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Orientierungsrahmen für die Forschung 2019/2020 Stiftung Wissenschaft und Politik Deutsches Institut für Internationale Politik und Sicherheit November 2018
Orientierungsrahmen für die Forschung 2019/2020 Stiftung Wissenschaft und Politik Deutsches Institut für Internationale Politik und Sicherheit November 2018
Alle Rechte vorbehalten. Abdruck oder vergleichbare Verwendung von Arbeiten der Stiftung Wissenschaft und Politik ist auch in Aus- zügen nur mit vorheriger schriftlicher Genehmigung gestattet. © Stiftung Wissenschaft und Politik, Berlin, 2018 SWP Stiftung Wissenschaft und Politik Deutsches Institut für Internationale Politik und Sicherheit Ludwigkirchplatz 3–4 10719 Berlin Telefon +49 30 880 07-0 Fax +49 30 880 07-200 www.swp-berlin.org swp@swp-berlin.org
Inhalt 5 Zur Einführung 6 Außen- und sicherheitspolitische Herausforderungen und Gestaltungsaufgaben 8 Internationale Ordnung 8 Strukturelle Veränderungen und negative Dynamiken 10 Die Vereinten Nationen und G-Formate 11 Große und mittlere Mächte – Volatile Macht- konstellationen und neue Kooperationsfenster 14 Digitale Technologien als Gestaltungsmittel internationaler Politik 16 Europäische Union: interne Dynamiken und externe Ordnungsaufgaben 23 Sicherheit 23 Traditionelle Bedrohungen und neue Konflikte 25 Streitkräfteentwicklung und Ausrüstung 26 Rüstungskontrolle, Vertrauensbildung und Nichtverbreitung 27 Regionale Konfliktkonstellationen 29 Internationalisierte Bürgerkriege und ihre transnationale Verflechtung 30 Zielkonflikte bei der Stabilisierung fragiler Staaten 31 Krisenmanagement und Krisenfrüherkennung 32 Sicherheitspolitische Herausforderungen der Digitalisierung 34 Wirtschaft und Gesellschaft 34 Entwicklungslinien, Dynamiken, Chancen 35 Wachstumsschwächen und Verteilungskonflikte 36 Künstliche Intelligenz – Auswirkungen auf Wachstum, Verteilung und internationale Kooperation 37 China als ordnungspolitische Herausforderung und der sino-amerikanische Konflikt 38 Bewältigung regionaler und globaler Wirtschafts- und Finanzkrisen 41 Internationale Handelspolitik 42 Nachhaltige Entwicklung, Klima- und Energiepolitik 44 Flucht, Migration und Entwicklung 46 Globale Gesundheit und ihr Nexus zu Sicherheit, Stabilität und Wohlstand 48 Abkürzungen
Zur Einführung Zur Einführung In diesem Orientierungsrahmen für die Forschung der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) skizzieren wir Herausforderungen und Gestaltungsaufgaben deutscher Außen- und Sicherheitspolitik, die für die Jahre 2019/2020 schon jetzt absehbar sind oder aus poli- tischer bzw. wissenschaftlicher Sicht als relevant erachtet werden. Einige Themen und Fragestellungen, die wir auf den nächsten Seiten vorstellen, sind mit dem politischen Kalender 2019/2020 verbunden. Dazu zählen Deutschlands Mitgliedschaft im Sicherheits- rat der Vereinten Nationen (VN), die Übernahme der Ratspräsidentschaft in der Euro- päischen Union (EU) und die Wahlen zum Europäischen Parlament als Auftakt des neuen institutionellen Zyklus. Andere Fragen betreffen strukturelle Veränderungsprozesse. Zwei sehr unterschiedlich gelagerten Themenlinien gilt unser besonderes Augenmerk: der Ero- sion der liberalen internationalen Ordnung sowie dem tiefgreifenden Wandel, den die Digitalisierung für die Lebenswirklichkeit und damit auch die Politik bedeutet. Eine Fülle von diplomatischen Prozessen und Aktivitäten, das Krisenmanagement und das Bemühen um Konfliktlösungen erfordern ein fortgesetztes Engagement deutscher Außenpolitik. Das geschieht zumeist im Zusammenwirken mit europäischen und internationalen Partnern, darunter eine stetig wachsende Zahl von nichtstaatlichen Akteuren. Daher ist der Orien- tierungsrahmen 2019/2020 an vielen Stellen eine Fortschreibung und Aktualisierung des vorhergehenden. Der vorliegende Orientierungsrahmen gibt den Wissenschaftlern und Wissenschaftle- rinnen in den sieben Forschungsgruppen Anhaltspunkte für die Auswahl und Einordnung von Forschungsfragen und Problemstellungen. Er bildet weder ein Problemranking ab noch legt er eine verbindliche Forschungsagenda für die SWP fest. Die konkrete Themenauswahl und Akzentuierung erfolgen ebenso wie die angemessene Methodenwahl in einem Prozess kontinuierlicher Reflexion und Diskussion im Hause, in internationalen Forschungs- verbünden und mit politischen Entscheidungsträgern sowie in der Auseinandersetzung mit aktuellen Ereignissen und Entwicklungen der internationalen Politik. In der For- schungspraxis werden die in der SWP abgedeckten Regional- und Länderperspektiven mit politikfeldspezifischen und horizontalen Forschungsthemen aus der Europa- und Sicher- heitspolitik sowie der »Global Governance«-Forschung zusammengeführt. Die SWP veröffentlicht ihre Analysen und Empfehlungen in den Reihen SWP-Studie und SWP-Aktuell. Die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler stehen den Abgeord- neten und Fraktionen des Deutschen Bundestages wie der gesamten Bundesregierung für mündliche Beratung zur Verfügung. Die SWP versteht sich dabei als Ideengeber, Dialog- und Sparringspartner. SWP Berlin Orientierungsrahmen für die Forschung 2019/2020 November 2018 5
Außen- und sicherheitspolitische Herausforderungen und Gestaltungsaufgaben Außen- und sicherheits- politische Heraus- forderungen und Gestaltungsaufgaben Im Orientierungsrahmen für die Forschung der SWP werden solche internationalen Ent- wicklungen und Herausforderungen aufgegriffen, die für die deutsche Außen- und Sicher- heitspolitik in den Jahren 2019/2020 als wesentlich erachtet werden. Angesichts des hohen Grads der internationalen Verflechtung Deutschlands, seiner globalen und vielfältigen Interessen, seines weiten Aktionsradius und expliziten Gestaltungsanspruchs führt selbst diese Auswahl zu einem umfangreichen Themenkatalog. Dieser wird zum Zwecke einer übersichtlichen Darstellung in drei Hauptkapitel unterteilt, die jeweils unterschiedliche analytische Perspektiven in den Mittelpunkt stellen: Internationale Ordnung, Sicherheit sowie Wirtschaft und Gesellschaft. Abbildung 1: Analyseperspektiven der Außen- und Sicherheitspolitik SWP Berlin Orientierungsrahmen für die Forschung 2019/2020 November 2018 6
Außen- und sicherheitspolitische Herausforderungen und Gestaltungsaufgaben In diesen Hauptkapiteln werden zwei große Themenlinien unabhängig voneinander akzentuiert: die Erosion der liberalen internationalen Ordnung und der tiefgreifende Wandel durch Digitalisierung und Vernetzung. Die regelgebundene internationale Ordnung ist zerrüttet, Großmachtkonflikte kehren Erosion internationaler in die internationale Politik zurück: Das internationale System befindet sich in einer Ordnung riskanten Phase der Transition, in deren Zentrum die fluiden Kräfteverhältnisse zwischen den USA, China und Russland stehen. Rivalitäten zwischen diesen Großmächten in unter- schiedlichen Kontexten werden im strategischen Diskurs oft als geopolitische Konflikte und als Kampf um Einflusssphären wahrgenommen bzw. begründet. Damit bergen sie ein erhebliches (militärisches) Konfliktrisiko. Sie schließen aber auch technologische und geoökonomische Kalküle mit ein. Diese Tendenzen strapazieren und verdrängen etablierte Formate und Politik-Regime globaler und regionaler Kooperation, zumal wenn sie von liberalen Vorstellungen geformt worden sind. Das internationale System befindet sich im Umbruch und die internationale Politik ist Megatrend Digitalisierung von hoher Volatilität, Verunsicherung und von Ungewissheiten bestimmt, zu denen auch die Effekte der beschleunigten Digitalisierung und der digitalen Vernetzung beitragen. Der Megatrend der Digitalisierung betrifft viele Bereiche der internationalen Politik, die im engeren Sinne sicherheitspolitische, aber ebenso regulatorische oder sozio-ökonomische Implikationen haben. Zum Ausdruck kommen sie in Fragen wie hybriden Bedrohungen, Cybersicherheit, Robotik, Automatisierung, Künstlicher Intelligenz, Big Data, Trollfabriken etc. sowie in deren Auswirkungen zum Beispiel auf politische Strategieplanung bzw. Ent- scheidungsfindungsprozesse. Auch für die wirtschaftliche Entwicklung, die Arbeitswelt, Mobilität und Integration von Gesellschaften werden Digitalisierung und neue Konnektivi- tät zu wichtigen Determinanten. Für Deutschland bedeutet die Erosion der liberalen regelgebundenen Ordnung, dass das Deutsche Strategie- und außen- und sicherheitspolitische Koordinatensystem und die maßgeblichen Handlungs- Handlungsfähigkeit rahmen seiner Außen- und Sicherheitspolitik – VN, Nato, EU – gefährdet sind. Welche Beiträge kann deutsche Politik angesichts dessen sowie bei prinzipiell begrenzter Hand- lungssouveränität und starker Interdependenz leisten, um eine regelbasierte multilaterale internationale Ordnung weiterhin zu ermöglichen und diese zu revitalisieren? Das hängt nicht zuletzt von der Strategie- und Handlungsfähigkeit deutscher Außen- und Sicher- heitspolitik ab, also der Fähigkeit zur Interessen- und Zieldefinition, zur Lageanalyse, zur Bildung von Koalitionen und Partnerschaften sowie von der Verfügung über die nötigen Ressourcen. SWP Berlin Orientierungsrahmen für die Forschung 2019/2020 November 2018 7
Internationale Ordnung Internationale Ordnung Strukturelle Veränderungen und negative Dynamiken Das internationale System durchläuft einen Prozess der Multipolarisierung, der durch Un- sicherheit und wachsende Rivalitäten zwischen großen und mittleren Staaten bestimmt wird. Die vom Westen geprägte liberale internationale Ordnung – verstanden als ein Zu- sammenspiel von Normen, Regeln und Institutionen im Sinne dauerhafter Strukturen – wird zunehmend fragiler. Dazu trägt bei, dass die Hauptstütze dieser Weltordnung, die USA, unter der Trump-Administration deren Normen und Institutionen durch verbale An- griffe und praktische Politik unterläuft. Die Werteordnung des Westens mit den Prinzi- pien der Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Achtung der Menschenrechte sowie die von ihm getragenen multilateralen Organisationen stehen unter erheblichem Legitimations- und Leistungsdruck, zumal illiberale und autoritäre Tendenzen auch in Europa erstarken. Abbildung 2: Internationale Ordnung – Problemkreise im Überblick SWP Berlin Orientierungsrahmen für die Forschung 2019/2020 November 2018 8
Strukturelle Veränderungen und negative Dynamiken Symptomatisch ist, dass die Geopolitik zurückkehrt: Staaten reklamieren exklusive Rückkehr der Geopolitik Einflusssphären und zugleich wird der Multilateralismus durch mini- und bilaterale (Ad-hoc-)Formate überlagert und zurückgedrängt. Die Entwicklungen machen sich auf nationaler, regionaler und globaler Ebene bemerkbar. Kriege und Gewaltkonflikte lassen sich nur unzureichend einhegen, auch weil sie von anhaltenden Großmachtkonflikten überlagert sind. (National-)Staatliche Territorialordnungen werden immer häufiger in Frage gestellt, etwa die Grenzen im Nahen und Mittleren Osten oder in der Ukraine. Zudem geraten wichtige funktionale Teilordnungen und normative Prinzipien unter Funktionale Teilordnungen Druck, die in zahlreichen internationalen Abmachungen und Regimen verankert sind. Dazu zählen die Rüstungskontrolle, die Organisation des Welthandels, die internationale Finanzordnung, die globale Gesundheits- und Migrationspolitik und nicht zuletzt die internationale Klimapolitik. Viele der bekannten strukturellen und politikfeldspezifischen Herausforderungen werden zugleich durch die sich beschleunigende und allumfassende Digitalisierung verschärft. Ein zentrales Thema sind deshalb – bei oftmals hybriden Bedrohungslagen – die neuartigen Verwundbarkeiten kritischer Infrastrukturen (Strom- und Wasserversorgung, Telekommunikation, Banken und Börsen etc.), aber auch demo- kratischer Institutionen angesichts von Manipulation, Desinformation und Diskreditie- rungskampagnen im Netz. Die skizzierten strukturellen Veränderungen und negativen Dynamiken bilden ein Global Governance schwieriges Umfeld für die globale Governance und die etablierten Institutionen der inter- nationalen Zusammenarbeit wie die Vereinten Nationen oder die Welthandelsorganisa- tion (WTO). Die Notwendigkeit von mehr und besserer Global Governance liegt auf der Hand: Einzelne Regierungen sind angesichts der Vielzahl interdependenter Problemlagen und mangelnder Handlungsfähigkeit überfordert, öffentliche Güter auf nationaler und internationaler Ebene bereitzustellen und zu gewährleisten. Jedoch lässt die Bereitschaft zentraler Akteure des Staatensystems zu engerer Kooperation, Koordination und Lasten- teilung nach. Je stärker Großmachtrivalitäten und Nullsummenlogiken die internationale Politik Einfluss- und Gestaltungs- bestimmen, desto schwächer wird die Bindewirkung internationaler Institutionen und möglichkeiten Regime – die »regelbasierte internationale Ordnung«. Dies stellt deutschen Einfluss und deutsche Gestaltungsmöglichkeiten fundamental in Frage. Die Strategie- und Handlungs- fähigkeit Deutschlands wird deshalb davon abhängen, inwieweit es Konstellationen ko- operationswilliger Akteure schafft oder sich an solchen aktiv beteiligt, deren Akteure zu gemeinsamem Handeln in relevanten Politikfeldern in der Lage sind. Am meisten Aussicht auf Gestaltung der internationalen Ordnung und die Sicherung seiner Interessen wird Deutschland haben, wenn es im EU-Verbund vorgeht. Im Lichte ihrer Interessen und Res- sourcen sollten Deutschland und die EU die zentralen regionalen und thematischen Hand- Deutschland im EU-Verbund lungsfelder eruieren, in denen sie ihre Gestaltungskraft gebündelt zur Geltung bringen können. Bei der Suche nach politikfeldbezogenen Partnerschaften ist von Deutschland hohe Flexibilität und kein starres Allianzkonzept gefragt. Jenseits des nicht verhandel- baren universellen Wertekatalogs der Vereinten Nationen dürften Deutschland und die EU zunehmend gefordert sein, sich mit alternativen Ordnungsvorstellungen auseinander- zusetzen und die eigenen Normen, Werte und Interessen in einem offenen Wettbewerb zu vertreten. Gleichzeitig müssen bestehende Institutionen bewahrt und gefestigt werden, auch indem Partizipationsansprüche neuer Mächte akkommodiert werden. SWP Berlin Orientierungsrahmen für die Forschung 2019/2020 November 2018 9
Internationale Ordnung Die Vereinten Nationen und G-Formate Sicherheitsrat In der internationalen Gemeinschaft, besonders unter Akteuren, die sich dem regelgebun- denen Multilateralismus verschrieben haben, richten sich hohe Erwartungen an Deutsch- land, auch angesichts seines nichtständigen Sitzes im VN-Sicherheitsrat 2019/2020. Deutschland könnte einen besonderen Akzent setzen, wenn es die Mitgliedschaft euro- päisch definiert und die enge Abstimmung mit den übrigen ständigen und nichtständi- gen europäischen Mitgliedern sucht. Deutschland hat ein grundlegendes Interesse an einer wirkungsvollen Reform und politischen Revitalisierung der Weltorganisation als Garant einer multilateralen, regel- basierten internationalen Ordnung. VN-Generalsekretär António Guterres setzt sich inten- siv für Reformen ein: Das Spektrum reicht von »Sustaining Peace« bis hin zur Stärkung des VN-Entwicklungssystems und umfasst auch Veränderungen der Finanzierungsstruk- tur, von Managementkultur und Arbeitsmethoden. Und nicht zuletzt wird es weiterhin darum gehen, den Sicherheitsrat repräsentativer zu gestalten, ohne dessen Handlungs- fähigkeit einzuschränken. Generell dürfte die Entscheidungsfindung in den VN und spe- ziell im Sicherheitsrat aufgrund der an Schärfe gewinnenden Großmachtkonflikte jedoch schwieriger werden. Umsetzung und Reform Darüber hinaus sehen sich die VN-Mitgliedstaaten mit den Schwierigkeiten der Umset- globaler Zusammenarbeit zung sowohl der Agenda 2030 für nachhaltige Entwicklung, samt der universellen Ziele Nachhaltige Entwicklung, für nachhaltige Entwicklung (Sustainable Development Goals, SDGs), als auch des Pariser S. 42 Klimaabkommens konfrontiert. Trotz einiger Anstrengungen ist die anvisierte Transforma- tion zu einer nachhaltigen und klimaverträglichen Entwicklung noch weit entfernt. Um politisches Momentum zu generieren, findet im Rahmen der VN-Generalversammlung im September 2019 ein Gipfel der Staats- und Regierungschefs zu nachhaltiger Entwicklung statt; parallel lädt der Generalsekretär zu einem Klimagipfel ein. Diese Gipfeltreffen sollen nicht nur die Umsetzung der beiden Abkommen entscheidend voranbringen, sondern auch Impulse für weitere Reformen des VN-Systems geben. Dazu gehören unter anderem die für 2019/2020 geplanten Reformen des Wirtschafts- und Sozialrates (ECOSOC) sowie des Hochrangigen Politischen Forums zu nachhaltiger Entwicklung (HLPF). Krisenverhütung, Aus deutscher Sicht verdient die möglichst frühzeitige Verhütung von Krisen die beson- Frühwarnung dere Aufmerksamkeit des Sicherheitsrats. Dabei muss man sich allerdings vor Augen füh- Krisenfrüherkennung, ren, dass Frühwarnung oft übergangen und Konflikte weder verhütet noch eingedämmt S. 31 werden. Am Ende von Bürgerkriegen, zumal wenn sie internationalisiert und geopolitisch aufgeladen waren, steht dann möglicherweise eine Fragmentierung des betroffenen Lan- des oder der militärische Sieg einer Seite. In einer solchen Konstellation kommt es darauf an, dass grundlegende Prinzipien für den Schutz der Zivilbevölkerung (seien es rück- kehrende Flüchtlinge und Vertriebene oder besonders verwundbare Teile der Bevölkerung oder die »Verliererseite«) respektiert werden. Dafür benötigen internationale Organisatio- nen den notwendigen Zugang. Als Mitglied des Sicherheitsrats kann Deutschland sich für diese Prinzipien in besonderem Maße einsetzen. Weitere Felder, auf denen sich Deutschland 2019/2020 abseits des täglichen Kern- geschäfts besonders engagieren könnte, sind die Verbindung von Klima und Sicherheit ebenso wie von globaler Gesundheit und Sicherheit, die Stärkung der Agenda »Frauen, Frieden und Sicherheit« oder die Kleinwaffen-Problematik. Um den Leitgedanken deut- scher VN-Politik, nämlich die enge Verzahnung von Friedenssicherung und nachhaltiger Entwicklung, in der Arbeit des Sicherheitsrats fester zu verankern, könnte Berlin dort die SWP Berlin Orientierungsrahmen für die Forschung 2019/2020 November 2018 10
Große und mittlere Mächte – Volatile Machtkonstellationen und neue Kooperationsfenster sicherheitsrelevanten Folgen von Klimaveränderungen verstärkt thematisieren mit dem Ziel, Risikoanalysen sowie Frühwarnmechanismen voranzubringen. Inwieweit sich die Krise der liberalen Ordnung und der multilateralen Kooperation G-Formate durch das Auseinanderdriften des Westens auch in den »G-Formaten« niederschlägt, wird Internationale Handelspolitik, sich bei der Gruppe der 20 (G20) unter der Präsidentschaft Japans (2019) und Saudi-Ara- S. 41 biens (2020) sowie bei der Gruppe der 7 (G7) unter dem Vorsitz Frankreichs (2019) und der USA (2020) zeigen. Protektionistische Maßnahmen und die zunehmenden Spannungen beim internationalen Handel könnten sich insbesondere in der ökonomischen Kernkom- petenz der G20 bemerkbar machen. Eine Zusammenarbeit mit politisch gleichgesinnten Akteuren zum Erhalt der liberalen (Handels-)Ordnung in diesen Foren wird bedeutsam. Es ist mithin fraglich, inwieweit die Kooperation bei den G20-Schwerpunkten der letzten Jahre auf Regionen (Afrika) und Themen (Globale Gesundheit, integrierte Klima- und Energie-Aktionspläne) international fortgesetzt werden kann. Große und mittlere Mächte – Volatile Machtkonstellationen und neue Kooperationsfenster Kräfteverschiebungen in Richtung eines multipolaren internationalen Systems sind seit Kräfteverschiebungen Jahren im Gang. Sie bringen volatile Machtkonstellationen hervor, öffnen aber auch neue Kooperationsfenster. Inwieweit sich Europa als eigener Pol in einer multipolaren Welt verorten will und kann, wird unter anderem davon abhängen, wie die Europäer mit dem traditionellen Hauptpartner, den USA, aber auch mit China und den großen Ländern ihrer Nachbarschaft, Russland und der Türkei, umgehen werden und wie sie die Beziehungen bilateral und in unterschiedlichen Formaten und Settings zu gestalten vermögen. Darüber hinaus sind Kooperationen mit gleichgesinnten Ländern, wie etwa Kanada, und vernach- lässigte Partnerschaften wie mit lateinamerikanischen Ländern neu zu profilieren. Die größte Veränderung im außenpolitischen Koordinatensystem bahnt sich für Deutsch- USA, transatlantische land und die EU im Verhältnis zu den USA an. Die USA entwickeln sich zum ambivalen- Beziehungen ten und unberechenbaren Partner, der gleichwohl zentral für die Sicherheit Deutschlands und des Westens und für deren Gestaltungskraft ist. Mit Trump hat zum ersten Mal seit dem Aufstieg der USA zur Weltordnungsmacht das Amt des Präsidenten angetreten, dem die Funktionslogik der amerikanischen Führungsrolle fremd ist bzw. der sie negiert. Die Devise »America first« entspricht einer transaktionalen Außenpolitik, die auch die Grund- lagen der transatlantischen Beziehungen und ihre Handlungsrahmen in Frage stellt. Die Partner der USA müssen Prämissen der Zusammenarbeit hinterfragen, Ressourcen und Handlungsroutinen überprüfen und Konsequenzen im Lichte eines interessegeleiteten und strategisch reflektierten Umgangs mit den USA ziehen. Erhaltung und Ausbau von enger Konsultation und von Mechanismen der Koordination mit Washington wie auch mit ande- ren gleichgesinnten Staaten bleiben jedoch zentral, um im Sinne des von Deutschland bevorzugten effektiven Multilateralismus der Krise der liberalen Ordnung und der drohen- den geopolitischen Polarisierung begegnen zu können. Aber gleichzeitig wird das Verhält- nis durch eine Reihe von oftmals wirtschaftlich aufgeladenen Konflikten belastet. Die transatlantische Diskussion über eine ausgewogene Lastenteilung und die Zusam- Lastenteilung menarbeit für die Bewahrung regionaler und globaler Ordnungen ist stark auf die Höhe Finanzierung der der deutschen Verteidigungsausgaben – gemessen am Bruttoinlandsprodukt – sowie auf Bundeswehr, S. 26 den deutschen Handelsbilanzüberschuss gegenüber den USA bei Waren verengt worden SWP Berlin Orientierungsrahmen für die Forschung 2019/2020 November 2018 11
Internationale Ordnung und keineswegs neu. Die Fixierung Washingtons auf das 2-Prozent-Ziel der Nato und die Handelsbilanz wird die Beziehungen zwischen Deutschland und den USA jedoch zusätz- lich zu den bereits unter Obama bestehenden Streitpunkten belasten – wie Datenschutz, Geheimdienstkooperation, Drohnenkriege, Nord Stream 2. Die USA sehen sich in geo- politischen Machtkonflikten mit dem aufsteigenden China und einem wiedererstarkenden Russland, welche sich in einer Verschränkung von Wirtschaft und Sicherheitsfragen mani- festieren. Deutschland und die EU werden sich auch vor dem Hintergrund der transatlan- tischen Differenzen gegenüber Russland und China positionieren müssen. Grundsätzlich wird zudem zu beobachten sein, wie sich amerikanische und europäische Gesellschafts- modelle weiterentwickeln, deren normative Nähe bislang die politische Grundlage für die Aufrechterhaltung der intensiven Kooperation darstellte. Die Wahl Donald Trumps in das Amt des US-Präsidenten verdeutlicht, wie wichtig generell eine genaue Beobachtung gesellschaftlicher, ökonomischer und politischer Entwicklungen enger Partner der deut- schen Außenpolitik ist. Die Vorbereitungen auf die US-Präsidentschafts- und -Kongress- wahlen im November 2020 und die heiße Wahlkampfphase werden spätestens im Früh- jahr 2020 beginnen. Chinapolitik Die Chinapolitik Deutschlands und der EU muss weit über die intensiven Wirtschafts- beziehungen hinausgehen und mit China als einer dauerhaft etablierten Großmacht mit globaler Reichweite rechnen. Auf rhetorischer Ebene ist ein kritischerer Umgang mit China in der deutschen und europäischen Politik zu registrieren, aber sie müsste in der Praxis strategischer angelegt werden. Hierfür ist wichtig zu sehen, dass sich China selbst nicht länger als aufstrebenden Staat begreift, sondern als eine Großmacht, die Visionen für die Zukunft der Welt präsentiert und eine aus seiner Sicht überfällige Reform des internationalen Systems anführt. In internationalen Gremien zum Beispiel im VN-System beeinflusst China durch das strategische Platzieren eigener Konzepte und politischer Chiff- ren (z.B. »Community of Shared Destiny«) immer mehr den politischen Diskurs anderer VN-Mitglieder. Darüber hinaus untermauert China über die selbstinitiierten Institutionen wie die Asiatische Infrastrukturinvestmentbank (AIIB) und die Verbreitung globaler Visio- nen und Projekte wie der Belt and Road Initiative (BRI) seinen Gestaltungsanspruch. Es Konnektivitätspolitik erhofft sich, durch die global ausgerichtete Konnektivitätspolitik in den Ländern entlang China als der Seidenstraße größeren Einfluss und politische Kontrolle ausüben zu können. Durch außenwirtschaftliche den Aufbau von physischer wie politischer Konnektivität trägt China – aus eigener Sicht Herausforderung, S. 37 – auch zur (sicherheits-)politischen Stabilisierung in den Ländern bei. Im regionalen Kontext, etwa im Südchinesischen Meer, manifestieren sich Chinas Ambitionen in der ebenso konsequenten wie proaktiven Verfolgung nationaler Interessen. All dies geschieht unter Beibehaltung und Ausdehnung der autoritären Einparteienherrschaft, legitimiert durch wachsenden gesellschaftlichen Wohlstand, zunehmende technologische Innova- tionskraft und in Abgrenzung zu »westlichen« Modellen von Entwicklung. Obgleich sich China gegenüber Drittländern als erfolgreiche Alternative positioniert, definiert es bisher explizit kein in sich geschlossenes Gegenmodell zur bestehenden internationalen Ordnung. Die Vielzahl von Initiativen und Projekten zielt darauf ab, die bestehenden Ordnungs- strukturen im eigenen Sinn zu verändern und neue politische Räume zu etablieren, zum Beispiel mit der stetigen Aufwertung der »+1-Mechanismen« wie im Falle des Forums für China-Afrika-Kooperation (FOCAC). Chinadialoge Um diesen Herausforderungen ansatzweise zu begegnen, wäre die Koordination inner- halb Deutschlands wie auf europäischer Ebene zu verbessern. Der Chinadialog mit Part- nern außerhalb der EU, vor allem mit Japan, Indien, Australien und auch Kanada, könnte SWP Berlin Orientierungsrahmen für die Forschung 2019/2020 November 2018 12
Große und mittlere Mächte – Volatile Machtkonstellationen und neue Kooperationsfenster intensiviert und verstetigt werden; Deutschlands und Europas wirtschaftliche und ent- wicklungspolitische Aktivitäten in Afrika müssen vor dem Hintergrund des gleichbleibend hohen chinesischen Engagements überdacht und gegebenenfalls überarbeitet werden. Beschleunigt durch die kontinentale Seidenstraßen-Initiative Chinas findet auch eine Zentralasiatisch-kaspischer Vertiefung und Intensivierung der Transaktionen im zentralasiatisch-kaspischen Raum Raum statt, der als Landbrücke zwischen China und der EU an Bedeutung gewinnt und in dem Staaten sich zu unterschiedlichen Kooperationsverbünden zusammenschließen. Deutsch- land und die EU sollten ein erkennbares eigenes Profil zeigen, indem sie sich gegenüber den chinesischen Initiativen positionieren. Nützliche Ausgangspunkte dafür sind regio- nale Strategiepapiere, wie eine neue EU-Zentralasienstrategie oder die europäische Kon- nektivitätsstrategie, in der die EU eigene Interessen und zentrale Begriffe in der Zusam- menarbeit mit China definiert werden. Die Positionierung müsste sich auch in der prak- tischen Kooperation niederschlagen, in Form von alternativen Angeboten an Drittstaaten oder gemeinsamen europäisch-chinesischen Ansätzen. Große und manifeste ordnungspolitische Divergenzen kennzeichnen auch die Bezie- Beziehungen zu Russland hungen der EU zu Russland, ohne dass die EU darüber einen Dialog in Angriff nehmen Russland und Osteuropa, würde. Spätestens seit der völkerrechtswidrigen Annexion der Krim und der Destabilisie- S. 20 rung des Donbas sind die Grenzen der Kooperation mit Russland zum Zwecke der Stabi- lisierung der europäischen Sicherheitsordnung offenbar geworden. Das wirkt sich auch auf den Spielraum der Zusammenarbeit in multilateralen Foren wie der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) aus. Das Bestreben der russischen Füh- rung, ihre selbstdefinierten Interessen auch gegen »Europa« bzw. »den Westen« durch- zusetzen, zeigt sich in der russischen Syrienpolitik. Zugleich versucht Russland weiterhin, unter anderem mit der Eurasischen Wirtschaftsunion (EWU) seine Nachbarn enger an sich zu binden und dadurch den Einfluss der EU in der Region zu begrenzen. In den letzten Jahren ist Russlands »sharp power« durch gezielte Einflussnahme, Medienberichterstat- tung, aber auch aggressive Handlungen wie Cyberangriffe zunehmend auch in EU-Mit- gliedstaaten wirksam geworden. Allerdings fühlen sich Teile der europäischen Gesellschaf- ten und politischen Kräfte aus unterschiedlichen Gründen und mit unterschiedlichen Kalkülen zum russischen politischen und Gesellschaftsmodell hingezogen. Zu fragen ist, ob mit der EWU ein zweites politisch-wirtschaftliches Gravitationsfeld neben der EU in Europa entsteht und was dies für eine stabile europäische Sicherheitsordnung bedeutet. Die russischen Präsidentschaftswahlen im März 2018 haben die Stabilität des russischen Systems vorerst gesichert. Mittelfristig besteht die größte Herausforderung für das Regime nun darin, bis 2024 trotz wirtschaftlicher Stagnation die Nachfolge des jetzigen Präsiden- ten und damit den eigenen Machterhalt zu sichern. Nichts weist derzeit darauf hin, dass sich dabei Raum für innenpolitische Reformen oder einen außenpolitischen Kurswechsel ergeben könnte. Ankara hat sich Anfang der 2000er Jahre als Regionalmacht mit eigener Agenda positio- Beziehungen zur Türkei niert, ermuntert durch eine bislang nicht gekannte politische Stabilität – die Herrschaft einer Partei –, durch beeindruckendes wirtschaftliches Wachstum, aber auch durch die Verlagerung der wirtschaftlichen Dynamik nach Asien. Die Beziehungen zu den USA und Europa begriff die türkische Regierung zusehends als einseitige Abhängigkeit vom Westen, eine Situation, der durch den Ausbau der wirtschaftlichen und politischen Verbindungen mit den Ländern des Nahen Ostens sowie mit Russland und China begegnet wurde. Das Stocken des EU-Beitrittsprozesses und die grundsätzliche Ablehnung der Nahostpolitik der USA, die als Destabilisierung der Region und der Türkei selbst wahrgenommen wird, SWP Berlin Orientierungsrahmen für die Forschung 2019/2020 November 2018 13
Internationale Ordnung haben seitdem innenpolitisch einem religiös konnotierten Nationalismus Auftrieb gege- ben und sicherheitspolitisch zur Hinwendung zu Russland geführt. Strategische Bedeutung Die Flüchtlingskrise und der Syrienkonflikt haben die eminente strategische Bedeutung der Türkei für die europäische Sicherheit deutlicher gemacht als je zuvor. Die Unfähigkeit der EU, eine gemeinsame Flüchtlingspolitik zu formulieren und ihre Außengrenzen zu- verlässig gegen irreguläre Einwanderung zu schließen, hat Ankaras Position gegenüber der EU gestärkt und die Möglichkeiten der EU stark reduziert, auf die türkische Innen- und Außenpolitik Einfluss zu nehmen. Außenpolitisch driften – wie die Annäherung Ankaras an Moskau zeigt – die Bedrohungsperzeptionen in der EU und den USA auf der einen und der Türkei auf der anderen Seite auseinander, was die Frage nach der Verlässlichkeit der Türkei als Nato-Partner aufwirft. EU–Türkei Aufgrund ihrer engen wirtschaftlichen und sozialen Verflechtung mit der Türkei stellt die zunehmende Entfremdung und Sprachlosigkeit im Verhältnis zwischen Brüssel und Ankara die Bundesrepublik vor besondere Probleme. Jahrzehnte türkischer Migration nach Deutschland haben eine in Sachen Türkei gut informierte, aber auch polarisierte deutsche Öffentlichkeit hervorgebracht, so dass die deutsche Türkeipolitik eine vergleichsweise aus- geprägte innenpolitische Dimension hat. Deutschland hat ein Interesse daran, sich an der Diskussion über einen neuen Rahmen der EU-Türkei-Beziehungen jenseits der Beitritts- verhandlungen aktiv zu beteiligen. Angesichts der zentralen Bedeutung der EU für die türkische Wirtschaft bieten sich dafür in erster Linie Verhandlungen über die Modernisie- rung und Vertiefung der Zollunion Ankaras mit der EU an. Zusammenarbeit mit Auf der Suche nach Unterstützung für die fragile regelgebundene internationale Ord- demokratischen Staaten im nung und ihre regionalen wie funktionalen Teilordnungen wäre die Zusammenarbeit indo-pazifischen Raum mit demokratischen Staaten im indo-pazifischen Raum wie Japan, Indien, Südkorea, Indo- nesien und Australien systematisch und sichtbar zu verstärken. In ihren regionalen Kon- texten fördern diese zudem den Aufbau regionaler Organisationen, was im Interesse deut- scher Außenpolitik liegt. Zusammen mit Brasilien, Kanada, Mexiko, Argentinien und Süd- korea sind diese Staaten auch wichtige Partner im G20-Prozess, zum Beispiel für den Erhalt der liberalen Handelsordnung, bei der Reform der internationalen Finanzarchitek- tur und der Bekämpfung des Terrorismus. Digitale Technologien als Gestaltungsmittel internationaler Politik Digitale Technologien Digitale Technologien sind ein immer wichtigeres Gestaltungsmittel der Politik. Staaten, und Macht Unternehmen und auch zivilgesellschaftliche Akteure versuchen auf unterschiedlichste Weise, die Entwicklung und Anwendung digitaler Technologien für ihre Zwecke zu nut- zen. Weil viele dieser Technologien staatliche Grenzen überschreiten, gilt dies in besonde- rer Weise für die internationale Politik. Staaten wie China, Russland und die USA sehen in der Nutzung der jeweils neuesten technologischen Entwicklungen eine Gelegenheit, ihre relative Machtbasis in militärischer, vor allem aber wirtschaftlicher Hinsicht auszubauen und nicht zuletzt ihre jeweiligen Ordnungsvorstellungen global durchzusetzen. Aktuell zeigt sich dies etwa im Wettrennen um die technologische Vorherrschaft im Bereich der Künstlichen Intelligenz, bei der Entwicklung von Quantencomputern oder auch bei der Spezifikation des neuen Mobilfunkstandards 5G. Grundrechte Dies stellt gerade liberal-demokratische Staaten wie Deutschland vor neue Herausforde- rungen. Neben Fragen der Cybersecurity gilt es insbesondere, liberale und demokratische SWP Berlin Orientierungsrahmen für die Forschung 2019/2020 November 2018 14
Digitale Technologien als Gestaltungsmittel internationaler Politik Grundwerte auch unter den veränderten Bedingungen der Digitalisierung zu bewahren. Dies betrifft grundlegende Freiheitsrechte wie das Recht auf Privatsphäre, das Recht auf freie Meinungsäußerung oder aber auch politische Rechte wie das Recht auf demokrati- sche Beteiligung. Politischer Handlungsbedarf besteht in dreifacher Hinsicht: Erstens muss die Durchsetzung und Gewährleistung dieser Rechte mit Blick auf neue technologische Entwicklungen angepasst werden (zum Beispiel mit Blick auf die Eigenheiten der Kom- munikation in sozialen Medien). Zweitens müssen diese Rechte vor gezielten äußeren Eingriffen geschützt werden (zum Beispiel vor digitalen Abhörmaßnahmen oder den ver- schiedenen Formen der »computational propaganda«). Schließlich gilt es, drittens, auch auf globaler Ebene die Geltung der entsprechenden völkerrechtlichen Normen gegen autoritäre Angriffe zu verteidigen (zum Beispiel im Lichte der zunehmend elaborierten Formen staatlicher Internet-Zensur). Letztlich stellen der gegenwärtige Anstieg von Auto- ritarismus, Populismus sowie Effekte eines »Spill-over« aus anderen Politikfeldern (etwa Urheberrechtsschutz oder Zensur von illegalen Inhalten im Zuge des Anti-Terrorkampfes) eine essentielle Herausforderung für ein offenes und weiterhin freies Internet dar. Eine besondere Bedeutung kommt den Strukturen der globalen Internet-Governance zu Globale Internet-Governance (zum Beispiel ICANN, IETF). Lange wurde Internet-Governance vor allem als technische Koordinationsaufgabe verstanden. Es wächst jedoch das Bewusstsein dafür, welch weit- reichende politische Folgen technische Entscheidungen über die Zukunft der Infrastruktur des Internets haben (zum Beispiel mit Blick auf die Weiterentwicklung des DNS-Systems oder den Übergang von IPv4 zu IPv6). Insbesondere China markiert in diesem Bereich sehr deutlich den Anspruch, die Strukturen der globalen Internet-Governance entsprechend den eigenen Vorstellungen von »Cyber-Souveränität« anzupassen. Unterfüttert wird dies durch das selbstbewusste und durchaus erfolgreiche Auftreten chinesischer Konzerne. Versteht man die Entwicklung und Nutzung digitaler Technologie als Gestaltungsmittel Deutschlands Rolle bei der der internationalen Politik, so ergeben sich daraus auch die Herausforderungen – und Gestaltung des Digitalen Chancen – deutscher Politik in diesem Bereich. Mit Blick auf die genannten Konflikt- linien verfügt Deutschland über das politische Gewicht und die technische Expertise, um eigenen Vorstellungen Geltung zu verschaffen. Erkennbar ist auch der Wille, diese Mög- lichkeiten verstärkt zu nutzen. 2018 hatte Deutschland den Vorsitz in der Freedom Online Coalition inne, 2019 wird die Bundesregierung die dritte Konferenz des global angelegten Internet & Jurisdiction Policy Network abhalten, vor allem aber auch das Internet Gover- nance Forum der Vereinten Nationen ausrichten. Will Deutschland Foren wie diese nutzen, gilt es zweierlei zu beachten: Erstens verschwimmt gerade in diesem Bereich die Grenze zwischen Innen- und Außenpolitik immer mehr. Weil digitale Technologien die Grenzen der Staaten überschreiten, bedarf es gerade hier einer Koordination aller be- teiligten Ressorts und Agenturen, um außenpolitisch wirksam auftreten zu können. Zwei- tens wird immer deutlicher, dass auch in diesem Bereich die EU eine zentrale Rolle in der deutschen außenpolitischen Strategie einnehmen sollte. Wie sich am Beispiel der Daten- schutzgrundverordnung gezeigt hat, verfügt die EU als politische und vor allem auch wirt- schaftliche Gemeinschaft über die notwendige Macht, die Entwicklung und Anwendung digitaler Technologien in ihrem Sinne und mit ihren Zwecksetzungen zu prägen. SWP Berlin Orientierungsrahmen für die Forschung 2019/2020 November 2018 15
Internationale Ordnung Europäische Union: interne Dynamiken und externe Ordnungsaufgaben Polykrise und Die Folgen der vielfachen Krisen werden die EU 2019/2020 weiterhin beschäftigen: die an- internationales Umfeld haltenden Spannungen in der Eurozone, die Migrationspolitik, der Umgang mit Populis- mus, die Aufrechterhaltung der Rechtsstaatlichkeit in Mitgliedstaaten und die Schadens- begrenzung im Hinblick auf den Brexit sowie die Neugestaltung der Beziehungen zum Ver- einigten Königreich. Über diese internen Herausforderungen hinaus ist die EU mit akuten ungelösten Konflikten in ihrer südlichen und östlichen Nachbarschaft konfrontiert. Das Infragestellen transatlantischer Verbundenheit sowie multilateraler Ordnungsprinzipien und -regime durch US-Präsident Trump, ein sich ausbreitender Autoritarismus mit aggres- siven außenpolitischen Akzenten in Russland, China und der Türkei sowie das Ausschei- den des Vereinigten Königreichs aus der EU – all dies fordert die EU-27 dazu heraus, ihre Strategie- und Handlungsfähigkeit zu verbessern. Interne Dynamiken in der EU Reformfähigkeit der EU-27 Für die EU ist es von strategischer Bedeutung, den inneren Zusammenhalt in pragmatischer Weise zu festigen und handlungsfähiger zu werden. Es stellt sich zunächst die Frage ob 2019/2020 auf Grundlage der deutsch-französischen Partnerschaft tragfähige wie hin- reichend ambitionierte Reformen vorangebracht werden können. Eine stärkere Ausprä- gung einer EU der verschiedenen Geschwindigkeiten ist in einigen der zentralen Hand- lungsfelder zu erwarten, wie etwa der Migrationspolitik und der Eurozone. Flexible Ko- operationsformate sind gegebenenfalls eine Not- und Übergangslösung angesichts gegen- läufiger Tendenzen: Einerseits verspricht das gemeinschaftliche Handeln der Union eine bessere Problemlösung als nationale Maßnahmen, andererseits wird in vielen EU-Mitglied- staaten der Ruf nach einer Rückverlagerung von Kompetenzen in die Mitgliedstaaten lau- ter. Der für Ende März 2019 geplante Brexit wird die Kräfteverhältnisse in der EU verän- dern und ein wichtiger Faktor sein in Bezug auf den Zusammenhalt und die Divergenzen unter den 27. Ratspräsidentschaft 2020 Deutschland spielt traditionell eine zentrale Rolle, wenn es darum geht, diese unter- schiedlichen Stoßrichtungen der EU-Politik zu moderieren und von ihr mitgetragene neue wie gegebenenfalls freiwillige Integrationsvorhaben mit den notwendigen Ressourcen zu unterfüttern. Die deutsche Ratspräsidentschaft in der zweiten Jahreshälfte 2020 wird dar- an gemessen werden, ob substantielle Fortschritte in Kernbelangen der europäischen Wirt- schafts- und Sicherheitspolitik erreicht werden können. Das 2019/2020 vorausgehende Trio der Ratspräsidentschaften Rumäniens, Finnlands und Kroatiens wird zunächst die Konti- nuität der EU-Politik nach den Europawahlen 2019 priorisieren müssen und nur in eini- gen Teilbereichen wie gegebenenfalls der Erweiterungspolitik besondere Akzente setzen. Konfrontiert mit einem reformorientierten französischen Präsidenten, Verhandlungen über den Mehrjährigen Finanzrahmen (MFR), den einschneidenden Folgen des Brexits und mit internationalen Konflikten wird sich deshalb bis Ende 2020 die Frage zuspitzen, mit welchen Risiken Deutschland umgehen muss und welche grundlegenderen Reformen es tragen kann. Zentrale Partnerstaaten Für eine erfolgreiche deutsche Europapolitik sind kooperative und intensive Beziehun- Frankreich und Italien gen mit den EU-Partnern essentiell. Wenn das deutsch-französische Verhältnis den An- sprüchen des erneuerten Élysée-Vertrags und der Erklärung von Meseberg nicht gerecht SWP Berlin Orientierungsrahmen für die Forschung 2019/2020 November 2018 16
Europäische Union: interne Dynamiken und externe Ordnungsaufgaben werden kann, droht ein Abdriften Frankreichs in zweckorientierte Bündnisse außerhalb des EU-Rahmens. Darüber hinaus ist die weitere europapolitische Einbindung Italiens eine zentrale Herausforderung für die kommenden Jahre. Das Regierungsprogramm der Koali- tion zwischen der Fünf-Sterne-Bewegung und Lega birgt großes Potential für Konflikte mit den EU-Institutionen und fast allen anderen Mitgliedstaaten in Fragen der Migration, der Fiskalregeln der Eurozone, der Handelspolitik, des Mehrjährigen Finanzrahmens und der EU-Außenbeziehungen. Insofern könnte Italien in diesen Politikfeldern die Konsens- findung verkomplizieren und konkret die Stabilität der Eurozone gefährden. Weiterhin ist die wirtschaftliche und politische Entwicklung in den drei Eurozonen- Südeuropa ländern Griechenland, Portugal und Spanien genau zu beobachten. Sowohl in Portugal als auch in Griechenland finden 2019 Parlamentswahlen statt. Dass die Länder an ihrem pro-europäischen Konsolidierungskurs festhalten, kann nicht vorausgesetzt werden. In Spanien wird es darum gehen, Perspektiven für eine Lösung des Konflikts mit Katalonien und die Migrationsproblematik zu finden und gegebenenfalls im Anschluss an Neuwahlen eine handlungsfähige Regierung in Madrid zu bilden. Mit den nordischen EU-Staaten verbindet die deutsche Europapolitik viele Gemeinsam- Nordeuropa keiten. In einigen Politikbereichen, in denen ein starker innernordischer Konsens herrscht (zum Beispiel Digitalisierung, Energie, Umwelt und Klima), kann Deutschland den Schul- terschluss suchen. Auf anderen Feldern mehren sich die Unterschiede, so bei der Asyl- und Migrationspolitik, der Vertiefung der Eurozone sowie der europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik. Als eine Folge des Brexits ist eine noch intensivere Kooperation unter den nordischen Staaten zu erwarten. Die Beziehungen Deutschlands zu ostmitteleuropäischen Mitgliedstaaten sind konflikt- Ostmitteleuropa reicher geworden. Die Visegrád-Staaten Polen, die Tschechische Republik, die Slowakei und Ungarn werden in wichtigen europapolitischen Fragen eigenständige Positionen auf- rechterhalten, die angestrebte Kooperationen erschweren. Dies gilt etwa für die Diskussion über die Zukunft der EU, bei der insbesondere das Szenario eines Europas der unterschied- lichen Geschwindigkeiten auf Kritik stößt und insgesamt das Leitbild eines Europas der Nationen präferiert wird; das gilt aber etwa auch für die Migrationspolitik. In anderen Themenfeldern bieten divergierende Einzelinteressen dieser Staaten Ansatzpunkte für die deutsche Außen- und Europapolitik. Diese liegen angesichts enger wirtschaftlicher Ver- flechtungen zum Beispiel in der Wirtschafts-, Innovations- und Wettbewerbspolitik sowie in der sicherheitspolitischen Zusammenarbeit. Allerdings machen die Infragestellung rechtsstaatlicher Grundprinzipien, die Fortexistenz von Korruption und die Fragmentie- rung der Parteiensysteme die Kompromissfindung mit diesen Ländern nicht einfacher. Überdies üben nichteuropäische Akteure (vor allem Russland, China) immer mehr Einfluss in der gesamten Region aus. Für das effektive Zusammenwirken der EU-Organe stellen die Europawahlen im Mai Europawahlen und 2019 ein wichtiges Datum dar, das nicht nur über den nächsten Kommissionspräsidenten Handlungsfähigkeit der mitentscheiden wird. Sollte sich bei den Europawahlen der aus den nationalen Wahlen EU-Institutionen bekannte Trend fortsetzen, dass die Mainstreamparteien an Zuspruch verlieren, während gleichzeitig rechts- und linkspopulistische Kräfte Sitze gewinnen, könnte erstmals die »große Koalition« aus konservativer Europäischer Volkspartei und europäischen Sozial- demokraten ihre Mehrheit einbüßen. Alles in allem steht eine Neuordnung der Fraktions- bildungen bevor, bei der auch die Gefahr einer systematischen Blockade der EU-Entschei- dungsfindungsprozesse nicht auszuschließen ist. SWP Berlin Orientierungsrahmen für die Forschung 2019/2020 November 2018 17
Internationale Ordnung Asyl- und Flüchtlingspolitik Dabei gibt es dringenden Handlungsbedarf auf vielen Politikfeldern. Darunter ragt aus Flucht, Migration und deutscher Sicht eine krisensichere Steuerung von Migration in die EU als ein besonders Entwicklung, S. 44 umstrittenes Politikfeld heraus. Kleinere Koalitionen von Mitgliedstaaten werden notwen- digerweise an Bedeutung gewinnen, da eine verbindliche Verteilung von Schutzsuchenden durch eine grundlegend reformierte Dublin-Verordnung außer Reichweite bleibt. Die legale Migration und die Neuansiedlung von Schutzsuchenden werden sich ebenfalls zunächst nur auf freiwilliger Basis vorantreiben lassen. Die innereuropäische Sekundär- migration dürfte sich derweil auch bei einer rechtlichen Harmonisierung im Rahmen des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems nur leicht verringern. Der Druck auf die Perso- nenfreizügigkeit innerhalb des Schengen-Regimes wird dementsprechend anhalten. Umso mehr konzentriert sich der verbleibende gemeinsame Handlungswillen auf den Ausbau des europäischen Grenzschutzes und der Auslagerung der Migrationskontrolle an Staaten der europäischen Nachbarschaft. Weitere finanzielle Hilfen an afrikanische Staaten sollen analog zum Türkeiabkommen ermöglichen, dass Schutzsuchende unmittelbar zurück- geführt und/oder vor Ort gehalten werden können. Der geplante personelle Ausbau von Frontex mit bis zu 10 000 eigenen Grenzschutzkräften kann diese Vorverlagerungs- strategie weiter unterstützen. EU-Budget und Finanz- Nach Vorstellungen der Kommission und der Bundesregierung sollte der MFR für die verhandlungen Jahre 2021 bis 2027 noch möglichst vor Ende der aktuellen Legislaturperiode des Euro- päischen Parlaments im Frühjahr 2019 festgelegt werden. Angesichts der Interessenunter- schiede zwischen einigen Nettozahlern (zum Beispiel die Niederlande), die sich kritisch positionieren, den Nettoempfängern, die bestehende Hilfen beibehalten wollen (zum Beispiel Polen), den EU-Institutionen, die die Ausgabenstruktur neu gestalten möchten (zum Beispiel das Europäische Parlament), sowie angesichts der zusätzlichen finanziellen Einbußen als Folge des Brexits könnte sich eine Einigung jedoch bis zum zweiten Halbjahr 2020 verzögern. Das fiele dann in die Zeit der deutschen Ratspräsidentschaft. In diesem Fall dürfte der Erwartungsdruck hoch sein, dass die Bunderegierung gesamteuropäische Kompromisse durch höhere deutsche Beiträge ermöglichen wird. Erneut wird die parallel anstehende Reform der Gemeinsamen Agrarpolitik eine zentrale Rolle spielen, um diesen nach wie vor großen Ausgabenblock für die Finanzierung der Agenda 2030 für nachhaltige Entwicklung zu nutzen oder selber stärker insbesondere im Sinne der Ziele der Entwick- lungszusammenarbeit zu reformieren. Eurozone Die Voraussetzungen für eine weitere wirtschaftliche Erholung der Eurozone sind 2019/ 2020 nicht günstig. Es lässt sich absehen, dass die Europäische Zentralbank (EZB) die Be- endigung der quantitativen Lockerung noch 2018 und die ersten Zinserhöhungen frühes- tens nach dem Sommer 2019 einleiten wird. Hinzu kommen die sich verschärfenden Spannungen im Welthandel. Die deutsch-französische Erklärung von Meseberg und die Schlussfolgerungen des Eurogipfels vom Juni 2018 haben vor diesem Hintergrund einen Rahmen für weitere Reformen der Eurozone geschaffen. Das wichtigste Element ist die Schaffung eines separaten Budgets für das Euro-Währungsgebiet, das bereits mit dem neuen MFR im Jahr 2021 eröffnet werden könnte. Allerdings wird die Einbindung anderer fiskalpolitisch restriktiver Euro-Mitgliedstaaten Zeit in Anspruch nehmen. Darüber hinaus bleiben ein europäisches Einlagensicherungssystem und die Erweiterung der Aufgaben des Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM) als konditioniertes Absicherungs- und Reforminstrument zu verhandeln, ohne dabei die Rolle des Bundestages bei der Entschei- dung über finanzielle Hilfsleistungen des ESM zu beschneiden. 2019 wird ebenso über die SWP Berlin Orientierungsrahmen für die Forschung 2019/2020 November 2018 18
Europäische Union: interne Dynamiken und externe Ordnungsaufgaben Spitzenpositionen in den Institutionen der Eurozone entschieden werden, was ihre mittel- fristige strategische Ausrichtung prägen wird. 2019/2020 wird die digitale Dimension bei der Gestaltung des Binnenmarkts ein Haupt- Binnenmarkt thema sein, konkret etwa die Umsetzung und weitere Ausgestaltung der EU-Datenschutz- gesetzgebung. Einerseits stellt sich die Frage, ob die EU deshalb bei der Wettbewerbs- fähigkeit – etwa durch Beschränkungen von Big Data oder Maschinellem Lernen – den Anschluss an die USA und China verliert. Andererseits wird die EU zunehmend als führen- der Akteur gesehen, wenn es darum geht, gegenüber globalen sozialen Medienplattformen sowie Daten- oder Technologieunternehmen politische Gestaltungskraft zurückzuerlan- gen. Im Binnenmarkt kommt das Marktort-Prinzip zur Anwendung, das die Gleichbehand- lung von in- und ausländischen Unternehmen gewährleistet. Die weitere Verdichtung des EU-Binnenmarkts im Cyberraum und der damit verbundenen europäischen Rechtsgemein- schaft hat deshalb strukturelle Auswirkungen von wachsender geopolitischer Bedeutung. Externe Ordnungsaufgaben für die EU Das volatile geostrategische Umfeld und die vielfachen Umbrüche der internationalen Ord- Strategische Autonomie? nung haben in der EU der Forderung nach einem Europa der Sicherheit Auftrieb gegeben. Einfluss- und Gestaltungs- Das verlangt von der EU, mehr und systematischer in die eigenen zivilen und militärischen möglichkeiten, S. 9 Fähigkeiten zu investieren sowie die Kooperation mit den engeren internationalen Part- nern und Institutionen zu verstärken. Was die Vorstellung einer strategischen Autonomi- sierung der EU bzw. der Europäer bedeutet, die in der Globalen Strategie der EU von 2016 enthalten ist, und wie sie im Hinblick auf außen- und sicherheitspolitische Handlungs- felder sowie relevante Akteure operationalisiert werden kann, bedarf – politisch wie wissenschaftlich – erheblicher Präzisierung und Vertiefung. Unmittelbar drängt sich im militärischen Bereich die Frage auf, wie eine postulierte strategische Autonomie sich mit dem Ziel verträgt, die Verbindung zwischen den europäischen und den amerikanischen Pfeilern westlicher Sicherheitspolitik zu erhalten und zu effektivieren. Die kritische Wei- terentwicklung der transatlantischen Beziehungen bleibt somit die zentrale außen- und sicherheitspolitische Herausforderung für die EU. Unterdessen werden innereuropäische Differenzen bei der Bearbeitung internationaler Gemeinsame Außen- und Konflikte zunehmen. Diese Entwicklung gründet im Zuwachs rechtspopulistischer Par- Sicherheitspolitik teien und der Spannung zwischen dem langfristigen Interesse der Union an einer verläss- lichen liberalen multilateralen Ordnung und vordringlichen sicherheits- wie wirtschafts- politischen Präferenzen ihrer Mitgliedstaaten. 2019/2020 wird die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) deshalb mit der Anforderung konfrontiert werden, eine Grundsatzreform in Richtung Mehrheitsentscheidungen auf den Weg zu bringen. Dabei gilt es für Deutschland herauszuarbeiten, wie im Falle einer Überstimmung konstitutio- nelle Vorbehalte und Kerninteressen in der Außenpolitik gewahrt bleiben können. Parallel wird der außenpolitischen Kooperation zwischen der EU und Großbritannien ein neuer Rahmen gegeben werden. Der Abschluss des Brexits kann ein Auseinanderdriften der transatlantischen Partner beschleunigen. Um dem entgegenzuwirken, muss die britische Regierung strukturell in die GASP eingebunden bleiben, sofern sie in zentralen Fragen der internationalen Krisendiplomatie eine europäische Linie gegenüber der Trump- Administration mitträgt. SWP Berlin Orientierungsrahmen für die Forschung 2019/2020 November 2018 19
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