NORMALITÄT ALS EXPERIMENT 1/22 - Schader Stiftung
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SCHADER- D IALOG Magazin der Schader-Stiftung Dialog zwischen Gesellschafts- 1 /2 2 wissenschaften und Praxis N O R M A L I TÄT ALS EXPERIMENT
SEITE 3 SEITE 18 E D I TO R I A L PROJEKTE 2021/2022 SEITE 4 N O R M A L I TÄT A L S SEITE 22 Titelbild: „Normalität als EXPERIMENT N AC H R I C H T E N Experiment“ – unter diesem Leitwort fand die Jahres- tagung des Großen Konvents der Schader-Stiftung am 29. Oktober 2021 statt. SEITE 7 SEITE 23 Die Ausstellung „just – design D I A LO G - CA F É S TERMINE for transformation“ war vom 22. Oktober bis 12. November 2021 in einer Kooperation mit dem Institut für Design- SEITE 14 SEITE 26 forschung der Hochschule Darmstadt in der Schader- DESIGN FOR SCHADER-PREIS Galerie zu sehen. Angehende und junge Designer*innen T R A N S F O R M AT I O N 2021 UND 2022 widmeten sich den Themen Diversität, Gendergerechtig- keit und soziale Nachhaltig- keit. Plakate, Objekte, Dokumen- tationen und Videos gaben SEITE 16 SEITE 27 Einblick in ihre Auseinander- setzung mit der Frage nach ZUKUNFT IMPRESSUM einem ethischen Code im Design. Mehr auf Seite 14-15. I N N E N S TA D T
E D I TO R I A L Ein Lob der Normalität. Haben wir sie unterschätzt, damals, „vor Corona“? In den beiden vergangenen Jahren sind die Miniaturen des Alltäglichen immer wertvoller geworden. Der ganz normale Arbeitsalltag, der schnelle fachliche Austausch, der kurze Schnack über Privates, die direkte sicht- und spürbare Anteilnahme. Die Nähe. Das Nebensäch- liche. Man könnte auch sagen: Dieses Experiment nervt gewaltig – und nicht jede und jeder hat es unbeschadet überstanden. Als Stiftung haben wir alles gegeben, Sicher- heit zu wahren, vermittelten Kontakt zu ermöglichen und neben großem Einsatz auch Gelassenheit zu üben. Die „Normalität als Experiment“ hat uns gefordert. Auch beim neunten Großen Kon- vent, der – fast schon normal – Ende Oktober 2021 hybrid stattfinden konnte. Film und Dokumentation sind online, Inhaltliches präsentieren wir in diesem Magazin. Außer- dem einen Blick in die Schader-Galerie mit „just – design for transformation“. Und auf die Projektarbeit, die dank neuer technischer Möglichkeiten und des phantastischen Einsatzes unseres Teams im wissenschaftlichen Kollegium, in Projektmanagement und Assistenz, der Veranstaltungstechnik und den internen Services quasi ungebremst weitergeht: mit immer neuen experimentellen und neuen normalen Formaten. Nun unter dem Konventsthema 2022 „Liberté – Égalité – Solidarité. Gesellschaftlicher Zusammen- halt im Stresstest“. Im Stresstest dieser zwei Jahre war uns die moderne Variante der Geschwisterlichkeit, die Solidarität, besonders wichtig. Den Menschen in seinem Umfeld, seine Gesund- heit und Sicherheit im Blick haben. Zukünfte ermöglichen – sozial, ökologisch, politisch, geistig. Im Frühjahr dieses Jahres schauen wir besorgt auf das Weltklima, die Pandemie und den Frieden in Europa. Normalität bleibt ein fragiles Experiment. Und das Lob der Normalität gilt den Tagen und Menschen, die man vielleicht dann und wann unter- schätzt hat. Damals, „vor Corona“. ALEXANDER G E M E I N H A R DT Vorstand der Schader-Stiftung 3
LEBEN IM GROSSEN EXPERIMENT In ihrer Keynote zum Großen Konvent spricht die Schader-Preisträgerin 2020, Dorothea Kübler, über sozialwissenschaftliche Experimente und das Experimentieren unter Pandemiebedingungen. Sie ist Direktorin am Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung und Professorin für Volkswirtschaftslehre an der Technischen Universität Berlin. Zum Großen Konvent ist sie direkt von einem Forschungsauf- enthalt an der New York University angereist. Die Pandemie war ein großes Experiment: Was passiert mit uns, wenn wir alle zu Hause bleiben? Wie solidarisch sind wir gegenüber gefährdeten Personen? Mit welchen Res- triktionen können wir zurechtkommen und mit welchen nicht? Das öffentliche Leben beschränkte sich auf Straßen, Märkte, das absolut Notwendige. Was bedeutet so eine Zeit für die Gesellschaft und für die Menschen, je nach Lebenslage und je nachdem, wie einen die Pandemie getroffen hat. Nur zwei Aspekte möchte ich Alexander Gemeinhardt, Vorstand betonen. Ich denke, es gab zum einen eine große Verun- der Schader-Stiftung, mit den sicherung – natürlich aufgrund des Virus selbst, aber auch Keynote-Speaker*innen Dorothea darüber, welche Regeln morgen gelten. Andererseits gab Kübler und Roman Schmitz es aber auch die Erfahrung, dass Neues auszuprobieren sei- nen Wert hat. Es gab aufgrund der Pandemie zahlreiche Experimente. Ein Experiment ist zum einen im umgangssprachlichen Regierungen haben ausprobiert, welche Kampagnen für Gebrauch das „Ausprobieren von Neuem“. Solche Expe- Maßnahmen der öffentlichen Gesundheit funktionieren rimente können befreiend sein, denn ergebnisoffen zu sein, (Masken, Händewaschen, Abstandhalten, Impfungen). Schul- zuzulassen, dass etwas nicht erfolgreich ist, eröffnet Mög- schließungen sind ein Experiment – in Bezug auf den Pan- lichkeiten. Andererseits ist da die Unsicherheit. Adenauers demieverlauf, aber auch die Bildung. Viele Kommunen haben berühmter Wahlslogan „Keine Experimente!“ hat genau auf Risiken des ÖPNV durch das Virus mit dem Ausbau auf diese negative Konnotation von Experimenten abgestellt. von temporären Radwegen geantwortet. Es gab also vor allem Zum anderen ist mit „Experiment“ aber auch eine kon- viele unkontrollierte Experimente, ein Ausprobieren, ohne trollierte Versuchsanordnung gemeint, in der Medizin, der die Bedingungen so zu gestalten, dass man daraus lernen Physik, der Chemie, aber auch in den Sozialwissenschaften. kann. Das hatte in der Pandemie manchmal gute Gründe, Das ist mein Metier als Experimentalökonomin. Und das ist denn es bestand Handlungsdruck. Aber bei Weitem nicht die engere Bedeutung des Worts „Experiment“. immer. 4 S C H A D E R - D I A LO G N O R M A L I TÄT A L S E X P E R I M E N T
G R O S S E R KO N V E N T 2 0 2 1 Normalität als Experiment Ich möchte schließen mit der Behauptung, dass Deutsch- enorm. Vielleicht ist ja der kulturelle Wandel in Bezug auf land kein Land der Experimente ist. Zu Beginn der Pan- die Normalität von Experimenten eine langfristige Hinter- demie haben die Bundesländer häufig unterschiedliche Maß- lassenschaft der Pandemie? Oder es gibt zumindest ein nahmen ergriffen. Das nennt man „natürliche Experimente“. Bewusstsein dafür, dass Experimentieren auch manchmal Man kann solche Unterschiede nutzen, um die Wirksam- etwas Befreiendes sein kann. keit der Maßnahmen zu untersuchen. Aber an den Diskussi- onen darüber, dass unterschiedliche Regeln ungerecht sind, Der Text dokumentiert in gekürzter Form die Keynote von dass sie zu Verwirrung führen, sieht man, wie schwer es ist Prof. Dr. Dorothea Kübler anlässlich des Großen Konvents am zu experimentieren, also etwas gezielt auszuprobieren. 29. Oktober 2021. Der Vortrag ist in voller Länge Bestandteil der Dokumentation des Großen Konvents der Schader-Stiftung Dabei ist eine gute Evaluation von Politikmaßnahmen oft 2021. Ein Videomitschnitt des Vortrags findet sich unter: nur durch Randomisierung möglich. Die Modelle, die Epidemiologen nutzen, um Vorhersagen zu machen und Maß- W W W. S C H A D E R - S T I F T U N G . D E / G R KO 2 1 nahmen zu empfehlen, sind immer nur so gut, wie die Pa- rameter über das Verhalten, mit denen sie gefüttert werden. Zum Beispiel: Wieviel bringen regelmäßige Schnelltests an Schulen? Das könnte man sehr leicht überprüfen, indem man Schnelltests an einigen Schulen durchführt und an anderen nicht. Für solche Experimente gibt es viele Hindernisse, etwa P R O F. D R . rechtliche, ethische und auch prinzipielle. D O R OT H E A KÜ B L E R Direktorin am Wissenschafts- zentrum Berlin für Sozialfor- Experimente sind keine Normalität und sollten es auch schung und Professorin für nicht sein. Aber ich finde, wir sollten sie öfter ertragen, wenn Volkswirtschaftslehre an der sie uns Aufschluss darüber geben, was funktioniert. Denn Technischen Universität Berlin anstatt viele kleine Experimente zu akzeptieren, leben wir alle in einem großen Experiment – aber ohne Kontrollbe- dingungen! Die Risiken ungetesteter Politikmaßnahmen sind INSTITUTION ALS EXPERIMENT „Wir als Institution sind ein unkontrolliertes Ex- Das Humboldt Forum ist ein großes Experiment. Und periment“, sagt Roman Schmitz, Geschäfts- zwar, das habe ich jetzt gerade von Dorothea Kübler gelernt, ein unkontrolliertes. Ich stehe hier als Geschäftsführender führender Dramaturg bei der Stiftung Humboldt Dramaturg im Bereich Programm und Veranstaltungen des Forum im Berliner Schloss. In seiner Keynote Humboldt Forums und werde Ihnen die Komplexität des spricht er darüber, welche Normalitäten sich im gesamten Gebildes nun näherbringen. Wir arbeiten im Mo- ment mit einer Vielzahl von Normalitäten und versuchen Zuge gesellschaftlicher Auseinandersetzungen rund um das wahrscheinlich größte Kulturprojekt, das Deutsch- geändert haben und worin nun die Aufgabe land in den letzten Jahrzehnten gesehen hat, beständig des Humboldt Forums besteht. neue Normalitäten zu realisieren. G R O S S E R KO N V E N T 2 0 2 1 5
geschichte der Menschheit aus vielen Perspektiven zu erzählen. Das ist ein lobenswerter Gedanke, aber er ist lückenhaft, weil wir uns noch einmal mit der Frage der Macht auseinan- dersetzen müssen. Wer erzählt die Geschichte, wer ist der Erzähler und von wem wird erzählt? Wer hat entschieden, dass Afrikanische Kunst als ethnologisch klassifiziert wird? Wer hat das Recht, den Anderen auszustellen?“. Das Humboldt Forum steht seitdem an einem Wende- punkt, was den Weg angeht, den wir in den nächsten Jahren gehen werden. Denn das Forum ist der Ort, an dem wir die deutsche Vergangenheit rund um die Kolonialzeit verhan- deln müssen und werden. Gemeinsam mit allen Kolleg*innen aus dem Haus haben wir uns darauf geeinigt, das Humboldt Forum zu einem Ort der Vielstimmigkeit zu machen, an dem natürlich auch der Wissensdrang und die Bildungsfragen Aussprache im Plenum: der Brüder Humboldt eine Rolle spielen, aber auch einen Roman Schmitz, Dorothea Ort, an dem dekolonialisiert wird. Und zwar nicht nur, was Kübler und Moderatorin Caroline Robertson-von Trotha die Exponate angeht, sondern vor allem auch unser Wissen und unsere Praxis. Wir sind ein Ort der kulturellen Bildung. Sie kennen das Humboldt Forum mit Sicherheit alle aus Wir wollen barrierefrei, sozial, ökologisch und kulturell nach- den Schlagzeilen. Wir stehen in den letzten Jahren, eigent- haltig handeln. Ich als Veranstaltungs- und Theatermacher lich seit Beginn der Diskussion um die Frage nach dem Ab- versuche mit unserem Team, das künstlerische performative riss des Palasts der Republik, ungefähr so in der Öffentlich- Arbeiten mit der Architektur und den Sammlungen ins keit da: „Das Berliner Schloss in Nöten“, „Das Luftschloss“, Verhältnis zu setzen. Bei aller Klarheit wird es dauern, bis „So schlimm steht es wirklich um das Humboldt Forum“. wir diesen formulierten Auftrag voll erfüllen werden. Wir sind also mit einer sehr großen Bürde in der öffentlichen Wahrnehmung gestartet. Zudem haben wir mit sehr vielen Der Text dokumentiert in gekürzter Form die Keynote von aktivistischen Positionen zu tun, die sich vor allem um die Roman Schmitz anlässlich des Großen Konvents am 29. Oktober Frage des deutschen Umgangs mit dem Kolonialismus 2021. Der Vortrag ist in voller Länge Bestandteil der Doku- und der Kolonialität, in der wir noch leben, drehen. mentation des Großen Konvents der Schader-Stiftung 2021. Ein Videomitschnitt des Vortrags findet sich unter: Im September 2021 haben wir die Eröffnung der Staatli- chen Museen zu Berlin gefeiert. Weit im Voraus wussten W W W. S C H A D E R - S T I F T U N G . D E / G R KO 2 1 wir, dass der Bundespräsident kommen wird. Und wir haben Chimamanda Ngozi Adichie eingeladen, eine nigerianische Schriftstellerin, die eine Eröffnungsrede gehalten hat. Die ROMAN SCHMITZ Frage, vor der wir in der Konzeption dieses großen Mo- Geschäftsführender mentes standen, war: Spielen wir in Richtung der alten Fas- Dramaturg bei der Stiftung sade und soll der Bundespräsident den Adler, der auch ein Humboldt Forum im Berliner Schloss Macht- und Repräsentationssymbol der Monarchie war, über sich haben oder müssten wir das Bild drehen? Schlussend- lich haben wir den Aufbau gedreht. Wir stehen also vor der modernen Fassade und der Bundespräsident sagt: „Die Verbrechen der Kolonialzeit, Eroberung, Unterdrückung, Ausbeutung, Raub, Mord an Zehntausenden von Menschen brauchen einen angemessenen Ort in unserer Erinnerung. Wir müssen uns der Verantwortung vor diesem Teil der deut- schen Geschichte stellen“. Frau Adichie sagt: „Das Hum- boldt Forum wurde als ein Ort konzipiert, um die Universal- 6 S C H A D E R - D I A LO G N O R M A L I TÄT A L S E X P E R I M E N T
G R O S S E R KO N V E N T 2 0 2 1 Normalität als Experiment D I A LO G - CA F É S Der Große Konvent der Schader-Stiftung bietet in jedem Jahr Persönlichkeiten aus den Gesellschaftswissenschaften und der Praxis die Möglichkeit, den Status quo und die Perspektiven des Dialogs zwischen Gesellschaftswissenschaften und Praxis zu diskutieren. Ziel ist es, aktuelle sowie kommende Herausforderungen zu formulieren und daraus Themen und Bedarfe für zukünftige Aufgaben der Gesellschaftswissen- schaften, aber auch für die konkrete Arbeit der Schader-Stiftung zu explorieren. Der neunte Große Konvent der Schader-Stiftung tagte am 29. Oktober 2021 mit rund 150 Personen. In drei Gesprächsrunden in sechs parallelen Dialog-Cafés, die an Projekte der Stiftung anknüpften, konnten die Teilnehmenden vor Ort im Schader-Forum und in der Digitalen Dependance Erfahrungen und Ideen, An- regungen und Erkenntnisse austauschen. Im Zentrum standen dabei die Aufgaben und Herausforderungen der Gesellschaftswissenschaften in der Diskussion um das Konventsthema „Normalität als Experiment“. D I A LO G - CA F É S 7
E X P E R I M E N T E N AT U R G E S E L L S C H A F T Wäre unsere Art des Wirtschaftens ein Experi- bewundern. Im Heimatland gilt ähnliches: Wäre es für den ment unter Laborbedingungen, hätte man es Wald nicht besser, wenn die Menschen zu Hause Entspan- nungstechniken betrieben, als den Wald zu einem Spaziergang abgebrochen. Marktwirtschaftliche Zielsetzungen aufzusuchen? Es muss kein „entweder-oder“ sein: entweder führen zu rücksichtslosem Verhalten. Entspricht Kopf oder Herz! Es kann auch, so die Impulsgeberin Regina der so entstandene Umgang mit Mitmenschen Rhodius, ein „sowohl-als-auch“ zum Ansatz kommen. War- um nicht einerseits auf Emotionen und Intuitionen setzen, und mit der uns umgebenden Natur einer norma- andererseits die Vernunft nutzen? len Lebensweise? Wie ist auszuhandeln, was normativ als richtig gilt? Die Diskussion verdeutlicht, dass sich etwas ändern muss und wird. Obwohl niemand über konkrete Vorstellungen einer neuen Normalität verfügt, steht fest: Der Weg dorthin wird herausfordernd, die Aushandlungsprozesse benötigen In drei Sessions des Dialog-Cafés diskutierten Teilneh- eine neue Methodik und sollten partizipativ gestaltet sein. mende vor Ort und diejenigen, die sich online zugeschaltet Naturverbundenheit kann dem Prozess zugutekommen. hatten, über Wirkungen von Selbst-, Real- und Gedanken- Damit fungiert der sinnliche Zugang zur Natur als transfor- experimenten, über gewünschte neue Normalitäten sowie matives Element. über das Verhältnis von Mensch und Natur. Quintessenz der abschließenden Diskussionsrunde: Ein sinnlicheres Ver- Moderation und Bericht: Dr. Kirsten Mensch hältnis zur Natur. Reicht eine rein rationale Herangehensweise, um umwelt- bewusstes Verhalten zu fördern? Braucht es nicht vielmehr einen sinnlichen Zugang zur Natur? Durch einen auch emo- tional geprägten Austausch mit der Natur ließe sich ein tieferes Verständnis für natürliche Zyklen gewinnen. Das wiederum regt zu nachhaltigem Handeln an, bestätigt ein Teilnehmer. Indigene Kulturen dienen dabei als Vorbild. Sie folgen nicht dem westlich geprägten Kultur-Natur-Dualismus, sondern verstehen sich als „eingeboren“ in der Natur. Die Gegen- MARIUS ALBIEZ P R O F. D R . R O G E R meinung betont, dass eine komplexe Gesellschaft vernünftige, Wissenschaftlicher HÄUSSLING also begründungsfähige Lösungen benötigt, daher nicht Mitarbeiter am Institut für Professor an der bei Ansätzen von Naturvölkern stehen bleiben sollte. Der Technikfolgenabschätzung RWTH Aachen und Systemanalyse Widerspruch folgt sofort: Die gewünschte Orientierung „hat nichts mit indigener Romantik zu tun“, sondern bietet eine nützliche Wissensquelle zur Bewältigung der Klima- krise. Die Degradierung dieses Wissens ist ein typischer Re- flex der Vernunftgesellschaft. Indigen geprägte Einstellungen sind zur Lösung moderner Probleme nützlich: Dafür ist hie- siges, vor Ort entstandenes Wissen ebenso verwertbar wie solches von Völkern, die sich seit jeher an Umweltänderungen anpassen mussten. DR. REGINA P R O F. D R . H A N N A Allerdings geht die Sehnsucht nach Naturverbundenheit RHODIUS ZAPP nicht automatisch mit umweltfreundlichem Verhalten ein- Wissenschaftliche Mitar- Beraterin für Strategie- her. Fernreisen dienen oft dazu, die Natur im Zielland zu beiterin an der Universität entwicklung, Mediation Freiburg und Coaching 8 S C H A D E R - D I A LO G N O R M A L I TÄT A L S E X P E R I M E N T
EXPERIMENT ALS INSTITUTION Welche Ansätze gibt es, die das Experimentieren Öffentliche Verwaltungen gelten eher als träge und weniger zum Normalzustand erheben? Wie gestaltet innovationsfreundlich. Doch auch sie müssen sich laufend weiterentwickeln. Herausforderungen sind dabei unter an- sich das Zusammenspiel von technischen Neu- derem die Versäulung, also die strikte hierarchische Zuwei- entwicklungen und rechtlichen Regelwerken? sung von Zuständigkeiten, sowie eine gewisse Risikoaversion Wie ist es um die Innovationsfähigkeit öffentli- innerhalb der Verwaltung. Organisationsübergreifende Pro- jekte, interdisziplinäre Teams und das Aufbrechen von starren cher Verwaltungen bestellt? Unter welchen Hierarchien sind mögliche Treiber einer agilen anpassungs- Voraussetzungen lassen sich Experimente in und innovationsfähigen Verwaltung. Allerdings muss eine stadtplanerische Prozesse einbringen? Balance zwischen Innovation und Stabilität hergestellt werden, um eine gewisse Akzeptanz zu generieren. In der Bauwirtschaft und Stadtplanung werden innovati- Die Suche nach Lösungen für neue Herausforderungen ve Herangehensweisen und Experimente aufgrund immer und die Etablierung von Verbesserungen des Status quo höherer ökologischer und sozialer Anforderungen sowie des führen oft zur Erprobung von Neuerungen in modellhaften erhöhten öffentlichen Bewusstseins zunehmend zur Nor- Experimenten und Laboren, bevor sie regulativ zum Stan- malität. Daher wird es immer wichtiger, sowohl die Privat- dard erhoben werden. Bei technischen Innovationen wird wirtschaft als auch zivilgesellschaftliche Akteur*innen in das Recht laufend angepasst, um im Idealfall diejenigen Planungsprozesse miteinzubeziehen. Prozessbegleitende Eva- zu schützen, die durch disruptive Veränderungen und deren luationen ermöglichen darüber hinaus die Bewertung und Risiken tangiert werden. Neue rechtliche Instrumente tra- Adaption von Methoden und Verfahren während der jeweiligen gen dazu bei, Innovationen verträglich in bestehende Gesell- Projekte, sodass die Experimente flexibel und responsiv schaften zu integrieren – und beschränken damit nicht gestaltet werden können. Innovation, sondern fördern ihre Adaption. Gerade technische Entwicklungen erfordern jedoch vielfach konfliktreiche Aus- Moderation und Bericht: Tatiana Soto Bermudez handlungsprozesse, die ein gewisses technisches Verständnis voraussetzen, über das Jurist*innen aber häufig nicht in ausreichendem Maß verfügen. In der Folge müssten sich die Rechtswissenschaften interdisziplinärer aufstellen sowie stärker mit technischen und politikwissenschaftlichen Fach- gebieten vernetzen. P R O F. D R . D R . P R O F. A N S E L M P R O F. D R . G I S E L A D R . M AT T H I A S P R O F. J U L I A N JÜRGEN ENSTHALER H AG E R P H . D. KUBON-GILKE SCHULZE-BÖING WÉKEL Professor an der Juniorprofessor an der Professorin an der ehem. Amtsleiter der Leiter des Instituts für Technischen Universität Humboldt-Universität Evangelischen Stadt Offenbach Städtebau und Wohnungs- Berlin zu Berlin Hochschule Darmstadt wesen München D I A LO G - CA F É S 9
VERHANDLUNGEN ÜBER N O R M A L I TÄT In unserer Gesellschaft gibt es einen vermeint- Riskant wird es, wenn konsumierte Informationen di- lich breiten Konsens, was Normalität bedeutet. rekte Auswirkungen haben und beispielsweise das Vertrauen in demokratische Strukturen untergraben, indem vermittelte Das Narrativ wird vor allem in den Sozialen Verschwörungstheorien zentrale gesellschaftliche Wertori- Medien gefüllt. Interessant ist, wer dort über entierungen in Frage stellen. Diskursmacht verfügt. Finden gesellschaft- Medienwandel und die erweiterten Kommunikationswege liche Aushandlungsprozesse darüber, was als haben den klassischen Journalismus verändert. Die Rezi- Normalität gilt, überhaupt statt? pient*innen – das Publikum – richten neue Erwartungen an journalistische Leistungen, etwa im Hinblick auf Transpa- renz, Partizipation oder Dialogbereitschaft. Während Jour- Im letzten Jahrzehnt hat sich die Bedeutung von Medien nalist*innen früher ein eher festes Publikum für ihr Medi- verlagert. Ein Großteil der Bevölkerung, 69 Prozent, sieht um hatten, teilt man sich seine Zielgruppe heute mit vielen zwar das Fernsehen weiterhin als Hauptinformationsquelle. anderen Akteuren. Zum ersten Mal geben aber genauso viele Befragte das Internet als Referenz an. Eine stärker durch Digitalisierung Doch wem kommt die Deutungsmacht in der Frage zu, geprägte Gesellschaft ist entstanden, in der Communities was die Gesellschaft als normal bewertet? Deutungshoheit mit ähnlichen Interessen sich viel leichter untereinander ver- wird oftmals durch die Normvorstellungen einer Mehrheit netzen, aber auch von anderen erreicht werden können. Gate- generiert. Vor allem das eigene Verständnis von Normalität keeper, also Informationsträger*innen und -verbreiter*innen, ist aber eine stark subjektiv geprägte Wahrnehmung. Dem- klassischerweise verkörpert durch Journalist*innen, verlieren nach ist es ratsam, Normen nicht einfach als gegeben hinzu- an Bedeutung. In der Folge ist die Filterung der Informa- nehmen, sondern deren Herkunft und Kern zu hinterfragen. tionen nach Qualitätsstandards, traditionell eine Funktion Auch im digitalen Raum können Veränderungen stattfinden: der Gatekeeper, nicht oder nur im begrenzten Maße ge- etwa im Fall von Algorithmen, die aus vergangenen Mustern währleistet. Umso wichtiger ist es, nicht nur frühzeitig die lernen und Ungleichheiten reproduzieren. Um solche Struk- Medienkompetenz der jüngeren wie auch der älteren Ge- turen zu durchbrechen, sind andere Lernmethoden für Algo- nerationen zu fördern – vielmehr braucht es Fähigkeiten wie rithmen nötig. Zentral für alle genannten Aspekte der Wahr- das medienübergreifende Bewerten von Inhalten. Menschen heitswahrnehmung und -findung in der eigenen Normalität bilden sich anhand ihrer persönlichen Informationswirklich- ist aber: Kommunikation. keit auch ihre eigene Vorstellung zu Normalität. Moderation und Bericht: Dr. Michèle Bernhard A S S . P R O F. D R . DR. LENA ALEXANDER P R O F. D R . R I CA R DA D R Ü E K E FRISCHLICH G E M E I N H A R DT W I E B K E LO O S E N Assistenzprofessorin an Forschungsgruppen- Geschäftsführender Senior Researcher am der Universität Salzburg leiterin an der Universität Vorstand der Schader- Leibniz-Institut für Münster Stiftung Medienforschung und Professorin an der Universität Hamburg 10 S C H A D E R - D I A LO G N O R M A L I TÄT A L S E X P E R I M E N T
D I A LO G : D R E I E X P E R I M E N T E Erfahrungen, die uns während eines Experiments Wieder im Hellen soll die Normalität des Dialogs aufge- zuteilwerden, sind eindrücklicher als eine Aus- brochen werden. Das Gespräch soll alles sein, nur nicht sta- tisch. „Theoretische Auseinandersetzungen bringen uns jetzt einandersetzung mit der Theorie. Wer über Nor- mal nicht weiter“, so Improvisationskünstler Bernhard malitäten und Experimente spricht, ist gut be- Mohr. Kaum gesagt, schon gefehlt. In wissenschaftlicher Ma- raten, zeitweise aus der eigenen Normalität aus- nier fallen die Teilnehmenden schnell zurück gewohnte Schemata und betreiben Begriffsdefinition. Können wir Bie- zubrechen. So zeigt das Dialog-Café „Drei Ex- nen als Haustiere gelten lassen? Ja, warum denn nicht? Die perimente“ andere Wege der Kommunikation Praxis des Improvisationstheaters definiert Gesprächssituati- mit einer neuen Perspektive für den Dialog. onen als bewusstes Schwimmen. „Wir gehen auf die Bühne und wissen nicht, was passiert. Mit dieser Situation gehen wir dann um und bauen Geschichten.“ Das kreative Mo- ment, das in dieser Spontanität liegt, kann vieles freilegen. Ich fühle Enge, Trubel und habe das Gefühl, meinen Kopf Und das sollen wir im Kommunikationsexperiment, das einziehen zu müssen, damit ich ihn nicht stoße. Ich kann Themen wirklich auf den Kopf stellt, genauer erfahren: Wir mich nur schwer orientieren. Ich bin aufgeregt, habe das für erreichen eine gewisse Leichtigkeit, gewinnen Abstand von mich Gewohnte verlassen und mit meiner Normalität ge- der eigenen Normalität und können den Dialog auch für an- brochen. Ich möchte mich auf dieses Experiment einlassen. dere Zugänge und unvorhergesehene Perspektiven öffnen. Ich atme durch. Ich befinde mich im „Dialog im Dunkeln“. „Für mich ist das, was für Sie gerade ungewohnt ist, nämlich Moderation und Bericht: Laura Pauli nichts zu sehen, ganz normal“, berichtet Dörte Maack, Autorin und Coach. „Anders als Sie sehe ich auch kein Schwarz, sondern nichts.“ Sie weist uns an, einen Moment lang zu schweigen und diesen Moment, die Dunkelheit, uns selbst und unsere Gedanken wahrzunehmen und zu be- obachten. Eine wichtige Regel lautet: Wir müssen sprechen. Wer im Dunkeln nicht spricht, existiert nicht. In einer Kommuni- kationsübung zu zweit lerne ich sofort, dass es keinen Sinn ergibt, mich weiter zu hinterfragen, ob ich nun die richtigen D Ö RT E M A AC K BERNHARD MOHR Moderatorin, Coach Diplom-Schauspieler, Worte finde, um Oberflächen und Formen zu beschreiben. und Rednerin Regisseur und Theater- Wichtig ist es, überhaupt zu sprechen und sich mit dem pädagoge Partner oder der Partnerin im Dialog einem gemeinsamen Verständnis anzunähern. Unser Gespräch stockt immer wieder kurz – und scheitert auf eine produktive Weise, weil unsere Kategorien nicht übereinstimmen. Sukzessive An- näherung, langsam, aber sicher werden wir schneller und verbessern unsere gemeinsame Vorgehensweise während der Übung spürbar. Erfolg stellt sich ein. Ehe wir wieder ins Licht treten, versuche ich kurz meine Gefühle zu ordnen. Ich bin erstaunlich ruhig, fühle mich sicher und bin stolz, diese Aufgabe gemeistert zu haben. PHILIPP SCHULZ Doktorand am Geogra- phischen Institut der Universität Heidelberg D I A LO G - CA F É S 11
T R A N S F O R M AT I O N D E R N O R M A L I TÄT Das Anthropozän zeichnet sich durch ein konti- In der abschließenden Session zeigt sich, wie nachhaltige nuierliches Überschreiten der planetaren Belas- Transformation ganz konkret in einem Unternehmen aus- sehen kann. Dabei verfolgt Fischer, ein produzierendes Un- tungsgrenzen aus. Die Weltgemeinschaft steht ternehmen, einen induktiven und pragmatischen Ansatz. damit vor großen Herausforderungen, es braucht In der Aufstellung entlang Nachhaltigkeitsthemen wird auch eine Transformation der bestehenden Produk- ein Beitrag zur künftigen Wettbewerbsfähigkeit gesehen. Das Unternehmen hat für den Wandlungsprozess einen Nach- tions- und Konsummuster. Wie können Verände- haltigkeitskompass entwickelt, der es erlaubt, einzelne rungen im Denken, Handeln und Wirtschaften Maßnahmen jeweils mit messbaren Indikatoren zu hinterle- erreicht werden? gen. Durch Datenbanken und Monitoringsysteme kann die Unternehmensleitung erkennen, welche Ziele schon erreicht sind und wo noch Verbesserungsbedarf besteht. Zudem er- Die kritische Auseinandersetzung mit der komplexen Aus- laubt es eine monetäre Ausweisung der Wirkung einzelner gangslage von Transformationsvorgängen ist elementar, Projekte. Ein kontinuierliches Experimentieren und Weiter- insbesondere eine gründliche Analyse des Problems und mög- entwickeln wird so zur Norm. licher Handlungsoptionen. Die Akteur*innen im Prozess sind im besten Fall sehr divers, damit viele Gruppen mitdis- Moderation und Bericht: Karen Lehmann kutieren und ein Silo-Denken, welches zu einseitigen Lö- sungen führt, vermieden wird. Gerade Widerstände können sehr hilfreich bei der Verbesserung von Vorschlägen sein. Fragestellung und Problemverständnis in Zusammenarbeit mit diesen Akteur*innen zu entwickeln, ermöglicht das Sprechen auf Basis einer gemeinsamen Realität. Eine gelun- gene Transformation, so die Teilnehmenden der ersten Session des Dialog-Cafés, basiert auf diesen Analysen, um nicht etwa Probleme zu lösen, die keiner kennt. Hilfreich, so zeigt die zweite Session, können Reallabo- D R . KO R A K R I S T O F P R O F. D R . - I N G . re sein. Ziel ist nicht nur, aus verschiedenen Wissensbeständen Abteilungsleiterin im URSULA STEIN robustes Wissen zu entwickeln, welches die beteiligten Umweltbundesamt Honorarprofessorin an der Universität Kassel und Akteur*innen aus Wissenschaft und Praxis anwenden können. Büro Stein, Stadt- und In einem Reallabor werden Dinge ausprobiert, die funktio- Regionalplanung nieren oder auch nicht – ein inhärentes Risiko dieser trans- disziplinären Experimentierräume. Denn sie bewegen sich in Bereichen, in denen nach Lösungen gesucht wird und nicht bereits welche bereitstehen, die es zu beweisen gilt. Es ist wichtig, dass Projektpartner*innen aus Wissenschaft und Praxis den experimentellen Ansatz und das damit einher- gehende Risiko ernst nehmen und akzeptieren. Mit einer fundierten wissenschaftlichen Begleitung können sich auch andere Akteur*innen auf das Experimentieren einlassen und in ihren Organisationen eine konstruktive Fehlerkultur M AT T H I A S WA N N E R CHRISTIAN leben und fördern. Wissenschaftlicher ZIEGLER Mitarbeiter am Wuppertal Nachhaltigkeitsmanager Institut für Klima, Umwelt, bei der Unternehmens- Energie gruppe Fischer 12 S C H A D E R - D I A LO G N O R M A L I TÄT A L S E X P E R I M E N T
DIE DOMINANTE N O R M A L I TÄT Der Status quo, die Orientierung an Normalem Die zweite Session zeigt dann, dass eine Ungleichheit in bringt notwendigerweise ein Machtgefälle mit den wenigsten Fällen isoliert besteht. Benachteiligungen müssen intersektional, als mit der Gleichzeitigkeit verschie- sich, anhand dessen entschieden wird, wer und dener Diskriminierungskategorien, gedacht werden – ob was in das Spektrum der Normalität fällt und anhand religiöser, sexueller, sozioökonomischer oder anderer wer außen vor bleibt. Wenn Normalität das Kriterien. Viele Betroffene machen Diskriminierungserfah- rungen auf unterschiedlichen Ebenen. Hier gilt es, Allianzen Selbstverständliche, das Erwartbare ist, wer be- auch über die eigene Gruppe hinaus zu bilden und inter- stimmt den Diskurs, wer diktiert die Ansätze, sektionale Zusammenhänge aufzuzeigen, ebenso im Dialog die das Experiment zum Regelfall erheben? mit der Mehrheitsgesellschaft. Dabei kann auch der Über- schuss an Privilegien verdeutlicht werden, den jener Teil der Gesellschaft genießt. Es gilt, sich Abwertungen oder Zu- Existieren strukturelle Dominanzverhältnisse, bestimmen rücksetzungen in gesellschaftlicher Breite entgegenzustellen. sie unsere Normalitäten und wie kann ihnen entgegenge- Ganz besonders, wenn es um subtile Formen der Herab- wirkt werden, wenn daraus Ungleichheiten und Diskriminie- wertung geht, wenn Mikroaggressionen und Vorurteile immer rungen resultieren? Die erste Session des Dialog-Cafés wieder prominent Eingang in Debatten finden und dort blickt auf die historische Entstehung und Reproduktion von reproduziert werden. Abhängigkeitsverhältnissen, die vor allem Gesellschaften des Globalen Nordens bis in die Gegenwart prägen. Histo- Selbstreflexion und die Auseinandersetzung mit der eige- risch gewachsen schafft Macht Normalität, manifestiert nen Identität können Sicherheit in der Bewertung ausgren- sich in Menschen und migriert weltweit. Dennoch unterschei- zender Situationen bieten, so der Tenor der dritten Session den sich historische Normalitäten im absoluten, globalen des Dialog-Cafés. Die Existenz von Auswegen aus der Machtgefälle. Während Ungleichheiten innerhalb westlicher Spirale von Diskriminierung und Herabwürdigung, um die- Bevölkerungen zwar weiterhin erkennbar sind und es der sen aktiv zu entkommen und Angriffsflächen abzubauen, kritischen Auseinandersetzung damit bedarf, bieten sie ihren ohne sich dabei von der eigenen Herkunft distanzieren zu Bewohner*innen große Chancen politischer Freiheit und müssen, wurde diskutiert. Erkennbar wurde ein Gestal- ökonomischer Selbstentfaltung. Sozialer Aufstieg ist, auch tungsspielraum jedes Individuums sowie auch die Möglich- bei den gegenwärtig berechtigten Verweisen auf systemische keit aller, den Ort, an dem sie leben – ganz unabhängig Diskriminierung, der im Übrigen ein momentan hohes Ni- von der eigenen Geschichte – mitzuprägen. veau an Aufmerksamkeit zukommt, weiterhin möglich. Moderation und Bericht: Dennis Weis P R O F. D R . P R O F. D R . S A L M A N T Y YA B KO R AY Y I L M A Z - M A N U E L A B O AT C Ă C A R O L I N E Y. Fernsehjournalist, Unter- G Ü N AY Professorin an der Albert- R O B E R T S O N -V O N nehmer und Kommunikati- Co-Geschäftsführer der Ludwigs-Universität T R OT H A onsberater Dachorganisation Migra- Freiburg ehem. Karlsruher Institut tionsrat Berlin für Technologie (KIT) D I A LO G - CA F É S 13
JUST – DESIGN FOR T R A N S F O R M AT I O N Wie kann Design gerechter, nachhaltiger und inklusiver werden? Welche Rolle spielt Diversität und Gendergerechtigkeit zukünftig beim Gestalten unserer digitalen und analogen Welt? Die Schader-Stiftung veranstaltete dazu im Oktober 2021 eine Konferenz mit der Hochschule Darmstadt und präsentierte in der Schader-Galerie Arbeiten junger Designer*innen. Design beschreibt eine Disziplin und Kompetenz, die auf für die menschengerechte Ausgestaltung einer neuen Zukunft sämtlichen Ebenen des öffentlichen und privaten Lebens – deutlich gemacht, basierend auf der Trias Nachhaltigkeit, in der Kommunikation, im Produktdesign oder der Stadtpla- Inklusivität und Ästhetik. nung – ihre Wirkung entfaltet. Gerade deshalb ist die Ausein- andersetzung um eine gerechte Verteilung und Gestaltung von Wie lassen sich Gendergerechtigkeit und Diversität desig- Zugängen und Ressourcen für ein soziales Miteinander zen- nen? Wo bleibt Genderdiversität implizit oder explizit bis tral. Auch die Europäische Union hat mit der Verabschiedung heute unterthematisiert- und repräsentiert? Wie verhält sich der „New European Bauhaus Initiative“ im Rahmen der Design aktuell zum Thema Intersektionalität? Benötigen wir Green Deal-Vereinbarung die Relevanz von Design und Kunst vielleicht eine Art ethischen Code im Design für Gerechtig- 14 S C H A D E R - D I A LO G N O R M A L I TÄT A L S E X P E R I M E N T
keit und Inklusivität? Bisher sind in Deutschland Initiativen, die sich für mehr Diversität und Gendersensibilität im De- sign engagieren, vor allem in akademischen Designkreisen, stark unterrepräsentiert. Das iGDN – international Gender Design Network mit Sitz in Köln ist eine dieser Initiativen. In Kooperation mit dem Institut für Designforschung der Hochschule Darmstadt (h_da) veranstaltete die Schader- Stiftung am 14. und 15. Oktober 2021 eine Konferenz, um gezielt einen interdisziplinären Diskurs zum Thema „Gendergerechtigkeit, Diversität und Inklusivität im Design“ zu adressieren. Im Fokus standen Forschungsprojekte und innovative Ansätze aus der Praxis, die sich mit der Aufarbei- tung bisher unterrepräsentierter oder kaum registrierter genderrelevanter Fakten auseinandersetzen. Begleitend zur Konferenz fand in der Schader-Galerie die Ausstellung „just – design for transformation“ statt. Vom Ende November 2021 vom iGDN für herausragendes gender- 22. Oktober bis 12. November 2021 wurden Arbeiten von elf sensibles Design verliehen wurden. Die Form der Trophäe angehenden und jungen Designer*innen präsentiert, die ist an die eines Seesterns angelehnt: „Seesterne können ihr sich den Themen der Diversität, Gendergerechtigkeit und Inter- Geschlecht ihrem Alter oder auch ihrer Umgebung anpassen“, sektionalität im Design widmen, kuratiert von Julia-Constance so die Designerin Naama Agassi. Begleitend informierte ein Dissel, Koordinatorin der Forschungsschwerpunkte Gen- Film über den Design- und Herstellungsprozess der Trophäen der & Design und Designphilosophie am Institut für Design- sowie über prämierte Projekte der vergangenen Jahre. forschung der Hochschule Darmstadt und Gastprofessorin an der Hochschule für Gestaltung Offenbach. Sie hatte auch Mit der Ausstellung hat die Schader-Galerie nach längerer das Programm der Konferenz mitgestaltet. Im November pandemiebedingter Pause spannende Arbeiten präsentieren konnten Interessierte die Ausstellung besuchen und an Füh- können, die einen Impuls für mehr Diversität im Design setzen. rungen teilnehmen. W W W. S C H A D E R - S T I F T U N G . D E / Plakate, Objekte, Dokumentationen und Videos gaben AU S S T E L L U N G - D I V E R S I T Y- D E S I G N Einblick in themenbezogene Aktivitäten und sollten zum Austausch anregen. Gezeigt wurden kritische Arbeiten und Designideen etwa zur Inklusivität und Gendersensibilität im öffentlichen Raum, zum Markt der Frauengesundheits- produkte, zu Intersektionalität und genderneutralen Spiel- zeugen für Kinder. Eine der ausgestellten Arbeiten zeigte beispielsweise einen genderneutralen Nassrasierer, den die Industriedesignerin Teresa Novotny im Rahmen ihrer Diplomarbeit an der h_da als nachhaltige Alternative zu stereotypen, rosa oder blauen Rasierern entwickelt hat. Die Industriedesignerin Anis Looalian präsentierte ihre Entwürfe zu „Gender Glitch“, etwa „Ge- schlechterstörung“. Ihre Arbeiten sollen als Störimpulse fun- gieren, um Geschlechterverhältnisse zu destabilisieren und TAT I A N A S O T O die Veränderbarkeit gesellschaftlicher Machtverhältnisse er- BERMUDEZ Wissenschaftliche fahrbar zu machen. Referentin der Schader-Stiftung Das iGDN – international Gender Design Network hatte drei der fünf Trophäen des iphiGenia Gender Design Awards 2021 als Leihgabe zur Verfügung gestellt, die anschließend D E S I G N F O R T R A N S F O R M AT I O N 15
ZU KU N F T D E R I N N E N S TÄ D T E U N D ORTSKERNE Innenstädte und Ortszentren müssen sich den vielfältigen Herausforde- rungen stellen, die durch gesellschaftliche und klimatische Veränderungs- prozesse geprägt sind. Welche neuen Ideen gibt es, um die Zentren zu aktivieren und wie können einzelne Bausteine dafür aussehen? Die IHK Darmstadt Rhein Main Neckar und vier südhessische Gemeinden sahen besonders dringenden Verständigungs- und Handlungsbedarf: Bensheim, Dieburg, Erbach und Michelstadt. Nicht erst seit der Corona-Pandemie stehen die Kommunen ausgewählte Kommunen zu einem Szenarioprozess eingela- vor der Herausforderung, ihre Innenstädte und Ortskerne den, die einen besonderen Bedarf in Bezug auf die Reaktivie- angesichts gesellschaftlicher und klimatischer Veränderungen rung ihrer Innenstädte signalisiert hatten. zukunftsorientiert zu gestalten. Der Einzelhandel ist unter Druck geraten und wird voraussichtlich nicht mehr der Bezugs- Vertreter*innen der südhessischen Kommunen Bensheim, punkt sein, um Innenstädte zu besuchen. Auch der Klima- Dieburg, Erbach und Michelstadt erarbeiteten gemeinsam wandel setzt den Innenstädten zu: genannt sei nur das Stich- mit Expert*innen in drei Workshops systematisch nachhaltigere wort Hitzeinseln. Ein Nachdenken über gestalterische Möglich- und zukunftsgerichtete Lösungskonzepte für die Herausfor- keiten ist gefragt, um dem entgegenzuwirken. Im Rahmen derungen der Innenstädte und Ortskerne. Die Methode der des Projekts „Systeminnovation für Nachhaltige Entwicklung Szenariotechnik erlaubt es, komplexe Fragestellungen ge- (s:ne)“ der Hochschule Darmstadt hat die Schader-Stiftung meinsam zu entwickeln, Visionen zu entwerfen und am Ende gemeinsam mit der IHK Darmstadt Rhein Main Neckar vier Handlungsstrategien zu formulieren. Dazu werden äußere 16 S C H A D E R - D I A LO G N O R M A L I TÄT A L S E X P E R I M E N T
Einflüsse identifiziert und analysiert, dann im Zusammenwir- R E S Ü M E E AUS D E R P RA X I S ken aller Beteiligten alternative, konsistente Zukunftsbilder für ein festgelegtes Thema entwickelt. Als äußere Faktoren, die nicht von den Kommunen selbst verändert werden kön- Frank Haus, Bürgermeister der Stadt Dieburg, nen, kristallisierten sich etwa der Klimawandel, das Mobilitäts-, gibt eine Einschätzung zu Verlauf und Ergeb- Konsum- und Freizeitverhalten, die wirtschaftliche Entwick- lung und die Vergabeauflagen für öffentliche Fördermittel he- nissen des Szenarioprozesses. raus. Während intensiver Gruppenarbeitsphasen wurden die Ist-Situation und vorstellbare Zukunftsperspektiven bis zum Die Workshopreihe hat für die Stadt Dieburg eine Platt- Jahr 2035 diskutiert. Methodische Vorgabe war, frei und form geboten, sich angeleitet und mit fachlicher Unter- möglichst in verschiedene Richtungen, dabei kreativ und visi- stützung auch einmal mit unbequemen Zukunftsszenarien onär zu denken. So wurde das Freizeitverhalten im Jahr 2035 auseinanderzusetzen. Die Vorstellungen zur Zukunft der als rein digital projiziert, oder das Mobilitätsverhalten multi- Innenstadt sind in unserer Stadt bislang stets von Optimismus modal – diverse Verkehrsmittel nutzend – und auf Leihbasis. getragen worden. Hier nun auch einmal den Blick auf tat- Diese „Vorausschau“ umfasste auch eine Prognose im Hin- sächlich nicht unrealistische nachteilige Entwicklungen zu rich- blick auf zukünftige Gesetze und Vorgaben von Bund und ten, erfordert eine gänzlich andere Herangehensweise in der Ländern, die entweder als eher deregulierend beziehungsweise Form einer steuernden und intervenierenden Rolle der Stadt als weiterhin stark regulierend eingestuft wurden. und weniger des bislang praktizierten bloßen Begleitens. Aus dieser Vielfalt möglicher Zukünfte wurden zwei Sze- Aufgrund der heterogenen Zusammensetzung der Ar- narien entwickelt und in einem weiteren Workshop vertiefend beitsgruppen ist es möglich gewesen, die Denkmodelle aus diskutiert. Dabei stand die Frage im Vordergrund, welche den verschiedensten Richtungen zu diskutieren und zu Chancen und Risiken jedes der Szenarien für die Innenstädte bewerten. Besonders spannend war hierbei die unterschied- bereithält. Nach diesen eher abstrakten Reflexionen waren liche Herangehensweise der Akteure aus dem Gewerbe, die Teilnehmenden hoch motiviert, als es im abschließenden der Verwaltung und aus dem Bereich des Klimaschutzes. Hier Workshop mit der Ausarbeitung von Roadmaps konkret traten letztendlich erstaunlich viele Schnittmengen zutage, auf die Handlungsebene ging. Erste Schritte: Erbach wird die wir vorab nicht erwartet hätten. Die Ergebnisse des Work- Blühwiesen säen, Bensheim und Dieburg entwerfen Klima- shops werden nun ein Ausgangspunkt für die weitere stra- anpassungskonzepte. Wie sich gezeigt hat, erlaubt die Sze- tegische Ausrichtung der Innenstadtentwicklung und der da- nariotechnik die Bewertung von Chancen, Risiken und mit verbundenen lokalen politischen Diskussion sein. Für Ereignissen, welche mittel- bis langfristig eintreten können: Dieburg war das Angebot der Schader-Stiftung eine wertvol- eine Grundlage, um bereits frühzeitig strategische Hand- le Bereicherung unseres Erfahrungsschatzes. lungsmöglichkeiten abzuleiten. Daneben war für die teilneh- menden Kommunen der Erfahrungsaustausch besonders wichtig – den die Schader-Stiftung auch über den Prozess hinaus fortführen wird. W W W. S C H A D E R - S T I F T U N G . D E / Z U K U N F T I N N E N S TA DT DR. MICHÈLE FRANK HAUS BERNHARD Bürgermeister der Wissenschaftliche Stadt Dieburg Referentin der Schader- Stiftung Z U K U N F T D E R I N N E N S TA D T 17
I N F O R M AT I O N schader-stiftung.de P R OJ E KT E 2021/2022 Die Schader-Stiftung fördert seit über 30 Jahren die Gesellschaftswissenschaften. Ihr Anliegen ist es dabei, den Praxisbezug der Gesellschafts- wissenschaften und deren Dialog mit der Praxis EXLIBRIS zu stärken. Zu diesem Zweck stellt die Schader- Stiftung den Schader-Campus in Darmstadt Wem gehört ein Buch? Früher erkennbar an dem „Ex zur Verfügung und begleitet die Dialogprojekte Libris“-Einleger, machen wir uns in der Reihe ExLibris heute Werke zu eigen, deren Autorinnen und Autoren der Schader- als Vermittlerin und Moderatorin. Stiftung inhaltlich und auch persönlich verbunden sind. Mit Gästen aus Wissenschaft und Praxis besprechen wir aktu- Schwerpunkte der Förderung setzen jeweils die elle Publikationen zu gesellschaftswissenschaftlichen The- men. Das Spektrum der fünf Abende seit Oktober 2020 ist Themen des Großen Konvents der Schader- weit gefasst: Öffentliche Soziologie, Heimat und Migration, Stiftung, zuletzt „Normalität als Experiment“ im dann ein Blick auf heimische Gewässer und Klimawandel Jahr 2021 und „Liberté – Égalité – Solidarité. sowie ein kritischer Diskurs zu Fragen der Digitalisierung. Gesellschaftlicher Zusammenhalt im Stresstest“ Gemeinsam mit den Autor*innen laden wir interessante als Konventsthema 2022. Hierzu sind Anre- Gesprächspartner*innen ein, die den Themen eine weitere gungen und Anträge besonders willkommen. Perspektive geben können. Gestreamt werden die Abende live aus Haus Schader, und das stetig wachsende Publikum hat die Möglichkeit, sich aktiv über den Chat an der Veran- Ausführliche Dokumentationen der hier in Aus- staltung zu beteiligen. Lars Hennemann, Chefredakteur wahl vorgestellten Veranstaltungen finden sich der Rhein-Zeitung (Koblenz), moderiert. unter www.schader-stiftung.de Zuletzt sprach am 22. November 2021 die Journalistin Canan Topçu mit Professor Joachim Bauer von der Interna- tional Psychoanalytic University Berlin über ihr Buch „Nicht mein Antirassismus“, eine Spurensuche ihrer ganz persön- lichen Identitätsentwicklung sowie ein Plädoyer gegen Denk- verbote und Tabus und für den Dialog. Dieser Abend wurde durch das Landesprogramm „WIR“ gefördert. W W W. S C H A D E R - S T I F T U N G . D E / E X L I B R I S 18 S C H A D E R - D I A LO G N O R M A L I TÄT A L S E X P E R I M E N T
EINIGKEIT UND RECHT Im Rahmen des Planspiels schlüpften sicherheitspolitische AUF GLEICHHEIT Laien in die Rolle der Bundesregierung. Unterstützt von fachkundigen Mentorinnen und Mentoren entwickelten sie „Strategien gegen soziale Ungleichheiten“ waren Thema in Ressortbesprechungen einzelner Ministerien – Auswär- des dritten h_da Dialog-Forums „Einigkeit und Recht auf tiges Amt und Verteidigungsministerium – Strategien, stimm- Gleichheit“ am 17. November 2021, zu dem Schader-Stiftung ten diese miteinander auf „Staatssekretärsebene“ ab und und Hochschule Darmstadt (h_da) eingeladen hatten. Die- trugen sie am Ende dem oder der „Bundeskanzler*in“ zur ses Format bringt Expertinnen und Experten aus Technik- Entscheidung vor. und Gesellschaftswissenschaften mit interessierten Bürge- rinnen und Bürgern zusammen. Jutta Träger, Professorin an Das Konzept des Planspiels entwickelte Björn Hawlitschka der h_da, gab eine Einführung. Ein Vortrag von Professor von der Fachwerkstatt Sicherheit. Es wurde mit Engage- Harald Welzer sowie eine Podiumsdiskussion schlossen sich an. ment und Begeisterung aufgenommen, und zwar sowohl un- ter den Laien als auch den Fachleuten. Die Ergebnisse, die Harald Welzer, Soziologe und Direktor der Stiftung sich in den Ministerien und interministeriellen Runden ab- FUTURZWEI, schlug in seinem Vortrag den Bogen von der zeichneten, beeindruckten auch diejenigen, die in Wissen- historischen Ausgangslage des westdeutschen Sozialstaats schaft und Praxis reale sicherheitspolitische Diskurse miter- zu heutigen Problemen gesellschaftlichen Zusammenhalts, leben. Das Ziel der Kooperationspartner, der Goethe-Uni- die mit dem Ausmaß sozialer Ungleichheit zusammenhän- versität Frankfurt am Main, der Stiftung Wissenschaft und gen. Eine Begründung zur Einführung des Sozialstaats stellten Demokratie in Kiel und der Schader-Stiftung, wurde er- die Totalitarismen des 20. Jahrhundert dar. Durch staat- reicht: Sicherheitspolitische Laien führen strategische Über- liche Leistungen und die biographischen Möglichkeiten zum legungen durch, die sich an der Realität orientieren. Aufstieg wurde eine Systemzustimmung erreicht, die zu- dem soziale Ungleichheiten abbaute. Heute hingegen geht es W W W. S C H A D E R - S T I F T U N G . D E / allenfalls darum, bestehende Ungleichheiten nicht zu ver- SICHERHEITSPOLITIK tiefen; Aufstiege sind für Angehörige prekär lebender Gruppen kaum noch möglich. Damit schwindet auch die Loyalität zum Gesellschaftsmodell. An der folgenden Podiumsdiskussion mit Vertreter*innen aus Wissenschaft und Praxis, darunter ein Landtagsabge- ordneter und eine von Armut in der Kindheit betroffene Per- son, nahm das Publikum sowohl vor Ort als auch online teil. Über den Einsatz von Saalmikrofonen und Online-Chats M I T G E M AC H T ! E I N V E R S TA N D E N ? gelang es, beide Publika in die Diskussion einzubinden. N E U E KO M M U N I K AT I O N F Ü R W W W. S C H A D E R - S T I F T U N G . D E / S TA D T E N T W I C K L U N G S OZ I A L E _ U N G L E I C H H E I T Welche Rolle spielt Kommunikation in der baulich-räum- lichen Entwicklung einer Kommune? Eine zentrale Rolle – PLANSPIEL SICHERHEITSPOLITIK das würden vermutlich alle sagen, die schon einmal Ausein- andersetzungen um Neubauvorhaben miterlebt haben. In Welche sicherheitspolitischen Pflöcke sollte die neue einem zweistündigen Online-Workshop am 6. Oktober 2021 Bundesregierung einschlagen? Angenommen, man trägt Re- wurden erste Meinungen und Thesen ausgetauscht: etwa, gierungsverantwortung: Welche strategischen Entscheidun- dass der Gemeinderat oder die Stadtverordnetenversamm- gen sind zu treffen? Das ist die Grundidee der „Szenarien- lung zwar das am besten legitimierte Gremium ist, um Werkstatt Sicherheitspolitik“, die am 12. November 2021 Entscheidungen zur Stadtentwicklung zu fällen. Doch er im Schader-Forum startete und am 22. Januar 2022 online muss sich gleichwohl mit Partizipationsansprüchen ausein- fortgesetzt wurde. andersetzen, die ebenfalls legitim erscheinen. Wie ist das zu vereinbaren? PROJEKTE 2021/2022 19
Der Workshop diente zur Vorbereitung des dreitägigen Abermals wurde die Veranstaltung in einem fast aus- Workshops „Innovative Formate der Planungskommunikation“ schließlich digitalen Format durchgeführt. Am Interesse vom 23. bis 25. März 2022. Dann werden junge Menschen der Teilnehmenden änderte das wenig – sie fühlten sich aus den Disziplinen Stadtplanung und Kommunikations- in großer Zahl vom wichtigen Thema der Kinderrechte an- wissenschaft am Beispiel der Kommune Zwingenberg und gesprochen. des von der Hessischen Landesregierung initiierten Konzepts „Großer Frankfurter Bogen“ miteinander arbeiten. Ihre W W W. S C H A D E R - S T I F T U N G . D E / Aufgabe: die Entwicklung von Ideen, wie sich der Dialog KINDERRECHTE zwischen Bürger*innen, Politiker*innen und Planer*innen gestalten lässt. Beide Veranstaltungen führt die Schader-Stiftung ge- meinsam mit der Deutschen Gesellschaft für Publizistik und Kommunikationswissenschaft (DGPuK) und der Landes- INNERE SICHERHEIT IN DER gruppe Hessen, Rheinland-Pfalz, Saarland der Deutschen Akademie für Städtebau und Landesplanung (DASL) E U R O PÄ I S C H E N U N I O N durch, unterstützt vom Hessischen Ministerium für Wirt- schaft, Energie, Verkehr und Wohnen sowie der Stadt Gemeinsam mit dem Arbeitskreis Europäische Inte- Zwingenberg. gration e.V. richtete die Schader-Stiftung am 2. Dezember 2021 das Kolloquium „Sicherheit für die Unionsbürger*innen W W W. S C H A D E R - S T I F T U N G . D E / durch die Europäische Union“ aus. Das interdisziplinäre I N N OVAT I V E F O R M AT E Kolloquium warf zunächst einen Blick auf die Unionskom- petenzen und -politiken sowie die historische Entwicklung der internationalen Kooperation zum Schutz der inneren Si- KINDERRECHTE SIND cherheit in Europa. Anschließend richtete sich der Fokus auf die Frage, ob die Europäische Union und ihre Institutio- MENSCHENRECHTE nen über das notwendige Rüstzeug verfügen, um den klas- sischen Herausforderungen der inneren Sicherheit begegnen Im Gespräch über Kinderrechte stehen drei „P’s“ im zu können – oder sind Änderungen des Primärrechts not- Mittelpunkt: Protection, Provision, Participation – also Schutz, wendig? In welchem Umfang die EU auch beim Daten-, Versorgung und Beteiligung. Das zog sich auch durch die Gesundheits- und Klimaschutz hinreichend handlungs- Tagung, die von Fachleuten aus Wissenschaft und Praxis am fähig und in diesen Bereichen bereits aktiv ist, wurde im 3. Dezember 2021 gemeinsam durchgeführt wurde. Neben dritten Themenblock behandelt. Dabei stellte sich insbe- Einschätzungen zu Kinderrechten im Konflikt mit anderen sondere die Frage, inwiefern in den jeweiligen Bereichen die Rechten, etwa denen der Eltern, sowie Kinderrechten in Europäische Union oder aber einzelne Mitgliedstaaten ge- außergewöhnlichen Lebensumständen wie Flucht oder na- eignete Akteure sind. hendes Lebensende, wurden Beteiligungsformate in Kinder- tageseinrichtungen und Schulen präsentiert. Zudem drehte Den Abschluss der Tagung bildete eine öffentliche Podi- sich die Diskussion um die Frage, ob Kinderrechte mit umsdiskussion zum Thema „Die künftige Rolle der Europäi- Verfassungsrang ausgestattet werden sollten. schen Union bei der Gewährleistung der inneren Sicher- heit“. Expert*innen unterschiedlicher europäischer Ebenen Wie im Vorjahr veranstalteten der Arbeitskreis Menschen- unterhielten sich mit den Zugeschalteten über die Aufga- rechte der Deutschen Vereinigung für Politikwissenschaft benverteilung zwischen der Europäischen Union und ihren (DVPW) und die Deutsche Gesellschaft für die Vereinten Mitgliedstaaten im Bereich der inneren Sicherheit. Die Ta- Nationen (DGVN) gemeinsam mit der Schader-Stiftung die gung fand digital statt. Menschenrechtstagung 2021. Dazu kam mit der Zeitschrift für Menschenrechte eine neue Partnerin, in deren Aus- W W W. S C H A D E R - S T I F T U N G . D E / gabe 1/2022 eine Auswahl der Tagungsvorträge erschienen ist. INNERESICHERHEIT 20 S C H A D E R - D I A LO G N O R M A L I TÄT A L S E X P E R I M E N T
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