Nichts über uns ohne uns - Berufsförderungswerk Nürnberg

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Nichts über uns ohne uns - Berufsförderungswerk Nürnberg
2/2018                                                           REHAvision

Chancen und Perspektiven
der Beruflichen Rehabilitation

Nichts über uns ohne uns
Partizipation, Selbstbestimmung und Teilhabe – eine Standortbestimmung
Es sind fünf Wörter, die auf den Punkt bringen, worum es der Behindertenbewegung in Deutschland geht: „Nichts über uns ohne uns“.
Ursprünglich aus der amerikanischen Bürgerrechtsbewegung stammend, wurde diese Formulierung in den 80er Jahren zum Leitmotiv
von Menschen mit Behinderungen und formuliert ihre Forderung nach Selbstbestimmung. Statt als Objekte der Fürsorge behandelt zu
werden, geht es ihnen darum, Kontrolle über das eigene Leben zu haben. Einfach gesagt: Es soll nichts über Menschen mit Behinde-
rung entschieden werden, wenn sie nicht mit dabei sind. REHAVISION gibt einen Überblick über die aktuelle Entwicklung. Seite 3

                               Kerstin Griese: Keine                                                 Barrierefreies Denken,
                               Teilhabe ohne Partizipation                                           innovatives Recruiting
                               Die Parlamentarische                                                  Bei Siemens ist Inklusion
                               Staatssekretärin im BMAS                                              Chefsache. Sie ist fest in
                               sprach mit REHAVISION über                                            der Unternehmsstrategie
                               die Ausgestaltung des BTHG                                            verankert und setzt auf
                               und Voraussetzungen für ein                                           die ganze Vielfalt des
                               selbstbestimmtes Leben.                                               Fachkräftepotenzials.
                               Seite 7                                                               Seite 12

                                                      Die REHAVISION wird herausgegeben vom
Nichts über uns ohne uns - Berufsförderungswerk Nürnberg
VORWORT

                 Liebe Leserin, lieber Leser,
                 die zweite Ausgabe der REHAVISION im Jahr des                 auch Teil der Agenda von Unternehmen und der
                 goldenen Jubiläums des Bundesverbandes Deutscher              Unternehmenskultur geworden sind. Dies wird in der
                 Berufsförderungswerke versucht sich an einer Stand-           aktuellen Ausgabe deutlich.
                 ortbestimmung: Wir befassen uns in diesem Heft
                 intensiv mit der Frage, wie es aktuell um die Themen          In der Mitte der Gesellschaft ist das Thema Inklusion
                 Partizipation, Selbstbestimmung und Teilhabe von              aber sicherlich bis heute noch nicht angekommen.
                 Menschen mit Behinderungen in Deutschland bestellt            Gegenwärtig erleben wir leider ein Wiedererstarken
                 ist. Im zweiten Jahr des Bundesteilhabegesetzes               des Denkens, das für Separation und Exklusion steht.
                 ist mir dieses Thema ein besonderes Herzensanlie-             Um dem entgegenzuwirken und Inklusion zur Nor-
                 gen und ich bedanke mich ausdrücklich bei allen               malität werden zu lassen, braucht es auch die Arbeit
                 Personen, die aktiv zur Entstehung dieser Ausgabe             der Berufsförderungswerke. Nach dem Motto: „Wir
                 beigetragen haben.                                            für Menschen“ realisieren wir berufliche Teilhabe und
                                                                               Inklusion. Dafür haben wir uns in der Vergangenheit
                 Die unterschiedlichen Beiträge machen deutlich, dass          eingesetzt und dafür stehen wir auch in Zukunft!
                 in den letzten Jahren auf dem Weg in eine inklusive
                 Gesellschaft in Deutschland einiges erreicht wurde.           Ihre
                 Politische Meilensteine wie das Sozialgesetzbuch IX,
                 die UN-Konvention über die Rechte von Menschen
                 mit Behinderungen oder das Bundesteilhabegesetz               Dr. Susanne Gebauer
                 entfalten zunehmend Wirkung. Dies äußerst sich u. a.          Vorstandsvorsitzende des Bundesverbandes
                 dadurch, dass die Themen Inklusion und Diversity              Deutscher Berufsförderungswerke

                 Inhaltsverzeichnis
                 Schwerpunkt Partizipation & Selbstbestimmung         . 3      Aus den BFW . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13
                 Nichts über uns ohne uns . . . . . . . . . . . .     . 3      Vom Wandel der Berufe und
                 „Teilhabe ohne Partizipation ist                              BFW-Ausbildungen . . . . . . . . . . . . . . . . 13
                 gar nicht denkbar“ . . . . . . . . . . . . . . .     .    7   Mitbestimmung fördert Selbstvertrauen . . . . . . 13
                 Rechtslage gut, Verbesserungen notwendig . . .       .    8
                 „Ich nehme in jeder Sekunde Einfluss“ . . . . . .    .    9   Namen und Nachrichten . .          .   .   .   .   .   .   .   .   .   . 14
                 Wie Teilhabe am Arbeitsleben gelingen kann. .        .   10   Kurz notiert . . . . . . . . . .   .   .   .   .   .   .   .   .   .   . 14
                 Arbeit stärkt das Selbstwertgefühl . . . . . . .     .   11   Personalia . . . . . . . . . . .   .   .   .   .   .   .   .   .   .   . 15
                 Barrierefreies Denken, innovatives Recruiting . .    .   12   Veranstaltungen . . . . . . . .    .   .   .   .   .   .   .   .   .   . 15

                    Impressum

                    Redaktion:                                                 Gestaltung:
                    Dr. Susanne Gebauer, Frank Gottwald,                       zeichensetzen medienagentur GmbH
                    Hans-Dieter Herter, Ellen Krüger,                          GDA Kommunikation − Gesellschaft für Marketing
                    Frank Memmler, Niels Reith, Dr. Jessica Stock,             und Service der Deutschen Arbeitgeber mbH
                    Astrid Hadem (V.i.S.d.P.)
                                                                               Leserservice:
                    Fotonachweise (Seite):                                     Kontakt: Ellen Krüger
                    iStockphoto.com (1); BV BFW/Kruppa (2 - 4, 6,              Knobelsdorffstraße 92, 14059 Berlin
                    8, 9, 14); SPD (1, 7), zeichensetzen/Harms                 Tel.: 030 3002-1253, Fax: 030 3002-1256
                    (1, 12, 14); Deutsche Bank, Angela Meurer (10);            E-Mail: rehavision@bv-bfw.de
                    zeichensetzen/Pletz (11); BV BFW(13, 14),
                                                                               Herausgeber:
                    Jürgen Dusel, IAB Forum, BDA, Sozialverband
                                                                               Bundesverband Deutscher Berufsförderungswerke e. V.
                    VdK/Susie Knoll, BFW Halle/Saale (15)
                                                                               Druck:
                                                                               Königsdruck – Printmedien und digitale Dienste GmbH

2   REHAVISION
Nichts über uns ohne uns - Berufsförderungswerk Nürnberg
SCHWERPUNKT PARTIZIPATION UND SELBSTBESTIMMUNG

Nichts über uns ohne uns
Partizipation, Selbstbestimmung und Teilhabe – eine Standortbestimmung

„S     elbstbestimmt leben heißt, vor al-
       lem, selber über alle Angelegen-
heiten entscheiden zu können, die das
eigene Leben betreffen, und zwar in al-
len Bereichen“, erklärt Barbara Vieweg,
die stellvertretende Geschäftsführerin
der Interessenvertretung Selbstbe-
stimmt Leben in Deutschland (ISL). Diese
Definition, die sich eng an die US-ame-
rikanische Independent-Living-Bewe-
gung anlehnt, beinhaltet das Recht
auf die Wahl zwischen akzeptablen
Alternativen und das Freisein von
Fremdbestimmung. „Selbstbestimmung
ist ein flexibles, individuelles Konzept,
das jede und jeder für sich bestimmen
muss“, ergänzt Barbara Vieweg.

     Als Dreiklang komplettiert „Selbst-
bestimmung“ zusammen mit „Partizipa-
tion“ und „Teilhabe“ die zentralen Be-
griffe im Behindertenrecht. Dr. Katrin
Grüber, Leiterin des Instituts Mensch
– Ethik – Wissenschaft (IMEW) erläu-
tert im Gespräch mit REHAVISION die
Unterschiede: „Selbstbestimmung be-
deutet das Recht, selbst Entscheidun-
gen zu treffen. Partizipation bedeutet,
an politischen sowie gesellschaftlichen
Entscheidungs- und Gestaltungsprozessen mitzuwir-           Und das aus gutem Grund. Denn Menschen mit
ken. Und Teilhabe bezeichnet das Recht, am gesell-      Behinderung sind längst keine Randgruppe mehr.
schaftlichen Leben gleichberechtigt mit anderen teil-   Das belegen die aktuellen Zahlen aus dem Teilha-
zunehmen, sich zu beteiligen und einbezogen zu sein.“   bebericht der Bundesregierung: In Deutschland ha-
                                                        ben rund 7,5 Millionen Menschen eine anerkannte
Teilhabe als politischer Auftrag                        Schwerbehinderung, weitere 2,7 Millionen einen
                                                        geringeren Behinderungsgrad – das sind 9,3 % der
Das Recht auf Teilhabe ist Gesetz. Es gilt unabhän-     Gesamtbevölkerung. Insgesamt ist die Zahl der Men-
gig von Herkunft, Alter, Geschlecht oder dem Vorlie-    schen mit Beeinträchtigungen von 10,99 Mio. im Jahr
gen einer Beeinträchtigung. Mit der Unterzeichnung      2005 auf 12,77 Mio. im Jahr 2013 gestiegen. Ihr
der UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) hat         Anteil an der Gesamtbevölkerung beträgt 15,8 %.
Deutschland 2006 eine besondere Verpflichtung ge-
genüber Menschen mit Beeinträchtigungen übernom-            Mit der UN-BRK veränderte sich der Blick auf das
men, bestehende Diskriminierungen zu beseitigen und     Thema nachhaltig. Der Gedanke der Inklusion hat sich
Teilhabemöglichkeiten zu fördern. Ein entscheidender    mittlerweile zu einem gesellschaftspolitischen Leitge-
Meilenstein, auch wenn mit dem Inkrafttreten der        danken entwickelt, der darauf zielt, dass Menschen
UN-Behindertenrechtskonvention anderthalb Jahre         mit Behinderungen gleichberechtigt in der Mitte der
später keine neuen Rechte geschaffen wurden: Denn       Gesellschaft stehen sollen. Seitdem vollzieht sich in
in der UN-BRK wurden die bereits existierenden Men-     Deutschland ein Paradigmenwechsel, begleitet von
schenrechte auf die Lebenssituation von Menschen mit    einer Neuausrichtung der Behindertenpolitik. „In allen
Behinderungen zugeschnitten. Dabei wurde auch das       Bereichen des Lebens sollen Menschen mit Behinderun-
Motto „Nichts über uns ohne uns“ ernst genommen –       gen selbstverständlich dazugehören“, so schrieb es sich
sowohl während der Verhandlungen als auch in den        die Bundesregierung 2013 unter dem Stichwort „Inklu-
Bestimmungen der Konvention: Die Einbeziehung be-       sionspolitik“ in ihrem Koalitionsvertrag auf die Fahnen.
hinderter Menschen und ihrer Organisationen sind in     Auch im neuen Koalitionsvertrag heißt es klar: „Men-
allen Phasen der Umsetzung und Überwachung des          schen mit Behinderungen haben einen Anspruch auf
Übereinkommens verbindlich vorgeschrieben.              gleichberechtigte Teilhabe in allen Bereichen unserer

                                                                                                                   REHAVISION   3
Nichts über uns ohne uns - Berufsförderungswerk Nürnberg
SCHWERPUNKT PARTIZIPATION UND SELBSTBESTIMMUNG

                                                                                         nale Aktionsplan der Bundesregierung habe hier
                                                                                         eine gute Vorbildfunktion gehabt, so Grüber. Das
                                                                                         zeigt sich auch darin, dass einige Unternehmen
                                                                                         wie die Deutsche Bahn oder SAP bereits einen
                                                                                         Aktionsplan 2.0 entwickelt haben – analog zum
                                                                                         fortgeschriebenen Nationalen Aktionsplan 2.0.

                                                                                         BTHG: Weniger Fürsorge, mehr
                                                                                         Selbstbestimmung

                                                                                        Mit dem Bundesteilhabegesetz (BTHG) ist die
                                                                                        Politik 2016 schließlich einen wichtigen Schritt
                                                                                        zur Umsetzung der UN-Behindertenrechtskon-
                                                                                        vention gegangen. Auch wenn viele Betroffe-
                                                                                        nenverbände noch Nachbesserungen fordern,
                                                                                        so gilt es doch als großer Wurf. „Mit dem
                                                                                        BTHG gibt es ein Gesetz mit explizitem Bezug
                                                                                        zur UN-BRK“, würdigt Grüber das neue Gesetz
                      Gesellschaft.“ Teilhabe, Selbstbestimmung, Barriere-        und sein Potenzial. Die Philosophie hinter dem Gesetz
                      freiheit – diese Themen stehen heute im besonderen          entspricht der zentralen Forderung der Menschen
                      Fokus der Politik für Menschen mit Behinderungen.           mit Behinderungen und ihrer Verbände: Heraus aus
                      Um konkret Teilhabe umzusetzen, hat die Bundesre-           dem Fürsorgesystem der Sozialhilfe – hin zu mehr
                      gierung 2016 den zweiten Nationalen Aktionsplan             Selbstbestimmung. Allerdings sind sich die Verbände
                      verabschiedet. Er läuft bis zum Jahr 2021. Sein Fokus       auch darin einig, dass es noch einige Stolperfallen
                      liegt auf der Förderung beruflicher Teilhabe.               auf dem Weg zur gleichberechtigten Teilhabe gibt.

                          Vieles wurde auf dem Weg zu einer inklusiven                Das BTHG ist einer von vielen Bausteinen – wenn
                      Gesellschaft schon erreicht. So sieht es zumindest die      auch ein ganz zentraler –, die den Weg zu einer
                      IMEW-Leiterin Dr. Katrin Grüber: „Es gibt heute mehr        echten Selbstbestimmung pflastern. Um zu wissen,
                      Selbstverständlichkeit im Miteinander von Menschen          wo ganz konkreter Handlungsbedarf besteht, gab
                      mit und ohne Behinderung und ein wachsendes Selbst-         die vormalige Bundesarbeitsministerin Andrea Nah-
                      bewusstsein in den Behindertenverbänden.“ Zudem             les Ende 2016 den Startschuss zur ersten Reprä-
                      habe man gute Ergebnisse in der Bewusstseinsbildung         sentativbefragung zur Teilhabe von Menschen mit
                      erzielt. Das machen beispielsweise die Aktionspläne zur     Behinderungen: „Wir wollen die Menschen erstmals
                      Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention in             selbst befragen, wie sie leben, wie sie leben wol-
                      Organisationen und Unternehmen deutlich: Die inten-         len und wo sie auf Barrieren stoßen“, erklärte sie
                      sive Beschäftigung mit dem Thema hat zu spürbaren           damals. Die Ergebnisse sollen das Thema Inklusion
                      Verbesserungen in Unternehmen geführt. Der Natio-           weiter voranbringen.

Von der Fürsorge zur Anerkennung und Umsetzung von Bürger- und Menschenrechten.
Eine Entwicklung in Gesetzen

        1994                 2001                   2002                   2006                     2009                   2016

 Grundgesetz,          Sozialgesetzbuch       Gesetz zur            Allgemeines               UN-Konvention         Bundesteilhabe-
 Artikel 3, Abs. 3:    IX, §1:                Gleichstellung von    Gleichstellungs-          über die Rechte       gesetz, §1:
 „(...) Niemand        „Selbstbestimmung      Menschen mit          gesetz, §1:               von Menschen mit      „Leistungen für
 darf wegen seiner     und Teilhabe am        Behinderungen, §1:    „Ziel des Gesetzes ist,   Behinderungen         Selbstbestimmung
 Behinderung           Leben in der Gemein-   „Ziel ist es, die     Benachteiligungen                               und volle, wirksame
 benachteiligt         schaft“                Benachteiligung       aus Gründen (...)                               und gleichberechtigte
 werden.“                                     von Menschen mit      einer Behinderung (...)                         Teilhabe.“
                                              Behinderungen zu      zu verhindern oder
                                              beseitigen.“          zu beseitigen.“

Quelle: Forum OWL | Daniela Pixa

 4   REHAVISION
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SCHWERPUNKT PARTIZIPATION UND SELBSTBESTIMMUNG

    Parallel dazu erschien der zweite Nationale Teil-        da SBV und Arbeitgeber darin betriebliche Ziele zur
habebericht Anfang 2017, der zeigt, wie es aktuell           Integration von Menschen mit Behinderung verabre-
um die Teilhabechancen von Menschen mit Behinde-             den. So weit so gut. „Doch beide Instrumente müs-
rungen in einzelnen Lebensbereichen bestellt ist und         sen geschärft werden, damit sie in der Praxis besser
wo es noch Barrieren abzubauen gilt. Erfreulich ist          greifen“, erklärt Buntenbach weiter. Der Gesetzgeber
danach, dass immer mehr junge Menschen mit Be-               sollte klarstellen, dass Personalmaßnahmen ohne An-
einträchtigung einen beruflichen Abschluss erreichen.        hörung der SBV unwirksam sind. Und der Abschluss
Doch es fehlt an vielen Stellen an Barrierefreiheit.         einer Inklusionsvereinbarung sollte verbindlich in den
Hier gibt es noch viel zu tun, so das Fazit des Berichts.    Katalog der Mitbestimmungsrechte für Betriebs- und
Dies gelte auch für den Kampf gegen die häufigere            Personalräte aufgenommen werden. So würden die
Arbeitslosigkeit von Menschen mit Schwerbehinde-             Bemühungen der Interessenvertretung um Integration
rung. Zwar sei die Quote erwerbstätiger schwerbe-            nicht mehr im Sande verlaufen, wenn sich ein Arbeit-
hinderter Menschen in den letzten Jahren gestiegen           geber quer stellt.“
– von 36 % im Jahr 2005 auf 42 % im Jahr 2013.
Dennoch sind im Verhältnis gesehen mehr Menschen             Zentrale Voraussetzung: Information
mit Behinderung arbeitslos als in der Gesamtbevölke-
rung. Das bleibt eine Daueraufgabe für die Zukunft.          Immerhin: Es gibt Fortschritte bei der Teilhabe am Ar-
                                                             beitsleben, so das Fazit von Dr. Katrin Grüber vom
    Insgesamt zeigt der Bericht, dass die Teilhabe           IMEW. Gleichwohl gibt es noch Bedarf an Verbesse-
von Menschen mit Beeinträchtigungen in vielerlei             rungen: Unternehmen benötigen mehr Informationen
Hinsicht noch immer eingeschränkt ist. Hierbei gilt          und Unterstützungsangebote. Das gilt gerade für die-
häufig: Je schwerer die Beeinträchtigungen, desto            jenigen, die nur wenig oder keine Erfahrung mit der Be-
geringer sind die Teilhabechancen.                           schäftigung von Menschen mit Behinderungen haben.

Instrumente für mehr Partizipation im                            Die Bedeutung von Information und Beratung als
Arbeitsleben                                                 Voraussetzung zur Teilhabe und Selbstbestimmung
                                                             kann gar nicht hoch genug eingeschätzt werden, das
Aus Sicht von DGB-Vorstandsmitglied Annelie Bun-             unterstreicht auch Dr. Inge Jansen, Geschäftsführe-
tenbach kann auch die Schwerbehindertenvertretung            rin des BFW Düren. Das gelte für die berufliche Re-
(SBV) in Unternehmen einen wirksamen Beitrag für             habilitation genauso wie für andere Bereiche. Vom
mehr Partizipation leisten. „Aber sie braucht wirk-          Grundsatz her ist die Sache eindeutig: Die Selbstbe-
same Instrumente, um ihre anspruchsvolle Aufga-              stimmung behinderter und von Behinderung bedroh-
be erfüllen zu können“, so Buntenbach gegenüber              ter Menschen ist in der beruflichen Rehabilitation ein
REHAVISION. Schon jetzt muss die SBV vom Arbeit-             Leitziel. Menschen mit Behinderungen haben – wie
geber laut Gesetz vor allen Maßnahmen angehört               alle nicht-behinderten Menschen – ein Recht darauf,
werden, die schwerbehinderte Menschen betreffen.             ihr Leben nach eigenen Vorstellungen zu gestalten.
Auch die neue Inklusionsvereinbarung fördere die be-         „Selbstbestimmung stellt jedoch auch eine gewis-
rufliche Teilhabe von schwerbehinderten Menschen,            se Herausforderung dar: Sie erfordert vielmehr die

Anzahl von Menschen mit Schwerbehinderung in Deutschland
in den Jahren 1995 bis 2015 (in Millionen)

10

8

6

4

2

0
          1995        1997        1999            2001      2003       2005        2007        2009        2011        2013    2015

Quelle: Statistisches Bundesamt | Statista 2018

                                                                                                                        REHAVISION    5
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SCHWERPUNKT PARTIZIPATION UND SELBSTBESTIMMUNG

                  Aktivität des Leistungsberechtigten – und eine Befähi-   Trainingseinheit oder eine Weiterbildung benötigen
                  gung zu selbstwirksamem Handeln“, so Dr. Inge Jan-       und den Gutschein entsprechend aktivieren. Bislang
                  sen. In den Berufsförderungswerken wurden daher          ist das Modell allerdings nur eine Idee.
                  Instrumente und Prozesse entwickelt, die den Rehabi-
                  litanden als selbstwirksame Person ernst nehmen und           Anders verhält es sich mit dem „Zwillingsbriefver-
                  ihm im Gesamtprozess der Rehabilitation auch Mit-        fahren“, das Teilnehmern mit psychischen Behinde-
                  verantwortung übertragen. Dazu gehört die Reha-          rungen im Anschluss an eine Integrationsmaßnahme
                  und Integrationsplanung, die auf Augenhöhe mit dem       offen steht. Da Unternehmen bei Praktikumsanfragen
                  Teilnehmer erfolgt und bei der die Schwerpunkte ge-      oftmals auf psychische Erkrankungen mit Vorbehalten
                  meinsam festgelegt werden. „Mitwirkungsrechte und        reagieren, hat das BFW Nürnberg einen „Zwillings-
                  -pflichten spielen eine große Rolle im erfolgreichen     brief“ eingeführt. Einen Brief mit allen Leistungen, die
                  Reha-Prozess“, erläutert die BFW-Geschäftsführerin       Teilnehmer im BFW bekommen haben, erhalten diese
                  weiter, „Um sie sicherzustellen, schließen wir mit den   selbst. Ein identischer Brief wird ihnen ebenfalls zur
                  Rehabilitanden individuelle Zielvereinbarungen ab.“      Verfügung gestellt, den sie einem potenziellen Prakti-
                                                                           kumsbetrieb aushändigen können, wenn sie das selbst
                  Selbstverantwortung fördern                              möchten. „Dieses Verfahren zielt darauf, dem Teilneh-
                                                                           mer mehrere Handlungsoptionen zu geben und da-
                  Das klappt nicht immer und nicht immer sofort. Denn      mit seine Mitwirkungsfähigkeit zu fördern“, beschreibt
                  auch Selbstverantwortung und Selbstbestimmung            Dr. Susanne Gebauer das dahinterliegende Konzept.
                  wollen gelernt sein. Diesen Prozess beschreibt der
                  Begriff „Empowerment“, was übersetzt in etwa heißt,          Dass Selbstbestimmung nicht selbstverständlich ist,
                  Selbstverantwortung übertragen zu bekommen. „Zu          bestätigt auch Dr. Katrin Grüber: „Wer bisher wenig
                  unserem Auftrag in den Berufsförderungswerken            Gelegenheit hatte, selbst zu entscheiden, muss dafür
                  gehört es, den Menschen mit Behinderungen mittels        den Freiraum und die Möglichkeit dazu bekommen.
                                                                                              Empowerment ist notwendig –
                                                                                              also die Übertragung von Selbst-
                                                                                              verantwortung.“ Dazu müssten
                                                                                              Voraussetzungen geschaffen wer-
                                                                                              den durch Information und eine
                                                                                              respektvolle Haltung.

                                                                                               Selbstbestimmung
                                                                                               braucht Informationen

                                                                                                 Auch der Gesetzgeber hat den
                                                                                                 Handlungsbedarf erkannt. Damit
                                                                                                 Menschen mit Handicap Teilhabe-
                                                                                                 leistungen nutzen können, benöti-
                                                                                                 gen sie verständliche Information
                                                                                                 und Beratung von unabhängiger
                                                                                                 Stelle. Die Erfahrungen aus Pro-
                                                                                                 jekten zeigt, dass das am besten
                                                                                                 durch Menschen erfolgt, die eige-
                                                                                                 ne Erfahrungen mit Behinderungen
                  der beruflichen Förderung in die Lage zu versetzen,      haben. Das Bundesministerium für Arbeit und Soziales
                  noch besser Entscheidungen zu treffen und mutig zu       hat daher den Aufbau und die Förderung bundeswei-
                  werden, neue Wege zu gehen“, erklärt Dr. Susanne         ter – von den Rehabilitationsträgern unabhängiger –
                  Gebauer, die Vorstandsvorsitzende des Bundesver-         Beratungsangebote in die Wege geleitet. Die ersten
                  bandes der Deutschen Berufsförderungswerke. „Das         Beratungsstellen für eine „Ergänzende unabhängige
                  bedeutet, dass Rehabilitanden heute dazu heraus-         Teilhabeberatung“ (EUTB) haben Anfang des Jahres
                  gefordert werden, sich aktiv und nachhaltig Ge-          bereits ihre Arbeit aufgenommen. „Teilhabe ohne Parti-
                  danken um ihre berufliche Zukunft zu machen“, so         zipation ist gar nicht denkbar“, so die Parlamentarische
                  Dr. Susanne Gebauer. Ziel ist es, selbstbestimmtes       Staatssekretärin Kerstin Griese beim Bundesminister
                  Handeln in der beruflichen Rehabilitation zu för-        für Arbeit und Soziales gegenüber REHAVISION. Sie
                  dern, Entscheidungsmöglichkeiten und die Gelegen-        kündigte an, dass die „Ergänzende unabhängige Teil-
                  heit zur Eigeninitiative anzubieten.                     habeberatung“ daher auch über den bisher geplanten
                                                                           Zeitraum bis 2022 hinaus mit 58 Mio. Euro jährlich ge-
                      Ein Beispiel dafür ist das „Gutschein-Modell“.       fördert wird. Die Betroffenenverbände, die sich für das
                  BFW-Absolventen erhalten im Anschluss an ihre            Beratungsangebot auf Augenhöhe nachhaltig stark
                  berufliche Rehabilitation einen Gutschein für ein        gemacht haben, freut es. Menschen mit Behinderung
                  Nachsorge-Angebot. Je nach Bedarf können sie             nicht minder – künftig können sie noch besser mitreden
                  selbst entscheiden, ob und wann sie eine zusätzliche     und mitgestalten, wenn es um ihre Teilhabe geht.

6   REHAVISION
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SCHWERPUNKT PARTIZIPATION UND SELBSTBESTIMMUNG

„Teilhabe ohne Partizipation ist gar nicht denkbar“
Kerstin Griese über politische Weichenstellungen und Maßnahmen

Seit Frühjahr 2018 ist Kerstin Griese als Parlamentarische Staatssekretärin beim Bundes-
minister für Arbeit und Soziales unter anderem zuständig für die Bereiche Sozialversiche-
rung, Teilhabe und die Belange von Menschen mit Behinderungen. REHAVISION sprach mit
ihr über die Ausgestaltung des BTHG und Voraussetzungen für ein selbstbestimmtes Leben.

REHAVISION: Mit dem Bundesteilhabegesetz (BTHG)           Die wichtigste Voraussetzung für
hat das BMAS Weichenstellungen für mehr Teilhabe          ein selbstbestimmtes Leben bie-
vorgenommen. Mit welchen Maßnahmen fördert                tet Beschäftigung. Welche Ent-
das BMAS konkret die Selbstbestimmung von Men-            wicklungen sind geplant, um die
schen mit Behinderung?                                    Beschäftigung von Menschen mit
                                                          Behinderungen zu verbessern?
Kerstin Griese: Alle Akteure stehen jetzt vor der Her-
ausforderung, das BTHG mit Leben zu füllen, damit wir     Das ist mir ein sehr wichtiges An-
zu einer inklusiveren Gesellschaft werden. Das BMAS       liegen. Die Beschäftigungssituation
begleitet und unterstützt diesen Umstellungsprozess mit   schwerbehinderter Menschen hat
Projekten und Untersuchungen. Für die Unterstützung       sich stetig verbessert. 2016 gab es bei den beschäf-            Kerstin Griese
der Umsetzung und wissenschaftliche Auswertung der        tigungspflichtigen Arbeitgebern rund 1.051.000
Folgen und der Wirksamkeit des BTHG werden wir bis        schwerbehinderte Beschäftigte. Das ist ein Zuwachs
2022 rund 50 Mio. Euro ausgeben. Wir wollen damit         um rund 47 % gegenüber dem Jahr 2002, in dem das
unter die Arme greifen und Sorgen nehmen. Den Er-         System der gestaffelten Ausgleichsabgabe eingeführt
kenntnisgewinn nutzen wir auch für eine sinnvolle Wei-    wurde. Auch die Arbeitslosigkeit schwerbehinderter
terentwicklung des Schwerbehindertenrechts. Teilhabe      Menschen ist in den letzten Jahren deutlich gesunken,
ohne Partizipation ist gar nicht denkbar. Deshalb freue   und zwar im Jahresdurchschnitt 2017 um rund 10 %
ich mich, dass wir die „Ergänzende unabhängige Teilha-    gegenüber 2014. Nie waren mehr schwerbehinderte
beberatung“ mit 58 Mio. Euro jährlich fördern können,     Menschen in Arbeit als heute. Aber wir wollen mehr
auch über den bisher geplanten Zeitraum bis 2022          Arbeitgeber für die Beschäftigung schwerbehinder-
hinaus. Und nicht zuletzt nehmen wir mit dem Bundes-      ter Menschen gewinnen. Deswegen will das BMAS
programm „Innovative Wege zur Teilhabe am Arbeits-        gemeinsam mit der Arbeitsagentur und den Sozial-
leben - rehapro“ 1 Mrd. Euro in die Hand, um über Mo-     partnern gezielt bei Betrieben für die Ausbildung und
dellvorhaben die Erwerbsfähigkeit von Betroffenen zu      Beschäftigung schwerbehinderter Menschen werben.
sichern bzw. neue Beschäftigungschancen zu eröffnen.      Zudem werden auch arbeitslose schwerbehinderte
                                                          Menschen vom neuen Regelinstrument „Teilhabe am
Welche Rolle spielt die „Ergänzende unabhängige           Arbeitsmarkt“ profitieren können.
Teilhabeberatung“ (EUTB)?
                                                          Welche Rolle spielt berufliche Rehabilitation dabei?
Das BTHG bietet mehr Möglichkeiten der Selbstbe-
stimmung und Übernahme von Eigenverantwortung.            Gute Präventionsarbeit und ein
Für die Ausrichtung auf eine stärker personenzen-         professionelles Rehabilitations-
trierte Bedarfsfeststellung und -erkennung haben wir      system sind beste Vorausset-             ➝ Kerstin Griese
mit der EUTB eine zusätzliche Unterstützung neben         zungen dafür, Arbeitslosigkeit           Kerstin Griese (*1966) ist seit
den vorhandenen Beratungsangeboten. Dort werden           zu vermeiden oder rasch den              2018 Parlamentarische Staats-
Menschen mit Behinderungen individuell beraten über       Sprung zurück ins Erwerbsleben           sekretärin beim Bundesminister
Teilhabemöglichkeiten und -leistungen, zum Teilhabe-      zu ermöglichen. Mit „rehapro“            für Arbeit und Soziales. Die
prozess und Verfahrensablauf. Die EUTB kann auch          stärken wir das und verbessern           studierte Politikwissenschaft-
im Teilhabeplanverfahren hinzugezogen werden. Die-        die Arbeitsmarktchancen für              lerin war zuvor Mitglied des
se unabhängige Beratung ist nur den Ratsuchenden          Menschen mit Behinderungen               Bundestages. Von 2014 bis
verpflichtet. Ein wichtiger Ratgeber auf Augenhöhe        weiter. Eine wirkungsvolle be-           2018 war Griese Vorsitzende
sind vor allem Menschen mit eigenen Erfahrungen           rufliche Rehabilitation mit guten        des Bundestagsausschusses für
von Behinderungen. Deshalb stärken wir das Peer           Ergebnissen ist im Interesse der         Arbeit und Soziales.
Counseling, also die Beratung von Betroffenen für         Arbeitnehmer und Menschen
Betroffene. Damit wird eine Forderung der Selbsthilfe     mit Behinderungen wie auch im
umgesetzt. Über 460 geförderte Beratungsangebote          Interesse der Arbeitgeber. Wenn
und die Fachstelle Teilhabeberatung bieten ein eng-       mehr Menschen mit Behinderun-
maschiges Beratungsnetzwerk. Nähere Informationen         gen erwerbstätig sein können,
finden sich unter www.teilhabeberatung.de.                haben alle etwas davon.

                                                                                                                  REHAVISION         7
SCHWERPUNKT PARTIZIPATION UND SELBSTBESTIMMUNG

Rechtslage gut, Verbesserungen notwendig
Sozial- und Interessenverbände über Theorie und Praxis des BTHG

„Fortschritte sind erkennbar“, so heißt es unisono, wenn man die Betroffenenverbände auf das Thema Partizipation und
Teilhabe anspricht. Immerhin hat der Gesetzgeber 2016 das Bundesteilhabegesetz mit dem hohen Anspruch auf Stär-
kung der Selbstbestimmung und Teilhabe für Menschen mit Behinderungen verabschiedet. „Hier gibt es durchaus positive
Entwicklungen“, lobt Adolf Bauer, Präsident des Sozialverbandes Deutschland (SoVD). Handlungsbedarf besteht allerdings
auch noch. In REHAVISION benennen Sozial- und Interessenverbände Fortschritte und Verbesserungsbedarf.

                                                                                         neu gewählte Präsidentin des Sozialverbandes VdK
                                                                                         Verena Bentele. „Für uns ist aber entscheidend, ob das
                                                                                         Gesetz konkrete Rechts- und Leistungsansprüche for-
                                                                                         muliert, und ob Schutzrechte, Benachteiligungsverbote
                                                                                         oder Beteiligungsrechte tatsächlich wirksam ausgestal-
                                                                                         tet sind.“ Wichtig sei zudem die Anwendung des Rechts
                                                                                         durch Behörden und Verwaltungen in der Praxis. Hier
                                                                                         bedürfe es einer wachsamen und kritischen Begleitung
                                                                                         bei der Umsetzung vieler Regelungen des BTHG in den
                                                                                         Bundesländern. Als Erfolg des BTHG wertet Bentele die
                                                                                         Regelungen zur Zuständigkeitsklärung und Bedarfs-
                                                                                         ermittlung, sowie zum Teilhabeplanverfahren und zu

                          P  artizipation als Möglichkeit, Politik und Gesellschaft
                             gleichberechtigt mitzugestalten, ist mit Inkrafttreten
                          des SGB IX 2001 immer stärker Teil des politischen
                                                                                         den Erstattungsverfahren. Allerdings sollte das neue
                                                                                         Teilhabeplanverfahren mit einem Rechtsanspruch aus-
                                                                                         gestattet sein, damit Betroffene mit allen Trägern in der
                          Alltags geworden. Hier ist in den vergangenen Jahren           Teilhabekonferenz gemeinsam „an einem Tisch“ ver-
                          manches erreicht worden. „Gewachsen ist vor allem das          handeln könnten. Handlungsbedarf sieht die VdK-Prä-
                          Selbstbewusstsein und Selbstverständnis von Menschen           sidentin auch beim Zugang zur beruflichen Rehabilita-
                          mit Behinderungen, ihre Rechte einzufordern“, zieht            tion. „Die Leistungsgesetze der Träger sehen teilweise
                          Barbara Vieweg, stellvertretende Geschäftsführerin der         nur Ermessensleistungen vor“, kritisiert sie. Das mache
                          Interessenvertretung Selbstbestimmt Leben in Deutsch-          das Leistungsgeschehen intransparent. „Wir fordern
                          land (ISL), ein Fazit. Für eine umfassende Partizipation       einheitliche Rechtsansprüche auf Pflichtleistungen.“
                          sei aber „Fachlichkeit auf Augenhöhe“ erforderlich.
                          Hier hatten die Sozialverbände Maßnahmen gefor-                Höhere Ausgleichsabgabe nötig?
                          dert, die nun eingeführt worden sind, sagt SoVD-Prä-
                          sident Bauer zufrieden: Allen voran „die Einführung            Kritisch fällt auch der Blick auf die Teilhabe am Arbeits-
                          des Partizipationsfonds, der die politische Partizipation      leben aus: Dass die Zahl der arbeitslosen Menschen
                          der Selbstvertretungsorganisationen stärken soll.“ Der         mit Behinderungen noch immer deutlich über dem
                          Fonds bietet Fördermöglichkeiten für Fortbildungsver-          bundesweiten Durchschnitt liege, müsse „sich endlich
                          anstaltungen für Menschen in Selbstvertretungsorgani-          ändern“, sagt SoVD-Präsident Bauer und unterstreicht:
                                               sationen, sowie für internationalen       „Dabei geht es nicht allein um eine grundsätzliche
                                               Austausch. Doch zwischen Theorie          Forderung, sondern um eine konkrete Gefahrenab-
     ➝ Deutscher                               und Praxis gibt es noch Unterschie-       wehr.“ Denn die Langzeitarbeitslosigkeit verschärfe
         Behindertenrat (DBR)                  de. Als problematisch bewertet der        das Risiko, im Alter in Armut abzurutschen. Abhilfe
                                               SoVD etwa das im BTHG enthalte-           müssten Politik und Wirtschaft schaffen. Insbesondere
     Im DBR sind Organisationen be-
                                               ne sogenannte Zwangspoolen, das           die Unternehmen sollten bei der Beschäftigung von
     hinderter und chronisch kranker
                                               behinderte Menschen zwingt, sich          Menschen mit Behinderungen mehr tun, so Bauer:
     Menschen zu einem Aktions-
     bündnis zusammengeschlossen:
                                               eine Unterstützungsleistung mit an-       „Ganz konkret kann dies auch eine höhere Ausgleichs-
     u.a. der Sozialverband Deutsch-           deren zu teilen. „Dies ist strikt abzu-   abgabe bedeuten.“ Das sieht man beim VdK ähnlich.
     land VdK, der SoVD Sozialver-             lehnen“, so Bauer. Denn somit sei es      Es brauche mehr als „Appelle an den „guten Willen“
     band Deutschland und die ISL              nicht mehr möglich, sich die eigene       der Arbeitgeber,“ erklärt Bentele und verweist auf
     - Interessenvertretung Selbstbe-          Assistenz selbst auszusuchen. „Das        40.925 beschäftigungspflichtige Arbeitgeber, die kei-
     stimmt Leben in Deutschland.              widerspricht Selbstbestimmung.“           nen einzigen schwerbehinderten Menschen beschäf-
                                                                                         tigen. „Der VdK fordert daher die Anhebung der
                                               Rechte wirksam ausgestalten               Ausgleichsabgabe für Arbeitgeber, die der Beschäf-
                                                                                         tigungspflicht nicht oder in völlig unzureichendem
                                               „Teilhabe, Selbstbestimmung und           Maße nachkommen, auf 750 Euro pro nicht besetz-
                                               Partizipation sind durchaus in den        tem Pflichtplatz.“ Der Weg zu mehr Teilhabe ist noch
                                               Gesetzen gut verankert“, sagt die         weit. Hier sind sich die beiden Sozialverbände einig.

 8     REHAVISION
SCHWERPUNKT PARTIZIPATION UND SELBSTBESTIMMUNG

„Ich nehme in jeder Sekunde Einfluss“
BFW-Rehabilitandin über Mitbestimmung im Reha-Prozess

Wird über Leistungen der beruflichen Rehabilitation entschieden, müssen
die Wünsche der Leistungsberechtigten berücksichtigt werden – so sagt es
das gesetzlich verankerte Wunsch- und Wahlrecht. Was Rehabilitanden
dabei wichtig ist, weiß Yesim Kaban: Die 43-Jährige absolviert nach einer
Tumor-Erkrankung eine kaufmännische Qualifizierung im BFW Berlin-Bran-
denburg und engagiert sich dort als Rehabilitanden-Vertreterin. Im Inter-
view erklärt sie, worauf es den Rehabilitanden und ihr selbst ankommt.

REHAVISION: Sie absolvieren gerade eine Qualifizie-         absolvieren: Man-
rung im BFW Berlin-Brandenburg. Wie wichtig war             che empfinden den
Ihnen die Auswahl Ihres Reha-Dienstleisters?                Austausch im Unter-
                                                            richt als zu unruhig,
Yesim Kaban: Mir war vor allem wichtig, dass meine          anderen fällt der
Qualifizierung schnell beginnt und es nach meiner lan-      erneute Einstieg ins
gen krankheitsbedingten Auszeit zügig voran geht. Das       konzentrierte Lernen
habe ich sicher mit vielen Rehabilitanden gemeinsam.        oder die Aneignung
Deshalb war ich persönlich ganz unbedarft und habe          des Fachwissens schwer. Umso wichtiger ist es, dass                Yesim Kaban,
die vorgeschlagene Qualifizierung im BFW Berlin-Bran-       Teilnehmer sich bewusst für diesen Weg entscheiden              Rehabilitanden-
denburg dankbar angenommen – gerade weil die Ein-                                                                       Vertreterin im BFW
                                                            und ihre Qualifizierung selbst aktiv gestalten.
                                                                                                                        Berlin-Brandenburg
richtung wohnortnah gelegen ist. Mit größerem Ab-
stand betrachtet, ist für Rehabilitanden die Auswahl an     Kann die Rehabilitanden-Vertretung, die es in jedem
Qualifizierungen am wichtigsten: Wenn ich eine Ausbil-      BFW gibt, Teilnehmende dabei unterstützen?
dung wählen kann, die meinen Fähigkeiten entspricht
und mich wirklich interessiert, würde ich persönlich auch   Die Rehabilitanden-Vertretung ist für BFW-Teilneh-
eine weite Entfernung zum Wohnort in Kauf nehmen.           mer eine wichtige Anlaufstelle: Sie schlägt eine
                                                            Brücke zwischen Rehabilitanden und BFW-Vertre-
Sie machen eine Qualifizierung zur Kauffrau im Ge-          tern, ermöglicht regelmäßiges Feedback und schafft
sundheitswesen. War dieser Berufsweg Ihr Wunsch?            Aufmerksamkeit für die verschiedenen Anliegen. Oft
                                                            geht es nur um Kleinigkeiten, bei denen ich gut hel-
Auch wenn ich natürlich nach meinen Wünschen ge-            fen kann – aber es ist den Teilnehmenden sehr wich-
fragt wurde, war es zugegebenermaßen eher der               tig, dass es diese Möglichkeit gibt.
kleinste gemeinsame Nenner: Ich bin gelernte Arzt-
helferin und habe als Außendienst-Mitarbeiterin für         Gilt das auch für das Wunsch- und Wahlrecht im
medizinische Produkte gearbeitet, da lag das Ange-          Allgemeinen?
bot für diese Ausbildung einfach nahe. Wenn ich mir
alles hätte aussuchen können, hätte ich keine kauf-         Das Wunsch- und Wahlrecht wird von den Rehabi-
männische Ausbildung gewählt. Wahlmöglichkeiten             litanden in erster Linie bei der Wahl des beruflichen
sind eben immer auch an berufliche Voraussetzungen          Werdegangs und der dafür benötigten
gebunden und deshalb begrenzt, auch wenn das An-            Angebote als wichtig empfunden und
gebot in den BFW breit gefächert ist.                       in Anspruch genommen. Während des               ➝ Wunsch-
                                                            Reha-Verlaufs sind viele Rehabilitanden             und Wahlrecht
An welchen Stellen nehmen Sie bewusst Einfluss auf          – darunter immer mehr Menschen mit
den Verlauf Ihrer beruflichen Rehabilitation?               psychisch bedingten Diagnosen – er-             Die selbstbestimmte
                                                                                                            Teilhabe am Leben in
                                                            fahrungsgemäß schlichtweg dankbar,
                                                                                                            Gesellschaft und Arbeits-
Ich nehme in jeder Sekunde Einfluss darauf: Entschei-       wenn sie einen Teil ihrer Verantwortung
                                                                                                            leben wird durch SGB IX,
dend ist ja, was ich selbst aus dem Gelernten mache         und der grundlegenden Entscheidungen
                                                                                                            § 8 „Wunsch- und Wahl-
und wie ich meinen beruflichen Neuanfang gestalte.          abgeben können. Stattdessen kommen              recht“ gestärkt. Dazu
Wenn Rehabilitanden ihre eigenen Stärken und Inte-          die Teilnehmer im BFW mit ganz alltäg-          gehört die Mitsprache
ressen kennen und motiviert sind, können sie sich mit       lichen Wünschen auf die Rehabilitan-            bei der Auswahl der er-
den jeweiligen Maßnahmen auch gezielt auf ihren             den-Vertretung zu, beispielsweise mit           forderlichen Leistungen.
Berufsalltag vorbereiten. Meine Erfahrung ist, dass         Anliegen zu Freizeit-Möglichkeiten, der
die BFW dafür gute Grundlagen schaffen und sehr             Speiseauswahl oder zum Angebot der
praxisnah ausbilden. Und trotzdem bleibt es eine He-        Fachdienste – es geht ihnen also um die
rausforderung, in der Lebensmitte einen beruflichen         Rahmenbedingungen, und hier können
Neuanfang zu wagen und eine Qualifizierung zu               wir auf kurzem Wege gut unterstützen.

                                                                                                                      REHAVISION        9
SCHWERPUNKT PARTIZIPATION UND SELBSTBESTIMMUNG

Wie Teilhabe am Arbeitsleben gelingen kann
Lösungen aus der Praxis: Inklusion beim Deutsche Bank Konzern

Sie arbeitete erfolgreich in der Personalleitung des Deutsche Bank Konzerns. Eine Autokollision mit einem Wildschwein veränderte
das Leben von Angela Meurer drastisch. Seitdem ist sie auf den Rollstuhl angewiesen. Doch ihre Behinderung nahm keinen Ein-
fluss auf ihr berufliches Engagement. Im Gegenteil: Als Konzernschwerbehindertenbeauftragte hat Angela Meurer zusammen mit
ihren Kollegen viele Maßnahmen initiiert und begleitet, die Partizipation im Unternehmen ermöglichen. In REHAVISION beschreibt
sie Wege und Lösungen aus der Praxis.

                                                                                            Blicks auf die Defizite. Zudem setzen wir
                                                                                            verstärkt auf ein Zusammenspiel an Maß-
                                                                                            nahmen, um Partizipation zu verwirklichen.
                                                                                            Was machen wir konkret? Der Konzern
                                                                                            hat sein Online-Bewerbungsverfahren für
                                                                                            Menschen mit Behinderungen vereinfacht,
                                                                                            um ihnen den Einstieg zu erleichtern. Für
                                                                                            mehr Beschäftigung von Menschen mit Be-
                                                                                            hinderungen ist auch die enge Zusammen-
                                                                                            arbeit mit der Agentur für Arbeit und den
                                                                                            Integrationsämtern eine Voraussetzung
                                                                                            – über sie erhalten wir mehr Bewerbun-
                                                                                            gen von Schwerbehinderten und können

                      A  ls Konzernschwerbehindertenvertretung gehört
                          es zu meinen Kernaufgaben, Inklusion zu fördern.
                    Diversity, Inklusion und soziale Verantwortung sind bei
                                                                                            gemeinsam ihre Integration gestalten. Für
                                                                               gute Arbeit brauchen schwerbehinderte Mitarbeitende
                                                                               einen gut ausgestatteten Arbeitsplatz – hier bemühen
                    uns nicht nur Begriffe, sondern gelebte Werte. Als Un-     wir uns, alle finanziellen und technologischen Möglich-
                    ternehmen sind wir stark vernetzt, um möglichst viel       keiten auszuschöpfen. Passend zu Qualifikation und
                    Input zu bekommen und Inklusion in der Wirtschaft          Handicap werden die Arbeitsplätze im Konzern mit
                    besser realisieren zu können. So kann ich mich als         den jeweils erforderlichen Hilfsmitteln ausgestattet.
                    Sprecherin der Interessengemeinschaft der Behinder-
                    tenvertreter der deutschen Wirtschaft (IBW) und als        Vielseitig und kontinuierlich unterstützen
                    Mitglied im UnternehmensForum einbringen, um Parti-
                    zipation am Arbeitsleben zu verankern. Ich selbst bin      Mithilfe von „TeleSign“-Technik und Gebärdendolmet-
                    als schwerstbehinderte Rollstuhlfahrerin und alleiner-     schern werden gehörlose Mitarbeiter erfolgreich aus-
                    ziehende Mutter mein eigener „Praxisfall“ und zugleich     gebildet und bleiben mit Kollegen in Abstimmung. Das
                    mein größter Erfahrungsschatz. Aus meinem persönli-        trägt wesentlich dazu bei, ihre Beschäftigung im Un-
                    chen Erleben möchte ich den wichtigsten Erfolgsfaktor      ternehmen nachhaltig zu sichern. Da wir unsere Ver-
                    gleich an erster Stelle benennen: Es ist die persönliche   antwortung für schwerbehinderte Mitarbeiter als dau-
                    Motivation und individuelle Bereitschaft des Einzelnen     erhafte Verpflichtung und Teil eines kontinuierlichen
                                 „mitzumachen“. Generell erkenne ich in        Verbesserungsprozesses sehen, haben wir vor einigen
                                 der Gesellschaft ebenso wie bei meinem        Jahren einen Arbeitskreis Barrierefreiheit gegründet,
  ➝ Deutsche Bank AG             Arbeitgeber zunehmend einen inklusiven        der sich auch mit der „IT-Landschaft“ beschäftigt.
                                 Ansatz zu mehr Vielfalt. Die Wahrneh-
  • 97.500 Mitarbeiter           mung wird sensibler, Menschen werden              Auch das Betriebliche Eingliederungsmanagement
    in 60 Ländern                unabhängig von ihrer Hautfarbe, ihrem         (BEM) ist Teil unserer Arbeits– und Gesundheitskultur.
  • davon 42.500 in              Geschlecht und eben auch ihrer Behinde-       Es hilft, frühzeitig Auswirkungen von Beeinträchtigun-
    Deutschland                  rung als wertvolle Ressource geschätzt.       gen der Gesundheit oder gar von Behinderung am
                                                                               Arbeitsplatz zu erkennen. Darüber hinaus haben wir
  • Beschäftigtenquote:          Best Practice aus dem                         ein Selbsthilfenetzwerk „Experten in eigener Sache“
    5,7 % (2017)                 Deutsche Bank Konzern                         gegründet, in dem wir mit Rat und Tat den Behinderten
                                                                               und ihren Angehörigen zur Seite stehen. Die besten
                                 In der Schwerbehindertenvertretung des        Maßnahmen helfen allerdings nicht, wenn die Bereit-
                                 Deutsche Bank Konzerns verfolgen wir          schaft dazu in der Unternehmenskultur fehlt. Aus die-
                                 das Ziel, die Arbeitnehmer ihren Stärken      sem Grund wird zur Schärfung des Bewusstseins das
                                 und Qualifikationen entsprechend zu för-      Thema „Beschäftigung Schwerbehinderter“ in Semina-
                                 dern und zu beschäftigen. Im Vordergrund      ren für Führungskräfte positioniert. Denn Partizipation
                                 steht dabei der Blick auf die Möglichkeiten   erfordert eine bewusste Haltung, damit sie erfolgreich
     Angela Meurer               des Einzelnen statt des früher oft üblichen   gelebt werden kann – aber auch Empathie und Spirit.

10     REHAVISION
SCHWERPUNKT PARTIZIPATION UND SELBSTBESTIMMUNG

Arbeit stärkt das Selbstwertgefühl
Interview mit Unternehmer und Stifter Joachim Schoss

Joachim Schoss war einer der erfolgreichsten jungen Unternehmer Deutschlands: Er war Gründer, Teilhaber und Präsident des
Internetportals Scout24. Bis er bei einem Unfall schwer verletzt wurde, einen Arm und ein Bein verlor. Joachim Schoss’ Leben
veränderte sich – aber nicht sein unternehmerisches Denken. Heute wirkt er als Investor und Business Angel, hat verschiedene
Verwaltungsratsmandate – und engagiert sich über seine Stifung „MyHandicap“ stark für Menschen mit Behinderungen und
ihre gesellschaftliche Inklusion. REHAVISION sprach mit dem Unternehmer über die Bedeutung von Arbeit und Selbstbestimmung.

REHAVISION: Welche Rolle spielt Arbeit für ein selbst-
bestimmtes Leben von Menschen mit Behinderungen?                                                         „Inklusion ist gut für
Joachim Schoss: Arbeit spielt für Menschen mit                                                           das Wohlergehen
Behinderungen eine ähnliche Rolle wie für Men-                                                           und die Selbst-
schen ohne Behinderungen: Der Lohn für die getane
Arbeit vergrößert die finanziellen Spielräume. Die                                                       bestimmung der
Arbeit selbst stärkt das Selbstwertgefühl. Wer eine                                                      Betroffenen, gut für
sinnvolle Aufgabe hat, bleibt länger fit und gesund
und konsumiert weniger Alkohol und Drogen. Die                                                           die Kultur und die
Glücksforschung weiß, dass das Gefühl des Ge-                                                            Finanzen unserer
braucht-Werdens für viele alltägliche Glücksmo-
mente verantwortlich ist, während Abhängigkeit das
                                                                                                         Gesellschaft...“
Gegenteil bewirkt.                                                                                       Joachim Schoss

Welche Bedingungen benötigen Menschen mit Be-
hinderungen, um erfolgreich in Arbeit zurückkehren
zu können?                                                chen darf und soll. In vielen Gesprächen mit Entschei-
                                                          dungsträgern erlebe ich nach wie vor Unkenntnis, Vor-
Die notwendigen Rahmenbedingungen für eine er-            urteile, Überraschung, aber meist auch Gutwilligkeit.
folgreiche Beschäftigung von Menschen mit Behinde-        Es lohnt also weiterhin, wo immer möglich, die großen
rungen hängen einerseits von der konkreten Situation      Vorteile der Inklusion zu kommunizieren: Inklusion ist
ab – Rollstuhlfahrer z. B. brauchen physische Barrie-     gut für das Wohlergehen und die Selbstbestimmung                         -
refreiheit, Autisten eine reizarme Umgebung. Grund-       der Betroffenen, gut für die Kultur und die Finanzen
sätzlich braucht es immer ein gutes Inklusionsklima,      unserer Gesellschaft und bei positivem Inklusionsklima
d. h. die Wertschätzung der Andersartigkeit, einen Fo-    gut für den einzelnen Arbeitgeber, z. B. weil Teams mit
kus auf die Stärken und nicht auf die Schwächen und       Menschen mit Behinderung nachweislich innovativer
ein wohlwollendes Eingehen auf die spezifischen Be-       sind als Teams ohne. Erfolgreiche Inklusion bringt win-
dürfnisse des Betroffenen. Die größten Fortschritte bei   win-win, es gibt wenig Lohnenswerteres!
der beruflichen Inklusion würden wir erreichen kön-
nen, wenn es mehr Barrierefreiheit gäbe – und zwar        Wie lassen sich die Interessen von Menschen mit Be-
in den Köpfen von Entscheidern, Kollegen und unmit-       hinderungen am besten vertreten?
telbaren Vorgesetzten. Dazu ist es gut, sich von der
Schwarz-weiß-Vorstellung „behindert / nicht behin-        Persönlich war es bisher meine
dert“ zu verabschieden und sich klar zu machen, dass      Strategie, Hilfe zur Selbsthilfe zu        ➝ Weitere Informationen:
wir alle unterschiedlich stark behindert sind – und das   bieten und Inklusion zu fördern,
auch noch in Bezug auf alle möglichen Fähigkeiten.        wo immer möglich. Wenn ich                 Die Stiftung MyHandicap gibt
Ein Rollstuhlfahrer mag als Dachdecker ungeeignet,        sehe, mit welchen Mitteln und wie          einen hilfreichen Überblick über
als Web-Entwickler aber Weltklasse sein.                  erfolgreich andere Gruppen ihre            die verschiedenen Angebote
                                                          berechtigten Interessen vertreten,         und Träger:
Wie kann es gelingen, Arbeitgeber für die Inklusion       komme ich immer mehr zu der                www.myhandicap.de/jobboerse/
von Menschen mit Behinderung zu sensibilisieren?          Überzeugung, dass auch Men-                arbeitsuchende/arbeitnehmer/
                                                                                                     foerdermoeglichkeiten
                                                          schen mit Behinderung deutlicher
Ich glaube, wir sind schon auf dem richtigen Weg,         für ihre Rechte einstehen sollten.
aber natürlich noch lange nicht weit genug. In der        Wir repräsentieren 10 % der Be-
Vergangenheit wurde leider viel zu lange das falsche      völkerung, zusammen mit unseren
Ideal der Exklusion gepredigt und gelebt. Da braucht      Angehörigen hätten wir genug
es Zeit, bis auch der letzte Nicht-Betroffene versteht,   Stimmen, jede Regierung in unse-
dass Inklusion für alle das Beste ist und jeder mitma-    rem Sinne zu beeinflussen.

                                                                                                                    REHAVISION      11
SCHWERPUNKT PARTIZIPATION UND SELBSTBESTIMMUNG

Barrierefreies Denken, innovatives Recruiting
Inklusion ist bei Siemens Chefsache

„Bei Siemens herrscht Ingenieurs-Spirit: Man sieht eine Herausforderung und findet eine Lösung dafür.“ So einfach beschreibt
Dr. Johannes Hund das Teilhabe-Prinzip seines Arbeitgebers. Trotz Rollstuhl gründete der Siemens-Ingenieur das Startup EcoG.
Ein Beispiel dafür, wie Inklusion bei Siemens gelingt: Mit barrierefreiem Denken und innovativen Maßnahmen.

                     D    r. Johannes Hund ist einer von rund 5.000 Mit-
                          arbeitenden mit Behinderungen, die bei Siemens
                     Deutschland arbeiten – sie bilden etwa 5,3 % aller
                                                                               tepotenzial zu sichern. „Viele Einschränkungen treten
                                                                               erst im Laufe eines Berufslebens auf. Darauf müssen wir
                                                                               Antworten finden.“ Neben Maßnahmen für Prävention
                     Beschäftigten. Damit gehört der Technologie-Anbie-        setzt Siemens dabei auch auf das gezielte Recruiting
                     ter nicht nur zu den größten, sondern auch zu den         von Menschen mit Behinderungen. Wohlwissend, dass
                     inklusionsstärksten Arbeitgebern Deutschlands. “In-       es auf ihre individuellen Stärken ankommt: „Handicap
                     klusion zeigt sich bei uns nicht einfach nur in festen    und Karriere sind bei uns kein Widerspruch“, so Mosch-
                     Regelungen im Umgang mit schwerbehinderten Mitar-         ko. Eigens für Bewerberinnen und Bewerber mit Behin-
                     beitenden“, erklärt Stefan Moschko, Personalleiter bei    derungen hat der Konzern deshalb eine Landingpage
                     Siemens Deutschland und Vorsitzender des Trägerver-       unter dem Titel „Jobs ohne Barrieren“ eingerichtet, zu
                     eins des BFW Berlin-Brandenburg. „Sie ist ein fester      der ein vereinfachter Bewerbungseingangskanal gehört.
                     und gelebter Bestandteil unserer Unternehmenskul-         Ein geschulter bundesweiter Ansprechpartner steht den
                                                                                            Bewerbern für Fragen zur Verfügung. Auch
                                                                                            das Auswahlverfahren für angehende Aus-
                                                                                            zubildende mit Behinderungen wurde an-
                                                                                            gepasst, sie werden optimal entsprechend
                                                                                            ihrer persönlichen Stärken eingesetzt. Auf
                                                                                            diese Weise konnten 2017 35 junge Ler-
                                                                                            nende mit unterschiedlichen Behinderungen
                                                                                            geworben werden.

                                                                                            Inklusion muss vorgelebt werden

                                                                                            Dass all diese Maßnahmen bei Siemens so
                                                                                            gut gelingen, kommt nicht von ungefähr.
                                                                                            Teilhabe fängt als fester Bestandteil der Un-
                                                                                            ternehmenskultur im kollektiven Denken an
                                                                                            – und sie ist Chefsache. „Inklusion fällt nicht
                                                                                            vom Himmel“, bestätigt Moschko. Dafür
                                                                                            setzt sich auch Siemens-Personalvorstand
                     tur.“ Diese Kultur ist ausschlaggebend dafür, dass die    Janina Kugel ein: „Inklusion können wir nicht einfach
                     Bedürfnisse von Mitarbeitenden mit Behinderungen          verordnen, wir müssen sie vorleben. Deshalb kommt es
                     bei Siemens möglichst immer und überall mitgedacht        auch darauf an, dass wir allen – angefangen bei un-
                     werden – beim Bau neuer Gebäude und der Arbeits-          seren Führungskräften – vermitteln, das zu sehen, was
                     platzgestaltung genauso wie bei der Einführung neuer      wirklich in einem Menschen steckt, ganz gleich, woher
                     Prozesse und Entwicklungen. „Selbst in unserer Digi-      man kommt, wie man aussieht oder, ob man mit einer
                     talstrategie haben wir Inklusion verankert“, so Mosch-    Behinderung lebt." Bei Siemens zähle das individuelle
                     ko: Barrierefreie Soft- und Hardware, IT-Medien und       Potenzial, darauf wolle man nicht verzichten. Führungs-
                     Arbeitsanwendungen ermöglichen volle Teilhabe im          kräfte und Mitarbeiter werden deshalb aktiv geschult,
                     Arbeitsleben. Gleichzeitig entwickelt Siemens mit Un-     um unbewusste Vorurteile zu überwinden. Seit vielen
                     terstützung seiner Mitarbeitenden auch barrierefreie      Jahren dient zudem eine Integrationsvereinbarung als
                     Produkte und bietet damit Mehrwert für seine Kunden.      verbindliche Grundlage. Im Frühjahr wurde sie zu einer
                     Eine echte Win-win-Situation also, die dem Konzern        Inklusionsvereinbarung weiterentwickelt, um die Einbet-
                     einen Wettbewerbsvorsprung sichert.                       tung von Inklusion in die digitale Strategie sichtbar zu
                                                                               machen. Ein umfassender Ansatz, der sich für Siemens
                     Gezieltes Recruiting und vereinfachte Zugänge             lohnt – das zeigt auch die Auszeichnung mit dem Inklu-
                                                                               sionspreis für die Wirtschaft 2018. Der Preis prämiert
                     Natürlich weiß Stefan Moschko als Vorstandsvorsitzen-     beispielhaftes Inklusionsengagement und unterstreicht
                     der der DRV Berlin-Brandenburg auch um die Bedeu-         die vorbildliche Strategie des Konzerns: Siemens ist es
                     tung von Inklusion im Rahmen alternder Belegschaften      gelungen, sich zukunftsfähig aufzustellen und dabei auf
                     – und dass Siemens darauf angewiesen ist, ihr Fachkräf-   die ganze Vielfalt des Fachkräftepotenzials zu setzen.

12   REHAVISION
AUS DEN BFW

Vom Wandel der Berufe
und BFW-Ausbildungen
„Reha statt Rente“ – so lautete das Motto, mit dem sich die Berufsförderungswerke in ihren Anfangsjah-
ren beschäftigten. Es ging darum, Menschen nach einem Unfall oder Erkrankung durch eine Ausbildung
wieder fit für das Arbeitsleben zu machen. Nach den Wünschen der Rehabilitanden wurde selten ge-
fragt. Stattdessen bestimmte das Prinzip der „Fürsorge“ den Umgang mit Menschen mit Behinderungen.

„W        ir haben uns in den ersten Jahren nicht mit der
          Frage beschäftigt, wie die Rehabilitanden im
Reha-Prozess mitwirken könnten und ob sie mit ihrer
Ausbildung einverstanden sind“, blickt der ehemalige
Vorstandsvorsitzende der früheren Arbeitsgemein-
schaft Die deutschen Berufsförderungswerke Ulrich
Wittwer zurück (Vorsitz 1978-2004). Im Mittelpunkt
standen damals die Inhalte der Berufe und die Stoff-
vermittlung. Bei Schwierigkeiten fanden zwar Problem-
fallkonferenzen statt, an denen auch die Rehabilitan-       Wittwer. Eingeführt wurden die drei Prinzipien Ganz-
den teilnehmen durften. Aber die Rollen waren klar          heitlichkeit, Handlungsorientierung und interdisziplinä-
verteilt. Wittwer: „Sie wurden auf ihre Leistungsdefi-      re Teamarbeit. Ab sofort stand die Persönlichkeitsent-
zite angesprochen und auf ihre Mitwirkungspflichten         wicklung und Integrationsförderung der Betroffenen im
hingewiesen.“ Dass die Betroffenen selbst Kritik übten,     Mittelpunkt. „Das neue Konzept verlangte Methoden
etwa an der Stoffvermittlung, kam nicht vor. Schlicht-      und Techniken, die die Betroffenen einbeziehen und
weg auch deshalb nicht, weil sie Mitwirkung auch nicht      aktivieren“, erklärt Wittwer. Gefördert wurde damit
aus ihrer Schul- oder Berufsschulzeit gewöhnt waren.        nicht nur die Fachkompetenz, sondern auch die berufli-
Die Trendwende kam 1995. Damals führten die BFW             che Handlungskompetenz. Ein wichtiges Instrument da-
das Forschungs- und Entwicklungsprojekt „Ganzheitli-        für wurden die regelmäßigen Wochenbesprechungen:
che berufliche Rehabilitation Erwachsener. Handlungs-       Sie vertieften die Fähigkeit der BFW-Teilnehmenden,
orientierte Gestaltung von Lernsituationen in Berufs-       ihre Lernprozesse zu reflektieren und zu planen. Ent-
förderungswerken“ durch. „Mit dem Projekt wurde             scheidende Voraussetzungen für eine selbstbestimmte
eine völlig andere Herangehensweise gefordert“, so          Mitwirkung am Rehabilitationsprozess.

Mitbestimmung fördert Selbstvertrauen
Aktiv die eigenen Interessen vertreten: die BFW-Teilnehmervertretung

„Nichts über uns ohne uns“– das gilt auch in Berufsförderungswerken, Berufsbildungswerken und Werkstätten. Aktive Mitbestim-
mung gibt es bei allen Erbringern von Leistungen für Menschen mit Behinderungen. In den Berufsförderungswerken gehört die
Rehabilitanden-Vertretung bereits seit über 30 Jahren zum Konzept. Etwas jünger ist das Recht auf die aktive Vertretung durch
die Beschäftigten in den Werkstätten. Sie gilt seit Inkrafttreten des SGB IX im Jahr 2001, das in § 35 die „Mitwirkungspflichten
der Teilnehmer an der Ausführung der Leistung“ verbindlich machte.

D    ie Bezeichnungen unterscheiden sich: So gibt es
     Werkstatträte, aber Rehabilitanden- oder Teilneh-
mervertretungen. Das Ziel ist jedoch immer das gleiche:
                                                            wie sich die Folgen des Bundesteilhabegesetzes auf die
                                                            Rehabilitanden auswirken.“ Auch im BFW Frankfurt am
                                                            Main gibt es eine Teilnehmervertretung. „Sie beschäf-
Es geht darum, Ansprechpartner für die Teilnehmen-          tigt sich vor allem mit Themen wie Wohnen, Freizeit
den zu sein. Regelmäßig finden zudem Gespräche mit          und Verpflegung“, erklärt Petra Hartl. Die 47-Jährige
Ausbildern, Fallsteuerern oder der Geschäftsführung         absolviert eine Qualifizierung zur Industriekauffrau
statt. „Der Austausch zwischen Rehabilitandenvertre-        und ist seit einem Jahr im Amt. Sie hat ein offenes Ohr
tung und BFW-Pädagogen oder BFW-Geschäftslei-               für die Teilnehmenden. Hinzu kommt die Arbeit in ver-
tung ermöglicht die Beteiligung an allen zentralen Ab-      schiedenen Ausschüssen. Das letzte Highlight war für
läufen im Reha-Alltag“, erklärt Dr. Susanne Gebauer,        sie die Mitsprache bei der Neugestaltung der Lobby
Geschäftsführerin des BFW Nürnberg. Dabei geht es           im BFW Frankfurt. „Sie ist einfach toll geworden“, sagt
oft um Aspekte des Alltags, manchmal aber auch um           sie strahlend. Dass ihre Meinung zählt, empfindet sie
politische Auswirkungen. Gebauer: „Zuletzt haben wir        als wertschätzend und stärkend zugleich. Sie ist sicher:
mit der Rehabilitandenvertretung darüber gesprochen,        „Mitbestimmung fördert Selbstvertrauen.“

                                                                                                                       REHAVISION   13
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