netanyahus Abhän-
                               Regierungsbildung                                               gigkeit von den rechtsextremen Parteien
                                                                                               verringern. Auch könnte sie in den außen-
                               Das erste Szenario wäre eine Koalition                          politisch schwierigen Entwicklungen mode-
                               unter der Führung von Benny Gantz, wobei                        rierend wirken, besonders der Annexions-
                               nach zweieinhalb Jahren ein Wechsel von                         debatte.
                               Gantz auf Lapid im Amt des Premiers vor-                            Im Falle einer Anklage gegen Netanyahu
                               gesehen ist. Weil Gantz ausgeschlossen hat,                     ist eine Koalition mit den Mitte-Links-Par-
                               Vertreter der arabisch-palästinensischen                        teien unwahrscheinlich. So gut wie ausge-
                               Listen in eine Regierung zu holen, ist Kahol                    schlossen ist zudem, dass eine Mitte-Rechts-
© Stiftung Wissenschaft        Lavan auf dreierlei angewiesen, um eine                         Koalition ein Gesetz verabschiedet, das
und Politik, 2019              Regierungsmehrheit stellen zu können: Das                       Netanyahu Immunität gewähren würde.
Alle Rechte vorbehalten        Bündnis muss bei der Wahl deutlich besser                       Darüber hinaus ist unklar, ob Netanyahus
                               abschneiden als Likud, außerdem benötigt                        Partei, der Likud, eine Koalition mit Kahol
Das Aktuell gibt die Auf-
                               es ein gutes Ergebnis kleinerer Parteien der                    Lavan mittragen würde: Während der lau-
fassung des Autors wieder.
                               Mitte (wie Gesher und Kulanu) und die                           fenden Legislaturperiode stoppten Abge-
In der Online-Version dieser   Bereitschaft kleinerer Parteien des rechten                     ordnete des Likud Netanyahu bei seinem
Publikation sind Verweise      Lagers (etwa Yisrael Beitenu), mit Kahol                        Versuch, eine Große Koalition mit der Zio-
auf SWP-Schriften und          Lavan zu koalieren. Vertreter ultraortho-                       nistischen Union anzubahnen.
wichtige Quellen anklickbar.
                               doxer Parteien würden nur dann in eine                              Diese Argumente sprechen daher für
SWP-Aktuells werden intern
                               Regierung Gantz gelangen, wenn eine Koa-                        ein drittes Szenario, bei dem Netanyahu
einem Begutachtungsverfah-     lition unter Netanyahu unmöglich wäre.                          eine reine Rechtsregierung formen müsste.
ren, einem Faktencheck und         Zwei weitere Regierungskoalitionen sind                     Kommt sie zustande, ist erstens damit zu
einem Lektorat unterzogen.     vorstellbar, jeweils mit Netanyahu als Pre-                     rechnen, dass sie versuchen wird, Israel von
Weitere Informationen          mier. Beide sind wahrscheinlicher als eine                      einer eingeschränkt liberalen zu einer majo-
zur Qualitätssicherung der
                               Mitte-Links-Regierung, auch wenn Kahol                          ritären Demokratie umzubauen. Zweitens
SWP finden Sie auf der SWP-
Website unter https://www.     Lavan in Umfragen derzeit vor dem Likud                         dürfte sich die Rechtsregierung voraussicht-
swp-berlin.org/ueber-uns/      liegt. Nicht nur die Demoskopie spricht für                     lich daran begeben, die weithin geteilten
qualitaetssicherung/           diese Szenarien, auch Netanyahus Möglich-                       Forderungen nach einer (Teil-)Annexion des
                               keiten, sowohl mit rechten Parteien als                         Westjordanlandes zu erfüllen.
SWP
                               auch mit Parteien der Mitte zu koalieren.                           In beiden Fällen würde sich Israel weiter
Stiftung Wissenschaft und
Politik
                                   Das zweite Szenario bestände in einer                       von der gemeinsamen politischen Werte-
Deutsches Institut für         Mitte-Rechts-Koalition unter Netanyahu.                         basis mit der EU entfernen, wie sie etwa in
Internationale Politik und     Diese Lösung dürfte er einer reinen Rechts-                     den Assoziationsverträgen zwischen der
Sicherheit                     koalition vorziehen. Zwar hat er die Bedeu-                     Union und Israel festgehalten wurde. Jeg-
                               tung einer rechten Regierung gepriesen,                         liche Annexion würde einen klaren Bruch
Ludwigkirchplatz 3–4
                               doch in diese müsste er wahrscheinlich die                      des Völkerrechts darstellen. Darüber hinaus
10719 Berlin
Telefon +49 30 880 07-0        rechtsextremen Parteien Otzma Yehudit                           wäre ein solcher Schritt faktisch das Ende
Fax +49 30 880 07-100          oder Zehut einschließen. Stattdessen läge es                    der einzig realistischen Lösungsformel für
www.swp-berlin.org             für Netanyahu nahe, mit Kahol Lavan zu                          den israelisch-palästinensischen-Konflikt,
swp@swp-berlin.org             koalieren, weil dieses Bündnis und Likud in                     nämlich der Zweistaatenlösung.
                               sicherheitspolitischen Fragen weitgehend
ISSN 1611-6364
doi: 10.18449/2019A18
                               auf einer Linie liegen. Kahol Lavan hat dazu
                               ambivalente Signale gesendet: Hatten Gantz
                               und Lapid eine solche Zusammenarbeit An-
                               fang 2019 durchaus für möglich gehalten,
                               schloss Gantz sie später aus. Eine Koalition

                               Dr. Peter Lintl ist Leiter des Projekts »Israel in einem konfliktreichen regionalen und globalen Umfeld: Innere Entwicklungen,
                               Sicherheitspolitik und Außenbeziehungen«. Das Projekt ist in der SWP-Forschungsgruppe Naher / Mittlerer Osten und Afrika
                               angesiedelt und wird vom Auswärtigen Amt gefördert.

      SWP-Aktuell 18
      April 2019

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