Nichts über uns ohne uns - Berufsförderungswerk Nürnberg
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2/2018 REHAvision Chancen und Perspektiven der Beruflichen Rehabilitation Nichts über uns ohne uns Partizipation, Selbstbestimmung und Teilhabe – eine Standortbestimmung Es sind fünf Wörter, die auf den Punkt bringen, worum es der Behindertenbewegung in Deutschland geht: „Nichts über uns ohne uns“. Ursprünglich aus der amerikanischen Bürgerrechtsbewegung stammend, wurde diese Formulierung in den 80er Jahren zum Leitmotiv von Menschen mit Behinderungen und formuliert ihre Forderung nach Selbstbestimmung. Statt als Objekte der Fürsorge behandelt zu werden, geht es ihnen darum, Kontrolle über das eigene Leben zu haben. Einfach gesagt: Es soll nichts über Menschen mit Behinde- rung entschieden werden, wenn sie nicht mit dabei sind. REHAVISION gibt einen Überblick über die aktuelle Entwicklung. Seite 3 Kerstin Griese: Keine Barrierefreies Denken, Teilhabe ohne Partizipation innovatives Recruiting Die Parlamentarische Bei Siemens ist Inklusion Staatssekretärin im BMAS Chefsache. Sie ist fest in sprach mit REHAVISION über der Unternehmsstrategie die Ausgestaltung des BTHG verankert und setzt auf und Voraussetzungen für ein die ganze Vielfalt des selbstbestimmtes Leben. Fachkräftepotenzials. Seite 7 Seite 12 Die REHAVISION wird herausgegeben vom
VORWORT Liebe Leserin, lieber Leser, die zweite Ausgabe der REHAVISION im Jahr des auch Teil der Agenda von Unternehmen und der goldenen Jubiläums des Bundesverbandes Deutscher Unternehmenskultur geworden sind. Dies wird in der Berufsförderungswerke versucht sich an einer Stand- aktuellen Ausgabe deutlich. ortbestimmung: Wir befassen uns in diesem Heft intensiv mit der Frage, wie es aktuell um die Themen In der Mitte der Gesellschaft ist das Thema Inklusion Partizipation, Selbstbestimmung und Teilhabe von aber sicherlich bis heute noch nicht angekommen. Menschen mit Behinderungen in Deutschland bestellt Gegenwärtig erleben wir leider ein Wiedererstarken ist. Im zweiten Jahr des Bundesteilhabegesetzes des Denkens, das für Separation und Exklusion steht. ist mir dieses Thema ein besonderes Herzensanlie- Um dem entgegenzuwirken und Inklusion zur Nor- gen und ich bedanke mich ausdrücklich bei allen malität werden zu lassen, braucht es auch die Arbeit Personen, die aktiv zur Entstehung dieser Ausgabe der Berufsförderungswerke. Nach dem Motto: „Wir beigetragen haben. für Menschen“ realisieren wir berufliche Teilhabe und Inklusion. Dafür haben wir uns in der Vergangenheit Die unterschiedlichen Beiträge machen deutlich, dass eingesetzt und dafür stehen wir auch in Zukunft! in den letzten Jahren auf dem Weg in eine inklusive Gesellschaft in Deutschland einiges erreicht wurde. Ihre Politische Meilensteine wie das Sozialgesetzbuch IX, die UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen oder das Bundesteilhabegesetz Dr. Susanne Gebauer entfalten zunehmend Wirkung. Dies äußerst sich u. a. Vorstandsvorsitzende des Bundesverbandes dadurch, dass die Themen Inklusion und Diversity Deutscher Berufsförderungswerke Inhaltsverzeichnis Schwerpunkt Partizipation & Selbstbestimmung . 3 Aus den BFW . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13 Nichts über uns ohne uns . . . . . . . . . . . . . 3 Vom Wandel der Berufe und „Teilhabe ohne Partizipation ist BFW-Ausbildungen . . . . . . . . . . . . . . . . 13 gar nicht denkbar“ . . . . . . . . . . . . . . . . 7 Mitbestimmung fördert Selbstvertrauen . . . . . . 13 Rechtslage gut, Verbesserungen notwendig . . . . 8 „Ich nehme in jeder Sekunde Einfluss“ . . . . . . . 9 Namen und Nachrichten . . . . . . . . . . . . 14 Wie Teilhabe am Arbeitsleben gelingen kann. . . 10 Kurz notiert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14 Arbeit stärkt das Selbstwertgefühl . . . . . . . . 11 Personalia . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15 Barrierefreies Denken, innovatives Recruiting . . . 12 Veranstaltungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15 Impressum Redaktion: Gestaltung: Dr. Susanne Gebauer, Frank Gottwald, zeichensetzen medienagentur GmbH Hans-Dieter Herter, Ellen Krüger, GDA Kommunikation − Gesellschaft für Marketing Frank Memmler, Niels Reith, Dr. Jessica Stock, und Service der Deutschen Arbeitgeber mbH Astrid Hadem (V.i.S.d.P.) Leserservice: Fotonachweise (Seite): Kontakt: Ellen Krüger iStockphoto.com (1); BV BFW/Kruppa (2 - 4, 6, Knobelsdorffstraße 92, 14059 Berlin 8, 9, 14); SPD (1, 7), zeichensetzen/Harms Tel.: 030 3002-1253, Fax: 030 3002-1256 (1, 12, 14); Deutsche Bank, Angela Meurer (10); E-Mail: rehavision@bv-bfw.de zeichensetzen/Pletz (11); BV BFW(13, 14), Herausgeber: Jürgen Dusel, IAB Forum, BDA, Sozialverband Bundesverband Deutscher Berufsförderungswerke e. V. VdK/Susie Knoll, BFW Halle/Saale (15) Druck: Königsdruck – Printmedien und digitale Dienste GmbH 2 REHAVISION
SCHWERPUNKT PARTIZIPATION UND SELBSTBESTIMMUNG Nichts über uns ohne uns Partizipation, Selbstbestimmung und Teilhabe – eine Standortbestimmung „S elbstbestimmt leben heißt, vor al- lem, selber über alle Angelegen- heiten entscheiden zu können, die das eigene Leben betreffen, und zwar in al- len Bereichen“, erklärt Barbara Vieweg, die stellvertretende Geschäftsführerin der Interessenvertretung Selbstbe- stimmt Leben in Deutschland (ISL). Diese Definition, die sich eng an die US-ame- rikanische Independent-Living-Bewe- gung anlehnt, beinhaltet das Recht auf die Wahl zwischen akzeptablen Alternativen und das Freisein von Fremdbestimmung. „Selbstbestimmung ist ein flexibles, individuelles Konzept, das jede und jeder für sich bestimmen muss“, ergänzt Barbara Vieweg. Als Dreiklang komplettiert „Selbst- bestimmung“ zusammen mit „Partizipa- tion“ und „Teilhabe“ die zentralen Be- griffe im Behindertenrecht. Dr. Katrin Grüber, Leiterin des Instituts Mensch – Ethik – Wissenschaft (IMEW) erläu- tert im Gespräch mit REHAVISION die Unterschiede: „Selbstbestimmung be- deutet das Recht, selbst Entscheidun- gen zu treffen. Partizipation bedeutet, an politischen sowie gesellschaftlichen Entscheidungs- und Gestaltungsprozessen mitzuwir- Und das aus gutem Grund. Denn Menschen mit ken. Und Teilhabe bezeichnet das Recht, am gesell- Behinderung sind längst keine Randgruppe mehr. schaftlichen Leben gleichberechtigt mit anderen teil- Das belegen die aktuellen Zahlen aus dem Teilha- zunehmen, sich zu beteiligen und einbezogen zu sein.“ bebericht der Bundesregierung: In Deutschland ha- ben rund 7,5 Millionen Menschen eine anerkannte Teilhabe als politischer Auftrag Schwerbehinderung, weitere 2,7 Millionen einen geringeren Behinderungsgrad – das sind 9,3 % der Das Recht auf Teilhabe ist Gesetz. Es gilt unabhän- Gesamtbevölkerung. Insgesamt ist die Zahl der Men- gig von Herkunft, Alter, Geschlecht oder dem Vorlie- schen mit Beeinträchtigungen von 10,99 Mio. im Jahr gen einer Beeinträchtigung. Mit der Unterzeichnung 2005 auf 12,77 Mio. im Jahr 2013 gestiegen. Ihr der UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) hat Anteil an der Gesamtbevölkerung beträgt 15,8 %. Deutschland 2006 eine besondere Verpflichtung ge- genüber Menschen mit Beeinträchtigungen übernom- Mit der UN-BRK veränderte sich der Blick auf das men, bestehende Diskriminierungen zu beseitigen und Thema nachhaltig. Der Gedanke der Inklusion hat sich Teilhabemöglichkeiten zu fördern. Ein entscheidender mittlerweile zu einem gesellschaftspolitischen Leitge- Meilenstein, auch wenn mit dem Inkrafttreten der danken entwickelt, der darauf zielt, dass Menschen UN-Behindertenrechtskonvention anderthalb Jahre mit Behinderungen gleichberechtigt in der Mitte der später keine neuen Rechte geschaffen wurden: Denn Gesellschaft stehen sollen. Seitdem vollzieht sich in in der UN-BRK wurden die bereits existierenden Men- Deutschland ein Paradigmenwechsel, begleitet von schenrechte auf die Lebenssituation von Menschen mit einer Neuausrichtung der Behindertenpolitik. „In allen Behinderungen zugeschnitten. Dabei wurde auch das Bereichen des Lebens sollen Menschen mit Behinderun- Motto „Nichts über uns ohne uns“ ernst genommen – gen selbstverständlich dazugehören“, so schrieb es sich sowohl während der Verhandlungen als auch in den die Bundesregierung 2013 unter dem Stichwort „Inklu- Bestimmungen der Konvention: Die Einbeziehung be- sionspolitik“ in ihrem Koalitionsvertrag auf die Fahnen. hinderter Menschen und ihrer Organisationen sind in Auch im neuen Koalitionsvertrag heißt es klar: „Men- allen Phasen der Umsetzung und Überwachung des schen mit Behinderungen haben einen Anspruch auf Übereinkommens verbindlich vorgeschrieben. gleichberechtigte Teilhabe in allen Bereichen unserer REHAVISION 3
SCHWERPUNKT PARTIZIPATION UND SELBSTBESTIMMUNG nale Aktionsplan der Bundesregierung habe hier eine gute Vorbildfunktion gehabt, so Grüber. Das zeigt sich auch darin, dass einige Unternehmen wie die Deutsche Bahn oder SAP bereits einen Aktionsplan 2.0 entwickelt haben – analog zum fortgeschriebenen Nationalen Aktionsplan 2.0. BTHG: Weniger Fürsorge, mehr Selbstbestimmung Mit dem Bundesteilhabegesetz (BTHG) ist die Politik 2016 schließlich einen wichtigen Schritt zur Umsetzung der UN-Behindertenrechtskon- vention gegangen. Auch wenn viele Betroffe- nenverbände noch Nachbesserungen fordern, so gilt es doch als großer Wurf. „Mit dem BTHG gibt es ein Gesetz mit explizitem Bezug zur UN-BRK“, würdigt Grüber das neue Gesetz Gesellschaft.“ Teilhabe, Selbstbestimmung, Barriere- und sein Potenzial. Die Philosophie hinter dem Gesetz freiheit – diese Themen stehen heute im besonderen entspricht der zentralen Forderung der Menschen Fokus der Politik für Menschen mit Behinderungen. mit Behinderungen und ihrer Verbände: Heraus aus Um konkret Teilhabe umzusetzen, hat die Bundesre- dem Fürsorgesystem der Sozialhilfe – hin zu mehr gierung 2016 den zweiten Nationalen Aktionsplan Selbstbestimmung. Allerdings sind sich die Verbände verabschiedet. Er läuft bis zum Jahr 2021. Sein Fokus auch darin einig, dass es noch einige Stolperfallen liegt auf der Förderung beruflicher Teilhabe. auf dem Weg zur gleichberechtigten Teilhabe gibt. Vieles wurde auf dem Weg zu einer inklusiven Das BTHG ist einer von vielen Bausteinen – wenn Gesellschaft schon erreicht. So sieht es zumindest die auch ein ganz zentraler –, die den Weg zu einer IMEW-Leiterin Dr. Katrin Grüber: „Es gibt heute mehr echten Selbstbestimmung pflastern. Um zu wissen, Selbstverständlichkeit im Miteinander von Menschen wo ganz konkreter Handlungsbedarf besteht, gab mit und ohne Behinderung und ein wachsendes Selbst- die vormalige Bundesarbeitsministerin Andrea Nah- bewusstsein in den Behindertenverbänden.“ Zudem les Ende 2016 den Startschuss zur ersten Reprä- habe man gute Ergebnisse in der Bewusstseinsbildung sentativbefragung zur Teilhabe von Menschen mit erzielt. Das machen beispielsweise die Aktionspläne zur Behinderungen: „Wir wollen die Menschen erstmals Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention in selbst befragen, wie sie leben, wie sie leben wol- Organisationen und Unternehmen deutlich: Die inten- len und wo sie auf Barrieren stoßen“, erklärte sie sive Beschäftigung mit dem Thema hat zu spürbaren damals. Die Ergebnisse sollen das Thema Inklusion Verbesserungen in Unternehmen geführt. Der Natio- weiter voranbringen. Von der Fürsorge zur Anerkennung und Umsetzung von Bürger- und Menschenrechten. Eine Entwicklung in Gesetzen 1994 2001 2002 2006 2009 2016 Grundgesetz, Sozialgesetzbuch Gesetz zur Allgemeines UN-Konvention Bundesteilhabe- Artikel 3, Abs. 3: IX, §1: Gleichstellung von Gleichstellungs- über die Rechte gesetz, §1: „(...) Niemand „Selbstbestimmung Menschen mit gesetz, §1: von Menschen mit „Leistungen für darf wegen seiner und Teilhabe am Behinderungen, §1: „Ziel des Gesetzes ist, Behinderungen Selbstbestimmung Behinderung Leben in der Gemein- „Ziel ist es, die Benachteiligungen und volle, wirksame benachteiligt schaft“ Benachteiligung aus Gründen (...) und gleichberechtigte werden.“ von Menschen mit einer Behinderung (...) Teilhabe.“ Behinderungen zu zu verhindern oder beseitigen.“ zu beseitigen.“ Quelle: Forum OWL | Daniela Pixa 4 REHAVISION
SCHWERPUNKT PARTIZIPATION UND SELBSTBESTIMMUNG Parallel dazu erschien der zweite Nationale Teil- da SBV und Arbeitgeber darin betriebliche Ziele zur habebericht Anfang 2017, der zeigt, wie es aktuell Integration von Menschen mit Behinderung verabre- um die Teilhabechancen von Menschen mit Behinde- den. So weit so gut. „Doch beide Instrumente müs- rungen in einzelnen Lebensbereichen bestellt ist und sen geschärft werden, damit sie in der Praxis besser wo es noch Barrieren abzubauen gilt. Erfreulich ist greifen“, erklärt Buntenbach weiter. Der Gesetzgeber danach, dass immer mehr junge Menschen mit Be- sollte klarstellen, dass Personalmaßnahmen ohne An- einträchtigung einen beruflichen Abschluss erreichen. hörung der SBV unwirksam sind. Und der Abschluss Doch es fehlt an vielen Stellen an Barrierefreiheit. einer Inklusionsvereinbarung sollte verbindlich in den Hier gibt es noch viel zu tun, so das Fazit des Berichts. Katalog der Mitbestimmungsrechte für Betriebs- und Dies gelte auch für den Kampf gegen die häufigere Personalräte aufgenommen werden. So würden die Arbeitslosigkeit von Menschen mit Schwerbehinde- Bemühungen der Interessenvertretung um Integration rung. Zwar sei die Quote erwerbstätiger schwerbe- nicht mehr im Sande verlaufen, wenn sich ein Arbeit- hinderter Menschen in den letzten Jahren gestiegen geber quer stellt.“ – von 36 % im Jahr 2005 auf 42 % im Jahr 2013. Dennoch sind im Verhältnis gesehen mehr Menschen Zentrale Voraussetzung: Information mit Behinderung arbeitslos als in der Gesamtbevölke- rung. Das bleibt eine Daueraufgabe für die Zukunft. Immerhin: Es gibt Fortschritte bei der Teilhabe am Ar- beitsleben, so das Fazit von Dr. Katrin Grüber vom Insgesamt zeigt der Bericht, dass die Teilhabe IMEW. Gleichwohl gibt es noch Bedarf an Verbesse- von Menschen mit Beeinträchtigungen in vielerlei rungen: Unternehmen benötigen mehr Informationen Hinsicht noch immer eingeschränkt ist. Hierbei gilt und Unterstützungsangebote. Das gilt gerade für die- häufig: Je schwerer die Beeinträchtigungen, desto jenigen, die nur wenig oder keine Erfahrung mit der Be- geringer sind die Teilhabechancen. schäftigung von Menschen mit Behinderungen haben. Instrumente für mehr Partizipation im Die Bedeutung von Information und Beratung als Arbeitsleben Voraussetzung zur Teilhabe und Selbstbestimmung kann gar nicht hoch genug eingeschätzt werden, das Aus Sicht von DGB-Vorstandsmitglied Annelie Bun- unterstreicht auch Dr. Inge Jansen, Geschäftsführe- tenbach kann auch die Schwerbehindertenvertretung rin des BFW Düren. Das gelte für die berufliche Re- (SBV) in Unternehmen einen wirksamen Beitrag für habilitation genauso wie für andere Bereiche. Vom mehr Partizipation leisten. „Aber sie braucht wirk- Grundsatz her ist die Sache eindeutig: Die Selbstbe- same Instrumente, um ihre anspruchsvolle Aufga- stimmung behinderter und von Behinderung bedroh- be erfüllen zu können“, so Buntenbach gegenüber ter Menschen ist in der beruflichen Rehabilitation ein REHAVISION. Schon jetzt muss die SBV vom Arbeit- Leitziel. Menschen mit Behinderungen haben – wie geber laut Gesetz vor allen Maßnahmen angehört alle nicht-behinderten Menschen – ein Recht darauf, werden, die schwerbehinderte Menschen betreffen. ihr Leben nach eigenen Vorstellungen zu gestalten. Auch die neue Inklusionsvereinbarung fördere die be- „Selbstbestimmung stellt jedoch auch eine gewis- rufliche Teilhabe von schwerbehinderten Menschen, se Herausforderung dar: Sie erfordert vielmehr die Anzahl von Menschen mit Schwerbehinderung in Deutschland in den Jahren 1995 bis 2015 (in Millionen) 10 8 6 4 2 0 1995 1997 1999 2001 2003 2005 2007 2009 2011 2013 2015 Quelle: Statistisches Bundesamt | Statista 2018 REHAVISION 5
SCHWERPUNKT PARTIZIPATION UND SELBSTBESTIMMUNG Aktivität des Leistungsberechtigten – und eine Befähi- Trainingseinheit oder eine Weiterbildung benötigen gung zu selbstwirksamem Handeln“, so Dr. Inge Jan- und den Gutschein entsprechend aktivieren. Bislang sen. In den Berufsförderungswerken wurden daher ist das Modell allerdings nur eine Idee. Instrumente und Prozesse entwickelt, die den Rehabi- litanden als selbstwirksame Person ernst nehmen und Anders verhält es sich mit dem „Zwillingsbriefver- ihm im Gesamtprozess der Rehabilitation auch Mit- fahren“, das Teilnehmern mit psychischen Behinde- verantwortung übertragen. Dazu gehört die Reha- rungen im Anschluss an eine Integrationsmaßnahme und Integrationsplanung, die auf Augenhöhe mit dem offen steht. Da Unternehmen bei Praktikumsanfragen Teilnehmer erfolgt und bei der die Schwerpunkte ge- oftmals auf psychische Erkrankungen mit Vorbehalten meinsam festgelegt werden. „Mitwirkungsrechte und reagieren, hat das BFW Nürnberg einen „Zwillings- -pflichten spielen eine große Rolle im erfolgreichen brief“ eingeführt. Einen Brief mit allen Leistungen, die Reha-Prozess“, erläutert die BFW-Geschäftsführerin Teilnehmer im BFW bekommen haben, erhalten diese weiter, „Um sie sicherzustellen, schließen wir mit den selbst. Ein identischer Brief wird ihnen ebenfalls zur Rehabilitanden individuelle Zielvereinbarungen ab.“ Verfügung gestellt, den sie einem potenziellen Prakti- kumsbetrieb aushändigen können, wenn sie das selbst Selbstverantwortung fördern möchten. „Dieses Verfahren zielt darauf, dem Teilneh- mer mehrere Handlungsoptionen zu geben und da- Das klappt nicht immer und nicht immer sofort. Denn mit seine Mitwirkungsfähigkeit zu fördern“, beschreibt auch Selbstverantwortung und Selbstbestimmung Dr. Susanne Gebauer das dahinterliegende Konzept. wollen gelernt sein. Diesen Prozess beschreibt der Begriff „Empowerment“, was übersetzt in etwa heißt, Dass Selbstbestimmung nicht selbstverständlich ist, Selbstverantwortung übertragen zu bekommen. „Zu bestätigt auch Dr. Katrin Grüber: „Wer bisher wenig unserem Auftrag in den Berufsförderungswerken Gelegenheit hatte, selbst zu entscheiden, muss dafür gehört es, den Menschen mit Behinderungen mittels den Freiraum und die Möglichkeit dazu bekommen. Empowerment ist notwendig – also die Übertragung von Selbst- verantwortung.“ Dazu müssten Voraussetzungen geschaffen wer- den durch Information und eine respektvolle Haltung. Selbstbestimmung braucht Informationen Auch der Gesetzgeber hat den Handlungsbedarf erkannt. Damit Menschen mit Handicap Teilhabe- leistungen nutzen können, benöti- gen sie verständliche Information und Beratung von unabhängiger Stelle. Die Erfahrungen aus Pro- jekten zeigt, dass das am besten durch Menschen erfolgt, die eige- ne Erfahrungen mit Behinderungen der beruflichen Förderung in die Lage zu versetzen, haben. Das Bundesministerium für Arbeit und Soziales noch besser Entscheidungen zu treffen und mutig zu hat daher den Aufbau und die Förderung bundeswei- werden, neue Wege zu gehen“, erklärt Dr. Susanne ter – von den Rehabilitationsträgern unabhängiger – Gebauer, die Vorstandsvorsitzende des Bundesver- Beratungsangebote in die Wege geleitet. Die ersten bandes der Deutschen Berufsförderungswerke. „Das Beratungsstellen für eine „Ergänzende unabhängige bedeutet, dass Rehabilitanden heute dazu heraus- Teilhabeberatung“ (EUTB) haben Anfang des Jahres gefordert werden, sich aktiv und nachhaltig Ge- bereits ihre Arbeit aufgenommen. „Teilhabe ohne Parti- danken um ihre berufliche Zukunft zu machen“, so zipation ist gar nicht denkbar“, so die Parlamentarische Dr. Susanne Gebauer. Ziel ist es, selbstbestimmtes Staatssekretärin Kerstin Griese beim Bundesminister Handeln in der beruflichen Rehabilitation zu för- für Arbeit und Soziales gegenüber REHAVISION. Sie dern, Entscheidungsmöglichkeiten und die Gelegen- kündigte an, dass die „Ergänzende unabhängige Teil- heit zur Eigeninitiative anzubieten. habeberatung“ daher auch über den bisher geplanten Zeitraum bis 2022 hinaus mit 58 Mio. Euro jährlich ge- Ein Beispiel dafür ist das „Gutschein-Modell“. fördert wird. Die Betroffenenverbände, die sich für das BFW-Absolventen erhalten im Anschluss an ihre Beratungsangebot auf Augenhöhe nachhaltig stark berufliche Rehabilitation einen Gutschein für ein gemacht haben, freut es. Menschen mit Behinderung Nachsorge-Angebot. Je nach Bedarf können sie nicht minder – künftig können sie noch besser mitreden selbst entscheiden, ob und wann sie eine zusätzliche und mitgestalten, wenn es um ihre Teilhabe geht. 6 REHAVISION
SCHWERPUNKT PARTIZIPATION UND SELBSTBESTIMMUNG „Teilhabe ohne Partizipation ist gar nicht denkbar“ Kerstin Griese über politische Weichenstellungen und Maßnahmen Seit Frühjahr 2018 ist Kerstin Griese als Parlamentarische Staatssekretärin beim Bundes- minister für Arbeit und Soziales unter anderem zuständig für die Bereiche Sozialversiche- rung, Teilhabe und die Belange von Menschen mit Behinderungen. REHAVISION sprach mit ihr über die Ausgestaltung des BTHG und Voraussetzungen für ein selbstbestimmtes Leben. REHAVISION: Mit dem Bundesteilhabegesetz (BTHG) Die wichtigste Voraussetzung für hat das BMAS Weichenstellungen für mehr Teilhabe ein selbstbestimmtes Leben bie- vorgenommen. Mit welchen Maßnahmen fördert tet Beschäftigung. Welche Ent- das BMAS konkret die Selbstbestimmung von Men- wicklungen sind geplant, um die schen mit Behinderung? Beschäftigung von Menschen mit Behinderungen zu verbessern? Kerstin Griese: Alle Akteure stehen jetzt vor der Her- ausforderung, das BTHG mit Leben zu füllen, damit wir Das ist mir ein sehr wichtiges An- zu einer inklusiveren Gesellschaft werden. Das BMAS liegen. Die Beschäftigungssituation begleitet und unterstützt diesen Umstellungsprozess mit schwerbehinderter Menschen hat Projekten und Untersuchungen. Für die Unterstützung sich stetig verbessert. 2016 gab es bei den beschäf- Kerstin Griese der Umsetzung und wissenschaftliche Auswertung der tigungspflichtigen Arbeitgebern rund 1.051.000 Folgen und der Wirksamkeit des BTHG werden wir bis schwerbehinderte Beschäftigte. Das ist ein Zuwachs 2022 rund 50 Mio. Euro ausgeben. Wir wollen damit um rund 47 % gegenüber dem Jahr 2002, in dem das unter die Arme greifen und Sorgen nehmen. Den Er- System der gestaffelten Ausgleichsabgabe eingeführt kenntnisgewinn nutzen wir auch für eine sinnvolle Wei- wurde. Auch die Arbeitslosigkeit schwerbehinderter terentwicklung des Schwerbehindertenrechts. Teilhabe Menschen ist in den letzten Jahren deutlich gesunken, ohne Partizipation ist gar nicht denkbar. Deshalb freue und zwar im Jahresdurchschnitt 2017 um rund 10 % ich mich, dass wir die „Ergänzende unabhängige Teilha- gegenüber 2014. Nie waren mehr schwerbehinderte beberatung“ mit 58 Mio. Euro jährlich fördern können, Menschen in Arbeit als heute. Aber wir wollen mehr auch über den bisher geplanten Zeitraum bis 2022 Arbeitgeber für die Beschäftigung schwerbehinder- hinaus. Und nicht zuletzt nehmen wir mit dem Bundes- ter Menschen gewinnen. Deswegen will das BMAS programm „Innovative Wege zur Teilhabe am Arbeits- gemeinsam mit der Arbeitsagentur und den Sozial- leben - rehapro“ 1 Mrd. Euro in die Hand, um über Mo- partnern gezielt bei Betrieben für die Ausbildung und dellvorhaben die Erwerbsfähigkeit von Betroffenen zu Beschäftigung schwerbehinderter Menschen werben. sichern bzw. neue Beschäftigungschancen zu eröffnen. Zudem werden auch arbeitslose schwerbehinderte Menschen vom neuen Regelinstrument „Teilhabe am Welche Rolle spielt die „Ergänzende unabhängige Arbeitsmarkt“ profitieren können. Teilhabeberatung“ (EUTB)? Welche Rolle spielt berufliche Rehabilitation dabei? Das BTHG bietet mehr Möglichkeiten der Selbstbe- stimmung und Übernahme von Eigenverantwortung. Gute Präventionsarbeit und ein Für die Ausrichtung auf eine stärker personenzen- professionelles Rehabilitations- trierte Bedarfsfeststellung und -erkennung haben wir system sind beste Vorausset- ➝ Kerstin Griese mit der EUTB eine zusätzliche Unterstützung neben zungen dafür, Arbeitslosigkeit Kerstin Griese (*1966) ist seit den vorhandenen Beratungsangeboten. Dort werden zu vermeiden oder rasch den 2018 Parlamentarische Staats- Menschen mit Behinderungen individuell beraten über Sprung zurück ins Erwerbsleben sekretärin beim Bundesminister Teilhabemöglichkeiten und -leistungen, zum Teilhabe- zu ermöglichen. Mit „rehapro“ für Arbeit und Soziales. Die prozess und Verfahrensablauf. Die EUTB kann auch stärken wir das und verbessern studierte Politikwissenschaft- im Teilhabeplanverfahren hinzugezogen werden. Die- die Arbeitsmarktchancen für lerin war zuvor Mitglied des se unabhängige Beratung ist nur den Ratsuchenden Menschen mit Behinderungen Bundestages. Von 2014 bis verpflichtet. Ein wichtiger Ratgeber auf Augenhöhe weiter. Eine wirkungsvolle be- 2018 war Griese Vorsitzende sind vor allem Menschen mit eigenen Erfahrungen rufliche Rehabilitation mit guten des Bundestagsausschusses für von Behinderungen. Deshalb stärken wir das Peer Ergebnissen ist im Interesse der Arbeit und Soziales. Counseling, also die Beratung von Betroffenen für Arbeitnehmer und Menschen Betroffene. Damit wird eine Forderung der Selbsthilfe mit Behinderungen wie auch im umgesetzt. Über 460 geförderte Beratungsangebote Interesse der Arbeitgeber. Wenn und die Fachstelle Teilhabeberatung bieten ein eng- mehr Menschen mit Behinderun- maschiges Beratungsnetzwerk. Nähere Informationen gen erwerbstätig sein können, finden sich unter www.teilhabeberatung.de. haben alle etwas davon. REHAVISION 7
SCHWERPUNKT PARTIZIPATION UND SELBSTBESTIMMUNG Rechtslage gut, Verbesserungen notwendig Sozial- und Interessenverbände über Theorie und Praxis des BTHG „Fortschritte sind erkennbar“, so heißt es unisono, wenn man die Betroffenenverbände auf das Thema Partizipation und Teilhabe anspricht. Immerhin hat der Gesetzgeber 2016 das Bundesteilhabegesetz mit dem hohen Anspruch auf Stär- kung der Selbstbestimmung und Teilhabe für Menschen mit Behinderungen verabschiedet. „Hier gibt es durchaus positive Entwicklungen“, lobt Adolf Bauer, Präsident des Sozialverbandes Deutschland (SoVD). Handlungsbedarf besteht allerdings auch noch. In REHAVISION benennen Sozial- und Interessenverbände Fortschritte und Verbesserungsbedarf. neu gewählte Präsidentin des Sozialverbandes VdK Verena Bentele. „Für uns ist aber entscheidend, ob das Gesetz konkrete Rechts- und Leistungsansprüche for- muliert, und ob Schutzrechte, Benachteiligungsverbote oder Beteiligungsrechte tatsächlich wirksam ausgestal- tet sind.“ Wichtig sei zudem die Anwendung des Rechts durch Behörden und Verwaltungen in der Praxis. Hier bedürfe es einer wachsamen und kritischen Begleitung bei der Umsetzung vieler Regelungen des BTHG in den Bundesländern. Als Erfolg des BTHG wertet Bentele die Regelungen zur Zuständigkeitsklärung und Bedarfs- ermittlung, sowie zum Teilhabeplanverfahren und zu P artizipation als Möglichkeit, Politik und Gesellschaft gleichberechtigt mitzugestalten, ist mit Inkrafttreten des SGB IX 2001 immer stärker Teil des politischen den Erstattungsverfahren. Allerdings sollte das neue Teilhabeplanverfahren mit einem Rechtsanspruch aus- gestattet sein, damit Betroffene mit allen Trägern in der Alltags geworden. Hier ist in den vergangenen Jahren Teilhabekonferenz gemeinsam „an einem Tisch“ ver- manches erreicht worden. „Gewachsen ist vor allem das handeln könnten. Handlungsbedarf sieht die VdK-Prä- Selbstbewusstsein und Selbstverständnis von Menschen sidentin auch beim Zugang zur beruflichen Rehabilita- mit Behinderungen, ihre Rechte einzufordern“, zieht tion. „Die Leistungsgesetze der Träger sehen teilweise Barbara Vieweg, stellvertretende Geschäftsführerin der nur Ermessensleistungen vor“, kritisiert sie. Das mache Interessenvertretung Selbstbestimmt Leben in Deutsch- das Leistungsgeschehen intransparent. „Wir fordern land (ISL), ein Fazit. Für eine umfassende Partizipation einheitliche Rechtsansprüche auf Pflichtleistungen.“ sei aber „Fachlichkeit auf Augenhöhe“ erforderlich. Hier hatten die Sozialverbände Maßnahmen gefor- Höhere Ausgleichsabgabe nötig? dert, die nun eingeführt worden sind, sagt SoVD-Prä- sident Bauer zufrieden: Allen voran „die Einführung Kritisch fällt auch der Blick auf die Teilhabe am Arbeits- des Partizipationsfonds, der die politische Partizipation leben aus: Dass die Zahl der arbeitslosen Menschen der Selbstvertretungsorganisationen stärken soll.“ Der mit Behinderungen noch immer deutlich über dem Fonds bietet Fördermöglichkeiten für Fortbildungsver- bundesweiten Durchschnitt liege, müsse „sich endlich anstaltungen für Menschen in Selbstvertretungsorgani- ändern“, sagt SoVD-Präsident Bauer und unterstreicht: sationen, sowie für internationalen „Dabei geht es nicht allein um eine grundsätzliche Austausch. Doch zwischen Theorie Forderung, sondern um eine konkrete Gefahrenab- ➝ Deutscher und Praxis gibt es noch Unterschie- wehr.“ Denn die Langzeitarbeitslosigkeit verschärfe Behindertenrat (DBR) de. Als problematisch bewertet der das Risiko, im Alter in Armut abzurutschen. Abhilfe SoVD etwa das im BTHG enthalte- müssten Politik und Wirtschaft schaffen. Insbesondere Im DBR sind Organisationen be- ne sogenannte Zwangspoolen, das die Unternehmen sollten bei der Beschäftigung von hinderter und chronisch kranker behinderte Menschen zwingt, sich Menschen mit Behinderungen mehr tun, so Bauer: Menschen zu einem Aktions- bündnis zusammengeschlossen: eine Unterstützungsleistung mit an- „Ganz konkret kann dies auch eine höhere Ausgleichs- u.a. der Sozialverband Deutsch- deren zu teilen. „Dies ist strikt abzu- abgabe bedeuten.“ Das sieht man beim VdK ähnlich. land VdK, der SoVD Sozialver- lehnen“, so Bauer. Denn somit sei es Es brauche mehr als „Appelle an den „guten Willen“ band Deutschland und die ISL nicht mehr möglich, sich die eigene der Arbeitgeber,“ erklärt Bentele und verweist auf - Interessenvertretung Selbstbe- Assistenz selbst auszusuchen. „Das 40.925 beschäftigungspflichtige Arbeitgeber, die kei- stimmt Leben in Deutschland. widerspricht Selbstbestimmung.“ nen einzigen schwerbehinderten Menschen beschäf- tigen. „Der VdK fordert daher die Anhebung der Rechte wirksam ausgestalten Ausgleichsabgabe für Arbeitgeber, die der Beschäf- tigungspflicht nicht oder in völlig unzureichendem „Teilhabe, Selbstbestimmung und Maße nachkommen, auf 750 Euro pro nicht besetz- Partizipation sind durchaus in den tem Pflichtplatz.“ Der Weg zu mehr Teilhabe ist noch Gesetzen gut verankert“, sagt die weit. Hier sind sich die beiden Sozialverbände einig. 8 REHAVISION
SCHWERPUNKT PARTIZIPATION UND SELBSTBESTIMMUNG „Ich nehme in jeder Sekunde Einfluss“ BFW-Rehabilitandin über Mitbestimmung im Reha-Prozess Wird über Leistungen der beruflichen Rehabilitation entschieden, müssen die Wünsche der Leistungsberechtigten berücksichtigt werden – so sagt es das gesetzlich verankerte Wunsch- und Wahlrecht. Was Rehabilitanden dabei wichtig ist, weiß Yesim Kaban: Die 43-Jährige absolviert nach einer Tumor-Erkrankung eine kaufmännische Qualifizierung im BFW Berlin-Bran- denburg und engagiert sich dort als Rehabilitanden-Vertreterin. Im Inter- view erklärt sie, worauf es den Rehabilitanden und ihr selbst ankommt. REHAVISION: Sie absolvieren gerade eine Qualifizie- absolvieren: Man- rung im BFW Berlin-Brandenburg. Wie wichtig war che empfinden den Ihnen die Auswahl Ihres Reha-Dienstleisters? Austausch im Unter- richt als zu unruhig, Yesim Kaban: Mir war vor allem wichtig, dass meine anderen fällt der Qualifizierung schnell beginnt und es nach meiner lan- erneute Einstieg ins gen krankheitsbedingten Auszeit zügig voran geht. Das konzentrierte Lernen habe ich sicher mit vielen Rehabilitanden gemeinsam. oder die Aneignung Deshalb war ich persönlich ganz unbedarft und habe des Fachwissens schwer. Umso wichtiger ist es, dass Yesim Kaban, die vorgeschlagene Qualifizierung im BFW Berlin-Bran- Teilnehmer sich bewusst für diesen Weg entscheiden Rehabilitanden- denburg dankbar angenommen – gerade weil die Ein- Vertreterin im BFW und ihre Qualifizierung selbst aktiv gestalten. Berlin-Brandenburg richtung wohnortnah gelegen ist. Mit größerem Ab- stand betrachtet, ist für Rehabilitanden die Auswahl an Kann die Rehabilitanden-Vertretung, die es in jedem Qualifizierungen am wichtigsten: Wenn ich eine Ausbil- BFW gibt, Teilnehmende dabei unterstützen? dung wählen kann, die meinen Fähigkeiten entspricht und mich wirklich interessiert, würde ich persönlich auch Die Rehabilitanden-Vertretung ist für BFW-Teilneh- eine weite Entfernung zum Wohnort in Kauf nehmen. mer eine wichtige Anlaufstelle: Sie schlägt eine Brücke zwischen Rehabilitanden und BFW-Vertre- Sie machen eine Qualifizierung zur Kauffrau im Ge- tern, ermöglicht regelmäßiges Feedback und schafft sundheitswesen. War dieser Berufsweg Ihr Wunsch? Aufmerksamkeit für die verschiedenen Anliegen. Oft geht es nur um Kleinigkeiten, bei denen ich gut hel- Auch wenn ich natürlich nach meinen Wünschen ge- fen kann – aber es ist den Teilnehmenden sehr wich- fragt wurde, war es zugegebenermaßen eher der tig, dass es diese Möglichkeit gibt. kleinste gemeinsame Nenner: Ich bin gelernte Arzt- helferin und habe als Außendienst-Mitarbeiterin für Gilt das auch für das Wunsch- und Wahlrecht im medizinische Produkte gearbeitet, da lag das Ange- Allgemeinen? bot für diese Ausbildung einfach nahe. Wenn ich mir alles hätte aussuchen können, hätte ich keine kauf- Das Wunsch- und Wahlrecht wird von den Rehabi- männische Ausbildung gewählt. Wahlmöglichkeiten litanden in erster Linie bei der Wahl des beruflichen sind eben immer auch an berufliche Voraussetzungen Werdegangs und der dafür benötigten gebunden und deshalb begrenzt, auch wenn das An- Angebote als wichtig empfunden und gebot in den BFW breit gefächert ist. in Anspruch genommen. Während des ➝ Wunsch- Reha-Verlaufs sind viele Rehabilitanden und Wahlrecht An welchen Stellen nehmen Sie bewusst Einfluss auf – darunter immer mehr Menschen mit den Verlauf Ihrer beruflichen Rehabilitation? psychisch bedingten Diagnosen – er- Die selbstbestimmte Teilhabe am Leben in fahrungsgemäß schlichtweg dankbar, Gesellschaft und Arbeits- Ich nehme in jeder Sekunde Einfluss darauf: Entschei- wenn sie einen Teil ihrer Verantwortung leben wird durch SGB IX, dend ist ja, was ich selbst aus dem Gelernten mache und der grundlegenden Entscheidungen § 8 „Wunsch- und Wahl- und wie ich meinen beruflichen Neuanfang gestalte. abgeben können. Stattdessen kommen recht“ gestärkt. Dazu Wenn Rehabilitanden ihre eigenen Stärken und Inte- die Teilnehmer im BFW mit ganz alltäg- gehört die Mitsprache ressen kennen und motiviert sind, können sie sich mit lichen Wünschen auf die Rehabilitan- bei der Auswahl der er- den jeweiligen Maßnahmen auch gezielt auf ihren den-Vertretung zu, beispielsweise mit forderlichen Leistungen. Berufsalltag vorbereiten. Meine Erfahrung ist, dass Anliegen zu Freizeit-Möglichkeiten, der die BFW dafür gute Grundlagen schaffen und sehr Speiseauswahl oder zum Angebot der praxisnah ausbilden. Und trotzdem bleibt es eine He- Fachdienste – es geht ihnen also um die rausforderung, in der Lebensmitte einen beruflichen Rahmenbedingungen, und hier können Neuanfang zu wagen und eine Qualifizierung zu wir auf kurzem Wege gut unterstützen. REHAVISION 9
SCHWERPUNKT PARTIZIPATION UND SELBSTBESTIMMUNG Wie Teilhabe am Arbeitsleben gelingen kann Lösungen aus der Praxis: Inklusion beim Deutsche Bank Konzern Sie arbeitete erfolgreich in der Personalleitung des Deutsche Bank Konzerns. Eine Autokollision mit einem Wildschwein veränderte das Leben von Angela Meurer drastisch. Seitdem ist sie auf den Rollstuhl angewiesen. Doch ihre Behinderung nahm keinen Ein- fluss auf ihr berufliches Engagement. Im Gegenteil: Als Konzernschwerbehindertenbeauftragte hat Angela Meurer zusammen mit ihren Kollegen viele Maßnahmen initiiert und begleitet, die Partizipation im Unternehmen ermöglichen. In REHAVISION beschreibt sie Wege und Lösungen aus der Praxis. Blicks auf die Defizite. Zudem setzen wir verstärkt auf ein Zusammenspiel an Maß- nahmen, um Partizipation zu verwirklichen. Was machen wir konkret? Der Konzern hat sein Online-Bewerbungsverfahren für Menschen mit Behinderungen vereinfacht, um ihnen den Einstieg zu erleichtern. Für mehr Beschäftigung von Menschen mit Be- hinderungen ist auch die enge Zusammen- arbeit mit der Agentur für Arbeit und den Integrationsämtern eine Voraussetzung – über sie erhalten wir mehr Bewerbun- gen von Schwerbehinderten und können A ls Konzernschwerbehindertenvertretung gehört es zu meinen Kernaufgaben, Inklusion zu fördern. Diversity, Inklusion und soziale Verantwortung sind bei gemeinsam ihre Integration gestalten. Für gute Arbeit brauchen schwerbehinderte Mitarbeitende einen gut ausgestatteten Arbeitsplatz – hier bemühen uns nicht nur Begriffe, sondern gelebte Werte. Als Un- wir uns, alle finanziellen und technologischen Möglich- ternehmen sind wir stark vernetzt, um möglichst viel keiten auszuschöpfen. Passend zu Qualifikation und Input zu bekommen und Inklusion in der Wirtschaft Handicap werden die Arbeitsplätze im Konzern mit besser realisieren zu können. So kann ich mich als den jeweils erforderlichen Hilfsmitteln ausgestattet. Sprecherin der Interessengemeinschaft der Behinder- tenvertreter der deutschen Wirtschaft (IBW) und als Vielseitig und kontinuierlich unterstützen Mitglied im UnternehmensForum einbringen, um Parti- zipation am Arbeitsleben zu verankern. Ich selbst bin Mithilfe von „TeleSign“-Technik und Gebärdendolmet- als schwerstbehinderte Rollstuhlfahrerin und alleiner- schern werden gehörlose Mitarbeiter erfolgreich aus- ziehende Mutter mein eigener „Praxisfall“ und zugleich gebildet und bleiben mit Kollegen in Abstimmung. Das mein größter Erfahrungsschatz. Aus meinem persönli- trägt wesentlich dazu bei, ihre Beschäftigung im Un- chen Erleben möchte ich den wichtigsten Erfolgsfaktor ternehmen nachhaltig zu sichern. Da wir unsere Ver- gleich an erster Stelle benennen: Es ist die persönliche antwortung für schwerbehinderte Mitarbeiter als dau- Motivation und individuelle Bereitschaft des Einzelnen erhafte Verpflichtung und Teil eines kontinuierlichen „mitzumachen“. Generell erkenne ich in Verbesserungsprozesses sehen, haben wir vor einigen der Gesellschaft ebenso wie bei meinem Jahren einen Arbeitskreis Barrierefreiheit gegründet, ➝ Deutsche Bank AG Arbeitgeber zunehmend einen inklusiven der sich auch mit der „IT-Landschaft“ beschäftigt. Ansatz zu mehr Vielfalt. Die Wahrneh- • 97.500 Mitarbeiter mung wird sensibler, Menschen werden Auch das Betriebliche Eingliederungsmanagement in 60 Ländern unabhängig von ihrer Hautfarbe, ihrem (BEM) ist Teil unserer Arbeits– und Gesundheitskultur. • davon 42.500 in Geschlecht und eben auch ihrer Behinde- Es hilft, frühzeitig Auswirkungen von Beeinträchtigun- Deutschland rung als wertvolle Ressource geschätzt. gen der Gesundheit oder gar von Behinderung am Arbeitsplatz zu erkennen. Darüber hinaus haben wir • Beschäftigtenquote: Best Practice aus dem ein Selbsthilfenetzwerk „Experten in eigener Sache“ 5,7 % (2017) Deutsche Bank Konzern gegründet, in dem wir mit Rat und Tat den Behinderten und ihren Angehörigen zur Seite stehen. Die besten In der Schwerbehindertenvertretung des Maßnahmen helfen allerdings nicht, wenn die Bereit- Deutsche Bank Konzerns verfolgen wir schaft dazu in der Unternehmenskultur fehlt. Aus die- das Ziel, die Arbeitnehmer ihren Stärken sem Grund wird zur Schärfung des Bewusstseins das und Qualifikationen entsprechend zu för- Thema „Beschäftigung Schwerbehinderter“ in Semina- dern und zu beschäftigen. Im Vordergrund ren für Führungskräfte positioniert. Denn Partizipation steht dabei der Blick auf die Möglichkeiten erfordert eine bewusste Haltung, damit sie erfolgreich Angela Meurer des Einzelnen statt des früher oft üblichen gelebt werden kann – aber auch Empathie und Spirit. 10 REHAVISION
SCHWERPUNKT PARTIZIPATION UND SELBSTBESTIMMUNG Arbeit stärkt das Selbstwertgefühl Interview mit Unternehmer und Stifter Joachim Schoss Joachim Schoss war einer der erfolgreichsten jungen Unternehmer Deutschlands: Er war Gründer, Teilhaber und Präsident des Internetportals Scout24. Bis er bei einem Unfall schwer verletzt wurde, einen Arm und ein Bein verlor. Joachim Schoss’ Leben veränderte sich – aber nicht sein unternehmerisches Denken. Heute wirkt er als Investor und Business Angel, hat verschiedene Verwaltungsratsmandate – und engagiert sich über seine Stifung „MyHandicap“ stark für Menschen mit Behinderungen und ihre gesellschaftliche Inklusion. REHAVISION sprach mit dem Unternehmer über die Bedeutung von Arbeit und Selbstbestimmung. REHAVISION: Welche Rolle spielt Arbeit für ein selbst- bestimmtes Leben von Menschen mit Behinderungen? „Inklusion ist gut für Joachim Schoss: Arbeit spielt für Menschen mit das Wohlergehen Behinderungen eine ähnliche Rolle wie für Men- und die Selbst- schen ohne Behinderungen: Der Lohn für die getane Arbeit vergrößert die finanziellen Spielräume. Die bestimmung der Arbeit selbst stärkt das Selbstwertgefühl. Wer eine Betroffenen, gut für sinnvolle Aufgabe hat, bleibt länger fit und gesund und konsumiert weniger Alkohol und Drogen. Die die Kultur und die Glücksforschung weiß, dass das Gefühl des Ge- Finanzen unserer braucht-Werdens für viele alltägliche Glücksmo- mente verantwortlich ist, während Abhängigkeit das Gesellschaft...“ Gegenteil bewirkt. Joachim Schoss Welche Bedingungen benötigen Menschen mit Be- hinderungen, um erfolgreich in Arbeit zurückkehren zu können? chen darf und soll. In vielen Gesprächen mit Entschei- dungsträgern erlebe ich nach wie vor Unkenntnis, Vor- Die notwendigen Rahmenbedingungen für eine er- urteile, Überraschung, aber meist auch Gutwilligkeit. folgreiche Beschäftigung von Menschen mit Behinde- Es lohnt also weiterhin, wo immer möglich, die großen rungen hängen einerseits von der konkreten Situation Vorteile der Inklusion zu kommunizieren: Inklusion ist ab – Rollstuhlfahrer z. B. brauchen physische Barrie- gut für das Wohlergehen und die Selbstbestimmung - refreiheit, Autisten eine reizarme Umgebung. Grund- der Betroffenen, gut für die Kultur und die Finanzen sätzlich braucht es immer ein gutes Inklusionsklima, unserer Gesellschaft und bei positivem Inklusionsklima d. h. die Wertschätzung der Andersartigkeit, einen Fo- gut für den einzelnen Arbeitgeber, z. B. weil Teams mit kus auf die Stärken und nicht auf die Schwächen und Menschen mit Behinderung nachweislich innovativer ein wohlwollendes Eingehen auf die spezifischen Be- sind als Teams ohne. Erfolgreiche Inklusion bringt win- dürfnisse des Betroffenen. Die größten Fortschritte bei win-win, es gibt wenig Lohnenswerteres! der beruflichen Inklusion würden wir erreichen kön- nen, wenn es mehr Barrierefreiheit gäbe – und zwar Wie lassen sich die Interessen von Menschen mit Be- in den Köpfen von Entscheidern, Kollegen und unmit- hinderungen am besten vertreten? telbaren Vorgesetzten. Dazu ist es gut, sich von der Schwarz-weiß-Vorstellung „behindert / nicht behin- Persönlich war es bisher meine dert“ zu verabschieden und sich klar zu machen, dass Strategie, Hilfe zur Selbsthilfe zu ➝ Weitere Informationen: wir alle unterschiedlich stark behindert sind – und das bieten und Inklusion zu fördern, auch noch in Bezug auf alle möglichen Fähigkeiten. wo immer möglich. Wenn ich Die Stiftung MyHandicap gibt Ein Rollstuhlfahrer mag als Dachdecker ungeeignet, sehe, mit welchen Mitteln und wie einen hilfreichen Überblick über als Web-Entwickler aber Weltklasse sein. erfolgreich andere Gruppen ihre die verschiedenen Angebote berechtigten Interessen vertreten, und Träger: Wie kann es gelingen, Arbeitgeber für die Inklusion komme ich immer mehr zu der www.myhandicap.de/jobboerse/ von Menschen mit Behinderung zu sensibilisieren? Überzeugung, dass auch Men- arbeitsuchende/arbeitnehmer/ foerdermoeglichkeiten schen mit Behinderung deutlicher Ich glaube, wir sind schon auf dem richtigen Weg, für ihre Rechte einstehen sollten. aber natürlich noch lange nicht weit genug. In der Wir repräsentieren 10 % der Be- Vergangenheit wurde leider viel zu lange das falsche völkerung, zusammen mit unseren Ideal der Exklusion gepredigt und gelebt. Da braucht Angehörigen hätten wir genug es Zeit, bis auch der letzte Nicht-Betroffene versteht, Stimmen, jede Regierung in unse- dass Inklusion für alle das Beste ist und jeder mitma- rem Sinne zu beeinflussen. REHAVISION 11
SCHWERPUNKT PARTIZIPATION UND SELBSTBESTIMMUNG Barrierefreies Denken, innovatives Recruiting Inklusion ist bei Siemens Chefsache „Bei Siemens herrscht Ingenieurs-Spirit: Man sieht eine Herausforderung und findet eine Lösung dafür.“ So einfach beschreibt Dr. Johannes Hund das Teilhabe-Prinzip seines Arbeitgebers. Trotz Rollstuhl gründete der Siemens-Ingenieur das Startup EcoG. Ein Beispiel dafür, wie Inklusion bei Siemens gelingt: Mit barrierefreiem Denken und innovativen Maßnahmen. D r. Johannes Hund ist einer von rund 5.000 Mit- arbeitenden mit Behinderungen, die bei Siemens Deutschland arbeiten – sie bilden etwa 5,3 % aller tepotenzial zu sichern. „Viele Einschränkungen treten erst im Laufe eines Berufslebens auf. Darauf müssen wir Antworten finden.“ Neben Maßnahmen für Prävention Beschäftigten. Damit gehört der Technologie-Anbie- setzt Siemens dabei auch auf das gezielte Recruiting ter nicht nur zu den größten, sondern auch zu den von Menschen mit Behinderungen. Wohlwissend, dass inklusionsstärksten Arbeitgebern Deutschlands. “In- es auf ihre individuellen Stärken ankommt: „Handicap klusion zeigt sich bei uns nicht einfach nur in festen und Karriere sind bei uns kein Widerspruch“, so Mosch- Regelungen im Umgang mit schwerbehinderten Mitar- ko. Eigens für Bewerberinnen und Bewerber mit Behin- beitenden“, erklärt Stefan Moschko, Personalleiter bei derungen hat der Konzern deshalb eine Landingpage Siemens Deutschland und Vorsitzender des Trägerver- unter dem Titel „Jobs ohne Barrieren“ eingerichtet, zu eins des BFW Berlin-Brandenburg. „Sie ist ein fester der ein vereinfachter Bewerbungseingangskanal gehört. und gelebter Bestandteil unserer Unternehmenskul- Ein geschulter bundesweiter Ansprechpartner steht den Bewerbern für Fragen zur Verfügung. Auch das Auswahlverfahren für angehende Aus- zubildende mit Behinderungen wurde an- gepasst, sie werden optimal entsprechend ihrer persönlichen Stärken eingesetzt. Auf diese Weise konnten 2017 35 junge Ler- nende mit unterschiedlichen Behinderungen geworben werden. Inklusion muss vorgelebt werden Dass all diese Maßnahmen bei Siemens so gut gelingen, kommt nicht von ungefähr. Teilhabe fängt als fester Bestandteil der Un- ternehmenskultur im kollektiven Denken an – und sie ist Chefsache. „Inklusion fällt nicht vom Himmel“, bestätigt Moschko. Dafür setzt sich auch Siemens-Personalvorstand tur.“ Diese Kultur ist ausschlaggebend dafür, dass die Janina Kugel ein: „Inklusion können wir nicht einfach Bedürfnisse von Mitarbeitenden mit Behinderungen verordnen, wir müssen sie vorleben. Deshalb kommt es bei Siemens möglichst immer und überall mitgedacht auch darauf an, dass wir allen – angefangen bei un- werden – beim Bau neuer Gebäude und der Arbeits- seren Führungskräften – vermitteln, das zu sehen, was platzgestaltung genauso wie bei der Einführung neuer wirklich in einem Menschen steckt, ganz gleich, woher Prozesse und Entwicklungen. „Selbst in unserer Digi- man kommt, wie man aussieht oder, ob man mit einer talstrategie haben wir Inklusion verankert“, so Mosch- Behinderung lebt." Bei Siemens zähle das individuelle ko: Barrierefreie Soft- und Hardware, IT-Medien und Potenzial, darauf wolle man nicht verzichten. Führungs- Arbeitsanwendungen ermöglichen volle Teilhabe im kräfte und Mitarbeiter werden deshalb aktiv geschult, Arbeitsleben. Gleichzeitig entwickelt Siemens mit Un- um unbewusste Vorurteile zu überwinden. Seit vielen terstützung seiner Mitarbeitenden auch barrierefreie Jahren dient zudem eine Integrationsvereinbarung als Produkte und bietet damit Mehrwert für seine Kunden. verbindliche Grundlage. Im Frühjahr wurde sie zu einer Eine echte Win-win-Situation also, die dem Konzern Inklusionsvereinbarung weiterentwickelt, um die Einbet- einen Wettbewerbsvorsprung sichert. tung von Inklusion in die digitale Strategie sichtbar zu machen. Ein umfassender Ansatz, der sich für Siemens Gezieltes Recruiting und vereinfachte Zugänge lohnt – das zeigt auch die Auszeichnung mit dem Inklu- sionspreis für die Wirtschaft 2018. Der Preis prämiert Natürlich weiß Stefan Moschko als Vorstandsvorsitzen- beispielhaftes Inklusionsengagement und unterstreicht der der DRV Berlin-Brandenburg auch um die Bedeu- die vorbildliche Strategie des Konzerns: Siemens ist es tung von Inklusion im Rahmen alternder Belegschaften gelungen, sich zukunftsfähig aufzustellen und dabei auf – und dass Siemens darauf angewiesen ist, ihr Fachkräf- die ganze Vielfalt des Fachkräftepotenzials zu setzen. 12 REHAVISION
AUS DEN BFW Vom Wandel der Berufe und BFW-Ausbildungen „Reha statt Rente“ – so lautete das Motto, mit dem sich die Berufsförderungswerke in ihren Anfangsjah- ren beschäftigten. Es ging darum, Menschen nach einem Unfall oder Erkrankung durch eine Ausbildung wieder fit für das Arbeitsleben zu machen. Nach den Wünschen der Rehabilitanden wurde selten ge- fragt. Stattdessen bestimmte das Prinzip der „Fürsorge“ den Umgang mit Menschen mit Behinderungen. „W ir haben uns in den ersten Jahren nicht mit der Frage beschäftigt, wie die Rehabilitanden im Reha-Prozess mitwirken könnten und ob sie mit ihrer Ausbildung einverstanden sind“, blickt der ehemalige Vorstandsvorsitzende der früheren Arbeitsgemein- schaft Die deutschen Berufsförderungswerke Ulrich Wittwer zurück (Vorsitz 1978-2004). Im Mittelpunkt standen damals die Inhalte der Berufe und die Stoff- vermittlung. Bei Schwierigkeiten fanden zwar Problem- fallkonferenzen statt, an denen auch die Rehabilitan- Wittwer. Eingeführt wurden die drei Prinzipien Ganz- den teilnehmen durften. Aber die Rollen waren klar heitlichkeit, Handlungsorientierung und interdisziplinä- verteilt. Wittwer: „Sie wurden auf ihre Leistungsdefi- re Teamarbeit. Ab sofort stand die Persönlichkeitsent- zite angesprochen und auf ihre Mitwirkungspflichten wicklung und Integrationsförderung der Betroffenen im hingewiesen.“ Dass die Betroffenen selbst Kritik übten, Mittelpunkt. „Das neue Konzept verlangte Methoden etwa an der Stoffvermittlung, kam nicht vor. Schlicht- und Techniken, die die Betroffenen einbeziehen und weg auch deshalb nicht, weil sie Mitwirkung auch nicht aktivieren“, erklärt Wittwer. Gefördert wurde damit aus ihrer Schul- oder Berufsschulzeit gewöhnt waren. nicht nur die Fachkompetenz, sondern auch die berufli- Die Trendwende kam 1995. Damals führten die BFW che Handlungskompetenz. Ein wichtiges Instrument da- das Forschungs- und Entwicklungsprojekt „Ganzheitli- für wurden die regelmäßigen Wochenbesprechungen: che berufliche Rehabilitation Erwachsener. Handlungs- Sie vertieften die Fähigkeit der BFW-Teilnehmenden, orientierte Gestaltung von Lernsituationen in Berufs- ihre Lernprozesse zu reflektieren und zu planen. Ent- förderungswerken“ durch. „Mit dem Projekt wurde scheidende Voraussetzungen für eine selbstbestimmte eine völlig andere Herangehensweise gefordert“, so Mitwirkung am Rehabilitationsprozess. Mitbestimmung fördert Selbstvertrauen Aktiv die eigenen Interessen vertreten: die BFW-Teilnehmervertretung „Nichts über uns ohne uns“– das gilt auch in Berufsförderungswerken, Berufsbildungswerken und Werkstätten. Aktive Mitbestim- mung gibt es bei allen Erbringern von Leistungen für Menschen mit Behinderungen. In den Berufsförderungswerken gehört die Rehabilitanden-Vertretung bereits seit über 30 Jahren zum Konzept. Etwas jünger ist das Recht auf die aktive Vertretung durch die Beschäftigten in den Werkstätten. Sie gilt seit Inkrafttreten des SGB IX im Jahr 2001, das in § 35 die „Mitwirkungspflichten der Teilnehmer an der Ausführung der Leistung“ verbindlich machte. D ie Bezeichnungen unterscheiden sich: So gibt es Werkstatträte, aber Rehabilitanden- oder Teilneh- mervertretungen. Das Ziel ist jedoch immer das gleiche: wie sich die Folgen des Bundesteilhabegesetzes auf die Rehabilitanden auswirken.“ Auch im BFW Frankfurt am Main gibt es eine Teilnehmervertretung. „Sie beschäf- Es geht darum, Ansprechpartner für die Teilnehmen- tigt sich vor allem mit Themen wie Wohnen, Freizeit den zu sein. Regelmäßig finden zudem Gespräche mit und Verpflegung“, erklärt Petra Hartl. Die 47-Jährige Ausbildern, Fallsteuerern oder der Geschäftsführung absolviert eine Qualifizierung zur Industriekauffrau statt. „Der Austausch zwischen Rehabilitandenvertre- und ist seit einem Jahr im Amt. Sie hat ein offenes Ohr tung und BFW-Pädagogen oder BFW-Geschäftslei- für die Teilnehmenden. Hinzu kommt die Arbeit in ver- tung ermöglicht die Beteiligung an allen zentralen Ab- schiedenen Ausschüssen. Das letzte Highlight war für läufen im Reha-Alltag“, erklärt Dr. Susanne Gebauer, sie die Mitsprache bei der Neugestaltung der Lobby Geschäftsführerin des BFW Nürnberg. Dabei geht es im BFW Frankfurt. „Sie ist einfach toll geworden“, sagt oft um Aspekte des Alltags, manchmal aber auch um sie strahlend. Dass ihre Meinung zählt, empfindet sie politische Auswirkungen. Gebauer: „Zuletzt haben wir als wertschätzend und stärkend zugleich. Sie ist sicher: mit der Rehabilitandenvertretung darüber gesprochen, „Mitbestimmung fördert Selbstvertrauen.“ REHAVISION 13
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