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Online Encyclopedia Philosophy of Nature Online Lexikon Naturphilosophie © Umweltethik Konrad Ott Der Artikel skizziert die sieben wesentlichen Argumentationsmuster, die zum Schutz von Naturwesen bzw. Naturgütern vorgebracht werden können. Dies geschieht vor dem Hintergrund einiger ontologischer Annahmen über Umwelten, Natur und Wildnis, des Begriffs des Schutzes und des Hinweises auf unter- schiedliche theoretische Ansätze („Paradigmata“) in der Umweltethik. Diese sieben Argumentationsmuster beziehen sich auf unterschiedliche Werthinsichten von Natur: Angewiesenheit auf natürliche Ressourcen, Erfahrungsformen guten Lebens, Zukunftsverantwortung in Ansehung von Natur, moralischer Selbstwert von bestimmten Naturwesen, tugendhafte Einstellungen, sog. ökosophische Weltbilder und religiöse Zugangsweisen. Im Medium dieser Argumente kann ein einseitig auf Beherrschung und Nutzung beruhendes Naturverhältnis erweitert und korrigiert werden. Die Rekonstruktion ermöglicht es allen umweltethisch interessierten Personen, eigenständig eine vertretbare Konzeption von Umweltethik zu entwickeln, indem sie sich im Medium präsumtiv guter Gründe bewegen. Zitations- und Lizenzhinweis Ott, Konrad (2022): Umweltethik. In: Kirchhoff, Thomas (Hg.): Online Encyclopedia Philosophy of Nature / Online Lexikon Naturphilosophie. ISSN 2629-8821. doi: 10.11588/oepn.2020.0.68742. Dieses Werk ist unter der Creative Commons-Lizenz 4.0 (CC BY-ND 4.0) veröffentlicht. Biologie und Ökologie sind Naturwissenschaften, die 1. Einführung beispielsweise nicht begründen können, warum Arten Die Umwelt- oder Naturethik als ein mittlerweile eta- geschützt werden sollen. Im Folgenden wird der bliertes Feld der interdisziplinär orientierten praktischen etablierte Ausdruck „Umweltethik“ beibehalten. Philosophie rekonstruiert die wesentlichen Argumenta- tionsmuster, die zum Schutz von natürlichen Entitäten 1.1 Gegenstandsbereich und zur nachhaltigen Nutzung der Naturgüter geltend gemacht werden können (Krebs 1997; 1999; Brenner 2008; Schutz ist ein Wertbegriff; geschützt werden soll, was Ott 2010). Terminologisch hat sich der Ausdruck „Umwelt- aufgrund seiner Werthaftigkeit des Schutzes würdig und ethik“ als Übersetzung von „environmental ethics“ im aufgrund bestimmter Umstände schutzbedürftig ist deutschsprachigen Raum durchgesetzt, obgleich „Natur- (Rolston 1988). Schutz kann normativ institutionalisiert ethik“ sachlich präziser ist. Den Ausdruck „Bioethik“ sollte werden (etwa durch Ausweisung von Schutzgebieten). man für die moralischen Themen der medizinnahen Die Umweltethik setzt bei ihren argumentativen Lebenswissenschaften reservieren, obschon es einige Bemühungen ontologisch voraus, dass es natürliche Überschneidungen zwischen Bio- und Naturethik gibt Entitäten („Naturwesen“) realiter gibt und dass die (etwa im Bereich der Umweltgesundheit). Der gelegent- Rede von Natürlichkeit sinnvoll bleibt (Lie 2016; lich verwendete Ausdruck „ökologische Ethik“ könnte Birnbacher 2019), obschon in der heutigen Welt viele zu der Fehldeutung führen, als könnte auf der Grund- Naturwesen mit menschlichen Praxisformen vermittelt, lage der wissenschaftlichen Ökologie eine Ethik errichtet das heißt graduell überformt sind. Der Gegenstands- werden (Eser/Potthast 1999). Dies ist aufgrund des bereich der Umweltethik sind diejenigen Entitäten, Verbots des sog. naturalistischen Fehlschlusses nicht deren Entstehung, Existenz und Lebensvollzüge sich möglich (Potthast/Ott 2016). Dieses Verbot besagt, nicht ausschließlich oder primär menschlichem dass aus Tatsachenbehauptungen und Naturgesetzen Handeln verdanken. Diese Entitäten bezeichnen wir keine normativen Aussagen abgeleitet werden können. als „Naturwesen“. Daher zählt die Tierethik, deren
Online Encyclopedia Philosophy of Nature | Online Lexikon Naturphilosophie Konrad Ott | Umweltethik | 2022 | https://doi.org/10.11588/oepn.2020.0.68742 Gegenstandsbereich sowohl die domestizierten als auch 1.3 Werthinsichten (Axiologie) die wild lebenden Tiere, vor allem die Wirbeltiere sind, wesentlich zur Umweltethik. Werden Lebewesen Man kann die Werthinsichten von Naturwesen sieben biotechnisch stark modifiziert (etwa Labormäuse), ist Kategorien bzw. Argumentationsmustern zuordnen: von „Biofakten“ (Karafyllis 2003) zu sprechen. Die • Angewiesenheitswerte und instrumentelle Werte Grenzen zwischen Naturwesen und Biofakten sind • kulturell-eudaimonistische Werte fließend. Der Umweltbegriff wiederum bezieht sich, • Zukunftsverantwortung und Nachhaltigkeit strenggenommen, auf diejenigen Umwelten, in denen • (existentielle) Tugenden Menschen oder außermenschliche Lebewesen faktisch • moralische Selbstwerte für bestimmte Naturwesen existieren. So leben viele Menschen in artifiziellen • neue „ökosophische“ Weltbilder und Umwelten (Bibliotheken, Büros, Fabrikanlagen, Sport- • religiöse Traditionen. hallen, Tiefgaragen usw.). Die Gestaltung derartiger Diese Kategorien schließen einander nicht aus, können Umwelten fällt nicht in das Kerngebiet der Umwelt- also in unterschiedlichen Variationen vertreten werden. ethik. Daraus ergibt sich, dass es mehr als nur eine, aber nicht unendlich viele vertretbare Varianten und Konzepte von Umweltethik geben kann. Als reflexive Disziplin möchte 1.2 „Natur“ die Umweltethik keine bestimmte Moral verbindlich vor- „Natur“ ist der Inbegriff für alle Naturwesen, seien sie schreiben, sondern es Personen ermöglichen, sich diese lebendig oder unbelebt. Natur ist dabei nicht mit Kategorien kritisch und diskursiv, das heißt im Austausch Wildnis gleichzusetzen. Daher ist die Rede von einem mit anderen Personen, selbst anzueignen (siehe auch Ott/ „Ende der Natur“ (im Sinne von McKibben 1989) Reinmuth 2021). Eine letztverbindliche Umweltethik falsch, die auf dieser Gleichsetzung beruht. Der Planet wird es schon aus begründungs- und argumentations- enthält nach wie vor viele Naturwesen. Natur ist inso- theoretischen Erwägungen nicht geben können, da fern ein Skalenbegriff zwischen den Polen „Wildnis“ zentrale Probleme wie das Inklusionsproblem bislang und „Artefakt“. Der Wildnisbegriff differenziert sich fundamental umstritten sind und unterschiedliche zwischen dem Idealpol einer absoluten Wildnis ohne Theorietypen von Umweltethik miteinander existieren. jeglichen menschlichen Einfluss und einer relativen Wildnis, in der der menschliche Einfluss nachweisbar, 1.4 Umweltethische Theorietypen aber für das Naturgeschehen unerheblich ist. Absolute Wildnis dürfte es (vielleicht) noch in der Antarktis und Man kann drei Theorietypen unterscheiden. Der „klas- der Tiefsee geben. Weiterhin kann man primäre von sische“ Theorietypus rückt das Inklusionsproblem und sekundärer Wildnis unterscheiden, wobei jene histo- damit die Frage nach moralischen Selbstwerten für risch ursprünglich ist, während diese für Gebiete Naturwesen in den Mittelpunkt, rechtfertigt eine zutrifft, die geschichtlich genutzt worden sind, aber in bestimmte Lösung (siehe unten) und leitet hieraus eine denen die menschliche Nutzung eingestellt wurde Naturschutzkonzeption ab, die Grundsätze, Tugenden und (wie etwa in Kernzonen von Nationalparken). Auch Vorrangregeln umfasst. Ein Musterbeispiel für diesen relative und sekundäre Wildnisse sowie überformte Theorietypus ist Paul Taylors „Respect for Nature“ (1986). Naturgebilde (etwa die Lüneburger Heide) können Ein zweiter Theorietypus ist der Umweltpragmatismus, durchaus schutzwürdig sein. Häufig verwendete natur- der von menschlichen Praxisformen im Umgang mit schutzfachliche Kriterien für Schutzwürdigkeit sind Natur ausgeht (Land- und Forstwirtschaft, Fischerei, Naturnähe, Seltenheit, Standortgemäßheit und Gefähr- Jagd, Segeln, Wandern, Gärtnern, Hege und Pflege usw.) dung. Die naturschutzfachlichen Einstufungskonzepte und die darin involvierten Werte expliziert und ordnet. (Usher/Erz 1994; Romahn 2003) setzen umwelt- Hierzu zählt die Praxis des Naturschutzes mitsamt ihren ethische Argumente voraus. Sie sind daher begrün- diversen Leitlinien sowie der Renaturierung (Ott 2015b). dungstheoretisch an die Umweltethik rückgebunden. Ein Musterbeispiel für den Umweltpragmatismus ist Bryan Über die naturphilosophischen Grundlagen der Umwelt- Nortons „Sustainability“ (2005). Einen dritten Theorie- ethik informieren Beiträge in Kirchhoff et al. (2020). typ stellen die sog. postmodernen Umweltethiken dar, Online Encyclopedia Philosophy of Nature | Online Lexikon Naturphilosophie 2
Online Encyclopedia Philosophy of Nature | Online Lexikon Naturphilosophie Konrad Ott | Umweltethik | 2022 | https://doi.org/10.11588/oepn.2020.0.68742 die sich einer einfachen Charakterisierung entziehen erfüllten Leben hinzugehören (Ott 2016). Diese Werte (wollen). In diesen Ansätzen spielen Narrative, Literatur, gliedern sich auf in unterschiedliche Weisen von Natur- bildhafte Darstellungen, alternative mediale Natur- genuss wie etwa naturästhetische Erfahrungen (Seel zugänge und ein spielerischer Umgang mit den Möglich- 1991), Heimatgefühle angesichts vertrauter Landschaften keiten, Mensch-Umwelt-Verhältnisse zu inszenieren, (Scruton 2012) und Erholung in der Natur. Diese Werte eine gewichtige Rolle. Musterbeispiele für postmoderne vermitteln sich mit naturverbundenen Praktiken wie Umweltethiken sind Donna Haraways „Staying with the Gärtnern, Wandern, Segeln, Tauchen usw. Die Natur- Trouble“ (2016) und Timothy Mortons „Dark Ecology“ phänomenologie bietet eine philosophische Methode, (2016). Ein Vorschlag zur Wahl des Theorietyps erfolgt Arten und Weisen des erlebten und erfahrenen Natur- am Ende des Artikels. genusses sprachlich zu artikulieren (Böhme/Schiemann 1997). Die eudaimonistischen Werte erklären, warum viele Menschen Naturkontakte in ihrem Leben nicht 2. Angewiesenheitswerte missen möchten. Sie untergliedern sich in den Wert der Angewiesenheitsargumente machen geltend, dass Men- Erholung in der Natur, der Erfahrung des Naturschönen, schen als leiblich verfasste und prekäre Wesen auf einen der Vertrautheit heimatlicher Landschaften bis hin zum kontinuierlichen Metabolismus mit einer äußeren Natur Wert von Einheitserfahrungen. Bryan Norton (1987) hat angewiesen sind, zu dessen Aufrechterhaltung auch ein geltend gemacht, dass Naturerfahrungen Menschen pfleglicher Umgang mit natürlichen Ressourcen und nicht unverändert lassen, sondern auf ihre Einstellungen Umweltmedien zählt. Dieser Metabolismus sollte auf- und Haltungen transformierend wirken („transformative grund des Wertes der leiblichen Gesundheit möglichst values“). Diese Transformationswerte führen zu Fragen schadstoffarm vonstattengehen, weshalb der Eintrag einer Umwelttugendethik (siehe unten). Ähnliches gilt von Gift- und Schadstoffen minimiert werden sollte auch für die Auffassung, Natur sei eine unverzichtbare (Schäfer 1993). Hieraus ergeben sich Konzepte natur- „Resonanzsphäre“ für menschliche Erfahrungen (Rosa verträglichen und schadstoffarmen Wirtschaftens. Im 2014). Bereich der Schadstoffe kommt es umweltpolitisch auf die Setzung von Grenzwerten an, in die normative 4. Zukunftsverantwortung und Nachhaltigkeit Annahmen wie etwa Vorsorge und Schutz vorgeschä- digter Personen eingehen. Strikte Vorsorgegrenzwerte Die Werte der ersten beiden Kategorien (Angewiesenheit/ (wie für Feinstäube) konkurrieren dann freilich mit ein- Gesundheit, Naturgenuss/Transformationswerte) können gespielten Üblichkeiten (wie dem Individualverkehr). in eine intergenerationelle Perspektive übertragen werden. Der vorausgesetzte Wert menschlicher Gesundheit führt Es geht dann um die Kunst, in Ansehung von Natur lang- dann auch zu der Frage, ob und inwieweit Aufenthalte in fristig zu denken (Klauer et al. 2013), und um die Frage, auf bestimmten Naturformationen (Wald, Küste, Gebirge) der welche Naturausstattung zukünftige Generationen legitime leiblichen Gesundheit förderlich sind. Die Heilwirkungen Ansprüche haben könnten (Zukunftsverantwortung). von Wäldern und Küsten und die gesundheitsförderlichen Diese Frage führt in Theorien und Konzepte von Nach- Tätigkeiten des Wanderns und Badens werden auch haltigkeit (hierzu Ott/Döring 2011) und damit zugleich medizinisch nicht mehr in Frage gestellt. Gesundheits- in die Problemfelder des Klimawandels, der Land- und bezogene und kulturelle Gründe verschränken sich in Forstwirtschaft, der Renaturierungsökologie und auch des sozialen Bewegungen wie in früheren Zeiten etwa in der Meeresschutzes einschließlich der Fischerei. In einer Lebensreform- und Wandervogelbewegung (Wolschke- Grundkonzeption von Nachhaltigkeit, die auf den Schutz Buhlman 1990; Wedemeyer-Kolwe 2017). und die Förderung der Naturkapitalien großen Wert legt (sog. „starke“ Nachhaltigkeit), stellt der Naturschutz eine wesentliche Dimension von Nachhaltigkeitspolitik dar 3. Eudaimonistische Werte (Ott 2015b). Übersichtsartikel zu Spezialgebieten wie Kulturelle oder eudaimonistische („eudaimonia“ = gutes etwa Klimaschutz, Renaturierung, Moorschutz, Ozean Leben) Werte machen geltend, dass Naturerfahrungen und Fischerei finden sich im „Handbuch Umweltethik“ wesentlich zu einem reichen, gelingenden und sinn- (Ott et al. 2016). Online Encyclopedia Philosophy of Nature | Online Lexikon Naturphilosophie 3
Online Encyclopedia Philosophy of Nature | Online Lexikon Naturphilosophie Konrad Ott | Umweltethik | 2022 | https://doi.org/10.11588/oepn.2020.0.68742 Werthinsichten in unterschiedlichen kulturellen und 5. Umwelttugendethik geschichtlichen Kontexten aneignen, werden sie ipso Die Werte und Verpflichtungen dieser ersten drei facto zu naturverbundenen Persönlichkeiten. Menschen Kategorien (Angewiesenheit, eudaimonistische Werte, dürften als Erbschaft der Koevolution womöglich auch Nachhaltigkeit) führen fast zwangsläufig zu der Frage, eine biophile Neigungsstruktur besitzen (Wilson 1984), welche Art von Mensch jemand im Zeitalter des Anthro- die allerdings in der Moderne unterdrückt oder (als pozän sein möchte, wenn man sich als vergängliches „Romantik“) belächelt wurde. Es kann zu einem auf- naturverbundenes Glied in einer Reihe von Generationen regenden Experiment mit der eigenen Leiblichkeit und versteht. Diese Frage bezieht sich auf unterschiedliche Sinnlichkeit werden, an sich selbst in phänomenologischer Einstellungen in Anbetracht von Natur einschließlich Einstellung biophile Neigungen freizulegen, etwa im Nach- der eigenen leiblichen Naturseite. vollzug archaischer Leiberfahrungen (im Sinne von Rappe Diese Fragerichtung führt in den Bezirk einer Umwelt- 1995). Vertretbar sind auch Konzepte, die (starke) Bio- tugendethik (Sandler/Cafaro 2005). Hege und Pflege, philie mit (schwacher) Biozentrik zu einer existentiellen Schonung, Rücksicht, Mäßigung, aber auch freudige Grundhaltung des Schonens und Förderns lebendiger Zuwendung, Lebensbejahung und Dankbarkeit sind Strukturen verknüpfen (Wetlesen 1999). Daher kann es einige diesbezügliche Haltungen. Jede Tugendethik hat unterschiedliche authentische „Umwelttugendstile“ eine pädagogische Dimension. Die Umwelttugendethik geben, die sich an religiöse Überlieferungen anlehnen vermittelt sich daher mit den Praktiken der Umwelt- und wie etwa schamanische, buddhistische, daoistische und Naturbildung. Die Umwelttugendethik kennt freilich nicht pagane Stile. nur Tugenden, sondern auch Laster, was die Gefahr eines ungezügelten Moralisierens von heutigen Lebensstilen 7. Physiozentrik als „lasterhaft“ mit sich bringt. So findet sich in der Umwelttugendethik gelegentlich eine eigentümliche Die Kategorie der moralischen Selbstwerte (auch oft Rekordsucht maximalen Verzichten-Könnens verbunden „Eigenwerte“ genannt) führt über die Anthropozentrik mit Appellen, den Rekordhalterinnen oder Rekordhaltern hinaus, sofern und indem sie zum Schutz von bestimmten nachzueifern. Die Umwelttugendethik sollte demgegen- Naturwesen um ihrer selbst willen führt (sog. Physio- über auch Unzulänglichkeiten, Gewohnheiten, verfehlte zentrik). Naturwesen sind um ihrer selbst willen zu Anreizsysteme, Klügeleien und Willensschwäche in Rech- schützen genau dann, wenn ihnen eine moralisch nung stellen und die umweltethische Perfektibilität der relevante Eigenschaft zukommt. Die wohl sicherste Menschen nicht gleichsam mit der Brechstange durch- moralisch relevante Eigenschaft liegt in der Fähigkeit, setzen wollen. Asketen sind immer das gelebte Paradox sein eigenes Handeln an moralischen Maßstäben zu des abschreckenden Vorbildes. orientieren. In diesem Sinne haben für Immanuel Kant Würde nur Wesen, die in der Lage sind, anhand des Kategorischen Imperativs ihre Maximen auf Verallge- 6. Anthropozentrik: Schutzgüter und Biophilie meinerbarkeit hin zu prüfen (Kant 1785). Diese Wesen Die bisherigen Kategorien sind anthropozentrisch, das sind immer auch um ihrer selbst willen zu achten. heißt sie beruhen zwar auf einem umfassenden praktischen Würde bedeutet, sich mit Gründen an Gründen orien- Vernunftinteresse an gelingenden Naturbeziehungen, tieren zu können. Möglich ist es auch, Menschen, die erkennen aber nur Menschen Würde und Rechte zu. entweder noch nicht oder nicht mehr über diese Naturwesen sind in der Anthropozentrik Bestände von humanspezifische Fähigkeit verfügen, aus Gattungs- Naturkapitalien, die nachhaltig zu bewirtschaften sind, solidarität derivativ Würde zuzuschreiben. Es ist jedoch oder Naturgüter, die aufgrund ihrer Schönheit, ihrer ethisch falsch, Kants Selbstzweckformel aus ihrem Seltenheit, ihrer Erholungswirksamkeit usw. unter Schutz Begründungskontext zu lösen und sie einfach auf Lebe- zu stellen sind. Das Verständnis dieser Kategorien erhellt, wesen oder alles Existierende auszuweiten. Die Kategorie dass Menschen dabei keineswegs als Wesen vorgestellt der Würde lässt sich nicht auf Naturwesen beziehen, werden müssen, die gierig und kurzsichtig die Natur obwohl sich diese Terminologie häufig findet, etwa wenn plündern. Sofern sie sich Natur in den bisher genannten von „Pflanzenwürde“ gesprochen wird. Online Encyclopedia Philosophy of Nature | Online Lexikon Naturphilosophie 4
Online Encyclopedia Philosophy of Nature | Online Lexikon Naturphilosophie Konrad Ott | Umweltethik | 2022 | https://doi.org/10.11588/oepn.2020.0.68742 Nun kann es durchaus mehr als nur genau eine 8. Ökologische Weltbilder moralisch relevante Eigenschaft und Status-Kategorie geben, darunter auch solche, die Naturwesen zukommen. In ökologischen Weltbildern wie der Tiefenökologie von Bestimmte Eigenschaften führen nicht zum Status Arne Næss (Næss 1989) schließlich wird die Umweltethik „Würde“, sondern zum Status der direkten Berücksich- nicht axiologisch oder moralisch, sondern ontologisch fun- tigungswürdigkeit, das heißt sie fungieren als Kriterium diert (Hendlin 2016). Zu diesen Ansätzen rechnet auch Klaus für die Zu- oder Aberkennung moralischen Selbstwertes Michael Meyer-Abichs an Nikolaus von Kues anknüpfender (→ Inklusionsproblem) (Ott 2008; Warren 2000). In der metaphysischer Holismus (Meyer-Abich 1997). Es wird Physiozentrik werden unterschiedliche Kriterien direkter zumeist davon ausgegangen, dass die Natur („physis“, zu moralischer Berücksichtigungswürdigkeit diskutiert. So diesem Begriff siehe Dunshirn 2019) sich unterschiedlichen werden Empfindungsfähigkeit (Sentientismus), spürendes Menschen an unterschiedlichen Orten auf unterschiedliche Gewahren (Zoozentrik), Lebendig-Sein (Biozentrik), bio- Weise zeigen (Heidegger 1976: „lichten“) kann und dass zönotische Selbstorganisation (Ökozentrik) oder Existenz die modernen Deutungen von Natur als wertfreier Ob- (Holismus) als moralisch relevante Eigenschaften bzw. jektivität (Physikalismus) und nutzbares Ressourcenlager Kriterien geltend gemacht. Auch der Begriff des Interes- (Ökonomik) nur zwei von vielen möglichen Deutungen ses wird als Kriterium herangezogen, wobei zwischen sind. Die Tiefenökologie bestreitet insofern das Deutungs- schwachen und starken Interessen unterschieden wird. monopol des modernen wissenschaftlichen Weltbildes Ein starkes Interesse liegt vor, wenn ein Naturwesen auf eine Weise, die diesem Weltbild nicht direkt wider- ein Interesse an etwas nimmt bzw. dieses Interesse spricht. Der Physik zeigt sich die Natur als Objektivität unter „hat“. Ein schwaches Interesse liegt vor, wenn etwas Gesetzen. Einer technischen Welteinstellung (Heidegger im Interesse eines Naturwesens ist. Ein Löwe hat 1962: „Gestell“) zeigt sie sich als Ressourcenbasis. Die Interesse, während Wasser im Interesse einer Topf- Natur wird hierdurch physikalistisch und technologisch pflanze ist. „festgestellt“. Dadurch werden andere Naturzugänge Eine angemessene Lösung des Inklusionsproblems versperrt. Diese Sperrungen will die Tiefenökologie könnte darin liegen, die Eigenschaften der Empfindungs- lösen. Religiöse, spirituelle und „ökosophische“ Natur- und der Kommunikationsfähigkeit zu einem gradier- deutungen und -zugänge gelten in der Tiefenökologie als baren Konzept von Weltoffenheit zu verknüpfen (Ott Bedingungen der Möglichkeit, Auswege aus der Natur- 2015a), an das sich eine komplexe Kasuistik anschließt, krise der Moderne zu finden. Ethisch steht die Tiefen- die von Schimpansen und Walen über Libellen und ökologie, wie Næss sie verstand, der Tugendethik am Spinnen, für manche gar bis hin zu Pflanzen reicht. nächsten. Da Næss (aufgrund seiner philosophischen Entscheidend ist bei dieser Eigenschaft der Weltoffen- Ausbildung im empiristisch-logisch orientierten „Wiener heit, dass ein Naturwesen aufgrund seiner organi- Kreis“) glaubte, moralische Forderungen und Gebote schen Ausstattung (Gehirn, Nervenzellen) etwas seien letztlich Befehle, entwickelte er seine Umweltethik von seiner Umwelt mitbekommt, eigene Freude und über eine Grenzbestimmung der kantischen Pflichten- eigenen Schmerz empfinden und sich anderen durch lehre, nämlich der „schönen Seele“, die aus Neigung tut, Laute oder körperliche Signale (wie etwa Bienen was ihr die Pflicht aufträgt. Anhängerinnen und Anhänger durch ihre „Tänze“) mitteilen kann. Diese Lösung der Tiefenökologie bedürfen der Pflichten und Gebote schließt alles Anorganische, Gene, Viren und – je nur als provisorischer Anhaltspunkte; sie handeln „richtig“ nach empirischem Befund – auch große Gruppen aus Freude und Großmut. Nichts ist für sie „schöner“ als von Organismen (Phyto- und Zooplankton, Bakte- äußerlich einfach im Einklang mit der Natur zu leben und rien, Pilze und Pflanzen) aus der Moralgemeinschaft sich mit Naturwesen zu identifizieren (Næss: „widening aus. Allerdings ist es innerhalb der neueren Pflanzen- identification“). Das Inklusionsproblem wird in der Tiefen- physiologie und -ökologie umstritten, mit welchen ökologie im Sinne des Physiozentrismus behoben, ohne Begriffen das komplexe Verhalten von Pflanzen dass hierfür, wie geglaubt wird, rationale Begründungen (etwa die biochemische Informationsübertragung als vonnöten wären. Selbstwert der Natur ist für Tiefenöko- „Kommunikation“) beschrieben werden sollte. Zur logen eine Selbstverständlichkeit, die einer Begründung Pflanzenethik siehe Kallhoff (2002). nicht bedürftig ist. Online Encyclopedia Philosophy of Nature | Online Lexikon Naturphilosophie 5
Online Encyclopedia Philosophy of Nature | Online Lexikon Naturphilosophie Konrad Ott | Umweltethik | 2022 | https://doi.org/10.11588/oepn.2020.0.68742 in der Tradition des Pragmatismus (vgl. Schneider 1963: 9. Religiöse Traditionen Kapitel VIII und IX), insofern er seinen Ausgang bei Die Religionen sind Traditionen auch des Naturumgangs menschlichen Praxisformen im Umgang mit Natur und sind auf ihre Stellungen zur säkularen Umweltethik nimmt und diese Praxisformen auf reformerische Weise befragt worden (siehe Beiträge in Jenkins et al. 2017). naturverträglicher gestalten möchte. Eine Koalition aus Was die jüdisch-christliche Tradition anbetrifft (siehe Diskursethik und Pragmatismus könnte sich als philoso- Link 1991; Neumann-Gorsolke 2004), so wurde dem phisch robuste und tragfähige Grundlage der Umwelt- angeblich „harten“ Unterwerfungsauftrag des priester- ethik erweisen. schriftlichen Schöpfungsnarrativs der angeblich „sanfte“ Die Umweltethik ist nicht an eine bestimmte geschicht- Auftrag entgegengestellt, den Fruchtgarten zu „bebauen liche Epoche gebunden, da die Frage nach gelingenden und zu bewahren“ (Gen 2, 15). Diese Lesart verfehlt aller- und guten Mensch-Natur-Verhältnisse mindestens so alt dings beide Schöpfungsnarrative. Eine Neulektüre des ist wie die Philosophie selbst. Eine umfassende Übersicht Sechs-Tage-Werkes, an das der Höhepunkt des Sabbats findet sich bei Clarence J. Glacken (1967). Gleichwohl ver- anschließt, führt zu einer komprimierten Merkformel wundert es nicht, dass die Umweltethik als akademische für den Menschen, der in der Zusage des (Prokreations-) Disziplin in einer Epoche entstand, in der die Diagnosen Segens als ein bildhaftes Zeichen und als Mandatar inmitten einer globalisierten Naturkrise nicht mehr ignoriert werden einer sehr guten Schöpfung verantwortungsvoll „coram konnten. Als diagnostische Überschrift für unsere Epoche Deo“ („lebend in der Gegenwart Gottes") aufzutreten bietet sich der geologische Ausdruck „Anthropozän“ an (vgl. befugt ist (siehe Hardmeier/Ott 2015). Ein Gipfelpunkt Ehlers/Krafft 2006). Viele Menschen auch der jüngeren dieses Schöpfungsnarrativs ist das exklamatorische „hinne“: Generation erleben die Jetztzeit in der Verschränkung von „Ja, sieh doch nur“, mit dem die Augen des Mandatars auf Lebens- und Weltzeit, in der viel auf dem Spiel steht. Kann die Pracht der Natur (als Schöpfung) gerichtet werden. die Menschheit in naher Zukunft den Klimawandel, den Im Rahmen einer post-säkularen Übersetzungsarbeit, wie Verlust an Biodiversität, den Schwund an fruchtbaren sie Jürgen Habermas (2005) vorgeschlagen hat, können Böden und die Rodung der Primärwälder, die Versauerung religiöse Personen ihren säkular und agnostisch einge- und Vermüllung der Ozeane, die Ausweitung urbaner stellten Mitbürgerinnen und Mitbürgern erläutern, warum Strukturen und auch das Wachstum der menschlichen es für sie guten Sinn ergibt, „coram Deo“ zu leben „etsi Population stoppen oder wenigstens begrenzen? Werden Deus non daretur“ („auch/als wenn es Gott nicht gäbe“). sich Konzepte von Nachhaltigkeit durchsetzen oder werden Diese Erläuterungen können selbstverständlich keine autoritäre oder liberalistische Politikstile an Dominanz Beweisführungen sein. gewinnen, für die Umweltfragen sekundär sind? Dabei ist es nicht entscheidend, ob das Anthropozän 1950, 1750, 1550 oder bereits im Neolithikum (so Scott 10. Fazit 2017) seine Ursprünge hat. Entscheidend ist, ob die Um- Insgesamt korrigiert oder erweitert die Umweltethik weltethik im voll ausgeprägten Anthropozän der Jetztzeit aufgrund ihrer unterschiedlichen Argumentationsstränge den entscheidenden Schritt von der bloßen Moralität (Kant) ein primär an Beherrschung und Ausnutzung interes- zur wirklichen Sittlichkeit (Hegel) gehen kann. Sittlichkeit siertes Naturverständnis. Das vertiefte Begreifen der schließt Kultur, Recht, Ökonomie und Politik ein. Diesen Argumente ermöglicht es jeder verständigen Person, sich Schritt kann die Umweltethik nicht alleine gehen. Für sich eine eigene Konzeption von Umweltethik anzueignen, genommen, ist sie dazu verurteilt, im Medium der Reflexion indem sie sich mit Gründen an Gründen orientiert. und der Analyse der aufgezeigten Argumentationslinien Diese Konzeptionen lassen sich dann in übergreifende und Kategorien zu verbleiben. Sie hat keine Kraft außer dem philosophische Strömungen und Theorietypen einord- zwanglosen Zwang guter Gründe. Es muss zwar der trans- nen. Durch diese Einordnung bekommt eine inhaltliche zendentale Wille der Umweltethik sein, im Anthropozän Konzeption ein philosophisches Profil. Eine stark an der zur Gestalt des objektiven Geistes (im Sinne Hegels) zu Praxis der Argumentation orientierte Konzeption ordnet werden, aber dieser transzendentale Wille muss gesell- sich einer Diskurstheorie praktischer Vernunft („Diskurs- schaftspolitische Wirklichkeit werden. In diesem Sinne ethik“) zu. Der Umweltpragmatismus (Norton 2005) steht liegt die Zukunft der Umweltethik nicht bei ihr allein. 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