Nicht invasive Beatmung bei akuter respiratorischer Insuffizienz
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MEDIZIN KLINISCHE LEITLINIE Nicht invasive Beatmung bei akuter respiratorischer Insuffizienz Bernd Schönhofer, Ralf Kuhlen, Peter Neumann, Michael Westhoff, Christian Berndt, Helmut Sitter ZUSAMMENFASSUNG Einleitung: Die nicht invasive Beatmung (NIV) wird seit circa B ei atmungsinsuffizienten Patienten in der Akut- versorgung stellt sich regelmäßig die Frage nach dem individuell angemessenen, das heißt wirk- 20 Jahren als Therapieverfahren bei akuter respiratorischer Insuffizienz (ARI) eingesetzt. Die hier präsentierte S3-Leitlinie samen und gleichwohl risikoarmen Beatmungsregi- beantwortet nach evidenzbasierten Kriterien die Frage nach me. Während der vergangenen Jahrzehnte waren die den gesicherten Indikationen, wie auch den Grenzen der NIV Beatmungsverfahren mit invasivem Zugang über den als Therapie der ARI. Trachealtubus beziehungsweise das Tracheostoma als Methoden: Die Projektgruppe mit Experten aus zwölf medizi- lebensrettendes Konzept bei der Behandlung der aku- nischen Fachgesellschaften analysierte circa 2 900 Veröf- ten respiratorischen Insuffizienz (ARI) etabliert. Ge- fentlichungen. Entsprechend den Vorgaben zur Erstellung stützt auf Ergebnisse der breiten klinischen Forschung von S3-Leitlinien und basierend auf Relevanz- und Evidenz- hat jedoch in den letzten 20 Jahren auch die nicht in- bewertung der Literatur wurden in zwei interdisziplinären vasive Beatmung (NIV) als Therapie der ARI einen Konsensuskonferenzen die Empfehlungen und Algorithmen hohen Stellenwert erlangt (Tabelle 1). In der Akutver- der Leitlinie verabschiedet. sorgung ist die NIV jedoch noch nicht überall fest eta- Ergebnisse: NIV sollte, wenn möglich, der Intubation vorgezo- bliert. Von 5 183 beatmeten Patienten auf Intensivsta- gen werden, um Komplikationen der invasiven Beatmung zu tionen wurden in einer internationalen Studie 4,9 % vermeiden, wie zum Beispiel die Tubus-assoziierte Pneu- mit NIV behandelt (1). Die NIV-Rate betrug nur 16,9 % monie (Empfehlungsgrad A). Insbesondere bei der hyperkap- bei beatmeten Patienten mit exazerbierter chro- nischen ARI senkt NIV die nosokomiale Pneumonierate, die nisch obstruktiver Lungenerkrankung (COPD), ob- Aufenthaltsdauer und Letalität auf der Intensivstation bezie- wohl diese Indikation seit mehreren Jahren evidenz- hungsweise im Krankenhaus (Empfehlungsgrad A). Weitere basiert ist (2). Der Nutzen der NIV wird, abhängig von gesicherte Indikationen für NIV (beziehungsweise konstanten positiven Atemwegsdruck [CPAP]) sind das kardiale Lun- der Indikationsstellung, noch immer heterogen be- genödem (Empfehlungsgrad A), die Therapie der ARI bei im- wertet (2, 3). munsupprimierten Patienten (Empfehlungsgrad A), die Post- Vor diesem Hintergrund formulierten unter dem extubationsphase und Entwöhnung (Weaning) von invasiver Dach der Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Langzeitbeatmung bei hyperkapnischer ARI (Empfehlungs- Medizinischen Fachgesellschaften e.V. (AWMF) un- grad A) sowie die palliative Linderung der Dyspnoe (Empfeh- ter Federführung der Deutschen Gesellschaft für lungsgrad C). Bei Patienten mit hypoxämischer ARI ist NIV Pneumologie und Beatmungsmedizin (DGP) zwölf aufgrund einer Versagerquote von 30 % bis über 50 % derzeit medizinische Fachgesellschaften die Leitlinie zum nicht generell zu empfehlen. Einsatz der NIV als Therapie der ARI. Mit der Ent- Diskussion: Trotz günstiger evidenzbasierter Datenlage ist wicklungsstufe S3 basiert diese Leitlinie auf einer die Anwendung der NIV in die Akutmedizin häufig noch unzu- systematischen Literaturanalyse und auf einem inter- reichend. Ziel der Leitlinie ist die breitere Etablierung dieser disziplinären Konsensusprozess (e1). Therapieform auf dem Boden der wissenschaftlichen Evi- Die Leitlinie beinhaltet gesicherte Indikationen, denz. Dtsch Arztebl 2008; 105(24): 424–33 Kontraindikationen, Verlaufs- und Abbruchkriterien DOI: 10.3238/arztebl.2008.0424 der NIV sowie die Vor- und Nachteile der NIV im Ver- Schlüsselwörter: nicht invasive Positivdruckbeatmung, Beat- gleich zur invasiven Beatmung. Wesentliches Ziel der mung, evidenzbasierte Medizin, Therapiekonzept, ARDS, respi- Leitlinie ist die breitere Etablierung dieser Therapie- ratorische Insuffizienz form in der Akutmedizin auf dem Boden der wissen- schaftlichen Evidenz. Nach einer Übersicht zur Me- Krankenhaus Oststadt-Heidehaus, Abteilung Pneumologie und internistische Intensivmedizin, Klinikum Region Hannover: Prof. Dr. med. thodik der Leitlinienentwicklung werden im Folgen- Schönhofer, Dipl.-Ing. Berndt den die Kernempfehlungen dargestellt. Die Leitlinie Klinik für Intensivmedizin, Helios Klinikum, Berlin Buch: Prof. Dr. med. Kuhlen ist in voller Länge bei der Arbeitsgemeinschaft der Abteilung für Klinische Anästhesiologie und Operative Intensivmedizin, Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaf- Evangelisches Krankenhaus Göttingen-Weende: Prof. Dr. med. Neumann Lungenklinik Hemer: Dr. med. Westhoff ten abrufbar (http://awmf.org). Außerdem wird sie in Institut für theoretische Chirurgie, Phillips-Universität, Marburg: der Zeitschrift „Pneumologie“ ebenfalls in vollem PD Dr. rer. physiol. Sitter Umfang veröffentlicht. 424 Jg. 105 Deutsches Ärzteblatt Heft 24 13. Juni 2008
MEDIZIN TABELLE 1 Empfehlungsstärke und Indikationen für den Einsatz der nicht invasiven Beatmung (NIV) zur Therapie von Krank- heitsbildern mit akuter respiratorischer Insuffizienz (ARI) Empfehlungsstärke für den Einsatz von NIV Indikation für NIV bei ARI Hoch COPD-Exazerbationen (mehrere kontrollierte Studien) akutes kardiogenes Lungenödem ARI bei immunsupprimierten Patienten Entwöhnung vom Respirator bei Patienten mit COPD Mittel postoperatives respiratorisches Versagen (wenige kontrollierte Studien/viele Fallserien) Vermeidung des Extubationsversagens Anweisung nicht zu intubieren Schwach bis nicht zu empfehlen ARDS („acute respiratory distress syndrome“) Trauma zystische Fibrose KASTEN 1 Beteiligte Fachgesellschaften und Experten Dr. med. Thomas Jehser, Gemeinschaftskrankenhaus Havelhöhe Abt. Palliativmedizin (11) (1) Deutsche Gesellschaft für Pneumologie und Dr. med. Ortrud Karg, Asklepios Fachkliniken, Gauting, Beatmungsmedizin e.V. (federführend) Abt. Pneumologie (1, 2) (2) Arbeitsgemeinschaft Heimbeatmung und Respiratorentwöhnung e.V. PD Dr. med. Erich Kilger, Herzklinik der Ludwig-Maximilians-Universität, (3) Deutsche Gesellschaft für Anästhesiologie und Intensivmedizin e.V. München (3) (4) Deutsche Gesellschaft für Chirurgie e.V. Prof. Dr. med. Hermann H. Klein*2, Klinikum Idar-Oberstein GmbH, (5) Deutsche Gesellschaft für Fachkrankenpflege und Funktions- Abt. Kardiologie (8) dienste e.V. Prof. Dr. med. Dieter Köhler, Fachkrankenhaus Kloster Grafschaft (1, 2) (6) Deutsche Gesellschaft für Geriatrie e.V. Dr. med. Thomas Köhnlein, Medizinische Hochschule Hannover, (7) Deutsche Gesellschaft für Internistische Intensivmedizin e.V. Abt. Pneumologie (1, 2) (8) Deutsche Gesellschaft für Kardiologie e.V. Prof. Dr. med. Ralf Kuhlen, Helios Klinikum, Berlin Buch, (9) Deutsche Gesellschaft für Neonatologie und pädiatrische Intensiv- Klinik für Intensivmedizin (3) medizin e.V. Prof. Dr. med. Martin Max, Centre Hospitalier de Luxembourg (3) (10) Deutsche Gesellschaft für Neurologie e.V. und Deutsche Gesell- Dr. med. Michael Metze, Universitätsklinik Leipzig, Zentrum für Chirurgie (4) schaft für Neurologische Intensiv- und Notfallmedizin e.V. PD Dr. med. F. Joachim Meyer, Ruprecht-Karls-Universität, Heidelberg, (11) Deutsche Gesellschaft für Palliativmedizin e.V. Med. Klinik III (1, 2) (12) Industrieverband Spectaris PD Dr. med. Wolfgang Müllges, Neurologische Universitätsklinik, Würzburg (9) Die Zahlen in Klammern beziehen sich auf die Zugehörigkeiten zu den Prof. Dr. med. Peter Neumann, Ev. Krankenhaus Göttingen-Weende, Fachgesellschaften Abt. Anästhesie (3) Dr. med. Thomas Barchfeld, Fachkrankenhaus Kloster Grafschaft (1,2) Prof. Dr. med. Christian Putensen, Rheinische Friedrich-Wilhelms- Prof. Dr. med. Heinrich F. Becker, Asklepios Klinik Barmbek, Universität, Bonn (3) Abt. Pneumologie (1) Prof. Dr. med. Bernd Schönhofer, Klinikum Region Hannover, Dr. med. Martina Bögel*1, Weinmann GmbH, Hamburg (12) Abt. Pneumologie (1, 2) Andreas Bosch*, Heinen & Löwenstein GmbH, Bad Ems, Dr. med. Dierk Schreiter, Universitätsklinik Leipzig, Zentrum für Chirurgie (4) 1. Konsensus-Konferenz (12) Dr. med. Jan Storre, Albert-Ludwigs-Universität, Freiburg, (Dr. Ulrich Brandenburg, Heinen & Löwenstein GmbH, Bad Ems (12), Abt. Pneumologie (1, 2) 2. Konsensus-Konferenz) Prof. Dr. med. Tobias Welte, Medizinische Hochschule Hannover, Prof. Dr. med. Carl Criée, Ev. Krankenhaus Göttingen-Weende, Abt. Pneumologie (1, 7) Abt. Pneumologie (1, 2) Dr. med. Michael Westhoff, Lungenklinik Hemer (1, 2) Rolf Dubb, Katharinenhospital, Klinikum Stuttgart (5) PD Dr. med. Wolfram Windisch, Albert-Ludwigs-Universität, Freiburg, Dr. med. Hans Fuchs, Universitätskinderklinik, Ulm (9) Abt. Pneumologie (1, 2) Dr. med. Holger Hein*2, Reinbek, ehem. Krankenhaus Großhansdorf (1, 2) Dr. med. Holger Woehrle*2, Martinsried, ehem. Universität Ulm (1, 2) Dr. med. H. J. Heppner, Klinikum Nürnberg Nord, Abt. Geriatrie (6) Prof. Dr. med. Uwe Janssens, St. Antonius Hospital, Eschweiler, *1 ohne Stimmrecht in den Konsensuskonferenzen Abt. Kardiologie (8) *2 vor Projektende ausgeschieden Jg. 105 Deutsches Ärzteblatt Heft 24 13. Juni 2008 425
MEDIZIN Darstellung der Lite- KASTEN 2 GRAFIK 1 raturrecherche Suchwortliste Die Suchbegriffe wurden als Schnittmengen mit dem AND-Operator aus der gemeinsamen Suchwortliste und je einer für die Arbeitsgruppe spezifischen Suchwortliste ge- bildet. Gemeinsame Suchwortliste für alle Arbeitsgruppen: NIV, NPPV, NIPPV, „non invasive ventilation“, „non-invasive ventilation“, „non invasive ventilation“, „noninvasive venti- lation“, „noninvasive positive pressure“, „noninvasive po- sitive-pressure“, „noninvasive mechanical ventilation“, „mask ventilation“, „nasal ventilation“ Spezifische Suchwortlisten der Arbeitsgruppen: > Arbeitsgruppe 1 – Hyperkapnische ARI: „hypercapnia“, „hypercapnic respiratory failure“, „hypercapnic exacer- bation“, „arterial hypercarbia“, „acute respiratory fail- ure“, „acute respiratory insufficiency“, „acute exacerba- tion“, „exacerbation of chronic obstructive pulmonary disease“, COPD > Arbeitsgruppe 2 – hypoxämische ARI: „non hypercapnic respiratory failure“, „acute hypoxemic respiratory fail- ure“, „respiratory failure“, „acute cardiogenic pulmonary oedema“, „acute cardiac failure“, „pulmonary edema“, „decompensated heart failure“, pneumonia, ARDS, ALI, „non-COPD“ > Arbeitsgruppe 3 – Wechsel des Beatmungszugangs: „acute respiratory failure“, „weaning from respirator“, „weaning from mechanical ventilation“, „extubation fail- ure“, „NIV failure“, „invasive mechanical ventilation“, tualisierungen bis Juni 2007 um 476 weitere Fundstel- reintubation, „ventilator-associated pneumonia“, VAP len auf dann circa 2 900 Referenzen ergänzt (Grafik 1). > Arbeitsgruppe 4 – NIV in der perioperativen Phase: Weitere, nicht quantifizierte Fundstellen ergaben sich „acute respiratory failure“, „extubation failure", „post- aus Literaturverzeichnissen von Übersichtsarbeiten, aus operative hypoxemia", postoperative, surgery, „surgical persönlichen Archiven der beteiligten Experten und patients“, „early extubation" durch informelle Hinweise auf Arbeiten, die kurz vor > Arbeitsgruppe 5 – Technik, Logistik und Ort der Beat- der Veröffentlichung standen. Auf die einzelnen Ar- mung: ventilators, mode, setting, interfaces, mask, hel- beitsgruppen entfielen zwischen 350 und 1 050 Veröf- met, „pressure support“, location, „intensive care unit“, fentlichungen. ICU, „intermediate care unit", „normal ward", „respira- Mithilfe elektronischer Bewertungstabellen waren tory ward", „hospital ward", education über 90 % der Abstracts durch Hyperlinks über Medline > Arbeitsgruppe 6 – Palliative Anwendung der NIV: pallia- zugänglich. Auf diese Weise konnten individuelle Re- tion, cancer, malignancy, „end stage disease", „do not cherchen und Papierarbeit reduziert werden. Weitere intubate“, DNI Unterstützung durch die Koordinierungsstelle beinhal- tete das Verwalten und Verteilen von Metainformatio- nen zur Literatursuche und allgemeine Hinweise zur Evidenzbewertung. Per Newsletter wurden alle Betei- ligten 16-mal über den aktuellen Projektstand infor- Methodik miert. Die Entwicklung der Leitlinie dauerte von Anfang 2005 bis Ende 2007. Insgesamt 28 Experten aus zwölf medi- Relevanzbewertung und qualitative Evidenzanalyse zinischen Fachgesellschaften (Kasten 1) bildeten sechs Ziel des ersten Auswahlverfahrens war die Identifikati- indikationsbezogene Arbeitsgruppen. on der für den weiteren Leitlinienprozess relevanten Pu- Eine zentrale Koordinierungsstelle führte die Litera- blikationen aus den anfänglich 2 900 Fundstellen. In turrecherchen durch und leistete bei der Literaturbewer- diesem Arbeitsgang wurden sämtliche Fundstellen nach tung logistische Hilfestellung. Eine Recherche mit den Kriterien der klinischen Relevanz beurteilt. Dabei wur- im Kasten 2 genannten Suchwörtern in den Datenban- den Arbeiten ausgeschlossen, bei denen ken Medline und Cochrane im September 2005 ergab > nicht Patienten mit ARI behandelt wurden (häufig 2 425 Treffer. Dieser Katalog wurde durch mehrere Ak- zum Beispiel Studien zur Heimbeatmung) 426 Jg. 105 Deutsches Ärzteblatt Heft 24 13. Juni 2008
MEDIZIN TABELLE 2 Schema des Centre for Evidence-Based Medicine für Evidenzstärken (Zusammenfassung) Empfehlungsgrad Evidenzniveau Studiendesign Ia Metaanalyse über randomisierte kontrollierte Studien (RCT) A Ib Eine RCT (mit engem Konfidenzintervall) Ic Alle-oder-Keiner-Prinzip IIa Metaanalyse gut geplanter Kohortenstudien IIb Eine gut geplante Kohortenstudie oder ein RCT minderer Qualität B IIc Outcome-Studien IIIa Metaanalyse über Fall-Kontrollstudien IIIb Eine Fall-Kontroll-Studie C IV Fallserien oder Kohorten-/Fall-Kontroll-Studien minderer Qualität D V Expertenmeinung ohne explizite Bewertung der Evidenz oder basierend auf physiologischen Modellen/Laborforschung > die Therapie mit NIV nicht der eigentliche Unter- der AWMF statt. Daran nahmen auch Vertreter der suchungsgegenstand war oder Pflegeberufe und der Beatmungsgeräte-Hersteller, > die offenkundig zu schwach evidenzbasiert waren. letztere ohne Stimmrecht, teil. Die erste Konferenz be- Auf diesen Aspekt wird im Folgenden noch eingegan- handelte zentrale Aussagen im Leitlinientext und Al- gen. Im Wesentlichen wurden Arbeiten in englischer gorithmen. In der zweiten Konferenz wurden die Emp- oder deutscher Sprache berücksichtigt. Jede Arbeit wur- fehlungen in ihrer endgültigen Formulierung und die de durch zwei Experten bewertet. Divergenzen bezüg- Empfehlungsstärken auf der Basis der Evidenzlage lich Ein- oder Ausschluss wurden innerhalb der Arbeits- verabschiedet. gruppen gelöst. Je nach Indikation hat man schließlich zwischen 15 % und 25 % der Publikationen zur Evi- Ergebnisse denzbeurteilung identifiziert. Invasive und nicht invasive Beatmung Bereits in dieser Phase war zu berücksichtigen, dass Ohne Zweifel ist die invasive Beatmung als lebensret- je nach Indikation unterschiedliche Evidenzniveaus tende Intervention oft unverzichtbar. Sie geht jedoch vorherrschen. Für einige Indikationen ist die Anwen- einher mit dem Risiko der Tubus- oder Ventilator-asso- dung der NIV durch randomisierte Studien und hohe ziierten Pneumonie mit der Folge hoher Sterblichkeit Fallzahlen belegt, sodass Beobachtungsstudien und Ar- sowie deutlicher Mehrkosten (e2). Zur Vermeidung die- beiten mit ähnlichen Ergebnissen vom weiteren Eva- ser schwerwiegenden Komplikation sollte, wo es mög- luierungsprozess ausgeschlossen wurden. lich ist, auf die invasive Beatmung verzichtet und alter- Systematische Übersichtsarbeiten, also mit einer do- nativ NIV eingesetzt beziehungsweise frühzeitig extu- kumentierten Recherche und einer Metaanalyse der Ori- biert werden (Empfehlungsgrad A) (e3). In diesem Zu- ginalarbeiten, wurden bei homogener Datenlage akzep- sammenhang ergeben sich die wesentlichen Vorteile der tiert. Ausschließliche Übersichtsarbeiten wurden dage- NIV insbesondere unter atemmechanischen und infek- gen als Expertenmeinungen klassifiziert und die zitier- tiologischen Aspekten (Tabelle 3). ten Originalarbeiten analysiert. Ein Vorteil der invasiven Beatmung ist beim Lungen- versagen und insbesondere beim „acute respiratory dis- Evidenzbewertung tress syndrome“ (ARDS) die bessere Druckkonstanz, Bei der quantitativen Evidenzevaluation beurteilten weil die Lunge schon bei sehr kurzer Unterbrechung des ebenfalls je zwei Experten den Evidenzgrad jeder Studie positiven Atemwegdrucks kollabiert (e4, 5). NIV sollte nach den Empfehlungen des Oxford Centre of Evi- daher nicht eingesetzt werden, wenn wichtige Gründe dence-Based Medicine (CEBM) (4). Das grundlegende für einen invasiven Beatmungszugang sprechen (Emp- Schema ist in der Tabelle 2 skizziert. Kriterien zur Ein- fehlungsgrad B). Absolute Kontraindikationen (Emp- stufung waren hierbei das Studiendesign und die Qua- fehlungsgrad D) der NIV sind lität der Durchführung. Einheitliche Maßstäbe wurden > fehlende Spontanatmung, Schnappatmung durch Verwendung standardisierter Checklisten (je eine > fixierte oder funktionelle Verlegung der Atemwege für Originalarbeiten und systematische Übersichtsarbei- > gastrointestinale Blutung oder Ileus (6). ten) hergestellt. Schließlich wurden 243 Arbeiten in der Bei Vorliegen einer relativen Kontraindikation (Ka- Leitlinie zitiert (Grafik 1). sten 3) kann im Einzelfall ein NIV-Versuch unter Intu- Zwei interdisziplinäre Konsensuskonferenzen fan- bationsbereitschaft bei engmaschiger Beobachtung er- den im Juli 2006 und April 2007 unter der Moderation wogen werden. Jg. 105 Deutsches Ärzteblatt Heft 24 13. Juni 2008 427
MEDIZIN TABELLE 3 Charakteristika der invasiven/nicht invasiven Beatmung Komplikationen und klinische Aspekte Invasive Beatmung Nicht invasive Beatmung Ventilator- (Tubus-) assoziierte Pneumonie Anstieg des Risikos ab dem 3. bis 4. Tag der selten Beatmung Tubusbedingte zusätzliche Atemarbeit ja (während Spontanatmung und im Fall nein unzureichender Tubuskompensation) Tracheale Früh- und Spätschäden ja nein Sedierung häufig notwendig selten erforderlich Intermittierende Applikation selten möglich häufig möglich Effektives Husten möglich nein ja Essen und Trinken möglich erschwert bei Tracheostoma bzw. nein bei ja Intubation Kommunikation möglich erschwert ja Aufrechte Körperposition nur begrenzt realisierbar häufig möglich Schwierige Entwöhnung vom Respirator 10 bis 20 % selten Zugang zu den Atemwegen direkt erschwert Druckstellen im Gesichtsbereich nein gelegentlich CO2-Rückatmung nein selten Leckage kaum mehr oder weniger stark meistens vorhanden Aerophagie kaum gelegentlich Technik der nicht invasiven Beatmung eingesetzt (e8). Vor- und Nachteile der unterschiedli- Negativ- und Positivdruckbeatmung – Die bevorzug- chen Beatmungszugänge werden in Tabelle 4 aufge- te Beatmungsform zur Behandlung der ARI ist die Posi- führt. tivdruckbeatmung mit inspiratorischer Druckunterstüt- Beatmungsgeräte und Beatmungsmodi – Das Spek- zung (assistierender Modus). Diese wird oft mit einem trum der Beatmungsgeräte reicht von portablen Geräten positiven Atemwegsdruck in der Exspirationsphase mit geringerem technischem Aufwand bis zu technisch („positive end-expiratory pressure“, PEEP) kombiniert. anspruchsvollen Intensivrespiratoren (e9). Da Patienten Hinzu kommt eine zwingend erforderliche Sicherheits- frequenz zum Apnoe-Schutz sowie eine bedarfsweise Gabe von Sauerstoff zur Sicherstellung einer Sättigung KASTEN 3 von 85 bis 90 % (Empfehlungsgrad D) (2). Die inspira- torische Druckunterstützung über eine Maske oder ei- Kontraindikationen nen Helm (e5) reduziert die Atemarbeit für den Patien- ten. Zudem führt die Applikation von positivem Druck Absolute Kontraindikationen zur Erhöhung des transpulmonalen Drucks und damit zu > fehlende Spontanatmung, Schnappatmung einer Vergrößerung des endexspiratorischen Lungenvo- > fixierte oder funktionelle Verlegung der Atemwege lumens. Dieser Effekt vermeidet die Entstehung bezie- > gastrointestinale Blutung oder Ileus hungsweise begünstigt die Wiedereröffnung verschlos- sener Alveolarbezirke (Atelektasen). Die Negativdruck- Relative Kontraindikationen beatmung (zum Beispiel in Form des „Tanks“) wird nur > Koma noch selten eingesetzt (e6). > massive Agitation Beatmungszugang („interface“) – Es gibt ein breites > massiver Sekretverhalt trotz Bronchoskopie Spektrum von Beatmungszugängen im Gesichtsbe- > schwergradige Hypoxämie oder Azidose (pH < 7,1) reich, wie zum Beispiel Nasenmasken, Mund-Nasen- > hämodynamische Instabilität (kardiogener Schock, Masken sowie Ganzgesichtsmasken (Abbildung a–c). Myokardinfarkt) Mund-Nasen-Masken werden vor allem in der Initial- > anatomische und/oder subjektive Schwierigkeiten hin- phase der Therapie bevorzugt (e7). Der Beatmungs- sichtlich des Beatmungszugangs helm, der den gesamten Kopf umschließt (Abbildung d), > Zustand nach oberer gastrointestinaler Operation wird vorwiegend bei Patienten mit hypoxämischer ARI 428 Jg. 105 Deutsches Ärzteblatt Heft 24 13. Juni 2008
MEDIZIN mit ARI häufig stark agitiert sind und einen hohen Atem- antrieb aufweisen, werden hier – im Gegensatz zur elek- tiven häuslichen Beatmung bei chronisch ventilatori- scher Insuffizienz – nur selten kontrollierte, das heißt nicht durch die Atmung getriggerte, sondern zeitgesteu- erte, Beatmungsverfahren verwandt (e9). Wichtige Aspekte zur praktischen Applikation von NIV Im Wesentlichen unabhängig von der jeweiligen Indika- tion ist in Grafik 2 die prinzipielle Vorgehensweise bei der Anwendung von NIV zur Therapie der ARI darge- stellt. Besonders während der ersten 1 bis 2 h der NIV muss eine ausreichende Ventilation sichergestellt wer- den und sich der Effekt der Beatmung zeigen. Die Er- folgskriterien sind in Tabelle 5 aufgeführt. Auf niedri- gem Niveau stabile pH-Werte und ein stabil erhöhter Pa- CO2 (arterieller Kohlendioxidpartialdruck) können während der NIV-Adaptation auch länger als 2 h tole- riert werden, wenn sich der klinische Zustand des Pati- enten und andere in Tabelle 5 aufgeführte Erfolgskrite- rien bessern (Empfehlungsgrad C) (e10). Die wichtigsten Verlaufsparameter während der Ad- aptationsphase sind die arteriellen Blutgase, die Atem- frequenz, die Beurteilung der Dyspnoeempfindung so- wie das Vigilanzniveau des Patienten (Empfehlungs- grad C) (2, e11–e13). Bei NIV-Versagen sollte die NIV umgehend beendet und unverzögert intubiert werden (Empfehlungsgrad C). Der Personalbedarf bei NIV ist in der Initialphase der Abbildung: Darstellung verschiedener Beatmungszugänge: Nasenmaske, Nasen-Mund-Maske, Therapie der ARI mit einem Patient-Therapeut-Verhältnis Ganzgesichtsmaske und Beatmungshelm von 1 : 1 relativ hoch. Im weiteren Verlauf der Therapie lässt sich durch NIV Arbeitszeit und -aufwand einsparen (e14–e17). NIV zur Behandlung der ARI wird bevorzugt auf der Intensivstation durchgeführt (Empfehlungsgrad Spektrum der Indikationen D). Bei isolierter Atmungsinsuffizienz (Einorganversa- Die Leitlinie gibt Empfehlungen für die folgenden Indi- gen) kann NIV auch auf der Intermediärstation erfolgen. kationsgruppen: Abhängig von den örtlichen Gegebenheiten und Ressour- > hyperkapnische ARI cen kann NIV im Einzelfall auch auf einer spezialisierten > hypoxämische ARI Normalstation angewendet werden (e18–e22). > kardiales Lungenödem TABELLE 4 Vor- und Nachteile gebräuchlicher Interfaces Aspekt Nasenmaske Nasen-Mundmaske Helm Mundleckage – + + Volumen-Monitoring – + – Initiales Ansprechen der Blutgase o + o Sprechen + – o Expektoration + – – Aspirationsrisiko + o + Aerophagie + o o Klaustrophobie + o o Totraum (kompressibles Volumen) + o – Lärm und Irritation des Gehörs + + – +, Vorteil; o, neutral; –, Nachteil. Jg. 105 Deutsches Ärzteblatt Heft 24 13. Juni 2008 429
MEDIZIN Algorithmus zur An- GRAFIK 2 quenz. NIV reduziert die Intubationsfrequenz und wendung der nicht vermindert die Krankenhausaufenthaltsdauer und die invasiven Beat- Letalität (9, 10, e25). Auch für den weiteren pH-Be- mung, *1 Gründe für reich zwischen 7,2 und 7,35 ist die Effektivität der den Misserfolg kön- nen fehlende Ko- NIV nachgewiesen (8, e26). Den klinischen Algorith- operationsfähigkeit, mus zur Anwendung der NIV bei der hyperkapnischen funktioneller Glottis- ARI zeigt Grafik 3. verschluss, mecha- Hypoxämische ARI – Die Datenlage zum Stellenwert nische Verlegung der NIV bei der hypoxämischen ARI ist im Gegensatz oder Schwellung im zur hyperkapnischen ARI weniger klar. Glottisbereich sein, Ein erfahrenes Team hatte gezeigt, dass NIV bei Pa- NIV, nicht invasive tienten mit rein hypoxämischer ARI gegenüber der Beatmung Standardtherapie zu einer signifikanten Senkung des Intubationsrisikos, der Rate an septischem Schockge- schehen sowie der 90-Tage-Letalität führt (11). Insbe- sondere bei gemischt hypoxämisch-hyperkapnischer ARI, zum Beispiel infolge Pneumonien bei Patienten mit COPD, wurde NIV erfolgreich eingesetzt (e16, e27–e29). Empfohlen wird der Einsatz von CPAP („continuous positive airway pressure“, konstanter positiver Atem- wegsdruck) beziehungsweise NIV bei (hämato-)onko- logischen, immunsupprimierten Patienten und bei Pati- enten mit Aids und Pneumocystis-Pneumonie (Emp- fehlungsgrad A) (12, 13, e30). Allenfalls unter engmaschigem Monitoring und in > perioperative Phase spezialisierten Zentren sollte NIV bei ARDS eingesetzt > frühzeitige Entwöhnung und Postextubationsphase werden (Empfehlungsgrad D). Die NIV-Versagerquote > NIV in der Pädiatrie und für ein heterogenes Patientenkollektiv mit hypoxämi- > palliative Anwendung. scher ARI lag mit 30 % bei ambulant erworbener Pneu- Hyperkapnische ARI – Häufigste Ursache der hyper- monie und mehr als 50 % bei ARDS besonders hoch (9, kapnischen ARI, definiert als pH < 7,35 und PaCO2 14). Ursächlich hierfür ist im Wesentlichen die komple- > 45 mm Hg, ist die akut exazerbierte COPD xe Pathophysiologie der hypoxämischen Formen des (AE-COPD). Als Folge des erhöhten Atemwegswider- ARI und die unzureichende Druckkonstanz vor allem standes, der dynamischen Lungenüberblähung und der in der Exspirationsphase während NIV. konsekutiven Abflachung des Zwerchfells wird die Kardiales Lungenödem – Der Stellenwert von NIV Atemmuskulatur überlastet und droht zu erschöpfen und CPAP beim kardial bedingten Lungenödem ist ne- (e23, e24). ben der medikamentösen Standardtherapie inzwischen Bei der Indikation „leicht- bis mittelgradige klar belegt (15, e31). Bei Patienten mit hypoxämischer AE-COPD“ mit einem pH von 7,30 bis 7,35 sollte ARI bei kardiogenem Lungenödem sollte nach initialer NIV frühzeitig eingesetzt werden (Empfehlungsgrad nasaler Sauerstoffgabe primär eine CPAP-Therapie er- A) (8). NIV senkt in Kombination mit der Stan- folgen (Empfehlungsgrad A). Die indizierte Pharmako- dardtherapie bereits in der ersten Behandlungsstunde therapie sowie notwendige kardiologische Interventio- den PaCO2, bessert den pH und senkt die Atemfre- nen, wie zum Beispiel Herzkatheter, dürfen jedoch nicht verzögert werden (Empfehlungsgrad D) (e32–e34). CPAP bewirkt hier das Absenken der kar- TABELLE 5 dialen Vor- und Nachlast, die Reduktion der Atemar- beit, eine Verbesserung der Koronarperfusion und nor- Erfolgskriterien der nicht invasiven Beatmung malisiert das Ventilations-Perfusions-Verhältnis. Geht Kriterium Erfolg das kardial bedingte Lungenödem neben der Hypoxä- Dyspnoe Abnahme mie mit einer Hyperkapnie einher, sollte CPAP in Kom- bination mit inspiratorischer Druckunterstützung, das Vigilanz Zunehmende Verbesserung heißt als NIV, durchgeführt werden (e35, e36, e37, e38, Atemfrequenz Abnahme e39). Ventilation PaCO2-Abnahme ARI in der perioperativen Phase – Der Abfall der pH-Wert Anstieg funktionellen Residualkapazität unter maschineller Be- atmung (e40) führt zum endexspiratorischen Ver- Oxygenierung Zunahme von SaO2 85 % schluss kleiner Atemwege mit Ausbildung von Atelek- Herzfrequenz Abnahme tasen (Grafik 4). Diese bleiben in den ersten post- operativen Tagen bestehen. 430 Jg. 105 Deutsches Ärzteblatt Heft 24 13. Juni 2008
MEDIZIN GRAFIK 3 Algorithmus für nicht invasive Beatmung (NIV) als Therapie der hyperkapnischen, akuten respiratori- schen Insuffizienz (ARI) Der Schweregrad der postoperativen Lungenfunkti- Verbesserung des Gasaustauschs und der Hämodynamik onseinschränkung ist unter anderem von präoperativen auch über eine Reduktion der Intubationsrate, der Kom- Risikofaktoren wie Rauchen, COPD, hoher ASA-Status plikationen und letztlich der Letalität bei Anwendung (ASA, American Society of Anesthesiologists) und Alter der NIV zur Therapie der postoperativen ARI in der sowie der Art und der Dauer des operativen Eingriffs de- Herz- und Thoraxchirurgie berichtet (16, e44–e46). terminiert (e41). Die Inzidenz der Reintubation nach NIV kann während der Bronchoskopie zur Besse- großen chirurgischen Eingriffen beträgt bis zu 20 % rung der Ventilation beziehungsweise Oxygenierung (e42, e43). Bei Patienten mit erhöhtem Risiko für eine eingesetzt werden (Empfehlungsgrad C) (e47–e50). Ei- postoperative hypoxämische ARI können durch die früh- ne generelle Empfehlung zur NIV in der präoperativen zeitige Anwendung von CPAP beziehungsweise NIV un- Vorbereitung ist mangels klinischer Daten nicht ge- mittelbar nach der Extubation die Reintubationsrate und rechtfertigt. weitere Komplikationen signifikant gesenkt werden Entwöhnung vom Respirator und Postextubations- (Empfehlungsgrad B). In einigen Studien wird neben der phase – Wenn immer realisierbar, sollten invasiv beat- GRAFIK 4 KASTEN 4 Klinische Kernaussagen > Wenn möglich soll die nicht invasive der invasiven Beat- mung vorgezogen werden. > Die größten Vorteile hat die nicht invasive Beatmung (NIV) beim hyperkapnischen Atmungsversagen. > Die wichtigsten Verlaufsparameter (arterieller Kohlendioxidpartialdruck) PaCO2, pH, Atemfrequenz, Dyspnoe und Vigilanz müssen während der ersten 2 h der NIV eine Besserungstendenz zeigen. > NIV-Versagen kann sowohl frühzeitig als auch nach ei- nigen Tagen auftreten. Es muss rechtzeitig erkannt und eine Intubation ohne Verzögerung eingeleitet werden. > Die hypoxämische ARI sollte nur bei ausgewählten Pati- enten und unter streng kontrollierten Bedingungen mit Ursachen für postoperative Atelektasenbildung, FRC, funktionelle Residualkapazität; CC, „closure NIV therapiert werden. capacity“ (Verschlusskapazität) Jg. 105 Deutsches Ärzteblatt Heft 24 13. Juni 2008 431
MEDIZIN mete Patienten mit COPD möglichst frühzeitig extu- ARI immunsupprimierter Patienten der invasiven Beat- biert und auf NIV umgestellt werden (Empfehlungs- mung deutlich überlegen. Weitere Indikationen sind die grad A). Bei diesen Patienten wurde durch Extubation postoperative Prophylaxe der Reintubation und die mit nachfolgender NIV – verglichen mit der invasiv be- schwierige Entwöhnung nach Langzeitbeatmung beim atmeten Kontrollgruppe – die Erfolgsrate der Respira- hyperkapnischen Atmungsversagen. Die hohe NIV- torentwöhnung („weaning“) signifikant gebessert. Des Versagerquote von 30 % bis über 50 % bei Patienten Weiteren ließen sich die Letalitäts-, Reintubations-, mit hypoxämischer ARI steht einer breiten Anwendung Tracheotomie- und Komplikationsrate senken. Im Ge- der NIV bei dieser Indikation entgegen. gensatz zur hyperkapnischen Atmungsinsuffizienz Trotz der guten evidenzbasierten Datenlage für die bleibt der Stellenwert der NIV bei schwieriger Respira- genannten Indikationsbereiche ist die NIV im intensiv- torentwöhnung infolge hypoxämischer Atmungsinsuf- medizinischen Alltag noch unzureichend repräsentiert. fizienz strittig. Die nun vorliegende Leitlinie soll zu einer weiteren Vor allem bei Risikopatienten mit COPD, hohem Al- Etablierung der NIV beitragen. ter, Herzinsuffizienz und Hypersekretion, die nach Ex- tubation eine hyperkapnische ARI entwickeln, vermin- Limitationen, Schwächen der Leitlinie dert der frühzeitige Einsatz von NIV die Reintubations- Die Empfehlungen der evidenzbasierten Medizin gehen und Letalitätsrate (e51, e52, 17, 18). Gegen den Einsatz meistens auf Studien zurück, die unter kontrollierten von NIV bei Patienten mit hypoxämischer ARI in der Bedingungen an ausgewählten Patientengruppen, oft Postextubationsphase sprechen Ergebnisse randomi- monozentrisch in Teams mit großer Erfahrung durchge- sierter und kontrollierter Studien (3, e53). Positive Er- führt wurden. Daher ist die einfache Übertragung der gebnisse zum Einsatz von NIV bei schwieriger Respi- Ergebnisse in den klinischen Alltag nicht ohne weiteres ratorentwöhnung infolge hypoxämischer Atmungsin- möglich. Zudem stehen der erfolgreichen Anwendung suffizienz beruhen bislang auf kleinen, monozentri- von NIV häufig geringe Erfahrung sowie unzureichen- schen Studien (e54). de technische und personelle Ausstattung entgegen NIV in der Pädiatrie – Randomisierte Studien, die ei- (e62). Dies gilt insbesondere für die weniger klar evi- nen Vorteil der NIV gegenüber invasiver Beatmung be- denzbasierten Indikationen. Schließlich stellt die Leit- legen, gibt es bei Kindern und Jugendlichen außerhalb linie nur eine Momentaufnahme des aktuellen Wissens- der Neugeborenenperiode nicht. Folglich beruhen die stands dar. Die Gültigkeit endet daher drei Jahre ab Ver- Empfehlungen hierzu auf Beobachtungsstudien. öffentlichung; spätestens dann ist eine Aktualisierung Die ARI kann bei Kindern und Jugendlichen effektiv erforderlich. durch NIV behandelt werden (Empfehlungsgrad C). Bei einer ARI aufgrund zystischer Fibrose sollte ein Thera- Danksagung Die Autoren danken der DGP für die Finanzierung einer wissenschaftlichen Mit- pieversuch mit NIV der invasiven Beatmung vorgezogen arbeiterstelle und der Konsensus-Konferenzen sowie der AG Pneumologischer werden, falls dies nicht kontraindiziert ist (Empfeh- Kliniken, der AG Heimbeatmung und Respiratorentwöhnung und der Deutschen Gesellschaft für Anästhesiologie und Intensivmedizin für die Mitfinanzierung lungsgrad C). Gleiches gilt für Kinder mit neuromus- der wissenschaftlichen Mitarbeiterstelle. kulären Erkrankungen (Empfehlungsgrad C) und bei im- munsupprimierten Patienten (Empfehlungsgrad C). NIV Interessenkonflikt als Therapie der ARI sollte bei Kindern immer auf der In- Prof. Schönhofer hat Vortragshonorare der Firmen ResMed und Heinen und tensivstation erfolgen (Empfehlungsgrad C). Löwenstein erhalten. Prof. Kuhlen hat Vortragshonorare der Firmen ResMed,Dräger, Tyco, Viasys und Maquet erhalten. Prof. Neumann hat Vor- NIV als Palliativmaßnahme – NIV kann als palliati- tragshonorare der Hersteller Dräger und B+P Beatmungsprodukte GmbH ent- ve Maßnahme die Dyspnoe lindern und die Lebens- gegengenommen. Dr. Westhoff, Dipl.-Ing. Berndt und PD Sitter erklären, dass kein Interessenkonflikt im Sinne der Richtlinien des International Committee of qualität bessern (Empfehlungsgrad C) (e55, e56, 19). Medical Journal Editors besteht. Auch wenn sich in einer Patientenverfügung gegen ei- ne Intubation entschieden wird, aber nicht prinzipiell Manuskriptdaten eingereicht: 10. 3. 2008, revidierte Fassung angenommen: 5. 5. 2008 gegen eine Beatmung, kann nach ausführlicher Auf- klärung eine NIV initiiert werden (Empfehlungsgrad B) (e55, 19, e57, e58, e59, 20, e60). Eine aktuelle Er- LITERATUR hebung ergab, dass circa 30 % der Patienten, die sich 1. Esteban A, Anzueto A, Frutos F et al.: Characteristics and outcomes am Lebensende auf einer Intermediärstation befanden, in adult patients receiving mechanical ventilation: a 28-day interna- tional study. JAMA 2002; 287: 345–55. mit NIV behandelt wurden (19). Während der Inter- 2. Brochard L, Mancebo J, Wysocki M et al.: Noninvasive ventilation for vention mit NIV blieb den Patienten eine gewisse Au- acute exacerbations of chronic obstructive pulmonary disease. N tonomie erhalten. Es ist aber streng darauf zu achten, Engl J Med 1995; 333: 817–22. dass NIV bei dieser Indikation nicht zur Verlängerung 3. Esteban A, Frutos-Vivar F, Ferguson ND et al.: Noninvasive positive- des Leidensweges beziehungsweise des Sterbevor- pressure ventilation for respiratory failure after extubation. N Engl J gangs führt (e61). Med 2004; 350: 2452–60. 4. Phillips B, Ball C, Sackett D et al.: Levels of Evidence. Oxford Centre for Evidence-Based Medicine; 2001. Diskussion 5. Antonelli M, Conti G, Esquinas A et al.: A multiple-center survey on Aufgrund der evidenzbasierten Datenlage ist NIV als the use in clinical practice of noninvasive ventilation as a first-line Therapie der hyperkapnischen ARI (Kasten 4), des kar- intervention for acute respiratory distress syndrome. Crit Care Med dial bedingten Lungenödems und der hypoxämischen 2007; 35: 18–25. 432 Jg. 105 Deutsches Ärzteblatt Heft 24 13. Juni 2008
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