Orakel und Wahrsager in der Odyssee

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Orakel und Wahrsager
                               in der Odyssee

  Die vorliegende Arbeit habe ich folgendermaßen strukturiert:
     1. Aufführung von derjenigen Textstellen in der Odyssee in denen
            a. Von Omina verschiedenster Art
            b. Von Weissagungen
            c. Von Sehern und Weissagern
     die Rede ist und eine entsprechende Inhaltsangabe/Interpretation
     2. eine allgemeine Begriffserklärung zu
            a. Omen
            b. Mantik
            c. Orakel
            d. Prophezeiungen

                          1 A. Omina in der Odyssee

  In der Odyssee werden die verschiedensten Arten von Omina erwähnt, die als
  Vorzeichen oder Anzeichen für den Willen der Götter interpretiert werden können.
  Es handelt sich hierbei um Naturereignisse wie Blitz und Donner, um (Opfer-)
  Tiere wie verschiedene Vogelarten, aber auch um rein zufällige Ereignisse, die als
  glück- oder unglückverheißende Zeichen gewertet werden.

  Zunächst seien hier Blitzschlag und Donner aufgeführt. Beides sind Zeichen für
  Willensäußerungen von Zeus. Sie treten spontan auf, aber auch durch Anforderung
  von Odysseus und anderen Menschen.

2,146ff: Donner
  Situation: Versammlung der Freier, Appell von Telemachos an Abzug der Freier, wenn
  nicht, dann droht ihnen die Rache; Telemachos ruft die Götter an wegen der Bestätigung
  seiner Worte, was jener mit Donner und der Entsendung zweier Adler (s.u.) auch quittiert:

  Ob euch nicht endlich einmal Zeus eure Taten bezahle,
  Daß ihr in unserem Haus auch ohne Vergeltung dahinstürzt!
  Also sprach er, da sandte der Gott weithallender Donner
  Ihm zween Adler herab vom hohen Gipfel des Berges.
  Anfangs schwebten sie sanft einher im Hauche des Windes,

  Einer nahe dem andern, mit ausgebreiteten Schwingen;
  Jetzo über der Mitte der stimmenvollen Versammlung,
  Flogen sie wirbelnd herum, und schlugen stark mit den Schwingen,
                                    Andreas A.Noll, Januar 2003                               1
Schauten auf aller Scheitel herab, und drohten Verderben,
   Und zerkratzten sich selbst mit den Klauen die Wangen und Hälse1

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   Im 20. Gesang treten als Rezipienten der göttlichen Äußerung sowohl Odysseus als auch
   eine unbeteiligte „neutrale“ Person auf:

20, 103 ff
   Situation: Vor dem Freiermord; Odysseus bittet Zeus um ein Zeichen um sein geplantes
   Vorgehen gegen die Freier bestätigt zu erhalten. Offensichtlich um sich der Zustimmung
   der Götter, bzw. Zeus´definitiv zu versichern, sollte eine neutrale Person, die sich zudem
   innerhalb des Hauses befindet, die eindeutig das Donnern als Zeichen wahrgenommen
   hatte, seine Wahrnehmung bestätigen. Diese, eine arme und schwache Müllerin, übernimmt
   diese Aufgabe und weissagt das Ende der Freier:

           O so rede nun einer der Wachenden glückliche Worte
           Hier im Palast, und draußen gescheh ein Zeichen vorn Himmel!
           Also flehte der Held; den Flehenden hörte Kronion.
           Und er donnerte schnell vom glanzerhellten Olympos
           Hoch aus den Wolken herab. Da freute sich herzlich Odysseus.

           Plötzlich hört' er ein mahlendes Weib, das glückliche Worte
           Redete, nahe bei ihm, wo die Mühlen des Königes standen.
           Täglich waren allhier zwölf Müllerinnen beschäftigt,
           Weizen- und Gerstenmehl, das Mark der Männer, zu mahlen.
           Aber die übrigen schliefen, nachdem sie den Weizen zermalmet:

           Sie nur feirte noch nicht, denn sie war von allen die schwächste.
           Stehen ließ sie die Mühl', und sprach die prophetischen Worte:
           Vater Zeus, der Götter und sterblichen Menschen Beherrscher,
           Wahrlich du donnertest laut vom Sternenhimmel, und nirgends
           Ist ein Gewölk; du sendest gewiß jemandem ein Zeichen.

           Ach so gewähr' auch jetzo mir armem Weibe die Bitte!
           Laß die stolzen Freier zum letztenmal heute, zum letzten!
           Ihren üppigen Schmaus in Odysseus' Hause genießen,
           Welche mir alle Kraft durch die seelenkränkende Arbeit,
           Mehl zu bereiten, geraubt! Nun laß sie zum letztenmal schweigen

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   Im 24. Gesang wird Odysseus selber zu einem Adler – einem Vogel, dem ansonsten in der
   Odyssee nur die Rolle eines Übermittlungsmediums göttlichen Willens zugedacht ist. Zeus
   stoppt ihn in seinen Rachegelüsten mit einem Blitzstrahl.
   1
    Übersetzung auch der folgenden Textstellen aus dem Griechischen – wenn nicht ausdrücklich anders erwähnt - von
   Heinrich Voss
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24, 538:
   Situation: Die Ithaker fliehen wieder in Richtung Stadt, nachdem sie vergeblich versucht
   hatten, Odysseus´Freiermord zu rächen; Odysseus „duldet“ nicht mehr und wird als vor
   Wut rasender Adler von Zeus gestoppt und „befriedet“:

   Und sie wandten sich fliehend zur Stadt, ihr Leben zu retten.
   Aber fürchterlich schrie der herrliche Dulder Odysseus,
   Und verfolgte sie rasch, wie ein hochherfliegender Adler.
   Und nun sandte Kronion den flammenden Strahl vom Olympos,
   Dieser fiel vor Athene, der Tochter des schrecklichen Vaters.

   Beobachtung: Verhalten von Opfertieren und von Menschen
   Eine wichtige Rolle wurde bei der Beobachtung und Interpretation den Verhaltensweisen von
   Opfertieren und auch von Menschen zugemessen. Hierbei handelt es sich um bewusst
   herbeigeführte, oder zumindest initierte Veränderungen, aber auch scheinbar zufällige
   Erscheinungen in Situationen, in denen ein Fingerzeig der Götter nützlich zu sein scheint.

                                                *****

   Im 10. Gesang wird vor allem die Betonung der schwarzen Frabe als Omen für die
   bevorstehende Reise Odysseus´in den Hades auffällig und hat die Bedeutung eines Omens.
   Die zudem am Schiff angebundenen schwarzen Opfertiere sind als solche auf dem
   schwarzen Untergrund nicht zu erkennen. Dies kann als Hinweis auf die ebenfalls für
   normale Sterbliche nicht sichtbaren Seelen im Hades (schwarz) interpretiert und als Omen
   gedeutet werden.

10, 573ff
   Situation: Abfahrt von Kirke Richtung Hades zu Teiresias
   Herzlich bekümmert gingen, und viele Tränen vergießend;
   Ging auch Kirke dahin, und band bei dem schwärzlichen Schiffe
   Einen Bock und ein Schaf von ungezeichneter Schwärze,
   Leicht uns vorüberschlüpfend. Denn welches Sterblichen Auge
   Mag des Unsterblichen Gang, der sich verhüllet, entdecken?

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                                      Andreas A.Noll, Januar 2003                               3
Im 11. Gesang erscheint der Seher Teiresias im Hades dem Odysseus. Indem er das in der
   Erdgrube aufgefangene Blut der Opfertiere trinkt, erlangt er die Fähigkeit, die Zukunft
   vorauszusagen. Blut ist der „Saft des Lebens“, der die Seele an den Körper bindet. Das
   Trinken des Opferblutes steht somit für die Wiederherstellung der Verbindung zwischen
   der im Hades weilenden Seele des Toten und der Realität, bzw. hier sogar der irdischen
   Zukunft.

11, 90ff
   Situation: Teiresias kommt nach den anderen Seelen zu Odysseus, der die zwei Schafer
   geopfert und deren Blut in eine Erdgrube hat fliessen lassen. Er will vom Blut der
   Opfertiere trinken:

   Jetzo kam des alten Thebäers Teiresias' Seele.
   Haltend den goldenen Stab; er kannte mich gleich, und begann so:
   Edler Laertiad', erfindungsreicher Odysseus,
   Warum verließest du doch das Licht der Sonne, du Armer,
   Und kamst hier, die Toten zu schaun und den Ort des Entsetzens?
   Aber weiche zurück, und wende das Schwert von der Grube,
   Daß ich trinke des Blutes, und dir dein Schicksal verkünde.

                                                 *****

   Die dann im 12. Gesang geschilderten Ereignisse spiegeln eine nahezu infernalische
   Häufung bedrohlicher Omina wieder. Der ungeheuerliche Frevel der Gefährten Odysseus´,
   die unter dem Vorwand eines Opfers alle Warnungen des Teiresias in den Wind schlagen,
   ist erzählerischer Höhepunkt der Beschreibung von Odysseus´Heimkehr. Mit dem Tod der
   Gefährten ist Odysseus dann der Einzige, der in seine Heimat zurückkehren kann.Die
   geschilderte angebliche Opferung der Rinder des Helios wird als offensichtliche Farce
   dargestellt, indem die grundlegendsten Regeln für Opfergaben (Eichenblätter statt Gerste,
   Wasser statt Wein, Eingeweide gebraten ) missachtet werden. Die Verwendung von
   Eichenblättern anstelle von Gerste könnte ein Omen sein für das Orakel des Apoll in Delphi
   (dessen heiliger Baum die Eiche ist) , bzw. generell für Weissagungen, wie auch die von
   Teiresias ausgesprochene Warnung vor dieser Freveltat.

12, 394ff
   Situation: Ausgehungerte Gefährten Odysseus; von Teiresias keine Prophezeiung, sondern
   Warnung. Inferno der brüllenden Fleischteile als Hinweis für das kommende Schicksal der
   Gefährten.

   Als ich jetzo das Schiff und des Meeres Ufer erreichte,
   Schalt ich die Missetäter vom ersten zum letzten; doch nirgends
   Fand ich Rettung für uns, die Rinder lagen schon tot da.
   Bald erschienen darauf die schrecklichen Zeichen der Götter;
   Ringsum krochen die Häute, es brüllte das Fleisch an den Spießen,
   Rohes zugleich und gebratnes, und laut wie Rindergebrüll scholl's.
   Und sechs Tage schwelgten die unglückseligen Freunde
                                       Andreas A.Noll, Januar 2003                           4
Von den besten Rindern des hohen Sonnenbeherrschers.
   Als nun der siebente Tag von Zeus Kronion gesandt ward,
   Siehe da legten sich schnell die reißenden Wirbel der Windsbraut;

                                                    *****

   Im 17. Gesang wird deutlich, dass auch nicht beabsichtigte und schienbar zufällige Ereignisse als
   Omina angesehen werden, in diesem Fall Niesen als glücksverheißendes Zeichen:

17,539
   Also sprach sie; da nieste Telemachos laut, und ringsum
   Scholl vom Getöse der Saal. Da lächelte Penelopeia,
   Wandte sich schnell zu Eumäos, und sprach die geflügelten Worte:
   Gehe mir gleich in den Saal, Eumäos, und rufe den Fremdling!

                                                    *****

   Im 20. Gesang greift Athene direkt ein und initiiert ein unglückverheißendes Omen, indem
   sie die Gedanken der Freier verwirrt. Durch die Beschreibung der Freier wird das
   kommende Massaker vorweggenommen. Der Seher Theoklymenos tritt auf als letztes Glied
   dreier Generationen von Wahrsagern (s.u.)

20, 349ff
   Situation: kollektive Verwirrung der Freier als „Vision“ des kommenden Massakers.
   Reaktion auf erneute Mahnung des Telemachos, vorhergesagt dann vom Theoklymenos

   Also sprach er. Und siehe, ein großes Gelächter erregte
   Pallas Athene im Saal und verwirrte der Freier Gedanken.
   Und schon lachten sie alle mit gräßlichverzuckten Gesichtern.
   Blutbesudeltes Fleisch verschlangen sie jetzo; die Augen
   Waren mit Tränen erfüllt, und Jammer umschwebte die Seele.

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Vögel als Omina
   Im 2. Gesang werden von den Göttern (Zeus, denn die „Begleitmusik“ ist der auf diesen
   hinweisende Donner) zwei Adler als Bestätigung ihrer Anrufung durch Telemachos
   entsandt. Sie kündeten den Freiern ihr Verderben an, indem sie auf sie hinabschauen und
   sich dabei selber zerfleischen.

2,146ff
   Situation: Versammlung der Freier, Appell an Abzug, wenn nicht, dann Rache;
   Telemachos ruft Götter:

   Ob euch nicht endlich einmal Zeus eure Taten bezahle,
   Daß ihr in unserem Haus auch ohne Vergeltung dahinstürzt!
                                          Andreas A.Noll, Januar 2003                              5
Also sprach er, da sandte der Gott weithallender Donner
   Ihm zween Adler herab vom hohen Gipfel des Berges.
   Anfangs schwebten sie sanft einher im Hauche des Windes,

   Einer nahe dem andern, mit ausgebreiteten Schwingen;
   Jetzo über der Mitte der stimmenvollen Versammlung,
   Flogen sie wirbelnd herum, und schlugen stark mit den Schwingen,
   Schauten auf aller Scheitel herab, und drohten Verderben,
   Und zerkratzten sich selbst mit den Klauen die Wangen und Hälse

                                                 *****

   Anders hingegen im folgenden Text. Hier wird das Deuten von glück- oder
   unglückverheißenden Zeichen – hier der Vögel- in Frage gestellt, wenn Halitherses ob
   seiner Voraussagen verhöhnt wird. Auch Halitherses selber wird unterstellt, er handele
   nicht ganz uneigennützig, da er von Odysseus vermutlich (aus ihrer Sicht, aber es
   entsprach ja auch durchaus den Tatsachen!) mit Versprechen reicher Belohnungen
   zumindest beeinflusst worden war.

2, 181ff:
   Situation: Verspottung der Weissagung des Halitherses durch Eurymachos, Drohung,
   Unterstellung der „Bestechlichkeit“

   Deinen Söhnen daheim, daß ihnen kein Übel begegne!
   Dieses versteh ich selber, und besser als du, zu deuten!
   Freilich schweben der Vögel genug in den Strahlen der Sonne,
   Aber nicht alle verkünden ein Schicksal! Wahrlich Odysseus
   Starb in der Fern'! O wärest auch du mit ihm ins Verderben
Und weiter in 2, 201: …
   Penelopeia zu drängen; denn siehe! wir zittern vor niemand,
   Selbst vor Telemachos nicht, und wär' er auch noch so gesprächig!
   Achten auch der Deutungen nicht, die du eben, o Alter,
   So in den Wind hinschwatzest! Du wirst uns nur immer verhaßter
   Unser schwelgender Schmaus soll wieder beginnen, und niemals

                                                 *****

   Eindrucksvolle Omina findet man wieder im 15. Gesang, wenn ein Adler mit einer fetten
   Gans erscheint. Die Gans ist ein Verweis auf die satten Freier, der Adler selbst erscheint
   dann in diesem Kontext wie oben auch schon nicht nur als Überbringer göttlichen Willens,
   sondern als Symbol für Odysseus selber. Der Adler fliegt hier rechts herum, wobei die
   rechte Seite generell schon im Altertum als glücksbringende Seite betrachtet wird. Als
   Seherin, bzw. Deuterin des Omens tritt eine Unbeteiligte, nämlich Helena in Erscheinung.

15, 160ff

                                       Andreas A.Noll, Januar 2003                              6
Situation: Odysseus in Sparta bei Menalaos und Helena; Adler mit fettgefressener Gans;
   Menelaos als Krieger grübelt noch, Helena entpuppt sich als Seherin, Telemachos
   übernimmt:

   Dieses alles verkünden, sobald wir kommen. O fänd' ich,
   Heim gen Ithaka kehrend, auch meinen Vater zu Hause;
   Daß ich ihm sagte, wie ich von dir so gütig bewirtet
   Wiederkomm', und so viel, und köstliche Kleinode bringe!
   Sprach's; und zur Rechten flog ein heilweissagender Adler,
   160
   Welcher die ungeheure, im Hofe gemästete, weiße
   Gans in den Klauen trug; mit überlautem Geschreie
   Folgten ihm Männer und Weiber: er kam in stürmendem Fluge
   Rechtsher nahe den Rossen der Jünglinge. Als sie ihn sahen,
   Freuten sie sich, und allen durchglühete Wonne die Herzen.
   …
   170
   Aber Helena kam ihm zuvor; so sprach die Geschmückte:
   Höret; ich will euch jetzt weissagen, wie es die Götter
   Mir in die Seele gelegt, und wie's wahrscheinlich geschehn wird.
   Gleichwie der Adler die Gans, die im Hause sich nährte, geraubt hat,
   Kommend aus dem Gebirge, von seinem Nest' und Geschlechte:
   Also wird auch Odysseus, nach vielen Leiden und Irren,
   Endlich zur Heimat kehren und strafen; oder er kehrte
   Schon, und rüstet sich nun zu aller Freier Verderben.
   Und der verständige Jüngling Telemachos sagte dagegen:
   Also vollend' es Zeus, der donnernde Gatte der Here!
   O dann werd' ich auch dort, wie eine Göttin, dich anflehn!

                                                 *****

   Im 15. Gesang erscheint ein Habicht. Dieser Vogel ist Zeichen des Apoll, des Gottes des
   Orakelwesens, und auch dieser wird dem Odysseus gleichgestellt – wie weiter oben auch
   der Adler als Tier des Zeus´- und rupft die Tauben, d.h. die Freier. Auch der Habicht fliegt
   rechts herum als Zeichen des Glückes.

15, 525ff
   Situation: Bei Menelaos bei der Abreise aus Sparta, durch taubenrupfenden Habicht
   (Apoll) Gewissheit, dass kein anderer herrschen wird auf Ithaka

   Und er ist auch bei weitem der Edelste, wünscht auch am meisten
   Meine Mutter zum Weib , und Odysseus' Würde zu erben.
   Aber das weiß Kronion, der Gott des hohen Olympos,
   Ob vor der Hochzeit noch der böse Tag sie ereile!
   Sprach's; und rechtsher flog ein heilweissagender Vogel,
   Phöbos schneller Gesandte, der Habicht: zwischen den Klauen
   Hielt er und rupfte die Taub', und goß die Federn zur Erde
                                       Andreas A.Noll, Januar 2003                            7
Zwischen Telemachos nieder und seinem schwärzlichen Schiffe.
   Eilend rief Theoklymenos ihn von den Freunden besonders,
   Faßte des Jünglings Hand, und erhub die Stimme der Weisheit:
   530
   Jüngling, nicht ohne Gott flog dir zur Rechten der Vogel;
   Denn ich erkenn' an ihm die heilweissagenden Zeichen!
   Außer eurem Geschlecht erhebt sich nimmer ein König
   In der Ithaker Volk; auf euch ruht ewig die Herrschaft!

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Einen einfachen Verweis auf die Bedeutung des Fluges von Vögeln als Omina findet man im 17.
Gesang:

17, 160
   Situation: Theoklymenos berichtet Penelope von seiner Weissagung und bereitet sie so auf
   die Ankunft Odysseus´vor.

   Dieses ersah ich, sitzend im schöngebordeten Schiffe,
   Aus des Vogels Fluge, und sagt' es Telemachos heimlich.
   Ihm antwortete drauf die kluge Penelopeia:
   Fremdling, erfülleten doch die Götter, was du geweissagt!
   Dann erkenntest du bald an vielen und großen Geschenken

                                               *****

   Ein linksherum fliegender und somit Unglück verheißender Adler erscheint im 20. Gesang
   und bestätigt die Befürchtungen des Amphinomos (dessen Name an sich eigentlich schon als
   ein Omen für die in ihm offenbar werdenden widersprüchlichen Gedanken einiger Freier
   zu sehen ist). Er plädiert daraufhin dafür, lieber weiter zu schwelgen.

20, 242ff
   Situation: Planung des Mordes an Telemachos durch die Freier

   Also besprachen diese sich jetzo untereinander.
   Und die Freier beschlossen, Telemachos heimlich zu töten.
   Aber linksher kam ein unglückdrohender Vogel,
   Ein hochfliegender Adler, und hielt die bebende Taube.
   Als ihn Amphinomos sahe, da sprach er zu der Versammlung:

                                               *****

   Im 24. Gesang tauchen in der von Odysseus für seinen Vater erfundenen Geschichte
   ebenfalls die „heilweissagenden“ Vögel auf:

24, 311
                                     Andreas A.Noll, Januar 2003                              8
Situation: Erfundene Geschichte Odysseus vor der Offenbarung gegenüber seinem Vater

   Armer Freund! Und ihm flogen doch heilweissagende Vögel,
   Als er zu Schiffe ging: drum sah ich freudig ihn scheiden,
   Und er freute sich auch; denn wir hofften, einer den andern
   Künftig noch oft zu bewirten, und schöne Geschenke zu wechseln

Ortsgebundene Omina

   Lediglich einmal, im 19. Gesang findet man einen Hinweis auf ortegebundene
   Orakelstätten, das Zeus-Orakel von Dodona und die dortigen heiligen Eichenhaine:

19, 296
   Situation: Andeutung seiner eigenen Ankunft gegenüber Penelope, erneuter Verweis auf
   ein (angebliches?) Orakel in Dodona:

   Solch ein unendlicher Schatz lag dort im Hause des Königs!
   Jener war, wie es hieß, nach Dodona gegangen, aus Gottes
   Hochgewipfelter Eiche Kronions Willen zu hören:
   Wie er in Ithaka ihm, nach seiner langen Entfernung,
   Heimzukehren beföhle, ob öffentlich oder verborgen.

   B. Weissagungen

   Den ersten Hinweis in der Odyssee auf Weissagungen finden wir im 1. Gesang in der
   Empfehlung Athenes an Odysseus, auf selbige im Verlauf seiner Reise zu achten. Hiermit
   wird dem Leser auch ein Hinweis auf den besonderen Stellenwert der Orakel und
   Weissagungen zu achten, denn sie ermöglichen eine Verknüpfung und „Vernetzung“ der
   gesamten Odysse: es wird vor- und zurückgegriffen, immer wieder Bezug genommen zu
   Weissagungen und deren Erfüllung. So erhält die gesamte Odyssee ihren erzählerischen
   Zusammenhang und eine kontinuierlich aufgefrischte Spannung. Die erwähnte „ossa“, auf
   die Odysseus zu achten hat, ist das „Gerücht“, das „Hörensagen“, wird aber auch
   „Prophezeiung“ oder „göttliche Stimme“ übersetzt.

l,282
   Situation: Empfehlung Athenes an Telemachos zum weiteren Procedere

   Rüste das trefflichste Schiff mit zwanzig Gefährten, und eile,
   Kundschaft dir zu erforschen vom langabwesenden Vater;
   Ob dir's einer verkünde der Sterblichen, oder du Ossa,
   Zeus' Gesandte, vernehmest, die viele Gerüchte verbreitet.
   Erstlich fahre gen Pylos, und frage den göttlichen Nestor,

                                                  *****

                                        Andreas A.Noll, Januar 2003                         9
Im 3. Gesang wird in der Erzählung Nestors, des Mitstreiters Odysseus´in Troja eher
   unspezifisch von „Zeichen der Göttern“ gesprochen:

3, 173f
   Situation: Nestor berichtet von seiner glücklichen Heimkehr aus Troja, nachdem sie
   Poseidon geopfert haben:

   Ob wir oberhalb der bergichten Chios die Heimfahrt
   Lenkten auf Psyria zu, und jene zur Linken behielten;
   Oder unter Chios, am Fuße des stürmischen Mimas.
   Und wir baten den Gott, uns ein Zeichen zu geben; und dieser
   Deutete uns, und befahl, gerade durchs Meer nach Euböa
   Hinzusteuern, damit wir nur schnell dem Verderben entflöhen.

                                                *****

   Ebenfalls an dieser Stelle wird der Stellenwert potentieller göttlicher Omina und
   Weissagungen für das Verhalten der Bevölkerung Ithakas hervorgehoben:

3, 215/ 16, 96
   Situation: Nestor fragt Telemachos, warum er das Verhalten der Freier toleriert.
   Etwa aufgrund einer göttlichen Weisung?

   Sprich, erträgst du das Joch freiwillig, oder verabscheun
   Dich die Völker des Landes, gewarnt durch göttlichen Ausspruch?
   Aber wer weiß, ob jener nicht einst, ein Rächer des Aufruhrs,

                                                *****

   Während in der eigentlichen Irrfahrt des Odysseus nur einmal das (Zeus-)Orakel von
   Dodona erwähnt wird, erfolgt in der Rückschau des Sängers bei den Phäaken auf das
   Geschehen vor Troja ein Verweis auf das Apollon-Orakel von Delphi.

8, 79
   Situation: Retrospektive durch Sänger bei den Phäaken: Agamemnon erfährt in Delphi den
   Beschluss der Götter, Troja fallen zu lassen

   Wählt' er Odysseus' Zank und des Peleiden Achilleus:
   Wie sie einst miteinander am festlichen Mahle der Götter
   Heftig stritten, und sich der Führer des Heers Agamemnon
   Herzlich freute beim Zwiste der tapfersten Helden Achaias.
   Denn dies Zeichen war ihm von Phöbos Apollon geweissagt,
   In der heiligen Pytho, da er die steinerne Schwelle
   Forschend betrat; denn damals entsprang die Quelle der Trübsal
   Für die Achaier und Troer, durch Zeus des Unendlichen Ratschluß.

                                      Andreas A.Noll, Januar 2003                        10
*****

   Auf die wahrsagerischen Fähigkeiten des Sehers Teiresias wird von Athene im 10. Gesang
   verwiesen. Teiresias hat durch die Gattin des Hades, Persephone, selbst in der Unterwelt
   die Gabe behalten, die Zukunft vorauszusagen. Allerdings- so wird später in der Odyssee
   deutlich- kann er dieses nur, wenn er Blut getrunken hat.

10, 492ff
   Situation: Athene gibt Weisungen an Odysseus und Kirke, Teiresias aufzusuchen im Hades

   Aber ihr müßt zuvor noch eine Reise vollenden,
   Hin zu Aïdes' Reich und der strengen Persephoneia,
   Um des thebäischen Greises Teiresias' Seele zu fragen,
   Jenes blinden Propheten, mit ungeschwächtem Verstande.
   Ihm gab Persephoneia im Tode selber Erkenntnis;
   Und er allein ist weise: die andern sind flatternde Schatten.
   ………
   535
   Aber du reiße schnell das geschliffene Schwert von der Hüfte,
   Setze dich hin, und laß die Luftgebilde der Toten
   Sich dem Blute nicht nahn, bevor du Teiresias ratfragst.
   Und bald wird der Prophet herwandeln, o Führer der Völker
   Daß er dir weissage den Weg und die Mittel der Reise

                                                *****

   Im 14. Gesang klagt der Sauhirte über das Verhalten der Freier, sie handeln gegen die
   Weisungen der Götter. Der Verweis auf ein „schlechtes Gewissen“ in der Übersetzung von
   Heinrich Voß – ist als eine aus dem christlichen Denken kolportierte Überinterpretation zu
   betrachten. In der Übersetzung von Weiher (1961) heißt es dagegen: „ Deren Gedanken
   befällt wohl kräftige Furcht vor Entdeckung“ statt „Fühlen dennoch im Herzen die Macht des
   empörten Gewissens!“.

14, 89
   Situation: Odysseus beim Sauhirten; jeder Räuber müsste eigentlich ein schlechtes
   Gewissen haben, anders die Freier…

   Selbst die barbarischen Räuber, die durch Kronions Verhängnis
   An ein fremdes Gestad' anlandeten, Beute gewannen,
   Und mit beladenen Schiffen die Heimat glücklich erreichten,
   Fühlen dennoch im Herzen die Macht des empörten Gewissens!
   Aber diesen entdeckte vielleicht die Stimme der Götter
   Jenes traurigen Tod, da sie nicht werben, wie recht ist,
   Und zu dem Ihrigen nicht heimkehren; sondern in Ruhe
   Fremdes Gut unmäßig und ohne Schonen verprassen.
   Alle Tag' und Nächte, die Zeus den Sterblichen sendet,
   Opfern die Üppigen stets, und nicht ein Opfer, noch zwei bloß!
                                      Andreas A.Noll, Januar 2003                             11
Ebenfalls im 14. Gesang wird Zeus selber die Gabe der Vorsehung zugeschrieben. Dieses ist
   insofern von Wichtigkeit, als die Götter somit nicht uneingeschränkt in der Lage waren,
   das Schicksal zu bestimmen, sondern auch Moira unterworfen waren.

14, 237
   Situation: Lügengeschichte des Odysseus an den Sauhirten über Kriegszug eines Kreters
   nach Troja.

   Aber da Zeus' Vorsehung die jammerbringende Kriegsfahrt
   Ordnete, welche das Leben so vieler Männer geraubt hat;
   Da befahlen sie mir, mit Idomeneus, unserm Beherrscher,
   Führer der Schiffe zu sein gen Ilios; alle Versuche
   Mich zu befrein mißlangen; mich schreckte der Tadel des Volkes.

                                                 *****

   Der 16. Gesang mit der Versammlung der Freier verweist ebenfalls auf die Möglichkeit,
   eine Entscheidungshilfe durch Befragung der Götter zu bekommen.

16, 402
   Situation: Amphinomos verweist auf Hinweis der Götter, ob die Freier Telemachos töten
   sollen.

   Lieben, ich wünschte nicht, daß wir Telemachos heimlich
   Töteten; fürchterlich ist es, ein Königsgeschlecht zu ermorden!
   Aber laßt uns zuvor der Götter Willen erforschen.
   Wann der ewige Rat des großen Kronions es billigt,
   Dann ermord' ich ihn selber, und rat' es jedem der andern:

                                                 *****

   Im 18. Gesang sieht Amphinomos – oder ahnt zumindest- sein Schicksal voraus.

18, 153f;
   Situation: Amphinomos ahnt, was geschieht, nachdem Odysseus ihn auf das Gesetzlose
   verwiesen hat

   150
   Also sprach er, und goß des süßen Weines den Göttern,
   Trank, und reichte den Becher zurück dem Führer der Völker.
   Dieser ging durch den Saal mit tiefverwundeter Seele,
   Und mit gesunkenem Haupt; denn er ahnete Böses im Herzen.
   Dennoch entrann er nicht dem Verderben; ihn fesselt' Athene,
   155
   Daß ihn Telemachos' Hand mit der Todeslanze vertilgte.
   Und er setzte sich nieder auf seinen verlassenen Sessel.
                                       Andreas A.Noll, Januar 2003                         12
c. Seher in der Odyssee
Die in der Odyssee erwähnten Seher Teiresias, Halitherses sowie Oikles mit seinen Vorfahren
und Nachkommen sind als historische Vorläufer des Priestertums zu betrachten. Sie hatten neben
ihren besonderen Fähigkeiten der Weissagung die Aufgabe, Opfergaben und –kulte festzulegen.
Dieses wurde möglich, weil sie auf Grund ihrer eigenen Geschichte eine besondere Beziehung zu
den Göttern errichten konnten. Besonders auf Teiresias trifft dieses zu, bei der Seherfamilie des
Oikles lässt der Wahnsinn des Familiengründers Melampus den Schluß zu, dass wie bei
Schamanen eine zeitweise pathologische Realitätsferne im Sinne von „Verrücktheitszuständen“
eine aussschlaggebende Rolle gespielt hat.2 Siehe hierzu auch die später folgenden
Begriffsdefinitionen.

                                                    Teiresias

Der Name des Teiresias selber weist schon auf seine Fähigkeiten hin: teiros bedeutet
„himmlische Konstellationen, Zeichen“.
Teiresias stammt aus Theben und hat die Familie des Ödipus beratend begleitet, aber auch viele
Generationen seiner Herrscherfamilie mehr.
Teiresias war blind, und über die Entstehung seiner Blindheit existieren verschiedene Mythen.
So war seine Mutter eine Freundin der Athene. Als Halbwüchsiger (mit „Bartpflaum“) hat er nun
einmal seiner Mutter und Athene beim Baden zu gesehen. Er sah etwas, was er nicht sehen durfte
– und wurde mit Blindheit von Athene bestraft. Ebenso wie Ödipus sich selber blendete,
nachdem er das Verbotene gesehen und erkannt hatte. Eine andere Geschichte berichtet, dass
Teiresias zwei Schlangen beim Kopulieren zugesehen und sie anschließend getötet hatte. Auch
dieses Zuschauen war offensichtlich etwas Verbotenes, denn daraufhin wurde er in für 7 Jahre in
ein Schlangenweibchen verwandelt. Danach wieder zum Menschen geworden, geschah dasselbe
noch einmal, und dieses Mal wurde er für 7 Jahre in ein Schlangenmännchen verwandelt. In einer
Diskussion zwischen Zeus und Hera ging es dann um die Frage, ob er als Frau oder als Mann
mehr Freude bei der Liebe verspürt hatte. Als Teiresias betonte, er habe als Frau weitaus mehr
Freude gehabt, bestrafte ihn die empörte Hera für diese Aussage mit Blindheit, Zeus wiederum
gab ihm eine relative Unsterblichkeit für 7 Generationen. Auch in der Unterwelt durfte er durch
die Vermittlung Persephones die Sehergabe behalten und nach dem Genuss von Opferblut auch
Odysseus gegenüber benutzen.

Im 10. Gesang (10.492, siehe oben) der Odyssee wird Teiresias erstmailug von Athene erwähnt.
Er hat im Folgenden eine entscheidende Rolle inne bei der Rückkkehr des Odysseus ebenso wie
in dieser zentralen Stelle der Erzählung.

Später (10.542ff) wird in der Weisung Athenes beschrieben, wie Odysseus sich zu verhalten
habe, damit Teiresias allein vor den anderen Seelen im Hades in den Genuss des Opferblutes
kommen kann, um den weiteren Verlauf der Reise und mögliche Gefahren vorauszusagen.

2
    Man verzeihe mir die Analogie und vielleicht die Überinterpretation.
                                              Andreas A.Noll, Januar 2003                      13
Im 11. Gesang (11.90 ff) schließlich im Hades antwortet Teiresias auf die Fragen Odysseus. Er
wird beschrieben mit dem goldenen Stab aus Kornelkirschenholz, den ihm Athene zum
Ausgleich für seine Blindheit (s.o.) ebenso wie seine Sehergabe gegeben hatte.

Jetzo kam des alten Thebäers Teiresias’ Seele.
Haltend den goldenen Stab; er kannte mich gleich, und begann so:
Edler Laertiad’, erfindungsreicher Odysseus,
Warum verließest du doch das Licht der Sonne, du Armer,
Und kamst hier, die Toten zu schaun und den Ort des Entsetzens?
95
Aber weiche zurück, und wende das Schwert von der Grube,
Daß ich trinke des Blutes, und dir dein Schicksal verkünde.
Also sprach er; ich wich, und steckte das silberbeschlagene
Schwert in die Scheid’. Und sobald er des schwarzen Blutes getrunken,
Da begann er und sprach, der hocherleuchtete Seher:

Neben den Vorhersagen gibt Teiresias im Hades dem Odysseus aber auch eindeutige Warnungen
und Empfehlungen. Die Schlachtung der Rinder des Helios (12.267 ff) geschah trotz der
eindringlichen Mahnung des Teiresias und auch der Kirke.

265
Hört’ ich schon das Gebrüll der eingeschlossenen Rinder,
Und der Schafe Geblök. Da erwacht’ in meinen Gedanken
Jenes thebäischen Sehers, des blinden Teiresias’ Warnung,
Und der ääischen Kirke, die mir aufs Strengste befohlen,
Ja die Insel zu meiden der menschenerfreuenden Sonne.
270
Und mit trauriger Seele begann ich zu meinen Gefährten:
Höret meine Worte, ihr teuren Genossen im Unglück,
Daß ich euch sage, was mir Teiresias’ Seele geweissagt,
Und die ääische Kirke, die mir aufs Strengste befohlen,
Ja die Insel zu meiden der menschenerfreuenden Sonne;

                                        Halitherses

Halitherses erscheint im 2. Gesang bei der Versammlung der Freier als offensichtlicher Spezialist
für Vogelflüge und Vorhersagen. Beschrieben wird er lediglich als Sohn des Mastor und als alter
Freund des Odysseus (17,68).

Unter ihnen begann der graue Held Halitherses,
Mastors Sohn, berühmt vor allen Genossen des Alters,
160
Vögelflüge zu deuten, und künftige Dinge zu reden;
                                    Andreas A.Noll, Januar 2003                                 14
Dieser erhub im Volk die Stimme der Weisheit, und sagte:
Höret mich jetzt, ihr Männer von Ithaka, was ich euch sage!
Aber vor allen gilt die Freier meine Verkündung!
Ihre Häupter umschwebt ein schreckenvolles Verhängnis!

17,65
Um ihn versammelten sich die übermütigen Freier,
Die viel Gutes ihm sagten, und Böses im Herzen gedachten.
Aber Telemachos mied der Heuchler dichtes Gedränge,
Und ging hin zu Mentor und Antiphos und Halitherses,
Welche von Anbeginn des Vaters Freunde gewesen,

                                              *****

Im 24. Gesang appelliert Halithereses, nachdem er auf seine Vorhersagen verwiesen hat, an die
Bevölkerung Ithakas, nicht dem Odysseus nachzustellen.

Unter ihnen begann der graue Held Halitherses,
Mastors Sohn, der allein Zukunft und Vergangenes wahrnahm;
Dieser erhub im Volke die Stimme der Weisheit, und sagte:
Höret mich an, ihr Männer von Ithaka, was ich euch sage!
Eurer Trägheit halben, ihr Freund’, ist dieses geschehen!
455
Denn ihr gehorchtet mir nicht, noch Mentor dem Hirten der Völker,
Daß ihr eurer Söhn’ unbändige Herzen bezähmtet,
Welche mit Unverstand die entsetzlichen Greuel verübten,
Da sie die Güter verschwelgten, und selbst die Gemahlin entehrten
Jenes trefflichen Manns, und wähnten, er kehre nicht wieder.
460
Nun ist dieses mein Rat; gehorcht mir, wie ich euch sage:
Eilt ihm nicht nach, dass keiner sich selbst das Verderben bereite!

                                    Andreas A.Noll, Januar 2003                                 15
Melampus, Oikles
    Melampus („Schwarzfuss“) stammte aus Pylos und wurde von den Rachegöttinnen Erinnyen mit
    Wahnsinn bedacht, nachdem er für seinen Bruder um die Tochter des Neleus geworben hatte. Der
    Sage nach wurde er zum Seher, nachdem ihm Schlangen in die Ohren gekrochen waren. Seither
    konnte er die Sprache der Tiere verstehen und den Vogelflug beurteilen. Im Folgenden seine
    Genealogie:

–                 Söhne: Antiphates, Mantios
ƒ                      Sohn des Antiphates: Oikles
                          – Sohn des Oikles: Amphiaraos, vor Theben durch Frau
                                 umgebracht
ƒ                         Söhne des Mantios: Polypheides, Kleitos
                               Kleitos von Eos entführt wg. Schönheit zum Sitz der Götter
                            – Polypheidos: Seher nach Tod des Amphiaraos, Streit mit Vater, nach
                                 Hyperesia gezogen
                                    ƒ Sohn: Theoklymenos, zunächst als Fremdling auf
                                        Odysseus´Schiff, aus Argos geflohen, nachdem er dort jemanden
                                        getötet hatte

    Bei der Abfahrt nach Ithaka taucht Theoklymenos bei Odysseus auf und möchte auf dessen
    Schiff mitgenommen werden. Im folgenden wird das Sehergeschlecht detailliert beschrieben:

    15, 220
    Stiegen eilend ins Schiff, und setzten sich hin auf die Bänke.
    Also besorgt’ er dieses, und opferte Pallas Athenen
    Flehend hinten am Schiff. Und siehe, ein eilender Fremdling
    Nahte sich ihm, der aus Argos entfloh, wo er jemand getötet.
    Dieser war ein Prophet, und stammte vom alten Melampus,
    225
    Welcher vor langer Zeit in der schafegebärenden Pylos
    Wohnete, mächtig im Volk, und prächtige Häuser beherrschte.
    Aber sein Vaterland verließ er, und floh in die Fremde,
    Vor dem gewaltigen Neleus, dem Stolzesten aller die lebten,
    Welcher ein ganzes Jahr mit Gewalt sein großes Vermögen
    230
    Vorenthielt; indes lag jener in Phylakos Wohnung,
    Hartgefesselt mit Banden, und schwere Leiden erduldend,
    Wegen der Tochter Neleus’, und seines rasenden Wahnsinns,
    Welchen ihm die Erinnys, die schreckliche Göttin, gesendet.
    Dennoch entfloh er dem Tod’, und trieb aus Phylakes Auen
    235
    Heim die brüllenden Rinder gen Pylos, strafte den Hochmut
    Neleus’ des Göttergleichen, und führte dem Bruder zur Gattin
    Seine Tochter ins Haus. Er aber zog in die ferne
                                        Andreas A.Noll, Januar 2003                                16
Rossenährende Argos; denn dort bestimmte das Schicksal
Ihm forthin zu wohnen, ein Herrscher vieler Argeier.
240
Allda nahm er ein Weib, und baute die prächtige Wohnung,
Zeugte Antiphates dann und Mantios, tapfere Söhne!
Aber Antiphates zeugte den großgesinnten Oikles,
Und Oikles den Völkererhalter Amphiaraos.
Diesen liebte der Donnerer Zeus und Phöbos Apollon
245
Mit allwaltender Huld; doch erreicht’ er die Schwelle des Alters
Nicht; er starb vor Thebä, durch seines Weibes Geschenke.
Seine Söhne waren Amphilochos und Alkmäon.
Aber Mantios zeugte den Polypheides und Kleitos.
Diesen Kleitos entführte die goldenthronende Eos,
250
Seiner Schönheit halben, zum Sitz der unsterblichen Götter.
Aber auf Polypheides, dem Hocherleuchteten, ruhte
Phöbos’ prophetischer Geist, nach dem Tode des Amphiaraos.
Zürnend dem Vater, zog er gen Hyperesia, wohnte
Und weissagete dort den Sterblichen allen ihr Schicksal.
255
Dessen Sohn, genannt Theoklymenos, nahte sich jetzo,
Trat zu Telemachos hin, der dort vor Pallas Athene
Heiligen Wein ausgoß und betete, neben dem Schiffe;
Und er redet’ ihn an, und sprach die geflügelten Worte:
Lieber, weil ich allhier beim heiligen Opfer dich finde;
260
Siehe, so fleh’ ich dich an, beim Opfer und bei der Gottheit,
Deinem eigenen Heil’, und der Freunde, welche dir folgen:
Sage mir Fragendem treulich und unverhohlen die Wahrheit!
Wer, wes Volkes bist du? Und wo ist deine Geburtstadt?

                                    Andreas A.Noll, Januar 2003    17
II. Begriffsbestimmungen
Die folgenden Ausführungen sollten dazu dienen, die im Sprachgebrauch benutzen Begriffe für
den gesamten Bereich Wahrsagerei-Prophetie zumindest ansatzweise zu klären. Bei der
Abfassung der Arbeit stellte sich heraus, dass dieses kein so einfaches Unterfangen ist, wie es
anfangs schien. Der Sprachgebrauch scheint sehr wenig einheitlich zu sein, vielerorts
verschwimmen die Begriffe und werden auch synonym gebraucht. Dennoch- ein Versuch:

                                            Omen

„Omen“ ist ein mehr oder weniger beliebiges Phänomen, das zur Erklärung des Willens der
Götter herangezogen werden kann. Es beruht auf der Grundannahme des Parallelismus aller
Dinge. Das heißt, dass Vorgänge auf der Erde auf ebensolche Geschehnisse und Prozesse im
Himmel und somit auf den Willen und das Verhalten der Götter hinweisen. Dieser Parallelismus
ist „automatisch“ und immer vorhanden. Er kann vom betrachtenden Menschen zufällig entdeckt
oder bewusst herbeigeführt werden. Die folgenden Omina sind –nicht nur im antiken
Griechenland- hervorzuheben:

   ƒ   Erdbeben
   ƒ   Blitzschlag, Unwetter, Donner – gerade Blitz und Donner waren Omina, die den Willen
       von Zeus kundtaten
   ƒ   Überschwemmungen
   ƒ   Kometen, Meteore
   ƒ   Träume, Heilschlaf – auch die im Heilschlaf (Delphi, Epidauros u.a.) aufgetretenen
       Träume wurden als Omina herangezogen
   ƒ   Opferbeschau (Verhalten der Opfertiere, Eingeweide, Leber) – im Zusammenhang mit der
       Odyssee sei hier auch das frevelhafte Opfer der Rinder des Helios erwähnt
   ƒ   Verhaltensweisen von Menschen und Tieren – auch zufällige Verhaltensäußerungen, wie
       beispielsweise das Niesen des Telemachos
   ƒ   Feuer und Rauch bei Opfern
   ƒ   Vögel, Bienen – in der Odyssee sehr häufige Omina (s.o.)
   ƒ   Ortsgebunden (heiliger Baum, Losorakel, Opferflamme, Befragung, Heilschlaf)- nahezu
       alle Tempel in der griechischen Antike wurden für das Orakelwesen und die Deutung von
       Omina benutzt; erwähnt werden explizit in der Odyssee die Orakel von Delphi und
       Dodona.
                                           Orakel

Als „Orakel“ wird sowohl das Orakelwesen („Orakel von Delphi“) als auch der Orakelspruch
bezeichnet. Ein Orakel setzt umfangreiches Wissen über die Deutung von Omina und den oben
aufgeführten Parallelismus voraus. In den Mythen wurde dieses Wissen häufig erlangt durch den
Kontakt mit den Göttern (z.B. Teiresias).
Ziel des Orakels ist die Erkundung des Künftigen, Entfernten und somit des Willens der Götter.
In Rom kam der ethymologisch verwandte Begriff des „Numen“ (lat. Nuo, sich neigen) auf. Ein

                                    Andreas A.Noll, Januar 2003                                   18
Numen ist der einem Phänomen zugrunde liegende religiöse Sinn. Durch Deutung von Omina ist
es möglich, im Orakel zu erfahren, ob die Gottheit „geneigt“ ist.
Ein Orakel ist darüber hinaus an festgelegte Orte und Termine gebunden. Es wird durch Seher
ausgesprochen, ggf. auf Grundlage einer Fragestellung. Spenden sind durchaus möglich an den
Seher, aber es leitet sich daraus kein Anspruch auf das Orakel ab.

                                           Mantik
Der Begriff „Mantik“ stammt etymologisch von gr. mainomai-rasen ab und findet sich heute
beispielsweise im Begriff „Manie“ als Bezeichnung für einen Zustand agitierter Raserei wieder.
Er setzt die Teilhabe an göttlichem Wissen voraus, also eine angeborene oder erworbene
Fähigkeit, Zugang zu dem Willen der Götter erlangen zu können. In Differenzierung zum
Orakelwesen handelt es sich bei der Mantik eher um eine Technik. Die Trennung von Körper und
Seele, herbeigeführt durch Rauschmittel, Schlaf oder psychische Alterationen wurde zur
Ermittlung eines göttlichen Willens genutzt.
Die Mantik ist das Ritual der kultischen Feststellung des Willens der Götter insgesamt, vor allem
aber von Zeus und Apoll, der als Gott der Orakel besonders für Entsühnung und Reinigung
zuständig war.
Auf zwei Wegen konnten so Hinweise auf den Willen der Götter mittels der Mantik gewonnen
werden:
    ƒ Intuitiv
            – Träume und Visionen ergaben spontane Hinweise und Omina
    ƒ Induktiv
            – Gezielte Suche nach Omina und
            – die Bescheide aus Opferschau nach konkreter Fragestellung etc.

                                     Prophezeiungen
Prophezeiungen hingegen sind im Allgemeinen weniger als Interpretationen eines göttlichen
Willens, sondern als Vorhersagen von zukünftigen Ereignissen definiert. Sie setzen beim
Propheten in der Regel ein Sendungsbewusstsein voraus, nicht selten auch ekstatische Zustände,
wie sie aber auch in der Mantik genutzt oder hervorgerufen werden.
Visuelle oder akustische Wahrnehmungen – auch hier ist die Abgrenzung zu den erstgenannten
Begriffen sehr schwierig- dienen dem „Blick in die Zukunft“.

Literatur:
I.
Odyssee, Übersetzung von Anton Weiher, Heimeran-Verlag, 1961
Odyssee, Übersetzung von Heinrich Voß, Insel-Verlag, 1990
II.
Bertholet, Wörterbuch der Religionen, Kröner-Verlag, Stuttgart 1985
Kerenyi, Die Mythologie der Griechen, DTV, München 1966

                                    Andreas A.Noll, Januar 2003                                19
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