1/19 Magazin der Schader-Stiftung Dialog zwischen Gesellschafts-wissenschaften und Praxis - Schader Stiftung

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1/19 Magazin der Schader-Stiftung Dialog zwischen Gesellschafts-wissenschaften und Praxis - Schader Stiftung
SCHADER-
D IALOG
Magazin der Schader-Stiftung
Dialog zwischen Gesellschafts-
                                 1 /1 9
wissenschaften und Praxis

M E H R … WAGEN.
1/19 Magazin der Schader-Stiftung Dialog zwischen Gesellschafts-wissenschaften und Praxis - Schader Stiftung
SEITE 3                  SEITE 18

E D I TO R I A L         PROJEKTE
                         2018 / 2019

SEITE 4

A N G E H A LT E N E     SEITE 22

ZEIT                     N AC H R I C H T E N
                                                Titelbild: Unter dem Leit-
                                                wort „Mehr … wagen. ’68, ’18
                                                und die politisierte Ge-
                                                sellschaft“ fand die Jahres-
SEITE 7                  SEITE 23               tagung des Großen Kon-
                                                vents der Schader-Stiftung
D I A LO G - CA F É S    TERMINE                am 9. November 2018 in
                                                Darmstadt statt.

                                                Unser Bild zeigt den
                                                Beitrag von Jens Mangel-
SEITE 14                 SEITE 26               sen zur Fotoausstellung
                                                Unwort-Bilder 2018: „Anti-
EINE TRANSFER-           SCHADER-PREIS          Abschiebe-Industrie“. Die
                                                Anwältin Claire Deery ist
S T R AT E G I E F Ü R   2019                   nebenamtlich Vorsitzende
                                                des Flüchtlingsrates Nie-
N AC H H A LT I G E                             dersachsen, hilft Asylbe-
                                                werbern in deren Verfah-
ENTWICKLUNG                                     ren aus Überzeugung und
                         SEITE 27
                                                obwohl ihre Bezahlung
                         IMPRESSUM              in sehr vielen Fällen nicht
                                                sichergestellt ist.
SEITE 16

D I A LO G Z W I -
SCHEN EXPERTEN
UND LAIEN
1/19 Magazin der Schader-Stiftung Dialog zwischen Gesellschafts-wissenschaften und Praxis - Schader Stiftung
E D I TO R I A L
30 Jahre Schader-Stiftung liegen hinter uns. Nicht ganz zufällig stand der sechste
Große Konvent, den wir in diesem Magazin noch einmal Revue passieren lassen, unter
einem Leitwort, das auch für die ersten drei Jahrzehnte der Stiftung gelten könnte:
„Mehr … wagen“. Uns beflügeln nach wie vor die weitsichtige Stiftungsgründung durch
Alois M. Schader am 30. November 1988, viele kleine und größere Projekte und immer
wieder das Wagnis, neuen Ideen Raum und neuen Partnerinnen und Partnern Vertrauen
zu schenken.

Der Untertitel des Konventsthemas „’68, ’18 und die politisierte Gesellschaft“ deutet die
Dichte der Auseinandersetzung an, mit der wir und Sie im vergangenen Jahr konfron-
tiert waren. Was denn weiter zu wagen sein wird, beschäftigt uns auch 2019 in unseren
Veranstaltungen und darüber hinaus; Europa, Unworte, Menschenwürde, Integration,
Nachhaltige Entwicklung und Öffentliche Güter sind nur einige der Schlagworte, unter
denen sich die Aktivitäten der Schader-Stiftung finden lassen.

Das bewegte Jahr 2018 mit dem Jubiläum der Stiftung und dem 90. Geburtstag des
Stifters am 16. Juli findet in einer Publikation Niederschlag, die zeitgleich mit diesem
Schader-Dialog erscheint und wie stets auch online verfügbar ist: „Die Praxis der Ge-
sellschaftswissenschaften. 30 Jahre Schader-Stiftung“.

In diesem Jahr setzt das Konventsthema „DU BIST NICHT ALLEIN. Öffentlicher Raum
im Dialog“ den Rahmen unseres Arbeitsprogramms. Damit stehen nicht nur räumlich
bezogene Projekte im Mittelpunkt, es geht uns um interpersonale und intersektorale
Beziehungen. Soziale Kompetenzen sind – gerade in Zeiten der Zuspitzung und Ab-
grenzung – für Stiftungen und die Gesellschaft insgesamt gleichermaßen relevant.

ALEXANDER
G E M E I N H A R DT

Vorstand der
Schader-Stiftung

                                                                                        5
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A N G E H A LT E N E Z E I T.
1968, 2018 UND DER
REALISMUS DES
U TO P I S C H E N

In seiner Keynote zum Großen Konvent beschreibt Stephan Lessenich den Geist des politisch-
kulturellen Aufbruchs von 1968, aber auch die inneren Widersprüche der Bewegung. Mit Blick auf
die Politik des „und“ beschreibt der Professor für Soziologie an der Ludwig-Maximilians-Universität
München den Geist des Jahres 2018 in seinen Versuchen zur Versöhnung von „Ökologie und Öko-
nomie, Sicherheit und Freiheit, Heimat und Weltoffenheit“ als Politik der Entpolitisierung.

6                   S C H A D E R - D I A LO G     M E H R … WA G E N .
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Wenn wir an das „Mehr … wagen“ denken, kommt uns              Aus der Perspektive eines letztlich Nachgeborenen glaube ich,
allen sicherlich auch der locus classicus dieser Redewendung      dass die Analyse dieser Spannungen und Widersprüche für
in den Sinn, der zum geflügelten Wort geworden ist: Das           das Verständnis heutiger Möglichkeiten und Grenzen eines
„Mehr … wagen“ in der Regierungserklärung Willy Brandts           neuen Aufbruchs ganz entscheidend ist. Diese gilt es, un-
vom 28. Oktober 1969, der ersten Regierungserklärung              geachtet des Durchsickerns von ’68 in das gesellschaftliche
nach der Bundestagswahl und zu Beginn der sozialliberalen         Selbstverständnis, in Alltagspraktiken und Institutions-
Koalition. Er sagte diesen klassischen Satz nach wenigen          logiken zu rekonstruieren.
Minuten: „Wir wollen mehr Demokratie wagen“. Das ist der
politische und institutionelle Bezugspunkt, wenn man an
’68 und das „Mehr … wagen“ denkt. Er steht für den demo-             DIE 68ER ALS ANTIBÜRGER-
kratischen Aufbruch in der institutionalisierten Politik,            LICHE BEWEGUNG
für die Demokratisierung der Demokratie, die damals
öffentlich angekündigt wurde.                                         Die 68er-Bewegung war, das zeigt die historische Sozial-
                                                                  forschung eindeutig, eine minderheitliche Massenbe-
    Willy Brandts Verheißung war ausdrücklich an die jungen       wegung. Es waren nicht die breiten Massen, die für eine neue
Menschen aus „der im Frieden aufgewachsenen Genera-               Sicht auf Gesellschaft und für eine Dynamisierung gesell-
tion“ gerichtet. Sein „Mehr Demokratie wagen“ stand unter         schaftlicher Verhältnisse gestritten haben. Das ist, glaube ich,
dem Einfluss von 1967, 1968 und den Jugendbewegungen              nicht unwichtig. Ich spreche hier nicht von der Idee einer
der Zeit. Sein Satz ist ein impliziter Rekurs auf das Aufbe-      Avantgarde, sondern schlicht von einer zahlenmäßigen Min-
gehren der jüngeren Generationen gegen die älteren                derheit unter den damals jüngeren Menschen. Es war eine
Generationen, gegen Faschismus und NS-Regime. Dem setzte          Bewegung der bürgerlichen Antibürgerlichkeit, zum Teil ag-
Brandt – und so war „mehr Demokratie“ gemeint – das               gressiv zur Schau getragen. Aber es war zugleich auch eine
Versprechen auf mehr Transparenz des politischen Prozesses        von Akteuren des bürgerlichen Milieus getragene Bewegung,
entgegen. Man könnte sagen, er kündigte Glasnost im               sei es aus klein- oder aus gutbürgerlichen Haushalten.
Jahr 1969 an, er stellte mehr Partizipation am politischen Wil-   Diese sozialstrukturelle Verankerung äußerte sich auch habi-
lensbildungs- und Entscheidungsprozess in Aussicht, ganz          tuell, auch der Habitus dieser Bewegung war in seiner
im Sinne späterer Perestroika. Gleichzeitig sprach er jedoch      Antibürgerlichkeit durch und durch bürgerlich geprägt. Die
drei Sätze später davon, die jungen Menschen müssten              68er-Bewegung war eine Bewegung des Postmaterialismus,
verstehen, dass auch sie gegenüber Staat und Gesellschaft         der postmaterialistischen Werte. Sie konnte sich als solche
Verpflichtungen haben. Darum aber ging es auch ihm:               nur auf der Basis des Wirtschaftswunders und einer be-
Rechte und Pflichten in einer demokratischen Gesellschaft         stimmten Entwicklung von ökonomischer Produktivität und
in eine „Balance“ zu bringen. Insofern sind in Brandts            materiellem Reichtum der Gesellschaft konstituieren. Ich
damaliger Rhetorik und in seiner Vorstellung von der politi-      meine das keinesfalls abwertend – aber faktisch bauten der
schen Kultur einer demokratischen Gesellschaft tatsächlich        Postmaterialismus der 68er und die entsprechenden Wert-
bereits Spannungsverhältnisse angelegt, die ich zum Gegen-        vorstellungen auf einem nicht thematisierten Materialismus
stand meines raschen und kursorischen Rückblicks auf              auf. Letztlich lässt sich in der 68er-Bewegung auch ein
’68 aus der Sicht von ’18 machen möchte.                          eurozentrischer Internationalismus erkennen. Die Bewegung
                                                                  verstand sich in großen Teilen als eine internationalistische,
    Es ist eine schwierige Aufgabe, am Ende des Jahres 2018       die nicht nur in nationalstaatlichen Kategorien dachte. Sie tat
über 1968 reden zu müssen, eigentlich ist dazu alles schon        dies aber, das ist als analytischer Befund zu verstehen, aus
gesagt. 1968 ging es darum, im Sinne von Max Weber „das           einer eurozentrierten Position heraus, vor dem Hintergrund
stahlharte Gehäuse“ aufzubrechen. Bei Weber ist es die            der Wertvorstellungen der europäischen Aufklärung. Die
bürokratische Herrschaft und das Gehäuse der Hörigkeit,           68er-Vorstellungen von Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit,
mit der die Enge der gesellschaftlichen Verhältnisse asso-        von Verteilung und Umverteilung, von Solidarität und
ziiert wird. 1968 war, je nachdem, vom „politisch-adminis-        Demokratie waren durchgängig europäische, westlich geprägte
trativen System“ oder den „Staatsapparaten“ die Rede.             Konzepte. In der Selbstwahrnehmung der Akteure spielte
                                                                  dieses Minderheitliche, Bürgerliche, Materialistische und
    Allerdings gilt es, ganz im Sinne der schon in Brandts        Eurozentrische keine bestimmende Rolle. Man kann viel-
Wagnissemantik angelegten Spannungsverhältnisse, auf              leicht von einer offensiven Wirklichkeitsvergessenheit der
einige innere Widersprüche dieses Aufbruchs hinzuweisen.          1968er sprechen, in der immer auch ein gewisses Maß an

                                                                               K E Y N OT E                                     7
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ideeller Überschussproduktion, ein Stück Utopie steckt,             schutz und Weltoffenheit, von Sicherheit und Freiheit für
allerdings unter Ausblendung des Bedingungszusammenhangs            wenige oder aber für alle stehen – und die so oder so ausge-
der eigenen sozialen Position.                                      tragen werden müssen. Wolfgang Schäuble hat das Wollen
                                                                    und Streben der Deutschen auf den Punkt gebracht. Eine
                                                                    „maßvolle Revolution“ brauche es, um die Zukunft zu
    M E H R R E A L I S M U S WAG E N                               gewinnen, einen grundlegenden Wandel ohne zu viel Über-
                                                                    treibung. Revolution, aber in Maßen bitte, wir wollen es
    Heute – ich wage einen großen Sprung hinweg über 50             ja auch nicht übertreiben!
Jahre Gesellschaftsgeschichte – tragen drei dominante
sozial wirksame Arrangements dazu bei, dass kein wirklicher             2018 ist, wenn Augenmaß zur Augenwischerei wird und
Aufbruch zu sehen ist: „Alternativlosigkeit“ in Form einer          utopisches Denken sich als das einzig Realistische auf-
liberal-ökonomistischen Sachzwanglogik, den „Abwehrkampf“,          drängt. Wir befinden uns, um Antonio Gramsci zu paraphra-
bei dem es um die Vorstellung geht, wir könnten unseren             sieren, in einer gesellschaftshistorischen Zwischenzeit, in
Sozial- und Wirtschaftsraum gegen das Elend der Welt und die        der der neue Realismus, der utopische Realismus, der nötig
Ansprüche eines vermeintlichen Außen abschließen, und               wäre, noch nicht zur Welt kommen kann. Heiner Müller
das „progressive“ Korrelat dieser beiden prägenden Hand-            sprach von einer kollektiven Traumphase, einer angehaltenen
lungsorientierungen, ein optimistisch-technologistischer            Zeit, in der sich alles staut, was war, das Neue aber noch
Reformkonservatismus. Was wäre also gegenwärtig zu wagen?           nicht greifbar ist. Ich ende mit einer plakativen Parole der
Meiner Meinung nach – und das ist sicher diskutabel –               1980er: „Es gibt viel zu tun. Packen wir’s an.“ Vielleicht
müssen wir „Mehr Realismus wagen“. Diese Gesellschaft               kann man aus der Vergangenheit ja doch lernen.
müsste sich – apropos Demokratie wagen – selbst endlich
ernsthaft mit den Lebenslügen ihres Wirtschafts- und Sozi-              Der Text dokumentiert Auszüge aus der Keynote von Prof.
almodells konfrontieren. Der ausbleibende Aufbruch steht            Dr. Stephan Lessenich anlässlich des Großen Konvents am
nicht für eine Negativ-Utopie dessen, was da kommen wird.           9. November 2018. Der Vortrag ist in voller Länge Bestandteil der
Die Dystopie ist ganz und gar gegenwärtig.                          Dokumentation des Großen Konvents der Schader-Stiftung
                                                                    2018. Ein Video des Vortrags findet sich unter:
    1968 war auch das Jahr der Gründung des Club of Rome.
In diesen Tagen vor 50 Jahren hat sich eine Gruppe von                              W W W. S C H A D E R - S T I F T U N G . D E /
Expertinnen und Experten konstituiert und einige Jahre später                       G R KO 1 8
den Bericht über die Grenzen des Wachstums herausge-
geben. Damals hieß es, bei Fortführung der herrschenden
Wirtschaftsweise werde in hundert Jahren Schluss sein
mit der Überlebensfähigkeit der Menschheit. So gesehen hat
sich die Lebenserwartung der menschlichen Zivilisation
halbiert. Und was ist der Geist der Zeit, der dem entgegenge-
setzt wird? Es ist der Zeitgeist des Nichtaufbruchs, der
gesellschaftspolitische Selbstbetrug des „und“, der politisch-
institutionell das freundliche Gesicht schwarz-grüner oder
grün-schwarzer Koalitionsbildungen annimmt. Eine Positio-
nierung, die von Widersprüchen schweigt, um von Verein-
barkeiten sprechen zu können: Ökologie und Ökonomie,
Sicherheit und Freiheit, Heimat und Weltoffenheit.

     Doch wer die Möglichkeit einer Versöhnung des Gegen-
sätzlichen behauptet, betreibt eine Politik der Entpolitisierung:                                   P R O F. D R . S T E P H A N
Sie negiert die unvermeidlichen gesellschaftlichen Kon-                                             LESSENICH
                                                                                                    Professor für Soziologie
flikte, die hinter dem Widerspruch von ökonomischer                                                 an der Ludwig-Maximilians-
Profitabilitäts- und ökologischer Suffizienzlogik, von Heimat-                                      Universität München

8                          S C H A D E R - D I A LO G               M E H R … WA G E N .
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G R O S S E R KO N V E N T 2 0 1 8              Mehr … wagen.

D I A LO G - CA F É S

Der Große Konvent der Schader-Stiftung bietet in jedem Jahr Persönlichkeiten aus den Gesell-
schaftswissenschaften und der Praxis die Möglichkeit, den Status Quo und die Perspektiven des
Dialogs zwischen Gesellschaftswissenschaften und Praxis zu diskutieren. Ziel ist es, aktuelle sowie
kommende Herausforderungen zu formulieren und daraus Themen und Bedarfe für zukünftige
Aufgaben der Gesellschaftswissenschaften, aber auch für die konkrete Arbeit der Schader-Stiftung
zu explorieren.

Der Große Konvent findet zu einem großen Anteil im offenen Format statt. In drei Gesprächsrunden
in Dialog-Cafés, die an Projekte der Stiftung anknüpfen, konnten die rund 170 Teilnehmenden
des Großen Konvents 2018 Erfahrungen und Ideen, Anregungen und Erkenntnisse austauschen.
Im Zentrum standen dabei die Aufgaben und Herausforderungen der Gesellschaftswissen-
schaften in der Diskussion um das Konventsthema „Mehr … wagen. ’68, ’18 und die politisierte
Gesellschaft“.

                                                            D I A LO G - CA F É S                 9
1/19 Magazin der Schader-Stiftung Dialog zwischen Gesellschafts-wissenschaften und Praxis - Schader Stiftung
M E H R G R E N Z E N LOS I G K E I T
WA G E N

1968 markiert einen einflussreichen Zeitpunkt                         Derartige Mechanismen bergen die Gefahr, milieufremde
gesellschaftlicher Werteveränderung, dessen                           Personen sozial auszugrenzen. Im Zuge einer wirklich
                                                                      offenen Gesellschaft muss ihnen daher Widerstand geleistet
Auswirkungen auch fünf Jahrzehnte später                              werden.
noch erkennbar sind. Jedoch rücken neue Her-
ausforderungen in den Fokus: Grenzen der                                  Wer ist „wir“? Die in Deutschland existierenden Vorstel-
                                                                      lungen eines „wir“ bleiben hart umkämpft. Zeitgleich
Mitwirkung werden neu gesetzt, während gleich-                        werden kulturelle Identitäten durch alle sozialen Gruppen
zeitig nach Formen der offenen Gesellschaft                           einer (Migrations-) Gesellschaft geformt, sei es durch neue
gesucht wird, an deren Gestaltung alle teilhaben                      Impulse und Horizonterweiterungen oder durch einen Zu-
                                                                      gewinn an Toleranz und Vielfalt. Deshalb muss auf gesell-
können.                                                               schaftlicher Ebene deutlicher erkennbar werden, ob der Ruf
                                                                      nach Vielfalt oder aber das Verlangen nach klaren Grenzen
    Weltoffenheit ist ein schwer quantifizierbarer Faktor. Auf        im Fokus des öffentlichen Diskurses liegt. Das eigene Ver-
den ersten Blick stellt die Bundesrepublik in ihrer gegen-            halten muss demnach an zeitgemäße Gegebenheiten ange-
wärtigen Form ein weltoffenes Land dar, in dem niemand                passt werden und bestehende Vorurteile sind kontinuierlich
gesellschaftlich ausgeschlossen wird. Wer die Situation je-           zu hinterfragen. Deliberative Elemente in Demokratie und
doch genauer betrachtet, kann feststellen, dass bestimmte             Zivilgesellschaft sowie eine prozessbegleitende Kommunika-
soziokulturelle Milieus, vor allem aber Menschen mit Mi-              tion der Migrationsbewegungen können ebenfalls Unsicher-
grationsbiographie, weiterhin über geringe Möglichkeiten der          heit im Umgang mit dem Fremden abbauen.
Partizipation verfügen. Bereits bei den 68ern waren Selbst-
bestimmung und die individuelle Teilhabe elementarer Teil                  Die 68er gelten als Auslaufmodell, da sich politische
des Selbstverständnisses, wodurch sie sich stark von den              Interessengruppen heute eher anhand ihrer Identitäten bilden
Lebensentwürfen der älteren Generationen distanzierten.               und eine andere Art der Individualisierung leben. Identi-
Damit war auch der Anspruch auf Überwindung subjektiv                 tätsstiftende Strömungen verschiedener politischer Richtungen
bedingter Einschränkungen des eigenen Handlungsspiel-                 stehen hierbei im Fokus. Zwar können Interessen auf diese
raums gemeint. Diese Grenzen individueller Freiheit sind              Weise artikuliert werden, jedoch, so ein Resümee, hat sich
keineswegs fest abgesteckt, sondern verschieben sich fortlau-         bis heute noch keine neue Form einer demokratischen
fend. Sie entstehen unbewusst im Kollektiv der sozio-öko-             und offenen Gesellschaft entwickelt, an deren Gestaltung
nomischen Schichtungen, Herkunfts- und Bekenntnismilieus.             alle Menschen, die in Deutschland leben, teilhaben können.

D R . C H R I STO F       P R O F. D R .               DR. MERON MENDEL               ANDREA NISPEL
EICHERT                   MICHAEL HAUS                 Direktor der Bildungsstätte    Mitglied des Vereinsvor-
Jurist und Mitglied des   Professor für Politik-       Anne Frank e.V. in Frankfurt   stands beramí berufliche
Vorstands der Schader-    wissenschaft an der          am Main                        Integration e.V. in
Stiftung                  Ruprecht-Karls-Uni-                                         Frankfurt am Main
                          versität Heidelberg

10                        S C H A D E R - D I A LO G                  M E H R … WA G E N .
1/19 Magazin der Schader-Stiftung Dialog zwischen Gesellschafts-wissenschaften und Praxis - Schader Stiftung
M E H R WA N D E L WA G E N

1968 wurden mit der Gründung des Club of
Rome die Grundsteine der modernen Nach-                                      TA N J A B R U M B A U E R   SILKE NIEHOFF
                                                                             Wissenschaftliche Mitar-     Wissenschaftliche Mitar-
haltigkeitsdiskussion gelegt. Der Grundsatz                                  beiterin und Bildungs-       beiterin am IASS Potsdam
                                                                             referentin am ZOE-Institut   – Institute für Advanced
„Think global, act local“ für die Bekämpfung                                 für zukunftsfähige Öko-      Sustainability Studies e.V.
                                                                             nomien e.V. in Bonn
von Klimawandel und Umweltbelastungen führt
zu Fragen nach einem klugen Zusammen-
spiel lokaler und globaler Ansätze, nach einer
nachhaltigen Gestaltung der Digitalisierung
und dem Weg hin zu einer Ernährungswende.

                                                                             P R O F. J U L I A N         K AT R I N W E N Z
                                                                             WÉKEL                        Wissenschaftliche Mit-
                                                                             Wissenschaftlicher Sekre-    arbeiterin beim BUND
                                                                             tär der Deutschen Aka-       – Bund für Umwelt und
    Welchen Beitrag können regionale Initiativen zu einer                    demie für Städtebau und      Naturschutz e.V.
Nachhaltigen Entwicklung leisten und wo liegen ihre Grenzen                  Landesplanung in Berlin
angesichts globaler Herausforderungen? Wie verhält sich
die Digitale Transformation zu den sozialen und ökologischen
Dimensionen der Nachhaltigkeit? Welche Rolle spielen
unsere Konsumgewohnheiten? Diesen Fragen gingen Tanja
Brumbauer, Silke Niehoff und Katrin Wenz in ihren Im-                Für eine nachhaltige Digitalisierung ist eine kritische
pulsen nach.                                                     Auseinandersetzung mit den ihr zugrundeliegenden Techno-
                                                                 logien und ihren Folgewirkungen von grundlegender Be-
    Der Grundsatz „Think global, act local“ des Club of Rome     deutung. Die damit verbundene Gestaltungsaufgabe beinhaltet
hat nicht an Aktualität verloren, wenn es um die Bekämp-         große Chancen für mehr Nachhaltigkeit.
fung von Klimawandel und Umweltbelastungen geht. Von
entscheidender Bedeutung ist dabei das kluge Zusammen-               Die Ziele einer Nachhaltigen Entwicklung werden auch
und Wechselspiel lokaler, regionaler, nationaler und globaler    durch unsere Konsumgewohnheiten und die Art und Weise
Ansätze zur Verfolgung der Ziele einer Nachhaltigen Ent-         unserer Nahrungsmittelproduktion beeinflusst. Auf Seiten
wicklung.                                                        der Verbraucherinnen und Verbraucher ist eine steigende
                                                                 Nachfrage nach ökologisch produzierten Lebensmitteln zu
    Ob die Digitalisierung einen Beitrag zu einer Nachhaltigen   beobachten. Für eine Ernährungswende fehlt den Konsu-
Entwicklung leistet ist hochumstritten. Mit der digitalen        menten jedoch häufig das Wissen über die Produktionsweisen
Transformation werden Chancen für mehr Wohlstand, für            der Nahrungsmittelindustrie. Hohe externe Kosten, etwa
neue unternehmerische Geschäftsmodelle, für mehr Sicher-         einer intensiven Tierhaltung, wie sie durch Erderwärmung
heit verbunden. Sinkender Ressourcenverbrauch und Ener-          und Klimawandel oder schlechte Grundwasserwerte ent-
giebedarf wird postuliert, bleibt aufgrund von Rebound           stehen, werden durch die Preise häufig nicht abgebildet.
Effekten und der steigenden Nachfrage nach kritischen Roh-
stoffen jedoch häufig ungenutzt.                                     Erschwert wird eine Ernährungswende schließlich durch
                                                                 die kulturelle Dimension des Konsums. Eine Ergänzung
                                                                 von Bildungs- und Aufklärungsmaßnahmen durch die Anwen-
                                                                 dung regulatorischer Instrumente kann sie befördern.

                                                                             D I A LO G - CA F É S                                 11
1/19 Magazin der Schader-Stiftung Dialog zwischen Gesellschafts-wissenschaften und Praxis - Schader Stiftung
M E H R S T R E I T WA G E N

Deutschlands politische Kultur leidet an ihrer
Orientierung am Konsens. Heftiger politischer
                                                                                    P R O F. D R . L O T H A R     P R O F. D R . M A R K U S
Streit erscheint vielen Menschen als Bedrohung                                      BROCK                          G LO E
                                                                                    Professor für Politikwissen-   Professor für Politikwis-
der Demokratie – und nicht als deren Essenz.                                        schaft an der Goethe-Uni-      senschaft an der Ludwig-
                                                                                    versität Frankfurt am Main
Skepsis gegenüber pluralistischer Meinungskon-                                                                     Maximilians-Universität
                                                                                                                   München
kurrenz steht in einer Tradition der Konflikt-
scheu und des Wunsches nach einer sozialen
Gemeinschaft, in der sich alle einig sind. Es
fehlt eine robuste demokratische Konfliktkultur.

     Im deutschen Hang zum Konsens liegt eine Ursache po-
litischen Streits: Je harmonischer die gewünschte Gesell-                           DR. RUDOLF                     DR. ROLAND
schaft ist, desto geringer ist notwendigerweise die Bereitschaft,                   KRISZELEIT                     LÖ F F L E R
                                                                                    Rechtsanwalt und Vorsit-       Direktor der Sächsischen
Individualität und Differenz zu akzeptieren. Der Wunsch,                            zender des Stiftungsrats       Landeszentrale für politi-
Harmonie und Einheit über den Streit zu stellen, steht im                           der Schader-Stiftung           sche Bildung in Dresden
Widerspruch zur Anerkennung der Vielfalt von Interessen
in einer pluralistischen Demokratie.
                                                                    Berufung auf Expertise als „wahr“ darzustellen und so gegen
    Um Streit „vernünftig“ führen zu können, braucht es einen       Kritik zu immunisieren. Die Konsequenz ist, dass nen-
geteilten Wertehorizont der Streitenden, also einen ge-             nenswerte Teile der Gesellschaft scheinbar wissenschaftlich-
wissen Respekt vor dem Gegenüber sowie die Anerkennung              rational begründete Alternativlosigkeiten nicht mehr als
seines Andersseins. Falsch ist die Erwartung, dass Streit           Argument ernst nehmen.
stets konstruktiv sein und am Ende zu einen konsensuell
getragenen Ergebnis führen muss. Denn dann ist kein                      Durch die inhaltliche Annäherung der etablierten Parteien
Streit mehr möglich, wenn sich die Ansichten der Streiten-          werden Konflikte allenfalls über Detailfragen geführt. Ge-
den diametral entgegenstehen. Hinter dem Wunsch nach                sellschaftliche Konflikte müssen aber ausgetragen werden.
einer konstruktiven Streitkultur steht ein Verständnis von          Sie zu vermeiden vertieft die Gräben innerhalb der Ge-
Politik als Instrument des Interessensausgleichs. Doch die          sellschaft nur. Fehlende Erfahrung mit grundlegenden Kon-
Idealvorstellung eines Diskurses grundsätzlich kompromiss-          troversen wird in Krisenzeiten zum Problem.
bereiter und sich dem besseren Argument beugender
Akteure lässt außer Acht, dass demokratische Politik auch               In einer demokratischen Streitkultur muss sich jeder fra-
das institutionalisierte Streben nach Macht ist und politische      gen: Welches Bild mache ich mir von meinem Gegner,
Kommunikation ein Mittel des Machterwerbs.                          meinem Gegenüber? Wenn ständig auf (absurde) Extrem-
                                                                    positionen rekurriert wird, kann man sich seiner eigenen
    Der Kompromiss gehört zum Wesen der Demokratie. Er              moralischen Überlegenheit gewiss sein. Gemäßigte Positionen
hat sowohl eine zivilisierende als auch eine integrative            der Gegenseite werden in der Folge schlicht ignoriert. Die
Kraft. Problematisch ist heute nicht ein Mangel an Kompro-          Streitenden sollten versuchen, die Position ihres Gegenübers
missfähigkeit, sondern die mangelnde Fähigkeit, Streit              nachzuvollziehen. Eine Selbsterkenntnis der eigenen Posi-
offen zu führen. In vielen Feldern werden abweichende Posi-         tion entsteht allerdings oft erst, nachdem die eigene „Filter-
tionen nicht mehr als legitime Gegenpositionen aner-                blase“ verlassen wird. So ist die grundsätzliche Bereit-
kannt und so die gesellschaftliche Vielfalt bewusst ignoriert.      schaft dazu, sich Widersprüchen und Dissens auszusetzen,
Damit geht die Neigung einher, eigene Positionen durch              die Basis einer fruchtbaren Streitkultur.

12                         S C H A D E R - D I A LO G               M E H R … WA G E N .
M E H R P R O G R A M M E WA G E N

Im Zeitalter von Big Data verschränken sich                        dung zwischen einem Systemfehler und einem richtig er-
algorithmische Programme immer weiter mit                          rechneten Ergebnis unmöglich ist. Zugleich halten Algorithmen
                                                                   vermehrt Einzug, etwa bei der Personalrekrutierung oder
sozialen Programmen der Kommunikation,                             medizinischen Abwägungen. Auch wenn die letztendliche Ent-
Bequemlichkeit, Effizienz und Kontrolle. Wie                       scheidung immer noch beim Fachpersonal liegen mag,
nah dieses Dialog-Café dem Geist der 68er                          führen diese Algorithmen zumindest zu einem Rechtferti-
                                                                   gungsdruck, sollte sich der Mensch abweichend vom Pro-
kam, zeigt der Ausspruch eines Teilnehmers:                        gramm entscheiden. Zudem bergen Algorithmen in vernetzten
„Eine Tagung zum Thema ‚was folgt aus 68‘                          Systemen die Gefahr von komplexen Diskriminierungs-
endet mit der Aufforderung, Großkonzerne zu                        schleifen. Im Gegensatz zu Menschen und ihren stereotypen
                                                                   Bewertungen ist es im Fall von maschinellen Algorithmen
enteignen!“                                                        schwieriger, den durch sie generierten Vorurteilen zu entgehen.
                                                                   Zumeist werden deren Ergebnisse oft sofort akzeptiert,
     Wie kann man Menschen vor etwas schützen, nach dem            da sie neutral erscheinen.
sie sich sehnen? Die Funktionen, die digitale Technologien
mit sich bringen, vereinfachen viele Prozesse und schaffen             Eine weitere, eher indirekte Folge der Digitalisierung ist
bequeme Optionen und Zugänge. Übersehen werden                     die entstehende Macht großer Digitalunternehmen, die
dabei oft die digitalen Nebenwirkungen, die nichts mehr mit        nicht in einem gesellschaftlichen oder staatlichen Interesse,
Bequemlichkeit zu tun haben.                                       sondern rein privatwirtschaftlich agieren.

   Die Sozialen Medien, von denen man sich einerseits eine             Nötig sind digitale Aufklärung und Bildung, ein öffentli-
Demokratisierung der Öffentlichkeit versprach, zeigen              cher Diskurs, das kritische Prüfen von konkreten Algorith-
andererseits Effekte wie Cybermobbing, Hate Speech und             men statt allgemein gehaltener Algorithmuskritik und nicht
Shitstorms. Die starke Position der hinter den Sozialen            zuletzt eine Diskussion der Geschäftsmodelle der großen Di-
Medien stehenden Plattformen führt zu einer Machtansamm-           gitalunternehmen. Ob man so weit gehen muss, wie eine
lung, die nicht mit der Übernahme einer ethischen Ver-             Teilnehmerin des Dialog-Cafés forderte, nämlich die
antwortung gekoppelt ist. Algorithmen, die jeden digitalen         großen Global Player-Firmen des Internets zu verkleinern
Prozess steuern, dabei mehr und mehr Einfluss auf alltägli-        oder gleich zu enteignen, um sich als Staat oder Gesell-
ches Verhalten nehmen, sind komplex, schnell, schwer beob-         schaft politische Handlungsfähigkeit zu bewahren, ist eine
achtbar und dadurch kaum nachvollziehbar. Manche von               offen gebliebene Frage.
ihnen lassen sich nicht überprüfen, so dass eine Unterschei-

DR. HARALD                NELE HEISE                P R O F. D R . C H R I S -   P R O F. D R . G I S E L A
GAPSKI                    Medienforscherin und      T I A N K AT Z E N B A C H   KUBON-GILKE
Leiter der Abteilung      Referentin für digitale   Forschungsleiter am          Vizepräsidentin und
Forschung am Grimme-      Medien und Online-        Alexander von Humboldt       Professorin für Ökonomie
Institut – Gesellschaft   Kommunikation             Institut für Internet und    und Sozialpolitik an der
für Medien, Bildung und                             Gesellschaft GmbH in         Evangelischen Hochschule
Kultur mbH                                          Berlin                       Darmstadt

                                                                                 D I A LO G - CA F É S                          13
M E H R U N G L E I C H H E I T WA G E N

Ungleichheit hat viele Facetten. Die Dimensio-                 des Einflusses von Jung und Alt stört die Gestaltungsmög-
nen von Ungleichheit schlagen sich in der Bil-                 lichkeiten für die Zukunft. Viele Anwesende sehen jedoch
                                                               keine direkte Konkurrenz von Interessen. Es geht um einen
dung, zwischen den Geschlechtern und zwischen                  Dialog, in den die Bedürfnisse aller Eingang finden. Nur
Generationen nieder. Die Forderung nach                        so können unterschiedliche Perspektiven fruchtbar gemacht
Gerechtigkeit in diesen Sphären ist nicht neu,                 und praktische Probleme angegangen werden.

trotz einiger Entwicklungen seit 1968 besteht                       Bildungs-, Geschlechter- und Generationengerechtigkeit
noch immer Handlungsbedarf. Ungleichheit kann                  ist für viele Teilnehmende ein emotionales Thema. Un-
nur schwerlich als förderungswerte Ressource                   gleichheiten, die für die meisten doch andauernd spürbar
                                                               sind, als erwünscht zu betrachten, fällt ihnen schwer. Gefor-
betrachtet werden.                                             dert werden letztendlich immer wieder konkrete Maßnahmen
                                                               und ein gesteigertes Bewusstsein für entsprechende Pro-
                                                               blematiken in Wirtschaft, Politik und Gesellschaft.

    Die mangelnde Gerechtigkeit im deutschen Bildungssys-
tem wurde bereits 1968 angeprangert. Zahlreiche Forde-
rungen haben Eingang in Schule und Universitäten gefunden,
so etwa Bildung als Bürgerrecht und Bildungspolitik als
wichtiges Gut. Dieser Wertewandel spiegelt sich heute zum
Beispiel in den Übertrittsquoten an Hochschulen wider.
Zeitgleich sind auch Entwicklungen zu verzeichnen, die neue
Ungleichheiten produzieren. Wie wirkt sich unser Bildungs-
system auf Abgänger aus, welche Kompetenzen bleiben auf
der Strecke und welche Möglichkeiten der Persönlichkeits-                      P R O F. D R .                ANDREA BARTL
entwicklung bestehen? Für viele passt das System nicht mehr                    GABRIELE ABELS                Geschäftsführerin der
                                                                               Professorin für Politikwis-   Stiftung Lesen in Mainz
zu den Rahmenbedingungen.                                                      senschaft an der Eberhard
                                                                               Karls Universität Tübingen
    Auch bezüglich der Geschlechterverhältnisse gehen
wichtige Errungenschaften mit großen Beharrungskräften
von vergessen geglaubten Vorstellungen einher. Seit 1968
und der Entstehung der Frauenbewegung hat sich das Be-
wusstsein rund um Gleichstellung geschärft. Jedoch kom-
men traditionelle Vorstellungen von Geschlechterverhältnis-
sen international wieder auf die Tagesordnung, etwa im
Zuge populistischer Strömungen. Zweigeschlechtlichkeit ist
in den Köpfen noch immer stark verankert. Ungleichheit
zwischen Mann und Frau ist allerdings nicht das einzige dis-
kussionswürdige Thema. Fragen der Diversität und der
                                                                               P R O F. D R . E N C A R -    MADELEINE
eigenen Identität entsprechen viel eher dem Puls der Zeit.                     N AC I Ó N G U T I É R -      HOFMANN
                                                                               REZ RODRÍGUEZ                 Journalistin und Botschaf-
   Jungen Menschen Platz einzuräumen, das fordert der                          Professorin für Allgemeine    terin der Stiftung für die
                                                                               Soziologie an der Justus-     Rechte zukünftiger Gene-
Impuls der letzten Session und leitet eine rege Diskussion                     Liebig-Universität Gießen     rationen in Stuttgart
um Generationengerechtigkeit ein. Ein Ungleichgewicht

14                       S C H A D E R - D I A LO G            M E H R … WA G E N .
M E H R B E W E G U N G WA G E N

                                                                                 D R . DAG M A R            HEINRICH MARIA
Die Unterschiede zwischen der unruhigen und                                      D A N KO                   LÖ B B E R S
                                                                                 Generalsekretärin der      Mitglied der Chefre-
ambitionierten 68er-Bewegung mit ihrer For-                                      European Sociological      daktion und Chefkurator
                                                                                 Association in Paris       der Sächsischen
derung nach Liberalisierung aller Lebensberei-                                                              Zeitung in Dresden
che und den aktuellen Protestbewegungen
scheinen offensichtlich. Es zeigt sich heute eine
andere politisierte Gesellschaft, deren national-
populistische Tendenzen ebenso dringend be-
weisen, dass Protest und Wandel immer noch
angebracht sind.
                                                                                 P R O F. D R .             D R . J U T TA S C H Ü T Z
                                                                                 URSULA MÜNCH               Journalistin und Re-
                                                                                 Direktorin der Akademie    dakteurin des Frauen-
     Die Freiheit der Kunst wird als selbstverständlich voraus-                  für Politische Bildung     magazins Mathilde in
                                                                                 Tutzing                    Darmstadt
gesetzt und im freiheitlichen Rechtsstaat scheinbar debat
tenlos akzeptiert. In Zeiten eines aufwühlenden Populismus
mit teilweise aggressiv geführten Diskussionen um
politische Korrektheit und Religionsfreiheit schwingt die
Frage mit, ob Kunstfreiheit auf persönliche Befindlich-             die gängigen Parolen lassen den Schluss zu, dass die rhetori-
keiten politischer oder religiöser Natur Rücksicht nehmen           sche Lücke zu den Achtundsechzigern nicht allzu groß ist.
muss. Hier stehen sich zwei Positionen gegenüber: zum               Die Identitäre Bewegung zeigt immer wieder spielerische Ver-
einen die Kunstfreiheit, garantiert durch das Grundgesetz,          suche einer Nachahmung der 68er-Bewegung, indem sie
und zum anderen die strafrechtliche Dimension. Diesen               sich bei deren Vokabular der Systemerneuerung und System-
Gegensatz hat 2016 Jan Böhmermann aufgrund seines Ge-               kritik bedient, aber auch Protestformen kopiert. Das Nar-
dichts „Schmähkritik“ erfahren müssen: Er wurde von                 rativ der Medienkritik, damals mit dem Aufruf „Enteignet
unterschiedlichen Seiten zwar erfolglos, aber dennoch mit           Springer!“, heute mit der Parole „Lügenpresse“, ist und
unangenehmen Folgen in einen strafrechtlichen Prozess               war basales Element beider Bewegungen.
gezogen. Als Fazit wird vorgeschlagen, den systemtheo-
retischen Ansatz Niklas Luhmanns zu nutzen, um Kunst voll-              Was bleibt vom Feminismus? Die Debatte um Frauen-
kommen losgelöst von persönlichen Befindlichkeiten als              rechte thematisiert nicht nur eine Problematik der Ge-
geöffneten Kommunikationskanal zu sehen. Kunst besitzt              schlechterungleichheit, sondern auch ein intergenerationelles
damit eine Eigenlogik, die auch nur mit ihrem eigenen               Unverständnis. So wird der jungen „Generation Y“ – den
Vokabular kritisiert werden kann.                                   „Millenials“ – vorgeworfen, zu wenig feministisch aktiv zu sein.
                                                                    Heute aber nehmen jüngere Frauen und Männer den
    Das Element der Eigenlogik tritt implizit ebenfalls im          Feminismus der Aktivistinnen in Folge von 1968 offensichtlich
Rahmen der Diskussion um Pegida und aktuell im Aufwind              als zu verbraucht und überholt wahr, um ihn zu adap-
begriffene rechtspopulistische und identitäre Bewegungen            tieren. Vielmehr beschränkt sich der moderne Feminismus
auf. Der Zusammenhang zwischen der 68er-Bewegung und                nicht auf die Forderung nach Gleichberechtigung, son-
den rechten Stimmen, die vor allem das Establishment                dern geht darüber hinaus – im Sinne einer Aufarbeitung des
angreifen, liegt in der geteilten Zielsetzung, das politische und   Geschlechterbegriffs als etwas, das nicht binär ist.
gesellschaftliche System grundlegend verändern zu wollen.
Haben wir es bei Pegida also mit einer APO von rechts zu tun?
Die bis heute stattfindenden Montagsspaziergänge und

                                                                                 D I A LO G - CA F É S                               15
EINE TRANSFER-
S T R AT E G I E F Ü R N A C H -
H A LT I G E E N T W I C K L U N G

Das Projekt „s:ne – Systeminnovation für Nach-
haltige Entwicklung“ der Hochschule Darm-
stadt – nun im zweiten Projektjahr – hat zum Ziel,
Transferaktivitäten strategisch weiterzuent-
wickeln. Die Schader-Stiftung ist Partnerin des
Projekts und unterstützt Vernetzungs- und
Transferprozesse im Dialog zwischen Wissen-
schaft und Praxis.

    Im Januar 2018 fiel der Startschuss für das Projekt            kreten Problemimpuls, der Entwicklung eines gemeinsamen
„Systeminnovation für Nachhaltige Entwicklung (s:ne)“ der          Problemverständnisses gewidmet. Im Austausch mit den
Hochschule Darmstadt (h_da). Mit ihm möchte die h_da               Praxisakteuren sollen gemeinsame Fragestellungen entwickelt
ihre Transferstrategie in der Region über fünf Jahre weiter ver-   und in den Folgejahren weiterbearbeitet werden.
ankern und mit Praxisakteuren gemeinsam Innovationen
im Themenbereich Nachhaltige Entwicklung anstoßen. Der                  Genau um dieses gemeinsame Problemverständnis ging
normative Bezugsrahmen sind die Nachhaltigkeitsziele               es im s:ne-Workshop „Herausforderung nachhaltigere
der Vereinten Nationen. Das Projekt verfolgt dabei einen an-       Chemie in den Lieferketten zu Leder-Produkten“, der im
wendungsorientierten transformativen Forschungsansatz,             Oktober gemeinsam mit dem Projekt-Teilvorhaben „Nach-
der gesellschaftliche und wirtschaftliche Akteure frühzeitig       haltige Produktions- und Konsumweisen bei Leder-Erzeug-
und wechselseitig einbindet. Die Projekte haben das Ziel,          nissen“ durchgeführt wurde. Im Rahmen des Workshops
die Ideen bis in die konkrete Umsetzung zu begleiten.              teilten Akteure aus der Lieferkette, aus Behörden und aus der
                                                                   Zivilgesellschaft ihre Sicht auf das Chemikalienmanage-
    Die Schader-Stiftung hat im Rahmen dieses Projektes            ment entlang der Lieferkette für Lederprodukte. So war es
die Aufgabe, Räume zum Denken und zum Arbeiten zu                  möglich, Gemeinsamkeiten und Unterschiede in der Wahr-
schaffen und den Austausch zwischen Praktikern und Wissen-         nehmung der derzeitigen Situation herauszuarbeiten. Zu den
schaftlerinnen zu befördern. Ihr ist somit eine Brückenfun-        diskutierten Herausforderungen zählte etwa die (fehlende)
ktion zugedacht. Die Schader-Stiftung führt Veranstaltungen        Transparenz für Markenhersteller und Handel – und damit
durch, die Umsetzungsvorhaben dabei unterstützen, eine             letztlich auch für die Konsumenten – hinsichtlich der in
produktive und beiderseits ertragreiche Zusammenarbeit mit         der Produktion eingesetzten Chemikalien. Hemmnisse er-
Praxisakteuren in ihrem jeweiligen Handlungsfeld aufzubauen.       geben sich durch global vernetzte und daher oft schwer
Das erste Jahr war vor allem, ausgehend von einem kon-             nachvollziehbare Lieferketten. Die Branchenakteure und das

16                         S C H A D E R - D I A LO G              M E H R … WA G E N .
s:ne-Team beschlossen, im Jahr 2019 einen Szenario-                    Neben der Schader-Stiftung sind das Beratungsunter-
Prozess durchzuführen, um die Herausforderungen aus einer           nehmen e-hoch-3, das Institut für sozial-ökologische For-
Systemperspektive zu analysieren und gemeinsame Strategien          schung (ISOE), das Institut für Wohnen und Umwelt (IWU),
und konkrete Handlungsschritte zu definieren.                       das Öko-Institut e.V. und die Software AG Partner im
                                                                    Projekt.
    Auch in der Reihe „Nachhaltig digital? Mobil in Darm-
stadt“, die zusammen mit dem Teilvorhaben „Digitale Stadt“
                                                                                W W W. S C H A D E R - S T I F T U N G . D E / S N E
veranstaltet wird, geht es um das Entwickeln eines gemein-
samen Problemverständnisses. Dafür wurden mit einer aus-
gewählten Gruppe von Teilnehmenden an insgesamt fünf
                                                                    Das Projekt wird im Rahmen des Bund-Länder-Programms
Terminen Fragen im Kontext von Mobilität, Nachhaltiger
                                                                    „Innovative Hochschule“ gefördert von:
Entwicklung und Digitalisierung erörtert.

     Das dritte Anwendungsgebiet des Projekts „System-
innovation für Nachhaltige Entwicklung (s:ne)“ ist die zu-
kunftsorientierte Stadtentwicklung. Welche neuen Ge-
schäftsmodelle und weiteren Innovationen unterstützen die
nachhaltigere Entwicklung einer Stadt oder eines Quar-
tiers? Hierbei werden die Handlungsfelder Gebäude, Konsum,
                                                                               Gemeinsame
Energiebereitstellung und -vernetzung sowie Mobilität                          Wissenschaftskonferenz
                                                                               GWK
untersucht. Um Wissensaustausch zu ermöglichen und einen
Gesprächsfaden aufzunehmen, wurden im September bei
einem gemeinsamen Workshop mit der Stadtverwaltung der
Wissenschaftsstadt Darmstadt, Vertreterinnen und Vertre-
tern der Stadtwirtschaft sowie zivilgesellschaftlichen Akteuren
Ideen für die Weiterentwicklung der Darmstädter Moller-
stadt konzipiert. Die erarbeiteten Vorschläge sollen gleichzeitig
einen positiven Beitrag leisten, um die Nachhaltigkeits-
ziele der Vereinten Nationen zu verwirklichen. Thema war auch,
wie diese Ziele anzureichern und weiterzuentwickeln sind
und welche weiteren Bedarfe gesehen werden.

    Während das erste Projektjahr einen Auftakt des Aus-
tauschs und des gemeinsamen Arbeitens bildete, werden mit                       SASKIA FLEGLER                   KAREN LEHMANN
dem Beginn des zweiten Jahres die Planungen und Diskus-                         ist Politikwissenschaftlerin     ist Politikwissenschaftlerin
                                                                                und Wissenschaftliche            und Wissenschaftliche
sionen nochmals um einiges konkreter. Im kontinuierlichen                       Referentin der Schader-          Referentin der Schader-
Gespräch mit Praxisakteuren wurden bereits erste Ideen                          Stiftung.                        Stiftung.
und Ansätze für Umsetzungsmöglichkeiten und Geschäfts-
modelle gesammelt und entwickelt, um sie in diesem Jahr zu
vertiefen und weiter zu konkretisieren. Zudem werden
sich die Forschenden der h_da und die Partner verschiedenen
weiteren Themenfeldern, wie beispielsweise einer effizien-
teren Energienutzung, zuwenden.

   Ein Projekt von
                                                                                L A U R A PA U L I               DR. FRANZISKA
                                                                                ist Politikwissenschaftlerin     R I S C H KO W S K Y
                                                                                und Wissenschaftliche            ist Volkswirtin und Wis-
                                                                                Mitarbeiterin der Schader-       senschaftliche Referentin
                                                                                Stiftung.                        der Schader-Stiftung.

                                                                                PROJEKT S:NE                                              17
WIE MARIA ZUM KINDE
K A M … O D E R: D I A LO G
ZWISCHEN EXPERTEN
UND LAIEN
Wie gut sind Bürgerinnen und Bürger im Feld der Sicherheitspolitik orientiert? Eine Dialog-
Werkstatt am 23. Februar 2019 diente dem intensiven Austausch zwischen Laien und Fachleuten
aus Wissenschaft und Praxis.

    Warum eigne gerade ich mich dazu, heute diese Dinner         während das lateinische „experior“ unter anderem so viel
Speech zu halten? Zunächst einmal bin ich selbst ein Laie,       bedeutet wie „erproben, probieren, kontrollieren, prüfen,
ein Nicht-Fachmann in Sicherheitsfragen. Dies ist allerdings     untersuchen“. In den 1860ern ist schließlich von wissen-
noch kein Alleinstellungsmerkmal. Ein weiterer Grund             schaftlichen Experten die Rede.
könnte den Dialog von Laien und Experten betreffen. Die in
der Nachkriegszeit geborene Idee der Evangelischen                    Eine besondere Problematik wohnt der „Expertokratie“
Akademie ist die Begegnung von Menschen an genau dieser          inne: die Rede ist von einer Regierung, bestehend aus Fach-
Grenze. Eine Veranstaltung wie diese ist meiner Meinung          leuten und Verwaltungskräften, die sich meist in Krisenzeiten
nach dann gut, wenn sie eine wirkliche und andersartige Be-      entwickelt und vorgeblich durch Überparteilichkeit aus-
gegnungsqualität schafft und wenn Experten verändert             zeichnet. De facto fehlt Expertokratien die demokratische
aus ihr herausgehen. Zuletzt könnte ich mir die Frage stellen:   Legitimation, sie sind latent antipluralistisch und blind für
Warum nicht ich? Ich bin Theologe. Theologen sprechen            normative Setzungen. Sie folgen meist einem streng rational-
über Gott, die Welt und Menschen. Wieso also nicht auch über     technizistischen Weltbild und verneinen vermeintlich
Sicherheitsfragen? Was ist eigentlich ein Experte oder eine      weiche, geisteswissenschaftliche Faktoren. Kennzeichen des
Expertin? Was ist ein Laie oder eine Laiin? Wie kommt Maria      Denkansatzes waren: Sachzwänge, Effizienz-Orientierung,
zum Kinde und was hat das mit Sicherheitsfragen zu tun?          Machtverlagerung aus Parlamenten in Expertenkommis-
                                                                 sionen, instrumentelle Vernunft, ein technizistisch-rationa-
     WA S I S T E I N E X P E R T E ?                            listisches Menschenbild und die Eliten-Bildung. Technik und
                                                                 Wissen legitimieren hier politische Macht und lassen diese
    Anders als der Begriff des „Sachverständigen“ ist der        letztlich verschwinden.
Begriff „Experte“ nicht gesetzlich geschützt. Er wird faktisch
häufig dazu verwendet, eigene Interessen durchzusetzen               Ich plädiere für das Verständnis eines Experten als nomen
und dies mit Fachwissenschaftlichkeit zu kaschieren. Der         agentis, als Subjekt einer Handlung, und nicht als nomen
Begriff ist verknüpft mit einer problematischen Entpoliti-       qualitatis, als Träger einer statischen Eigenschaft. Das heißt,
sierung, durch die politische Wertvorstellungen nicht mehr       man ist nicht Experte, sondern man wird es. Man wird es,
transparent gemacht werden. Die ersten Verwendungen              indem man verantwortlich handelt, stellvertretend Wissen
des Begriffs finden sich in den 1830er Jahren in Deutschland.    erwirbt, dieses transparent und allgemeinverständlich kom-
Abgeleitet werden kann er vom französischen „expert“,            muniziert, über Möglichkeiten und Risiken aufklärt und die
was so viel heißt wie „sachkundig“ oder „erfahren“. Das          eigene Perspektive in Prozesse offen-demokratischer Ent-
lateinische „expertus“ steht für „erfahren, erprobt, geprüft“,   scheidungsbildung einbringt.

18                        S C H A D E R - D I A LO G             M E H R … WA G E N .
WA S I S T E I N L A I E ?                                         Maria war keine Expertin. Sie war der Erzählung nach
                                                                  Jungfrau („Wie soll das geschehen, da ich doch von keinem
                                                                  Manne weiß“). In jedem Fall ist Jesus ihr erstes Kind. Maria
     Ein Laie wird klassischerweise ex negativo als der Nicht-
                                                                  war also Laiin. Und sie war es im theologischen Sinne.
Experte definiert. Ihm fehlt die Expertise. In der Kognitions-
                                                                  Maria hat (als Königin) entschieden: „Mir geschehe, was du
psychologie spricht man von verschiedenen Stadien, die
                                                                  gesagt hast“. Es gibt nicht nur ein politisches, sondern
man durchlaufen muss, um zum Experten zu werden. Die
                                                                  auch ein religiöses Überwältigungsverbot. Maria hat außer-
erste Stufe ist die vortheoretische Stufe, auf sie folgt die
                                                                  dem (als Priesterin) Opfer gebracht. Sie erträgt Flucht, Ver-
empirische Stufe. Die höchste Stufe ist schließlich die Ex-
                                                                  treibung und soziale Ausgrenzung. Mit den Leiden ihres
perten-Stufe: man hat ein systematisches Wissen, lang-
                                                                  Sohnes zeigt sich das mütterliche Mitleiden. Die Laien tragen
jährige Sachkenntnis, beherrscht Methoden und Fachsprache
                                                                  also die Risiken von Experten-Entscheidungen – gerade
und hat einen Überblick über das Fachgebiet. Das Problem
                                                                  auch bei Sicherheitsfragen. Zuletzt hat Maria (als Prophetin)
ist aber: dieses Verständnis von Laien bleibt unterkomplex.
                                                                  Zeitansagen gemacht und war aktiv als Botin beteiligt.

     Was ist ein Laie im theologischen Sinn? Ursprünglich
                                                                       So schwierig der Dialog mit den Laien ist, so wichtig ist
kommt der Begriffe „Laie“ von Laios, dem Gottesvolk. Laie
                                                                  es, auf ihre Stimme zu hören. Weil sie – in aller Schwierig-
ist hier definiert als Mitglied des Gottesvolkes, mithin als
                                                                  keit – gleichsam Prophetisches zu sagen haben. In diesem
Gotteskind. Die Mitgliedschaft entsteht durch Taufe als ein
                                                                  Sinne trage ich gerne als Laie etwas zu dieser Dialog-
Akt der Salbung. Die Vorstellung von der Salbung ist
                                                                  Werkstatt bei.
wichtig, sie geht zurück auf die dreifache Salbungshandlung
im Alten Testament an Königen, Priestern und Propheten.
                                                                  Der vorliegende Text gibt in stark gekürzter Version die
Das heißt, im theologischen Sinn ist jeder Laie König, Priester
                                                                  Dinnerspeech zur Eröffnung der Dialog-Werkstatt Sicherheits-
und Prophet. Oder, um, es mit einer protestantischen
                                                                  politik am 22. Februar 2019 wieder und ist im Volltext
Deutung der Schlagzeile der BILD-Zeitung aus dem Jahr
                                                                  unter www.schader-stiftung.de/sicherheitspolitik verfügbar.
2005 zu sagen: Wir sind Papst – allesamt.

    Was bedeutet dieses theologische Laien-Verständnis für           Mit freundlicher Unterstützung von
den Dialog zwischen Laien und Experten? Zunächst einmal
können Laien Könige sein: Sie, als Mehrheit der Bürger,
haben die Freiheit und Hoheit, zu entscheiden. Sie sind der
Souverän. Laien können auch als Priester betrachtet wer-
den. Sie tragen die Folgen ihrer Entscheidungen und bringen
Opfer; Laien sind die Betroffenen. Ein Laie kann auch als
Prophet wahrgenommen werden: Laien haben eine spezifische
Expertise, die für die Sachklärung wichtig ist. Diese gilt
es ernst zu nehmen. Die Frage muss also lauten: was erfahre
ich als Fachmann oder Fachfrau Neues? Wie gehe ich aus
dieser Begegnung hervor? Der Theologe und Philosoph
Schleiermacher sprach von der Zirkulation des Gemeingeistes:
Laien und Experten brauchen sich wechselseitig, der
Dialog zwischen ihnen zielt auf die Überwindung der natür-
lichen Ungleichheit ab. Womit wir schließlich bei Maria
angelangt wären.

   Ein Projekt von
                                                                                             D R . T H O R S T E N L AT Z E L
                                                                                             ist Theologe und Direktor
                                                                                             der Evangelischen Akademie
                                                                                             Frankfurt.

                                                                               EXPERTEN UND LAIEN                                19
I N F O R M AT I O N schader-stiftung.de

P R OJ E KT E
2 0 1 8 /2 0 1 9
Die Schader-Stiftung fördert seit 30 Jahren      N AC H H A LT I G D I G I TA L? M O B I L
die Gesellschaftswissenschaften. Ihr Anliegen    I N DA R M S TA D T
ist es dabei, den Praxisbezug der Gesell-
schaftswissenschaften und deren Dialog mit           15. Oktober, 26. November und 17. Dezember 2018;
                                                     23. Januar und 20. Februar 2019
der Praxis zu stärken. Zu diesem Zweck
stellt die Schader-Stiftung das Schader-Forum        Was können digitale Lösungen zur Bewältigung aktueller
in Darmstadt zur Verfügung.                      Probleme im Verkehr einer Stadt wie Darmstadt beitragen?
                                                 Wie können Anreize gesetzt werden, die Unternehmen und
                                                 Einzelpersonen dazu bringen, nachhaltigere Mobilitäts-
Schwerpunkte der Förderung setzen jeweils        optionen, wie das Fahrrad oder den Öffentlichen Nahverkehr,
die Themen des Großen Konvents der Schader-      zu bevorzugen. Welche institutionellen und legislativen
                                                 Rahmenbedingungen sind dafür notwendig? Wie können wir
Stiftung: „Mehr … wagen. ’68, ’18 und die        den Lieferverkehr optimieren, damit innerstädtische Quar-
politisierte Gesellschaft“ im Jahr 2018 und      tiere entlastet, unausgelastete Fahrten vermieden und Luft-
„DU BIST NICHT ALLEIN – Öffentlicher             und Lärmbelastung von Anwohnern geringer werden?
                                                 Kurz: Wie können die Chancen der Digitalisierung, die sich
Raum im Dialog“ als Konventsthema 2019. Hier     im Bereich Mobilität ergeben, so genutzt werden, dass
zu sind Anregungen und Anträge besonders         sie gleichzeitig auch einen Beitrag zur Nachhaltigen Ent-
willkommen.                                      wicklung leisten?

Ausführliche Dokumentationen der hier in
Auswahl vorgestellten Veranstaltungen finden
sich unter www.schader-stiftung.de

                                                    Diese und weitere Fragen wurden im Rahmen einer Reihe
                                                 von Salongesprächen zum Thema „Nachhaltig digital?
                                                 Mobil in Darmstadt“ mit Vertretern und Vertreterinnen aus
                                                 Wissenschaft, Wirtschaft, Verwaltung und Zivilgesellschaft

20                  S C H A D E R - D I A LO G   M E H R … WA G E N .
thematisiert. Bezugsrahmen waren dabei immer die konkreten
Gegebenheiten in der Wissenschaftsstadt Darmstadt. Die           DIE KIRCHEN UND DER
Veranstaltungsreihe setzt sich im Jahr 2019 fort. Die Salonge-   POPULISMUS
spräche finden im Rahmen des Projektes „s:ne – System-
innovation für Nachhaltige Entwicklung“ der Hochschule
                                                                    10. bis 12. September 2018
Darmstadt statt, bei dem die Schader-Stiftung einer der
lokalen Partner ist und die Verantwortung für ein Teilvorhaben
                                                                     Ist Religion „Schutzfaktor“ gegen oder „Einfallstor“ für
übernommen hat.
                                                                 Populismus? Welche Rolle spielen christliche Kirchen in-
                                                                 nerhalb der gestiegenen Akzeptanz populistischer Bewegungen
             W W W. S C H A D E R - S T I F T U N G . D E /
                                                                 in der Gesellschaft?
             N AC H H A LT I G _ D I G I TA L

                                                                     Die christlichen Kirchen sind zivilgesellschaftliche Agen-
                                                                 turen, die einerseits dezidiert Standpunkte gegen populistische
S U B S I D I A R I TÄT                                          Bewegungen beziehen, andererseits selbst an populistischen
                                                                 Bewegungen partizipieren und Mitglieder haben, die solchen
   20. November 2018                                             angehören. Positionen populistischer Parteien sind mit
                                                                 Mustern religiöser Sinngebungen verbunden. Zur Frage des
    Auf kommunaler Ebene stellt Subsidiarität einerseits ein     Umgangs mit populistischen Tendenzen gab es in der
Leitbild dar, das dem Schutz kleinerer, nichtstaatlicher         jüngsten Vergangenheit intensive Auseinandersetzungen in
Einheiten vor einem Zuviel an staatlichen Eingriffen dient,      Gemeinden und Kirchenleitungen.
andererseits birgt der Begriff eine realpolitische Forderung,
mit der sich Kommunen konfrontiert sehen. Sie sollen das              Aufschluss über kulturelle und spezifisch religiöse An-
Erbringen sozialer Leistungen dem Anspruch der Subsi-            schlussstellen für populistische wie antipopulistische
diarität entsprechend gestalten. Doch was heißt das genau?       Haltungen versprechen dezidiert interdisziplinär geführte
Und ist dieses althergebrachte Prinzip auch in heutigen Zeiten   Analysen. Die Tagung, veranstaltet von der Schader-
noch angemessen?                                                 Stiftung, der Wissenschaftlichen Gesellschaft für Theologie
                                                                 (WGTh) und vielen Fachpartnern, wurde gefördert durch
    Zur Diskussion dieser und weiterer Fragen traf sich im       die Evangelische Kirche in Hessen und Nassau (EKHN) und
November 2018 ein Kreis von Fachleuten aus Wissenschaft          die EKHN Stiftung. Sie ging den beiden Kernfragen aus
und Praxis im Schader-Forum. So waren Darmstädter                soziologischer und politikwissenschaftlicher, publizistischer
Stadtverordnete und Mitglieder des Landkreistages ebenso         und kommunikationswissenschaftlicher sowie ethischer,
anwesend wie Vertreterinnen und Vertreter von Wohlfahrts-        praktisch-theologischer und kirchenhistorischer Perspektive
verbänden, von privat-gewerblichen Einrichtungen im sozialen     nach. An der Debatte beteiligten sich neben Fachleuten
Bereich sowie Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler           aus Wissenschaft und Praxis auch die leitenden Geistlichen
aus unterschiedlichen Disziplinen. Zu dieser Runde hatte –       dreier Landeskirchen bzw. Bistümer. Diskutiert wurde die
neben der Schader-Stiftung – die kommunale Ebene ein-            Frage, welche Orientierungen sich aus diesen multi-perspek-
geladen, vertreten durch die Sozial- und Jugenddezernentin       tivischen Analysen für die kirchliche Praxis und soziale
des Landkreises Darmstadt-Dieburg und die Sozialdezer-           Dienste ergeben. Die WGTh wird die Tagungsbeiträge in
nentin der Wissenschaftsstadt Darmstadt, die beide in ihrer      einem Sammelband publizieren.
täglichen Arbeit mit der Frage der Subsidiarität konfrontiert
sind.                                                                         W W W. S C H A D E R - S T I F T U N G . D E /
                                                                              KIRCHEUNDPOPULISMUS
    So entwickelte sich eine Gesprächsrunde, ein Thinktank
im Wortsinne, also ein Reservoir, in dem gedacht, disku-
tiert und nachgefragt wurde, Standpunkte und Sichtweisen
aber nicht im Vorhinein feststanden.

             W W W. S C H A D E R - S T I F T U N G . D E /
             S U B S I D I A R I TA E T

                                                                              PROJEKTE 2018 / 2019                             21
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