NORMALITÄT ALS EXPERIMENT 1/22 - Schader Stiftung

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NORMALITÄT ALS EXPERIMENT 1/22 - Schader Stiftung
SCHADER-
D IALOG
Magazin der Schader-Stiftung
Dialog zwischen Gesellschafts-
                                 1 /2 2
wissenschaften und Praxis

N O R M A L I TÄT
ALS
EXPERIMENT
NORMALITÄT ALS EXPERIMENT 1/22 - Schader Stiftung
SEITE 3                      SEITE 18

E D I TO R I A L             PROJEKTE
                             2021/2022

SEITE 4

N O R M A L I TÄT A L S      SEITE 22
                                                    Titelbild: „Normalität als
EXPERIMENT                   N AC H R I C H T E N   Experiment“ – unter diesem
                                                    Leitwort fand die Jahres-
                                                    tagung des Großen Konvents
                                                    der Schader-Stiftung am
                                                    29. Oktober 2021 statt.
SEITE 7                      SEITE 23
                                                    Die Ausstellung „just – design
D I A LO G - CA F É S        TERMINE                for transformation“ war vom
                                                    22. Oktober bis 12. November
                                                    2021 in einer Kooperation
                                                    mit dem Institut für Design-
SEITE 14                     SEITE 26               forschung der Hochschule
                                                    Darmstadt in der Schader-
DESIGN FOR                   SCHADER-PREIS          Galerie zu sehen. Angehende
                                                    und junge Designer*innen
T R A N S F O R M AT I O N   2021 UND 2022          widmeten sich den Themen
                                                    Diversität, Gendergerechtig-
                                                    keit und soziale Nachhaltig-
                                                    keit. Plakate, Objekte, Dokumen-
                                                    tationen und Videos gaben
SEITE 16                     SEITE 27               Einblick in ihre Auseinander-
                                                    setzung mit der Frage nach
ZUKUNFT                      IMPRESSUM              einem ethischen Code im
                                                    Design. Mehr auf Seite 14-15.
I N N E N S TA D T
NORMALITÄT ALS EXPERIMENT 1/22 - Schader Stiftung
E D I TO R I A L
Ein Lob der Normalität. Haben wir sie unterschätzt, damals, „vor Corona“? In den beiden
vergangenen Jahren sind die Miniaturen des Alltäglichen immer wertvoller geworden.
Der ganz normale Arbeitsalltag, der schnelle fachliche Austausch, der kurze Schnack
über Privates, die direkte sicht- und spürbare Anteilnahme. Die Nähe. Das Nebensäch-
liche. Man könnte auch sagen: Dieses Experiment nervt gewaltig – und nicht jede und
jeder hat es unbeschadet überstanden. Als Stiftung haben wir alles gegeben, Sicher-
heit zu wahren, vermittelten Kontakt zu ermöglichen und neben großem Einsatz auch
Gelassenheit zu üben.

Die „Normalität als Experiment“ hat uns gefordert. Auch beim neunten Großen Kon-
vent, der – fast schon normal – Ende Oktober 2021 hybrid stattfinden konnte. Film und
Dokumentation sind online, Inhaltliches präsentieren wir in diesem Magazin. Außer-
dem einen Blick in die Schader-Galerie mit „just – design for transformation“. Und auf
die Projektarbeit, die dank neuer technischer Möglichkeiten und des phantastischen
Einsatzes unseres Teams im wissenschaftlichen Kollegium, in Projektmanagement und
Assistenz, der Veranstaltungstechnik und den internen Services quasi ungebremst
weitergeht: mit immer neuen experimentellen und neuen normalen Formaten. Nun unter
dem Konventsthema 2022 „Liberté – Égalité – Solidarité. Gesellschaftlicher Zusammen-
halt im Stresstest“.

Im Stresstest dieser zwei Jahre war uns die moderne Variante der Geschwisterlichkeit,
die Solidarität, besonders wichtig. Den Menschen in seinem Umfeld, seine Gesund-
heit und Sicherheit im Blick haben. Zukünfte ermöglichen – sozial, ökologisch, politisch,
geistig. Im Frühjahr dieses Jahres schauen wir besorgt auf das Weltklima, die Pandemie
und den Frieden in Europa. Normalität bleibt ein fragiles Experiment. Und das Lob
der Normalität gilt den Tagen und Menschen, die man vielleicht dann und wann unter-
schätzt hat. Damals, „vor Corona“.

ALEXANDER
G E M E I N H A R DT

Vorstand der
Schader-Stiftung

                                                                                        3
NORMALITÄT ALS EXPERIMENT 1/22 - Schader Stiftung
LEBEN IM GROSSEN
EXPERIMENT
In ihrer Keynote zum Großen Konvent spricht die Schader-Preisträgerin 2020,
Dorothea Kübler, über sozialwissenschaftliche Experimente und das Experimentieren
unter Pandemiebedingungen. Sie ist Direktorin am Wissenschaftszentrum Berlin
für Sozialforschung und Professorin für Volkswirtschaftslehre an der Technischen
Universität Berlin. Zum Großen Konvent ist sie direkt von einem Forschungsauf-
enthalt an der New York University angereist.

    Die Pandemie war ein großes Experiment: Was passiert
mit uns, wenn wir alle zu Hause bleiben? Wie solidarisch
sind wir gegenüber gefährdeten Personen? Mit welchen Res-
triktionen können wir zurechtkommen und mit welchen
nicht? Das öffentliche Leben beschränkte sich auf Straßen,
Märkte, das absolut Notwendige.

    Was bedeutet so eine Zeit für die Gesellschaft und für die
Menschen, je nach Lebenslage und je nachdem, wie einen
die Pandemie getroffen hat. Nur zwei Aspekte möchte ich
                                                                                                    Alexander Gemeinhardt, Vorstand
betonen. Ich denke, es gab zum einen eine große Verun-                                              der Schader-Stiftung, mit den
sicherung – natürlich aufgrund des Virus selbst, aber auch                                          Keynote-Speaker*innen Dorothea
darüber, welche Regeln morgen gelten. Andererseits gab                                              Kübler und Roman Schmitz

es aber auch die Erfahrung, dass Neues auszuprobieren sei-
nen Wert hat.
                                                                     Es gab aufgrund der Pandemie zahlreiche Experimente.
    Ein Experiment ist zum einen im umgangssprachlichen          Regierungen haben ausprobiert, welche Kampagnen für
Gebrauch das „Ausprobieren von Neuem“. Solche Expe-              Maßnahmen der öffentlichen Gesundheit funktionieren
rimente können befreiend sein, denn ergebnisoffen zu sein,       (Masken, Händewaschen, Abstandhalten, Impfungen). Schul-
zuzulassen, dass etwas nicht erfolgreich ist, eröffnet Mög-      schließungen sind ein Experiment – in Bezug auf den Pan-
lichkeiten. Andererseits ist da die Unsicherheit. Adenauers      demieverlauf, aber auch die Bildung. Viele Kommunen haben
berühmter Wahlslogan „Keine Experimente!“ hat genau              auf Risiken des ÖPNV durch das Virus mit dem Ausbau
auf diese negative Konnotation von Experimenten abgestellt.      von temporären Radwegen geantwortet. Es gab also vor allem
Zum anderen ist mit „Experiment“ aber auch eine kon-             viele unkontrollierte Experimente, ein Ausprobieren, ohne
trollierte Versuchsanordnung gemeint, in der Medizin, der        die Bedingungen so zu gestalten, dass man daraus lernen
Physik, der Chemie, aber auch in den Sozialwissenschaften.       kann. Das hatte in der Pandemie manchmal gute Gründe,
Das ist mein Metier als Experimentalökonomin. Und das ist        denn es bestand Handlungsdruck. Aber bei Weitem nicht
die engere Bedeutung des Worts „Experiment“.                     immer.

4                         S C H A D E R - D I A LO G             N O R M A L I TÄT A L S E X P E R I M E N T
NORMALITÄT ALS EXPERIMENT 1/22 - Schader Stiftung
G R O S S E R KO N V E N T 2 0 2 1                               Normalität als Experiment

    Ich möchte schließen mit der Behauptung, dass Deutsch-         enorm. Vielleicht ist ja der kulturelle Wandel in Bezug auf
land kein Land der Experimente ist. Zu Beginn der Pan-             die Normalität von Experimenten eine langfristige Hinter-
demie haben die Bundesländer häufig unterschiedliche Maß-          lassenschaft der Pandemie? Oder es gibt zumindest ein
nahmen ergriffen. Das nennt man „natürliche Experimente“.          Bewusstsein dafür, dass Experimentieren auch manchmal
Man kann solche Unterschiede nutzen, um die Wirksam-               etwas Befreiendes sein kann.
keit der Maßnahmen zu untersuchen. Aber an den Diskussi-
onen darüber, dass unterschiedliche Regeln ungerecht sind,             Der Text dokumentiert in gekürzter Form die Keynote von
dass sie zu Verwirrung führen, sieht man, wie schwer es ist        Prof. Dr. Dorothea Kübler anlässlich des Großen Konvents am
zu experimentieren, also etwas gezielt auszuprobieren.             29. Oktober 2021. Der Vortrag ist in voller Länge Bestandteil der
                                                                   Dokumentation des Großen Konvents der Schader-Stiftung
    Dabei ist eine gute Evaluation von Politikmaßnahmen oft        2021. Ein Videomitschnitt des Vortrags findet sich unter:
nur durch Randomisierung möglich. Die Modelle, die
Epidemiologen nutzen, um Vorhersagen zu machen und Maß-                         W W W. S C H A D E R - S T I F T U N G . D E / G R KO 2 1
nahmen zu empfehlen, sind immer nur so gut, wie die Pa-
rameter über das Verhalten, mit denen sie gefüttert werden.
Zum Beispiel: Wieviel bringen regelmäßige Schnelltests an
Schulen? Das könnte man sehr leicht überprüfen, indem man
Schnelltests an einigen Schulen durchführt und an anderen
nicht. Für solche Experimente gibt es viele Hindernisse, etwa                                                    P R O F. D R .
rechtliche, ethische und auch prinzipielle.                                                                      D O R OT H E A KÜ B L E R
                                                                                                                 Direktorin am Wissenschafts-
                                                                                                                 zentrum Berlin für Sozialfor-
    Experimente sind keine Normalität und sollten es auch
                                                                                                                 schung und Professorin für
nicht sein. Aber ich finde, wir sollten sie öfter ertragen, wenn                                                 Volkswirtschaftslehre an der
sie uns Aufschluss darüber geben, was funktioniert. Denn                                                         Technischen Universität
                                                                                                                 Berlin
anstatt viele kleine Experimente zu akzeptieren, leben wir
alle in einem großen Experiment – aber ohne Kontrollbe-
dingungen! Die Risiken ungetesteter Politikmaßnahmen sind

INSTITUTION ALS
EXPERIMENT
„Wir als Institution sind ein unkontrolliertes Ex-                     Das Humboldt Forum ist ein großes Experiment. Und
periment“, sagt Roman Schmitz, Geschäfts-                          zwar, das habe ich jetzt gerade von Dorothea Kübler gelernt,
                                                                   ein unkontrolliertes. Ich stehe hier als Geschäftsführender
führender Dramaturg bei der Stiftung Humboldt                      Dramaturg im Bereich Programm und Veranstaltungen des
Forum im Berliner Schloss. In seiner Keynote                       Humboldt Forums und werde Ihnen die Komplexität des
spricht er darüber, welche Normalitäten sich im                    gesamten Gebildes nun näherbringen. Wir arbeiten im Mo-
                                                                   ment mit einer Vielzahl von Normalitäten und versuchen
Zuge gesellschaftlicher Auseinandersetzungen                       rund um das wahrscheinlich größte Kulturprojekt, das Deutsch-
geändert haben und worin nun die Aufgabe                           land in den letzten Jahrzehnten gesehen hat, beständig
des Humboldt Forums besteht.                                       neue Normalitäten zu realisieren.

                                                                                G R O S S E R KO N V E N T 2 0 2 1                          5
NORMALITÄT ALS EXPERIMENT 1/22 - Schader Stiftung
geschichte der Menschheit aus vielen Perspektiven zu erzählen.
                                                                Das ist ein lobenswerter Gedanke, aber er ist lückenhaft,
                                                                weil wir uns noch einmal mit der Frage der Macht auseinan-
                                                                dersetzen müssen. Wer erzählt die Geschichte, wer ist der
                                                                Erzähler und von wem wird erzählt? Wer hat entschieden,
                                                                dass Afrikanische Kunst als ethnologisch klassifiziert wird?
                                                                Wer hat das Recht, den Anderen auszustellen?“.

                                                                    Das Humboldt Forum steht seitdem an einem Wende-
                                                                punkt, was den Weg angeht, den wir in den nächsten Jahren
                                                                gehen werden. Denn das Forum ist der Ort, an dem wir
                                                                die deutsche Vergangenheit rund um die Kolonialzeit verhan-
                                                                deln müssen und werden. Gemeinsam mit allen Kolleg*innen
                                                                aus dem Haus haben wir uns darauf geeinigt, das Humboldt
                                                                Forum zu einem Ort der Vielstimmigkeit zu machen, an dem
                                                                natürlich auch der Wissensdrang und die Bildungsfragen
                         Aussprache im Plenum:                  der Brüder Humboldt eine Rolle spielen, aber auch einen
                         Roman Schmitz, Dorothea                Ort, an dem dekolonialisiert wird. Und zwar nicht nur, was
                         Kübler und Moderatorin
                         Caroline Robertson-von Trotha          die Exponate angeht, sondern vor allem auch unser Wissen
                                                                und unsere Praxis. Wir sind ein Ort der kulturellen Bildung.
     Sie kennen das Humboldt Forum mit Sicherheit alle aus      Wir wollen barrierefrei, sozial, ökologisch und kulturell nach-
den Schlagzeilen. Wir stehen in den letzten Jahren, eigent-     haltig handeln. Ich als Veranstaltungs- und Theatermacher
lich seit Beginn der Diskussion um die Frage nach dem Ab-       versuche mit unserem Team, das künstlerische performative
riss des Palasts der Republik, ungefähr so in der Öffentlich-   Arbeiten mit der Architektur und den Sammlungen ins
keit da: „Das Berliner Schloss in Nöten“, „Das Luftschloss“,    Verhältnis zu setzen. Bei aller Klarheit wird es dauern, bis
„So schlimm steht es wirklich um das Humboldt Forum“.           wir diesen formulierten Auftrag voll erfüllen werden.
Wir sind also mit einer sehr großen Bürde in der öffentlichen
Wahrnehmung gestartet. Zudem haben wir mit sehr vielen             Der Text dokumentiert in gekürzter Form die Keynote von
aktivistischen Positionen zu tun, die sich vor allem um die     Roman Schmitz anlässlich des Großen Konvents am 29. Oktober
Frage des deutschen Umgangs mit dem Kolonialismus               2021. Der Vortrag ist in voller Länge Bestandteil der Doku-
und der Kolonialität, in der wir noch leben, drehen.            mentation des Großen Konvents der Schader-Stiftung 2021. Ein
                                                                Videomitschnitt des Vortrags findet sich unter:
    Im September 2021 haben wir die Eröffnung der Staatli-
chen Museen zu Berlin gefeiert. Weit im Voraus wussten                           W W W. S C H A D E R - S T I F T U N G . D E / G R KO 2 1
wir, dass der Bundespräsident kommen wird. Und wir haben
Chimamanda Ngozi Adichie eingeladen, eine nigerianische
Schriftstellerin, die eine Eröffnungsrede gehalten hat. Die
                                                                                                                  ROMAN SCHMITZ
Frage, vor der wir in der Konzeption dieses großen Mo-                                                            Geschäftsführender
mentes standen, war: Spielen wir in Richtung der alten Fas-                                                       Dramaturg bei der Stiftung
sade und soll der Bundespräsident den Adler, der auch ein                                                         Humboldt Forum im
                                                                                                                  Berliner Schloss
Macht- und Repräsentationssymbol der Monarchie war, über
sich haben oder müssten wir das Bild drehen? Schlussend-
lich haben wir den Aufbau gedreht. Wir stehen also vor der
modernen Fassade und der Bundespräsident sagt: „Die
Verbrechen der Kolonialzeit, Eroberung, Unterdrückung,
Ausbeutung, Raub, Mord an Zehntausenden von Menschen
brauchen einen angemessenen Ort in unserer Erinnerung.
Wir müssen uns der Verantwortung vor diesem Teil der deut-
schen Geschichte stellen“. Frau Adichie sagt: „Das Hum-
boldt Forum wurde als ein Ort konzipiert, um die Universal-

6                        S C H A D E R - D I A LO G             N O R M A L I TÄT A L S E X P E R I M E N T
NORMALITÄT ALS EXPERIMENT 1/22 - Schader Stiftung
G R O S S E R KO N V E N T 2 0 2 1                    Normalität als Experiment

D I A LO G - CA F É S

Der Große Konvent der Schader-Stiftung bietet in jedem Jahr Persönlichkeiten aus
den Gesellschaftswissenschaften und der Praxis die Möglichkeit, den Status quo
und die Perspektiven des Dialogs zwischen Gesellschaftswissenschaften und Praxis
zu diskutieren.

Ziel ist es, aktuelle sowie kommende Herausforderungen zu formulieren und
daraus Themen und Bedarfe für zukünftige Aufgaben der Gesellschaftswissen-
schaften, aber auch für die konkrete Arbeit der Schader-Stiftung zu explorieren.

Der neunte Große Konvent der Schader-Stiftung tagte am 29. Oktober 2021 mit
rund 150 Personen. In drei Gesprächsrunden in sechs parallelen Dialog-Cafés,
die an Projekte der Stiftung anknüpften, konnten die Teilnehmenden vor Ort im
Schader-Forum und in der Digitalen Dependance Erfahrungen und Ideen, An-
regungen und Erkenntnisse austauschen. Im Zentrum standen dabei die Aufgaben
und Herausforderungen der Gesellschaftswissenschaften in der Diskussion um
das Konventsthema „Normalität als Experiment“.

                                                            D I A LO G - CA F É S                    7
NORMALITÄT ALS EXPERIMENT 1/22 - Schader Stiftung
E X P E R I M E N T E N AT U R G E S E L L S C H A F T

Wäre unsere Art des Wirtschaftens ein Experi-                      bewundern. Im Heimatland gilt ähnliches: Wäre es für den
ment unter Laborbedingungen, hätte man es                          Wald nicht besser, wenn die Menschen zu Hause Entspan-
                                                                   nungstechniken betrieben, als den Wald zu einem Spaziergang
abgebrochen. Marktwirtschaftliche Zielsetzungen                    aufzusuchen? Es muss kein „entweder-oder“ sein: entweder
führen zu rücksichtslosem Verhalten. Entspricht                    Kopf oder Herz! Es kann auch, so die Impulsgeberin Regina
der so entstandene Umgang mit Mitmenschen                          Rhodius, ein „sowohl-als-auch“ zum Ansatz kommen. War-
                                                                   um nicht einerseits auf Emotionen und Intuitionen setzen,
und mit der uns umgebenden Natur einer norma-                      andererseits die Vernunft nutzen?
len Lebensweise? Wie ist auszuhandeln, was
normativ als richtig gilt?                                             Die Diskussion verdeutlicht, dass sich etwas ändern muss
                                                                   und wird. Obwohl niemand über konkrete Vorstellungen
                                                                   einer neuen Normalität verfügt, steht fest: Der Weg dorthin
                                                                   wird herausfordernd, die Aushandlungsprozesse benötigen
    In drei Sessions des Dialog-Cafés diskutierten Teilneh-        eine neue Methodik und sollten partizipativ gestaltet sein.
mende vor Ort und diejenigen, die sich online zugeschaltet         Naturverbundenheit kann dem Prozess zugutekommen.
hatten, über Wirkungen von Selbst-, Real- und Gedanken-            Damit fungiert der sinnliche Zugang zur Natur als transfor-
experimenten, über gewünschte neue Normalitäten sowie              matives Element.
über das Verhältnis von Mensch und Natur. Quintessenz der
abschließenden Diskussionsrunde: Ein sinnlicheres Ver-                  Moderation und Bericht: Dr. Kirsten Mensch
hältnis zur Natur.

    Reicht eine rein rationale Herangehensweise, um umwelt-
bewusstes Verhalten zu fördern? Braucht es nicht vielmehr
einen sinnlichen Zugang zur Natur? Durch einen auch emo-
tional geprägten Austausch mit der Natur ließe sich ein tieferes
Verständnis für natürliche Zyklen gewinnen. Das wiederum
regt zu nachhaltigem Handeln an, bestätigt ein Teilnehmer.
Indigene Kulturen dienen dabei als Vorbild. Sie folgen nicht
dem westlich geprägten Kultur-Natur-Dualismus, sondern
verstehen sich als „eingeboren“ in der Natur. Die Gegen-
                                                                                    MARIUS ALBIEZ                 P R O F. D R . R O G E R
meinung betont, dass eine komplexe Gesellschaft vernünftige,                        Wissenschaftlicher            HÄUSSLING
also begründungsfähige Lösungen benötigt, daher nicht                               Mitarbeiter am Institut für   Professor an der
bei Ansätzen von Naturvölkern stehen bleiben sollte. Der                            Technikfolgenabschätzung      RWTH Aachen
                                                                                    und Systemanalyse
Widerspruch folgt sofort: Die gewünschte Orientierung
„hat nichts mit indigener Romantik zu tun“, sondern bietet
eine nützliche Wissensquelle zur Bewältigung der Klima-
krise. Die Degradierung dieses Wissens ist ein typischer Re-
flex der Vernunftgesellschaft. Indigen geprägte Einstellungen
sind zur Lösung moderner Probleme nützlich: Dafür ist hie-
siges, vor Ort entstandenes Wissen ebenso verwertbar wie
solches von Völkern, die sich seit jeher an Umweltänderungen
anpassen mussten.

                                                                                    DR. REGINA                    P R O F. D R . H A N N A
    Allerdings geht die Sehnsucht nach Naturverbundenheit                           RHODIUS                       ZAPP
nicht automatisch mit umweltfreundlichem Verhalten ein-                             Wissenschaftliche Mitar-      Beraterin für Strategie-
her. Fernreisen dienen oft dazu, die Natur im Zielland zu                           beiterin an der Universität   entwicklung, Mediation
                                                                                    Freiburg                      und Coaching

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NORMALITÄT ALS EXPERIMENT 1/22 - Schader Stiftung
EXPERIMENT ALS INSTITUTION

Welche Ansätze gibt es, die das Experimentieren                        Öffentliche Verwaltungen gelten eher als träge und weniger
zum Normalzustand erheben? Wie gestaltet                           innovationsfreundlich. Doch auch sie müssen sich laufend
                                                                   weiterentwickeln. Herausforderungen sind dabei unter an-
sich das Zusammenspiel von technischen Neu-                        derem die Versäulung, also die strikte hierarchische Zuwei-
entwicklungen und rechtlichen Regelwerken?                         sung von Zuständigkeiten, sowie eine gewisse Risikoaversion
Wie ist es um die Innovationsfähigkeit öffentli-                   innerhalb der Verwaltung. Organisationsübergreifende Pro-
                                                                   jekte, interdisziplinäre Teams und das Aufbrechen von starren
cher Verwaltungen bestellt? Unter welchen                          Hierarchien sind mögliche Treiber einer agilen anpassungs-
Voraussetzungen lassen sich Experimente in                         und innovationsfähigen Verwaltung. Allerdings muss eine
stadtplanerische Prozesse einbringen?                              Balance zwischen Innovation und Stabilität hergestellt
                                                                   werden, um eine gewisse Akzeptanz zu generieren.

                                                                       In der Bauwirtschaft und Stadtplanung werden innovati-
    Die Suche nach Lösungen für neue Herausforderungen             ve Herangehensweisen und Experimente aufgrund immer
und die Etablierung von Verbesserungen des Status quo              höherer ökologischer und sozialer Anforderungen sowie des
führen oft zur Erprobung von Neuerungen in modellhaften            erhöhten öffentlichen Bewusstseins zunehmend zur Nor-
Experimenten und Laboren, bevor sie regulativ zum Stan-            malität. Daher wird es immer wichtiger, sowohl die Privat-
dard erhoben werden. Bei technischen Innovationen wird             wirtschaft als auch zivilgesellschaftliche Akteur*innen in
das Recht laufend angepasst, um im Idealfall diejenigen            Planungsprozesse miteinzubeziehen. Prozessbegleitende Eva-
zu schützen, die durch disruptive Veränderungen und deren          luationen ermöglichen darüber hinaus die Bewertung und
Risiken tangiert werden. Neue rechtliche Instrumente tra-          Adaption von Methoden und Verfahren während der jeweiligen
gen dazu bei, Innovationen verträglich in bestehende Gesell-       Projekte, sodass die Experimente flexibel und responsiv
schaften zu integrieren – und beschränken damit nicht              gestaltet werden können.
Innovation, sondern fördern ihre Adaption. Gerade technische
Entwicklungen erfordern jedoch vielfach konfliktreiche Aus-             Moderation und Bericht: Tatiana Soto Bermudez
handlungsprozesse, die ein gewisses technisches Verständnis
voraussetzen, über das Jurist*innen aber häufig nicht in
ausreichendem Maß verfügen. In der Folge müssten sich die
Rechtswissenschaften interdisziplinärer aufstellen sowie
stärker mit technischen und politikwissenschaftlichen Fach-
gebieten vernetzen.

P R O F. D R . D R .      P R O F. A N S E L M     P R O F. D R . G I S E L A   D R . M AT T H I A S      P R O F. J U L I A N
JÜRGEN ENSTHALER          H AG E R P H . D.        KUBON-GILKE                  SCHULZE-BÖING             WÉKEL
Professor an der          Juniorprofessor an der   Professorin an der           ehem. Amtsleiter der      Leiter des Instituts für
Technischen Universität   Humboldt-Universität     Evangelischen                Stadt Offenbach           Städtebau und Wohnungs-
Berlin                    zu Berlin                Hochschule Darmstadt                                   wesen München

                                                                                D I A LO G - CA F É S                           9
NORMALITÄT ALS EXPERIMENT 1/22 - Schader Stiftung
VERHANDLUNGEN ÜBER
N O R M A L I TÄT

In unserer Gesellschaft gibt es einen vermeint-                            Riskant wird es, wenn konsumierte Informationen di-
lich breiten Konsens, was Normalität bedeutet.                         rekte Auswirkungen haben und beispielsweise das Vertrauen
                                                                       in demokratische Strukturen untergraben, indem vermittelte
Das Narrativ wird vor allem in den Sozialen                            Verschwörungstheorien zentrale gesellschaftliche Wertori-
Medien gefüllt. Interessant ist, wer dort über                         entierungen in Frage stellen.
Diskursmacht verfügt. Finden gesellschaft-
                                                                           Medienwandel und die erweiterten Kommunikationswege
liche Aushandlungsprozesse darüber, was als                            haben den klassischen Journalismus verändert. Die Rezi-
Normalität gilt, überhaupt statt?                                      pient*innen – das Publikum – richten neue Erwartungen an
                                                                       journalistische Leistungen, etwa im Hinblick auf Transpa-
                                                                       renz, Partizipation oder Dialogbereitschaft. Während Jour-
    Im letzten Jahrzehnt hat sich die Bedeutung von Medien             nalist*innen früher ein eher festes Publikum für ihr Medi-
verlagert. Ein Großteil der Bevölkerung, 69 Prozent, sieht             um hatten, teilt man sich seine Zielgruppe heute mit vielen
zwar das Fernsehen weiterhin als Hauptinformationsquelle.              anderen Akteuren.
Zum ersten Mal geben aber genauso viele Befragte das
Internet als Referenz an. Eine stärker durch Digitalisierung                Doch wem kommt die Deutungsmacht in der Frage zu,
geprägte Gesellschaft ist entstanden, in der Communities               was die Gesellschaft als normal bewertet? Deutungshoheit
mit ähnlichen Interessen sich viel leichter untereinander ver-         wird oftmals durch die Normvorstellungen einer Mehrheit
netzen, aber auch von anderen erreicht werden können. Gate-            generiert. Vor allem das eigene Verständnis von Normalität
keeper, also Informationsträger*innen und -verbreiter*innen,           ist aber eine stark subjektiv geprägte Wahrnehmung. Dem-
klassischerweise verkörpert durch Journalist*innen, verlieren          nach ist es ratsam, Normen nicht einfach als gegeben hinzu-
an Bedeutung. In der Folge ist die Filterung der Informa-              nehmen, sondern deren Herkunft und Kern zu hinterfragen.
tionen nach Qualitätsstandards, traditionell eine Funktion             Auch im digitalen Raum können Veränderungen stattfinden:
der Gatekeeper, nicht oder nur im begrenzten Maße ge-                  etwa im Fall von Algorithmen, die aus vergangenen Mustern
währleistet. Umso wichtiger ist es, nicht nur frühzeitig die           lernen und Ungleichheiten reproduzieren. Um solche Struk-
Medienkompetenz der jüngeren wie auch der älteren Ge-                  turen zu durchbrechen, sind andere Lernmethoden für Algo-
nerationen zu fördern – vielmehr braucht es Fähigkeiten wie            rithmen nötig. Zentral für alle genannten Aspekte der Wahr-
das medienübergreifende Bewerten von Inhalten. Menschen                heitswahrnehmung und -findung in der eigenen Normalität
bilden sich anhand ihrer persönlichen Informationswirklich-            ist aber: Kommunikation.
keit auch ihre eigene Vorstellung zu Normalität.
                                                                            Moderation und Bericht: Dr. Michèle Bernhard

A S S . P R O F. D R .     DR. LENA                      ALEXANDER                      P R O F. D R .
R I CA R DA D R Ü E K E    FRISCHLICH                    G E M E I N H A R DT           W I E B K E LO O S E N
Assistenzprofessorin an    Forschungsgruppen-            Geschäftsführender             Senior Researcher am
der Universität Salzburg   leiterin an der Universität   Vorstand der Schader-          Leibniz-Institut für
                           Münster                       Stiftung                       Medienforschung und
                                                                                        Professorin an der
                                                                                        Universität Hamburg

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D I A LO G : D R E I E X P E R I M E N T E

Erfahrungen, die uns während eines Experiments                      Wieder im Hellen soll die Normalität des Dialogs aufge-
zuteilwerden, sind eindrücklicher als eine Aus-                 brochen werden. Das Gespräch soll alles sein, nur nicht sta-
                                                                tisch. „Theoretische Auseinandersetzungen bringen uns jetzt
einandersetzung mit der Theorie. Wer über Nor-                  mal nicht weiter“, so Improvisationskünstler Bernhard
malitäten und Experimente spricht, ist gut be-                  Mohr. Kaum gesagt, schon gefehlt. In wissenschaftlicher Ma-
raten, zeitweise aus der eigenen Normalität aus-                nier fallen die Teilnehmenden schnell zurück gewohnte
                                                                Schemata und betreiben Begriffsdefinition. Können wir Bie-
zubrechen. So zeigt das Dialog-Café „Drei Ex-                   nen als Haustiere gelten lassen? Ja, warum denn nicht? Die
perimente“ andere Wege der Kommunikation                        Praxis des Improvisationstheaters definiert Gesprächssituati-
mit einer neuen Perspektive für den Dialog.                     onen als bewusstes Schwimmen. „Wir gehen auf die Bühne
                                                                und wissen nicht, was passiert. Mit dieser Situation gehen
                                                                wir dann um und bauen Geschichten.“ Das kreative Mo-
                                                                ment, das in dieser Spontanität liegt, kann vieles freilegen.
    Ich fühle Enge, Trubel und habe das Gefühl, meinen Kopf     Und das sollen wir im Kommunikationsexperiment, das
einziehen zu müssen, damit ich ihn nicht stoße. Ich kann        Themen wirklich auf den Kopf stellt, genauer erfahren: Wir
mich nur schwer orientieren. Ich bin aufgeregt, habe das für    erreichen eine gewisse Leichtigkeit, gewinnen Abstand von
mich Gewohnte verlassen und mit meiner Normalität ge-           der eigenen Normalität und können den Dialog auch für an-
brochen. Ich möchte mich auf dieses Experiment einlassen.       dere Zugänge und unvorhergesehene Perspektiven öffnen.
Ich atme durch. Ich befinde mich im „Dialog im Dunkeln“.
„Für mich ist das, was für Sie gerade ungewohnt ist, nämlich       Moderation und Bericht: Laura Pauli
nichts zu sehen, ganz normal“, berichtet Dörte Maack,
Autorin und Coach. „Anders als Sie sehe ich auch kein
Schwarz, sondern nichts.“ Sie weist uns an, einen Moment
lang zu schweigen und diesen Moment, die Dunkelheit,
uns selbst und unsere Gedanken wahrzunehmen und zu be-
obachten.

    Eine wichtige Regel lautet: Wir müssen sprechen. Wer im
Dunkeln nicht spricht, existiert nicht. In einer Kommuni-
kationsübung zu zweit lerne ich sofort, dass es keinen Sinn
ergibt, mich weiter zu hinterfragen, ob ich nun die richtigen               D Ö RT E M A AC K         BERNHARD MOHR
                                                                            Moderatorin, Coach        Diplom-Schauspieler,
Worte finde, um Oberflächen und Formen zu beschreiben.                      und Rednerin              Regisseur und Theater-
Wichtig ist es, überhaupt zu sprechen und sich mit dem                                                pädagoge
Partner oder der Partnerin im Dialog einem gemeinsamen
Verständnis anzunähern. Unser Gespräch stockt immer
wieder kurz – und scheitert auf eine produktive Weise, weil
unsere Kategorien nicht übereinstimmen. Sukzessive An-
näherung, langsam, aber sicher werden wir schneller und
verbessern unsere gemeinsame Vorgehensweise während
der Übung spürbar. Erfolg stellt sich ein. Ehe wir wieder ins
Licht treten, versuche ich kurz meine Gefühle zu ordnen.
Ich bin erstaunlich ruhig, fühle mich sicher und bin stolz,
diese Aufgabe gemeistert zu haben.                                                                    PHILIPP SCHULZ
                                                                                                      Doktorand am Geogra-
                                                                                                      phischen Institut der
                                                                                                      Universität Heidelberg

                                                                            D I A LO G - CA F É S                              11
T R A N S F O R M AT I O N D E R
N O R M A L I TÄT

Das Anthropozän zeichnet sich durch ein konti-                        In der abschließenden Session zeigt sich, wie nachhaltige
nuierliches Überschreiten der planetaren Belas-                   Transformation ganz konkret in einem Unternehmen aus-
                                                                  sehen kann. Dabei verfolgt Fischer, ein produzierendes Un-
tungsgrenzen aus. Die Weltgemeinschaft steht                      ternehmen, einen induktiven und pragmatischen Ansatz.
damit vor großen Herausforderungen, es braucht                    In der Aufstellung entlang Nachhaltigkeitsthemen wird auch
eine Transformation der bestehenden Produk-                       ein Beitrag zur künftigen Wettbewerbsfähigkeit gesehen.
                                                                  Das Unternehmen hat für den Wandlungsprozess einen Nach-
tions- und Konsummuster. Wie können Verände-                      haltigkeitskompass entwickelt, der es erlaubt, einzelne
rungen im Denken, Handeln und Wirtschaften                        Maßnahmen jeweils mit messbaren Indikatoren zu hinterle-
erreicht werden?                                                  gen. Durch Datenbanken und Monitoringsysteme kann die
                                                                  Unternehmensleitung erkennen, welche Ziele schon erreicht
                                                                  sind und wo noch Verbesserungsbedarf besteht. Zudem er-
    Die kritische Auseinandersetzung mit der komplexen Aus-       laubt es eine monetäre Ausweisung der Wirkung einzelner
gangslage von Transformationsvorgängen ist elementar,             Projekte. Ein kontinuierliches Experimentieren und Weiter-
insbesondere eine gründliche Analyse des Problems und mög-        entwickeln wird so zur Norm.
licher Handlungsoptionen. Die Akteur*innen im Prozess
sind im besten Fall sehr divers, damit viele Gruppen mitdis-           Moderation und Bericht: Karen Lehmann
kutieren und ein Silo-Denken, welches zu einseitigen Lö-
sungen führt, vermieden wird. Gerade Widerstände können
sehr hilfreich bei der Verbesserung von Vorschlägen sein.
Fragestellung und Problemverständnis in Zusammenarbeit
mit diesen Akteur*innen zu entwickeln, ermöglicht das
Sprechen auf Basis einer gemeinsamen Realität. Eine gelun-
gene Transformation, so die Teilnehmenden der ersten
Session des Dialog-Cafés, basiert auf diesen Analysen, um
nicht etwa Probleme zu lösen, die keiner kennt.

    Hilfreich, so zeigt die zweite Session, können Reallabo-
                                                                                   D R . KO R A K R I S T O F    P R O F. D R . - I N G .
re sein. Ziel ist nicht nur, aus verschiedenen Wissensbeständen                    Abteilungsleiterin im         URSULA STEIN
robustes Wissen zu entwickeln, welches die beteiligten                             Umweltbundesamt               Honorarprofessorin an
                                                                                                                 der Universität Kassel und
Akteur*innen aus Wissenschaft und Praxis anwenden können.
                                                                                                                 Büro Stein, Stadt- und
In einem Reallabor werden Dinge ausprobiert, die funktio-                                                        Regionalplanung
nieren oder auch nicht – ein inhärentes Risiko dieser trans-
disziplinären Experimentierräume. Denn sie bewegen sich
in Bereichen, in denen nach Lösungen gesucht wird und
nicht bereits welche bereitstehen, die es zu beweisen gilt. Es
ist wichtig, dass Projektpartner*innen aus Wissenschaft
und Praxis den experimentellen Ansatz und das damit einher-
gehende Risiko ernst nehmen und akzeptieren. Mit einer
fundierten wissenschaftlichen Begleitung können sich auch
andere Akteur*innen auf das Experimentieren einlassen
und in ihren Organisationen eine konstruktive Fehlerkultur                         M AT T H I A S WA N N E R     CHRISTIAN
leben und fördern.                                                                 Wissenschaftlicher            ZIEGLER
                                                                                   Mitarbeiter am Wuppertal      Nachhaltigkeitsmanager
                                                                                   Institut für Klima, Umwelt,   bei der Unternehmens-
                                                                                   Energie                       gruppe Fischer

12                        S C H A D E R - D I A LO G              N O R M A L I TÄT A L S E X P E R I M E N T
DIE DOMINANTE
N O R M A L I TÄT

Der Status quo, die Orientierung an Normalem                               Die zweite Session zeigt dann, dass eine Ungleichheit in
bringt notwendigerweise ein Machtgefälle mit                           den wenigsten Fällen isoliert besteht. Benachteiligungen
                                                                       müssen intersektional, als mit der Gleichzeitigkeit verschie-
sich, anhand dessen entschieden wird, wer und                          dener Diskriminierungskategorien, gedacht werden – ob
was in das Spektrum der Normalität fällt und                           anhand religiöser, sexueller, sozioökonomischer oder anderer
wer außen vor bleibt. Wenn Normalität das                              Kriterien. Viele Betroffene machen Diskriminierungserfah-
                                                                       rungen auf unterschiedlichen Ebenen. Hier gilt es, Allianzen
Selbstverständliche, das Erwartbare ist, wer be-                       auch über die eigene Gruppe hinaus zu bilden und inter-
stimmt den Diskurs, wer diktiert die Ansätze,                          sektionale Zusammenhänge aufzuzeigen, ebenso im Dialog
die das Experiment zum Regelfall erheben?                              mit der Mehrheitsgesellschaft. Dabei kann auch der Über-
                                                                       schuss an Privilegien verdeutlicht werden, den jener Teil der
                                                                       Gesellschaft genießt. Es gilt, sich Abwertungen oder Zu-
    Existieren strukturelle Dominanzverhältnisse, bestimmen            rücksetzungen in gesellschaftlicher Breite entgegenzustellen.
sie unsere Normalitäten und wie kann ihnen entgegenge-                 Ganz besonders, wenn es um subtile Formen der Herab-
wirkt werden, wenn daraus Ungleichheiten und Diskriminie-              wertung geht, wenn Mikroaggressionen und Vorurteile immer
rungen resultieren? Die erste Session des Dialog-Cafés                 wieder prominent Eingang in Debatten finden und dort
blickt auf die historische Entstehung und Reproduktion von             reproduziert werden.
Abhängigkeitsverhältnissen, die vor allem Gesellschaften
des Globalen Nordens bis in die Gegenwart prägen. Histo-                   Selbstreflexion und die Auseinandersetzung mit der eige-
risch gewachsen schafft Macht Normalität, manifestiert                 nen Identität können Sicherheit in der Bewertung ausgren-
sich in Menschen und migriert weltweit. Dennoch unterschei-            zender Situationen bieten, so der Tenor der dritten Session
den sich historische Normalitäten im absoluten, globalen               des Dialog-Cafés. Die Existenz von Auswegen aus der
Machtgefälle. Während Ungleichheiten innerhalb westlicher              Spirale von Diskriminierung und Herabwürdigung, um die-
Bevölkerungen zwar weiterhin erkennbar sind und es der                 sen aktiv zu entkommen und Angriffsflächen abzubauen,
kritischen Auseinandersetzung damit bedarf, bieten sie ihren           ohne sich dabei von der eigenen Herkunft distanzieren zu
Bewohner*innen große Chancen politischer Freiheit und                  müssen, wurde diskutiert. Erkennbar wurde ein Gestal-
ökonomischer Selbstentfaltung. Sozialer Aufstieg ist, auch             tungsspielraum jedes Individuums sowie auch die Möglich-
bei den gegenwärtig berechtigten Verweisen auf systemische             keit aller, den Ort, an dem sie leben – ganz unabhängig
Diskriminierung, der im Übrigen ein momentan hohes Ni-                 von der eigenen Geschichte – mitzuprägen.
veau an Aufmerksamkeit zukommt, weiterhin möglich.
                                                                           Moderation und Bericht: Dennis Weis

P R O F. D R .               P R O F. D R .              S A L M A N T Y YA B        KO R AY Y I L M A Z -
M A N U E L A B O AT C Ă     C A R O L I N E Y.          Fernsehjournalist, Unter-   G Ü N AY
Professorin an der Albert-   R O B E R T S O N -V O N    nehmer und Kommunikati-     Co-Geschäftsführer der
Ludwigs-Universität          T R OT H A                  onsberater                  Dachorganisation Migra-
Freiburg                     ehem. Karlsruher Institut                               tionsrat Berlin
                             für Technologie (KIT)

                                                                                     D I A LO G - CA F É S                        13
JUST – DESIGN FOR
T R A N S F O R M AT I O N

Wie kann Design gerechter, nachhaltiger und inklusiver werden? Welche Rolle
spielt Diversität und Gendergerechtigkeit zukünftig beim Gestalten unserer
digitalen und analogen Welt? Die Schader-Stiftung veranstaltete dazu im
Oktober 2021 eine Konferenz mit der Hochschule Darmstadt und präsentierte
in der Schader-Galerie Arbeiten junger Designer*innen.

     Design beschreibt eine Disziplin und Kompetenz, die auf    für die menschengerechte Ausgestaltung einer neuen Zukunft
sämtlichen Ebenen des öffentlichen und privaten Lebens –        deutlich gemacht, basierend auf der Trias Nachhaltigkeit,
in der Kommunikation, im Produktdesign oder der Stadtpla-       Inklusivität und Ästhetik.
nung – ihre Wirkung entfaltet. Gerade deshalb ist die Ausein-
andersetzung um eine gerechte Verteilung und Gestaltung von         Wie lassen sich Gendergerechtigkeit und Diversität desig-
Zugängen und Ressourcen für ein soziales Miteinander zen-       nen? Wo bleibt Genderdiversität implizit oder explizit bis
tral. Auch die Europäische Union hat mit der Verabschiedung     heute unterthematisiert- und repräsentiert? Wie verhält sich
der „New European Bauhaus Initiative“ im Rahmen der             Design aktuell zum Thema Intersektionalität? Benötigen wir
Green Deal-Vereinbarung die Relevanz von Design und Kunst       vielleicht eine Art ethischen Code im Design für Gerechtig-

14                       S C H A D E R - D I A LO G             N O R M A L I TÄT A L S E X P E R I M E N T
keit und Inklusivität? Bisher sind in Deutschland Initiativen,
die sich für mehr Diversität und Gendersensibilität im De-
sign engagieren, vor allem in akademischen Designkreisen,
stark unterrepräsentiert. Das iGDN – international Gender
Design Network mit Sitz in Köln ist eine dieser Initiativen.
In Kooperation mit dem Institut für Designforschung der
Hochschule Darmstadt (h_da) veranstaltete die Schader-
Stiftung am 14. und 15. Oktober 2021 eine Konferenz,
um gezielt einen interdisziplinären Diskurs zum Thema
„Gendergerechtigkeit, Diversität und Inklusivität im Design“
zu adressieren. Im Fokus standen Forschungsprojekte und
innovative Ansätze aus der Praxis, die sich mit der Aufarbei-
tung bisher unterrepräsentierter oder kaum registrierter
genderrelevanter Fakten auseinandersetzen.

    Begleitend zur Konferenz fand in der Schader-Galerie die
Ausstellung „just – design for transformation“ statt. Vom         Ende November 2021 vom iGDN für herausragendes gender-
22. Oktober bis 12. November 2021 wurden Arbeiten von elf         sensibles Design verliehen wurden. Die Form der Trophäe
angehenden und jungen Designer*innen präsentiert, die             ist an die eines Seesterns angelehnt: „Seesterne können ihr
sich den Themen der Diversität, Gendergerechtigkeit und Inter-    Geschlecht ihrem Alter oder auch ihrer Umgebung anpassen“,
sektionalität im Design widmen, kuratiert von Julia-Constance     so die Designerin Naama Agassi. Begleitend informierte ein
Dissel, Koordinatorin der Forschungsschwerpunkte Gen-             Film über den Design- und Herstellungsprozess der Trophäen
der & Design und Designphilosophie am Institut für Design-        sowie über prämierte Projekte der vergangenen Jahre.
forschung der Hochschule Darmstadt und Gastprofessorin
an der Hochschule für Gestaltung Offenbach. Sie hatte auch           Mit der Ausstellung hat die Schader-Galerie nach längerer
das Programm der Konferenz mitgestaltet. Im November              pandemiebedingter Pause spannende Arbeiten präsentieren
konnten Interessierte die Ausstellung besuchen und an Füh-        können, die einen Impuls für mehr Diversität im Design setzen.
rungen teilnehmen.
                                                                               W W W. S C H A D E R - S T I F T U N G . D E /
   Plakate, Objekte, Dokumentationen und Videos gaben                          AU S S T E L L U N G - D I V E R S I T Y- D E S I G N
Einblick in themenbezogene Aktivitäten und sollten zum
Austausch anregen. Gezeigt wurden kritische Arbeiten und
Designideen etwa zur Inklusivität und Gendersensibilität
im öffentlichen Raum, zum Markt der Frauengesundheits-
produkte, zu Intersektionalität und genderneutralen Spiel-
zeugen für Kinder.

    Eine der ausgestellten Arbeiten zeigte beispielsweise einen
genderneutralen Nassrasierer, den die Industriedesignerin
Teresa Novotny im Rahmen ihrer Diplomarbeit an der h_da
als nachhaltige Alternative zu stereotypen, rosa oder blauen
Rasierern entwickelt hat. Die Industriedesignerin Anis Looalian
präsentierte ihre Entwürfe zu „Gender Glitch“, etwa „Ge-
schlechterstörung“. Ihre Arbeiten sollen als Störimpulse fun-
gieren, um Geschlechterverhältnisse zu destabilisieren und                                                 TAT I A N A S O T O
die Veränderbarkeit gesellschaftlicher Machtverhältnisse er-                                               BERMUDEZ
                                                                                                           Wissenschaftliche
fahrbar zu machen.                                                                                         Referentin der
                                                                                                           Schader-Stiftung
    Das iGDN – international Gender Design Network hatte
drei der fünf Trophäen des iphiGenia Gender Design Awards
2021 als Leihgabe zur Verfügung gestellt, die anschließend

                                                                              D E S I G N F O R T R A N S F O R M AT I O N             15
ZU KU N F T D E R
I N N E N S TÄ D T E U N D
ORTSKERNE

Innenstädte und Ortszentren müssen sich den vielfältigen Herausforde-
rungen stellen, die durch gesellschaftliche und klimatische Veränderungs-
prozesse geprägt sind. Welche neuen Ideen gibt es, um die Zentren zu
aktivieren und wie können einzelne Bausteine dafür aussehen? Die IHK
Darmstadt Rhein Main Neckar und vier südhessische Gemeinden sahen
besonders dringenden Verständigungs- und Handlungsbedarf:
Bensheim, Dieburg, Erbach und Michelstadt.

    Nicht erst seit der Corona-Pandemie stehen die Kommunen     ausgewählte Kommunen zu einem Szenarioprozess eingela-
vor der Herausforderung, ihre Innenstädte und Ortskerne         den, die einen besonderen Bedarf in Bezug auf die Reaktivie-
angesichts gesellschaftlicher und klimatischer Veränderungen    rung ihrer Innenstädte signalisiert hatten.
zukunftsorientiert zu gestalten. Der Einzelhandel ist unter
Druck geraten und wird voraussichtlich nicht mehr der Bezugs-       Vertreter*innen der südhessischen Kommunen Bensheim,
punkt sein, um Innenstädte zu besuchen. Auch der Klima-         Dieburg, Erbach und Michelstadt erarbeiteten gemeinsam
wandel setzt den Innenstädten zu: genannt sei nur das Stich-    mit Expert*innen in drei Workshops systematisch nachhaltigere
wort Hitzeinseln. Ein Nachdenken über gestalterische Möglich-   und zukunftsgerichtete Lösungskonzepte für die Herausfor-
keiten ist gefragt, um dem entgegenzuwirken. Im Rahmen          derungen der Innenstädte und Ortskerne. Die Methode der
des Projekts „Systeminnovation für Nachhaltige Entwicklung      Szenariotechnik erlaubt es, komplexe Fragestellungen ge-
(s:ne)“ der Hochschule Darmstadt hat die Schader-Stiftung       meinsam zu entwickeln, Visionen zu entwerfen und am Ende
gemeinsam mit der IHK Darmstadt Rhein Main Neckar vier          Handlungsstrategien zu formulieren. Dazu werden äußere

16                       S C H A D E R - D I A LO G             N O R M A L I TÄT A L S E X P E R I M E N T
Einflüsse identifiziert und analysiert, dann im Zusammenwir-        R E S Ü M E E AUS D E R P RA X I S
ken aller Beteiligten alternative, konsistente Zukunftsbilder
für ein festgelegtes Thema entwickelt. Als äußere Faktoren,
die nicht von den Kommunen selbst verändert werden kön-             Frank Haus, Bürgermeister der Stadt Dieburg,
nen, kristallisierten sich etwa der Klimawandel, das Mobilitäts-,   gibt eine Einschätzung zu Verlauf und Ergeb-
Konsum- und Freizeitverhalten, die wirtschaftliche Entwick-
lung und die Vergabeauflagen für öffentliche Fördermittel he-
                                                                    nissen des Szenarioprozesses.
raus. Während intensiver Gruppenarbeitsphasen wurden die
Ist-Situation und vorstellbare Zukunftsperspektiven bis zum             Die Workshopreihe hat für die Stadt Dieburg eine Platt-
Jahr 2035 diskutiert. Methodische Vorgabe war, frei und             form geboten, sich angeleitet und mit fachlicher Unter-
möglichst in verschiedene Richtungen, dabei kreativ und visi-       stützung auch einmal mit unbequemen Zukunftsszenarien
onär zu denken. So wurde das Freizeitverhalten im Jahr 2035         auseinanderzusetzen. Die Vorstellungen zur Zukunft der
als rein digital projiziert, oder das Mobilitätsverhalten multi-    Innenstadt sind in unserer Stadt bislang stets von Optimismus
modal – diverse Verkehrsmittel nutzend – und auf Leihbasis.         getragen worden. Hier nun auch einmal den Blick auf tat-
Diese „Vorausschau“ umfasste auch eine Prognose im Hin-             sächlich nicht unrealistische nachteilige Entwicklungen zu rich-
blick auf zukünftige Gesetze und Vorgaben von Bund und              ten, erfordert eine gänzlich andere Herangehensweise in der
Ländern, die entweder als eher deregulierend beziehungsweise        Form einer steuernden und intervenierenden Rolle der Stadt
als weiterhin stark regulierend eingestuft wurden.                  und weniger des bislang praktizierten bloßen Begleitens.

    Aus dieser Vielfalt möglicher Zukünfte wurden zwei Sze-             Aufgrund der heterogenen Zusammensetzung der Ar-
narien entwickelt und in einem weiteren Workshop vertiefend         beitsgruppen ist es möglich gewesen, die Denkmodelle aus
diskutiert. Dabei stand die Frage im Vordergrund, welche            den verschiedensten Richtungen zu diskutieren und zu
Chancen und Risiken jedes der Szenarien für die Innenstädte         bewerten. Besonders spannend war hierbei die unterschied-
bereithält. Nach diesen eher abstrakten Reflexionen waren           liche Herangehensweise der Akteure aus dem Gewerbe,
die Teilnehmenden hoch motiviert, als es im abschließenden          der Verwaltung und aus dem Bereich des Klimaschutzes. Hier
Workshop mit der Ausarbeitung von Roadmaps konkret                  traten letztendlich erstaunlich viele Schnittmengen zutage,
auf die Handlungsebene ging. Erste Schritte: Erbach wird            die wir vorab nicht erwartet hätten. Die Ergebnisse des Work-
Blühwiesen säen, Bensheim und Dieburg entwerfen Klima-              shops werden nun ein Ausgangspunkt für die weitere stra-
anpassungskonzepte. Wie sich gezeigt hat, erlaubt die Sze-          tegische Ausrichtung der Innenstadtentwicklung und der da-
nariotechnik die Bewertung von Chancen, Risiken und                 mit verbundenen lokalen politischen Diskussion sein. Für
Ereignissen, welche mittel- bis langfristig eintreten können:       Dieburg war das Angebot der Schader-Stiftung eine wertvol-
eine Grundlage, um bereits frühzeitig strategische Hand-            le Bereicherung unseres Erfahrungsschatzes.
lungsmöglichkeiten abzuleiten. Daneben war für die teilneh-
menden Kommunen der Erfahrungsaustausch besonders
wichtig – den die Schader-Stiftung auch über den Prozess
hinaus fortführen wird.

             W W W. S C H A D E R - S T I F T U N G . D E /
             Z U K U N F T I N N E N S TA DT

                                                                                 DR. MICHÈLE                        FRANK HAUS
                                                                                 BERNHARD                           Bürgermeister der
                                                                                 Wissenschaftliche                  Stadt Dieburg
                                                                                 Referentin der Schader-
                                                                                 Stiftung

                                                                                 Z U K U N F T D E R I N N E N S TA D T                 17
I N F O R M AT I O N schader-stiftung.de

P R OJ E KT E
2021/2022
Die Schader-Stiftung fördert seit über 30 Jahren
die Gesellschaftswissenschaften. Ihr Anliegen
ist es dabei, den Praxisbezug der Gesellschafts-
wissenschaften und deren Dialog mit der Praxis
                                                   EXLIBRIS
zu stärken. Zu diesem Zweck stellt die Schader-
Stiftung den Schader-Campus in Darmstadt               Wem gehört ein Buch? Früher erkennbar an dem „Ex
zur Verfügung und begleitet die Dialogprojekte     Libris“-Einleger, machen wir uns in der Reihe ExLibris heute
                                                   Werke zu eigen, deren Autorinnen und Autoren der Schader-
als Vermittlerin und Moderatorin.                  Stiftung inhaltlich und auch persönlich verbunden sind.
                                                   Mit Gästen aus Wissenschaft und Praxis besprechen wir aktu-
Schwerpunkte der Förderung setzen jeweils die      elle Publikationen zu gesellschaftswissenschaftlichen The-
                                                   men. Das Spektrum der fünf Abende seit Oktober 2020 ist
Themen des Großen Konvents der Schader-            weit gefasst: Öffentliche Soziologie, Heimat und Migration,
Stiftung, zuletzt „Normalität als Experiment“ im   dann ein Blick auf heimische Gewässer und Klimawandel
Jahr 2021 und „Liberté – Égalité – Solidarité.     sowie ein kritischer Diskurs zu Fragen der Digitalisierung.

Gesellschaftlicher Zusammenhalt im Stresstest“          Gemeinsam mit den Autor*innen laden wir interessante
als Konventsthema 2022. Hierzu sind Anre-          Gesprächspartner*innen ein, die den Themen eine weitere
gungen und Anträge besonders willkommen.           Perspektive geben können. Gestreamt werden die Abende
                                                   live aus Haus Schader, und das stetig wachsende Publikum
                                                   hat die Möglichkeit, sich aktiv über den Chat an der Veran-
Ausführliche Dokumentationen der hier in Aus-      staltung zu beteiligen. Lars Hennemann, Chefredakteur
wahl vorgestellten Veranstaltungen finden sich     der Rhein-Zeitung (Koblenz), moderiert.

unter www.schader-stiftung.de                          Zuletzt sprach am 22. November 2021 die Journalistin
                                                   Canan Topçu mit Professor Joachim Bauer von der Interna-
                                                   tional Psychoanalytic University Berlin über ihr Buch „Nicht
                                                   mein Antirassismus“, eine Spurensuche ihrer ganz persön-
                                                   lichen Identitätsentwicklung sowie ein Plädoyer gegen Denk-
                                                   verbote und Tabus und für den Dialog. Dieser Abend wurde
                                                   durch das Landesprogramm „WIR“ gefördert.

                                                                    W W W. S C H A D E R - S T I F T U N G . D E / E X L I B R I S

18                  S C H A D E R - D I A LO G     N O R M A L I TÄT A L S E X P E R I M E N T
EINIGKEIT UND RECHT                                                 Im Rahmen des Planspiels schlüpften sicherheitspolitische
AUF GLEICHHEIT                                                  Laien in die Rolle der Bundesregierung. Unterstützt von
                                                                fachkundigen Mentorinnen und Mentoren entwickelten sie
    „Strategien gegen soziale Ungleichheiten“ waren Thema       in Ressortbesprechungen einzelner Ministerien – Auswär-
des dritten h_da Dialog-Forums „Einigkeit und Recht auf         tiges Amt und Verteidigungsministerium – Strategien, stimm-
Gleichheit“ am 17. November 2021, zu dem Schader-Stiftung       ten diese miteinander auf „Staatssekretärsebene“ ab und
und Hochschule Darmstadt (h_da) eingeladen hatten. Die-         trugen sie am Ende dem oder der „Bundeskanzler*in“ zur
ses Format bringt Expertinnen und Experten aus Technik-         Entscheidung vor.
und Gesellschaftswissenschaften mit interessierten Bürge-
rinnen und Bürgern zusammen. Jutta Träger, Professorin an           Das Konzept des Planspiels entwickelte Björn Hawlitschka
der h_da, gab eine Einführung. Ein Vortrag von Professor        von der Fachwerkstatt Sicherheit. Es wurde mit Engage-
Harald Welzer sowie eine Podiumsdiskussion schlossen sich an.   ment und Begeisterung aufgenommen, und zwar sowohl un-
                                                                ter den Laien als auch den Fachleuten. Die Ergebnisse, die
     Harald Welzer, Soziologe und Direktor der Stiftung         sich in den Ministerien und interministeriellen Runden ab-
FUTURZWEI, schlug in seinem Vortrag den Bogen von der           zeichneten, beeindruckten auch diejenigen, die in Wissen-
historischen Ausgangslage des westdeutschen Sozialstaats        schaft und Praxis reale sicherheitspolitische Diskurse miter-
zu heutigen Problemen gesellschaftlichen Zusammenhalts,         leben. Das Ziel der Kooperationspartner, der Goethe-Uni-
die mit dem Ausmaß sozialer Ungleichheit zusammenhän-           versität Frankfurt am Main, der Stiftung Wissenschaft und
gen. Eine Begründung zur Einführung des Sozialstaats stellten   Demokratie in Kiel und der Schader-Stiftung, wurde er-
die Totalitarismen des 20. Jahrhundert dar. Durch staat-        reicht: Sicherheitspolitische Laien führen strategische Über-
liche Leistungen und die biographischen Möglichkeiten zum       legungen durch, die sich an der Realität orientieren.
Aufstieg wurde eine Systemzustimmung erreicht, die zu-
dem soziale Ungleichheiten abbaute. Heute hingegen geht es                  W W W. S C H A D E R - S T I F T U N G . D E /
allenfalls darum, bestehende Ungleichheiten nicht zu ver-                   SICHERHEITSPOLITIK
tiefen; Aufstiege sind für Angehörige prekär lebender Gruppen
kaum noch möglich. Damit schwindet auch die Loyalität
zum Gesellschaftsmodell.

     An der folgenden Podiumsdiskussion mit Vertreter*innen
aus Wissenschaft und Praxis, darunter ein Landtagsabge-
ordneter und eine von Armut in der Kindheit betroffene Per-
son, nahm das Publikum sowohl vor Ort als auch online
teil. Über den Einsatz von Saalmikrofonen und Online-Chats      M I T G E M AC H T ! E I N V E R S TA N D E N ?
gelang es, beide Publika in die Diskussion einzubinden.
                                                                N E U E KO M M U N I K AT I O N F Ü R
            W W W. S C H A D E R - S T I F T U N G . D E /
                                                                S TA D T E N T W I C K L U N G
            S OZ I A L E _ U N G L E I C H H E I T

                                                                    Welche Rolle spielt Kommunikation in der baulich-räum-
                                                                lichen Entwicklung einer Kommune? Eine zentrale Rolle –
PLANSPIEL SICHERHEITSPOLITIK                                    das würden vermutlich alle sagen, die schon einmal Ausein-
                                                                andersetzungen um Neubauvorhaben miterlebt haben. In
    Welche sicherheitspolitischen Pflöcke sollte die neue       einem zweistündigen Online-Workshop am 6. Oktober 2021
Bundesregierung einschlagen? Angenommen, man trägt Re-          wurden erste Meinungen und Thesen ausgetauscht: etwa,
gierungsverantwortung: Welche strategischen Entscheidun-        dass der Gemeinderat oder die Stadtverordnetenversamm-
gen sind zu treffen? Das ist die Grundidee der „Szenarien-      lung zwar das am besten legitimierte Gremium ist, um
Werkstatt Sicherheitspolitik“, die am 12. November 2021         Entscheidungen zur Stadtentwicklung zu fällen. Doch er
im Schader-Forum startete und am 22. Januar 2022 online         muss sich gleichwohl mit Partizipationsansprüchen ausein-
fortgesetzt wurde.                                              andersetzen, die ebenfalls legitim erscheinen. Wie ist das zu
                                                                vereinbaren?

                                                                            PROJEKTE 2021/2022                               19
Der Workshop diente zur Vorbereitung des dreitägigen               Abermals wurde die Veranstaltung in einem fast aus-
Workshops „Innovative Formate der Planungskommunikation“           schließlich digitalen Format durchgeführt. Am Interesse
vom 23. bis 25. März 2022. Dann werden junge Menschen              der Teilnehmenden änderte das wenig – sie fühlten sich
aus den Disziplinen Stadtplanung und Kommunikations-               in großer Zahl vom wichtigen Thema der Kinderrechte an-
wissenschaft am Beispiel der Kommune Zwingenberg und               gesprochen.
des von der Hessischen Landesregierung initiierten Konzepts
„Großer Frankfurter Bogen“ miteinander arbeiten. Ihre                               W W W. S C H A D E R - S T I F T U N G . D E /
Aufgabe: die Entwicklung von Ideen, wie sich der Dialog                             KINDERRECHTE
zwischen Bürger*innen, Politiker*innen und Planer*innen
gestalten lässt.

   Beide Veranstaltungen führt die Schader-Stiftung ge-
meinsam mit der Deutschen Gesellschaft für Publizistik und
Kommunikationswissenschaft (DGPuK) und der Landes-                 INNERE SICHERHEIT IN DER
gruppe Hessen, Rheinland-Pfalz, Saarland der Deutschen
Akademie für Städtebau und Landesplanung (DASL)                    E U R O PÄ I S C H E N U N I O N
durch, unterstützt vom Hessischen Ministerium für Wirt-
schaft, Energie, Verkehr und Wohnen sowie der Stadt                    Gemeinsam mit dem Arbeitskreis Europäische Inte-
Zwingenberg.                                                       gration e.V. richtete die Schader-Stiftung am 2. Dezember
                                                                   2021 das Kolloquium „Sicherheit für die Unionsbürger*innen
             W W W. S C H A D E R - S T I F T U N G . D E /        durch die Europäische Union“ aus. Das interdisziplinäre
             I N N OVAT I V E F O R M AT E                         Kolloquium warf zunächst einen Blick auf die Unionskom-
                                                                   petenzen und -politiken sowie die historische Entwicklung
                                                                   der internationalen Kooperation zum Schutz der inneren Si-
KINDERRECHTE SIND                                                  cherheit in Europa. Anschließend richtete sich der Fokus
                                                                   auf die Frage, ob die Europäische Union und ihre Institutio-
MENSCHENRECHTE                                                     nen über das notwendige Rüstzeug verfügen, um den klas-
                                                                   sischen Herausforderungen der inneren Sicherheit begegnen
    Im Gespräch über Kinderrechte stehen drei „P’s“ im             zu können – oder sind Änderungen des Primärrechts not-
Mittelpunkt: Protection, Provision, Participation – also Schutz,   wendig? In welchem Umfang die EU auch beim Daten-,
Versorgung und Beteiligung. Das zog sich auch durch die            Gesundheits- und Klimaschutz hinreichend handlungs-
Tagung, die von Fachleuten aus Wissenschaft und Praxis am          fähig und in diesen Bereichen bereits aktiv ist, wurde im
3. Dezember 2021 gemeinsam durchgeführt wurde. Neben               dritten Themenblock behandelt. Dabei stellte sich insbe-
Einschätzungen zu Kinderrechten im Konflikt mit anderen            sondere die Frage, inwiefern in den jeweiligen Bereichen die
Rechten, etwa denen der Eltern, sowie Kinderrechten in             Europäische Union oder aber einzelne Mitgliedstaaten ge-
außergewöhnlichen Lebensumständen wie Flucht oder na-              eignete Akteure sind.
hendes Lebensende, wurden Beteiligungsformate in Kinder-
tageseinrichtungen und Schulen präsentiert. Zudem drehte               Den Abschluss der Tagung bildete eine öffentliche Podi-
sich die Diskussion um die Frage, ob Kinderrechte mit              umsdiskussion zum Thema „Die künftige Rolle der Europäi-
Verfassungsrang ausgestattet werden sollten.                       schen Union bei der Gewährleistung der inneren Sicher-
                                                                   heit“. Expert*innen unterschiedlicher europäischer Ebenen
    Wie im Vorjahr veranstalteten der Arbeitskreis Menschen-       unterhielten sich mit den Zugeschalteten über die Aufga-
rechte der Deutschen Vereinigung für Politikwissenschaft           benverteilung zwischen der Europäischen Union und ihren
(DVPW) und die Deutsche Gesellschaft für die Vereinten             Mitgliedstaaten im Bereich der inneren Sicherheit. Die Ta-
Nationen (DGVN) gemeinsam mit der Schader-Stiftung die             gung fand digital statt.
Menschenrechtstagung 2021. Dazu kam mit der Zeitschrift
für Menschenrechte eine neue Partnerin, in deren Aus-                               W W W. S C H A D E R - S T I F T U N G . D E /
gabe 1/2022 eine Auswahl der Tagungsvorträge erschienen ist.                        INNERESICHERHEIT

20                           S C H A D E R - D I A LO G            N O R M A L I TÄT A L S E X P E R I M E N T
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