Fridays for Future Profil, Entstehung und Perspektiven der Protestbewegung in Deutschland - Institut für Protest- und Bewegungsforschung
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Moritz Sommer, Dieter Rucht, Sebastian Haunss, Sabrina Zajak Fridays for Future Profil, Entstehung und Perspektiven der Protestbewegung in Deutschland ipb working paper 2/2019
ipb working papers | Berlin, August 2019 Autor*innen Die ipb working papers werden vom Verein für Dieses Working Paper ist im Kontext des Insti- Protest- und Bewegungsforschung e.V. heraus- tuts für Protest- und Bewegungsforschung (ipb) gegeben. Sie erscheinen in loser Folge. Der Ver- entstanden. Alle Autor*innen sind Mitglieder ein ist Träger des gleichnamigen Instituts. Des- des Instituts. sen Aktivitäten sind unter http://protestinsti- tut.eu dokumentiert. Für die Redaktion der ipb- working papers sind Jannis Grimm, Dieter Rucht Moritz Sommer, Freie Universität Berlin, Insti- und Sabrina Zajak verantwortlich. tut für Soziologie. E-Mail: sommer.moritz@fu-berlin.de Alle bisher erschienenen Texte aus der Reihe Dieter Rucht, Wissenschaftszentrum Berlin für sind online abrufbar unter: Sozialforschung (WZB). E-Mail: dieter.rucht@wzb.eu https://protestinstitut.eu/ipb-working-papers/ Sebastian Haunss, Universität Bremen, SOCIUM Forschungszentrum Ungleichheit und Sozialpolitik. E-Mail: sebastian.haunss@uni-bremen.de Sabrina Zajak, Deutsches Zentrum für Integrati- „Fridays for Future. Profil, Entstehung und Per- ons- und Migrationsforschung (DeZIM). spektiven der Protestbewegung in Deutsch- E-Mail: zajak@dezim-institut.de land“ von Moritz Sommer, Dieter Rucht, Sebas- tian Haunss und Sabrina Zajak ist lizenziert unter einer Creative Commons Namensnennung In- ternational Lizenz (CC-BY 4.0). Die Titelseite wurde unter Verwendung eines Diese Studie wurde erstellt mit finanzieller Un- Fotos von Jörg Farys / WWF erstellt. Das Foto ist terstützung der Heinrich-Böll-Stiftung und der lizensiert mit einer Creative Commons CC-2 Li- Otto Brenner Stiftung. zenz und wurde bereitgestellt auf https:// Flickr.com/. Sommer, Moritz, Dieter Rucht, Sebastian Haunss und Sabrina Zajak. 2019. Fridays for Future. Profil, Entstehung und Perspektiven der Protestbewegung in Deutschland, ipb working paper series, 2/2019. Berlin: ipb.
Abstract Inhaltsverzeichnis Die Protestkampagne von Fridays for Future Vorwort 1 (FFF) hat es innerhalb kürzester Zeit geschafft, in Deutschland und darüber hinaus hunderttau- 1. Fridays for Future: Kurzportrait 2 sende Schüler*innen und Jugendliche für eine 2. Organisation und Ablauf der Wende in der Klimapolitik auf die Straße zu brin- Demonstrationen am 15. März 2019 5 gen. Um mehr über Profil, Mobilisierungswege und Motive der Demonstrierenden zu erfahren, 3. Anlage und Ergebnisse der Befragung 6 haben wir als Teil eines europaweiten For- 3.1 Methodik und Repräsentativität 7 schungsprojekts Demonstrationsbefragungen 3.2 Wer sind die Teilnehmer*innen? 11 während der Klimaproteste am 15. März 2019 in 3.3 Anliegen der Protestierenden 14 Berlin und Bremen durchgeführt. Das Working 3.4 Wege der Mobilisierung 18 Paper präsentiert zentrale Befunde für FFF in 3.5 Politisches Interesse und Engagement 21 Deutschland und ordnet diese ein. 3.6 Politische Einstellungen 26 Die FFF-Proteste werden von jungen, gut gebil- 3.7 Befunde des Ländervergleichs 30 deten Menschen und überraschend stark von 3.8 Zusammenfassung 34 jungen Frauen getragen. Viele der demonstrie- 4. Die Resonanz auf FFF 35 renden Schüler*innen, von denen sich die Mehr- heit im linken Spektrum verortet, sind zum ers- 5. Fazit 39 ten Mal auf der Straße. Persönliche Kontakte 5.1 Ist FFF eine soziale Bewegung? 39 sind der zentrale Weg der Mobilisierung. Die De- 5.2 Faktoren des (medialen) Erfolgs 40 monstrierenden wollen die Politik unter Druck Literaturverzeichnis 43 setzen, klimapolitische Versprechen einzulösen. Einen wichtigen Weg der Veränderung sehen insbesondere die Schüler*innen aber auch in der Veränderung der eigenen Lebens- und Kon- sumpraxis. Die Demonstrierenden sind keines- wegs hoffnungslos, sondern vielmehr hand- lungsbereit, politisiert und zuversichtlich, dass ihr Protest gesellschaftliche und politische Ver- änderungen hervorrufen kann. Im europäischen Vergleich ist die Kampagne Online-Material auf protestinstitut.eu: hinsichtlich Altersstruktur, Verteilung der Ge- schlechter und insbesondere hinsichtlich der Ein- Deutscher Online-Fragebogen: Link. schätzung von Lösungswegen heterogener als der gemeinsame Rahmen vermuten lässt. Flyer: Link. Abschließend blicken wir auf die öffentliche Re- Kurzfragebogen (Vor-Ort-Interviews): Link. sonanz und im Fazit auf Faktoren des (medialen) Erfolgs. ipb-Medienpräsenz zu FFF: Link
Vorwort Eine erste und selektive Präsentation der deutschen Befragungsergebnisse fand bereits am Der steile Aufstieg der international auftretenden 26. März 2019 im Rahmen eines Pressegesprächs Bewegung Fridays for Future (im Weiteren FFF) in der Berliner Zentrale der Heinrich-Böll-Stiftung hat eine enorme mediale und politische Beach- statt; sie ist auf der Webseite des ipb1 abrufbar. tung erfahren. Das rief auch Sozialwissenschaft- Später erfolgte die Erstellung des deutschen Da- ler*innen auf den Plan. Einige Wochen vor dem tenteils für den internationalen Länderbericht, anstehenden großen Aktionstag am 15. März der einem rigiden Gliederungsschema folgt, je- 2019 erging von einer schwedischen Forschungs- doch aufgrund der thematischen Schwerpunkt- gruppe die Anfrage an das Institut für Protest- setzung und Längenvorgaben nur knappe Kom- und Bewegungsforschung (ipb), ob sich Mitglie- mentierungen enthält (Wahlström et al. 2019a).2 der des Instituts an einer international angeleg- Der hiermit vorgelegte ausführlichere deut- ten Befragung der Protestierenden beteiligen sche Bericht enthält in seinem Kernteil eine um- würden. Geld dafür war zu diesem Zeitpunkt fassende Analyse der deutschen Befragungsda- nicht vorhanden. Die genaue Vorgehensweise ten sowie eine Darstellung des methodischen und die Anlage des Fragebogens waren noch of- Vorgehens. Neben den Ergebnissen der Befragun- fen. Einige Länderteams hatten den Kolleg*innen gen in Deutschland liefert der Bericht auch Hin- aus Schweden schnell zugesagt. Wir waren zu- weise auf Befragungsergebnisse aus anderen Län- nächst zögerlich, da wir aufgrund früher durchge- dern, auf die interne Struktur der FFF-Bewegung führten Befragungen von Protestierenden zu di- und deren öffentliche Resonanz. versen Anlässen den Aufwand kannten, der sich zumal aufgrund der notwendigen Abstimmung Allen, die in ganz unterschiedlichen Rollen zwischen den Länderteams zusätzlich erhöhen diese Befragung in Deutschland und anderswo würde. Nachdem die Finanzierungsfrage für Sach- unterstützt haben, gebührt unser Dank. Das sind kosten und rudimentäre Personalkosten dank der insbesondere die Koordinatoren Mattias Wahl- spontanen Bereitschaft der Heinrich-Böll-Stif- ström und Joost de Moor sowie Michiel de Vydt, tung, der Otto Brenner Stiftung und der Stiftung welche die Koordination der technischen Seite 100 prozent erneuerbar überraschend schnell ge- der Befragung und die Standardisierung der Da- klärt war, erging unsere Zusage an die Projektko- ten übernommen haben. ordinatoren aus Schweden. Weiterhin haben wir den bereits genannten Alsbald setzte eine Flut von E-Mails ein, die drei institutionellen Förderern der Befragungsak- sich überwiegend auf die Themen, Formulierun- tion in Deutschland und den beiden finanziellen gen und Antwortkategorien des Fragebogens, Förderern des vorliegenden ausführlichen Be- aber auch das Vorgehen am Demonstrationsort, richts zu danken. Simon Teune hat bei der Befra- das Problem der Repräsentativität, die Frage, ab gungsaktion am 15. März mitgewirkt und zudem welcher Altersstufe junge Menschen ohne Einwil- in einer nächtlichen Krisenaktion vor unserem ligung eines Elternteils befragt werden sollen und Berliner Pressegespräch eine wichtige Rolle bei dürfen, auf das auszuwählende Eingabe- und der inhaltlichen Schwerpunktsetzung und opti- Analyseprogramm und vieles mehr bezogen. Der schen Darstellung der Befunde gespielt. Zu dan- Aufwand für das Gesamtunternehmen war ken haben wir auch vielen studentischen Hel- enorm. Neun Länderteams führten an insgesamt fer*innen. Sie führten die Kurzinterviews vor Ort 13 Orten zeitgleich die Befragung durch – in den durch und sorgten für die Verteilung der Flyer, auf Niederlanden aufgrund der dort anders verlau- denen zur Teilnahme an der Online-Befragung fenden Mobilisierung allerdings schon am 14. aufgerufen wurde. März 2019. Berlin und Bremen, August 2019, die Autor*innen _____ 1 2 https://protestinstitut.eu/projekte/demonstra- https://protestinstitut.eu/fridays-for-future- tionsbefragungen/befragung-fridays-for-future ergebnisse-einer-demonstrationsbefragung-in-13-eu- [04.08.2019] ropaeischen-staedten/ [04.08.2019] 1
1. Fridays for Future: Aufmerksamkeit der Kombination einer Reihe von Faktoren geschuldet ist: dem kindlich wirken- Kurzportrait den Erscheinungsbild Greta Thunbergs, der damit kontrastierenden Entschlossenheit und Kompro- Die mediale Darstellung von FFF in Form von misslosigkeit ihres zunächst „einsamen“ Streiks, Nachrichtenmeldungen, Hintergrundberichten, ihrem ökologisch bewussten Lebensstil, den sie Interviews mit Beteiligten, Kommentaren, Foto- auch ihrer gesamten Familie abfordert, aber auch strecken und Video-Clips bietet eine Fülle von Ein- der Prominenz ihrer Mutter, die, so die Medien- zelinformationen, lässt aber kaum die großen berichte, sogar ihre Tätigkeit als international auf- Entwicklungslinien hervortreten. Wir wollen des- tretende Opernsängerin aufgegeben hatte, um halb ein Kurzportrait von FFF liefern, das unter Flugreisen zu vermeiden (Ernmann et al. 2019). anderem erkennen lässt, in welcher Entwick- Greta Thunberg wurde schnell zum medialen lungsphase der Bewegung die Befragungsaktion „Star“. Dadurch wurde auch die Politik auf sie auf- stattgefunden hat und wie es vor allem mit Blick merksam, was sich bereits an ihrer Einladung zum auf den deutschen Ableger der Gruppierung bis Klimagipfel im Dezember 2018 im polnischen heute weitergegangen ist. Katowice zeigte. Weitere Auftritte auf der inter- FFF ist, knapp formuliert, eine Bewegung, de- nationalen Bühne wie beim Weltwirtschaftsfo- ren Kernforderung darin besteht, die auf dem Pa- rum in Davos folgten. riser Klimagipfel Ende 2015 gesetzten Ziele zur Die Idee des „Klimastreiks“ bzw. „Schul- weltweiten Reduktion von CO2-Emmissionen ein- streiks“, nun allerdings begrenzt auf freitags zuhalten, um die damit verbundene Erderwär- stattfindende Straßenproteste, fand schnell in ei- mung auf einen Anstieg von maximal 1,5 Grad zu ner Reihe von Ländern Resonanz. Wichtigste Trä- begrenzen. Das ist für eine Protestbewegung ein ger*innen der Freitagsproteste waren junge zunächst sehr bescheidenes, weil völlig system- Schüler*innen, vorzugsweise an Gymnasien. immanentes Ziel, zu dem sich die Regierungen Staunend wurde registriert, was die „Kinder“ da der Welt, abgesehen vom späteren Exit der USA, in Gang gesetzt hatten und gefragt, wie es weiter- im Prinzip bereits ausdrücklich bekannt haben gehen würde. Einzelne Demonstrationen wie die und weiterhin bekennen. Zugleich ist es aber in Brüssel mit 12.000 Teilnehmer*innen am 31. auch ein ehrgeiziges Ziel, weil seine Umsetzung, Januar 2019 ließen aufhorchen. bei der auch Deutschland erheblich hinterher- hinkt, konkrete Einschnitte in Energiewirtschaft, In Deutschland setzte der Aufschwung mit ei- Industrie, Gebäudesektor und Landwirtschaft ner Reihe kleinerer Demonstrationen in Freiburg, verlangt – Einschnitte, die Lobbygruppen und die Göttingen, Berlin, Kiel und Flensburg im Dezem- ihnen sachlich verbundenen Politikressorts (wohl ber 2018 ein. Eine frühe Initiatorin war Luisa Neu- mit Ausnahme des Bundesumweltministeriums) bauer, eine 22-jährige Studentin, die Greta Thun- nach Möglichkeit zu vermeiden oder zu verlagern berg bei der Klimakonferenz in Katowice erstmals suchen (Rucht 2016). Auch in einem weiteren begegnet war und dann die Idee des Schulstreiks Sinne sind die Forderungen von FFF ambitioniert, in Deutschland verbreiten wollte. Zeitgleich zu verlangen doch die Akteure von sich selbst, ihrem Neubauer, aber anfangs unabhängig davon, hatte unmittelbaren Umfeld und letztlich der Gesamt- auch der 19-jährige Kieler Gymnasiast Jakob Bla- bevölkerung einen ökologisch verträglichen Le- sel einen deutschen Ableger von FFF mit einer bens- und Konsumstil, der mit erheblichen (frei- ersten lokalen Demonstration im Dezember 2018 willigen) Einschränkungen verbunden ist. ins Leben gerufen. Den anfänglichen Impuls für die sich dann for- Am 18. Januar 2019 demonstrierten laut An- mierende Bewegung setzte die damals 15-jährige gaben von FFF bereits insgesamt 25.000 Men- Greta Thunberg mit ihrem dreiwöchigen „Schul- schen an 50 Orten in Deutschland, darunter 4.000 streik für das Klima“ ab dem 20. August 2018. Es Beteiligte in Freiburg. Dieses Datum ist rückbli- war eine Aktion einer einzelnen Person, die durch ckend als der eigentliche Auftakt der deutschen entsprechende Medienberichte in Schweden und FFF-Bewegung zu verstehen. Mitte Februar 2019 dann auch anderen Ländern Aufsehen erregte. listete FFF bereits 155 Ortsgruppen auf, wobei Man kann davon ausgehen, dass dieses Maß an 2
sich die Zahl der Demonstrierenden aber bis da- Aktionen zivilen Widerstands auf. De facto kam es hin nicht deutlich erhöht hatte. wohl zu Überschneidungen von Anhänger*innen dieser beiden und weiterer Gruppen. Erneut Der 15. März 2019 wurde von einem interna- konnten die Organisator*innen Mobilisierungser- tional koordinierenden Team als der erste globale folge verzeichnen. Im Vorfeld war mit rund Protesttag der Bewegung ausgerufen. Laut den 10.000 Teilnehmer*innen bei den Aktionen im schwer nachvollziehbaren Angaben der Organisa- rheinischen Revier gerechnet worden. Am Ende tor*innen beteiligten sich weltweit 1.789.235 sprachen die Organisator*innen von FFF von Menschen an dem Protest – eine Zahl, die in ihrer 40.000 Demonstrierenden. Die Polizei nannte da- Höhe und Konkretion bezweifelt werden darf. In gegen eine Zahl von 10.000 bis 20.000. Deutschland waren für diesen Tag 220 Proteste angekündigt. Die Zahl der Teilnehmer*innen wird Ab Juli 2019, bedingt auch durch die Schul- von den Veranstalter*innen auf 300.000 bezif- und Semesterferien, waren die Teilnehmer*in- fert. Der globale Protesttag war der bis dato nenzahlen geringer. Selbst ein erneuter Auftritt größte Auftritt der Bewegung und ein eindrucks- Thunbergs in Berlin am 19. Juli blieb mit rund voller Mobilisierungserfolg. 3.000 bis 4.000 Teilnehmer*innen weit unter der Beteiligung an Thunbergs erstem Berliner Auftritt Danach, teilweise bedingt durch die Osterfe- Ende März, als mehr als 25.000 Menschen de- rien, gingen die Zahlen der Teilnehmer*innen in monstrierten (jeweils nach Angaben von FFF). Deutschland deutlich zurück. In Berlin und Mün- Gleichwohl vermochte es FFF, durch Einzelaktio- chen waren es nur noch je 500 Protestierende, so nen weiterhin eine starke mediale Präsenz zu er- dass schon die Frage aufkam, ob und wie die Be- reichen. Eine dieser Aktivitäten war ein fünftägi- wegung ihr Momentum erhalten könne. Der Prä- ger Schulstreik in Köln im Juli. Mit einer weiteren senz der Bewegung in den deutschen Medien tat Aktion am 26. Juli im Terminal des Stuttgarter diese Entwicklung allerdings keinen Abbruch, zu- Flughafens suchten rund 350 Demonstrierende mal einerseits Greta Thunberg, wie schon zuvor die Fluggäste auf negativen Klimafolgen von Flug- an anderen Orten im In- und Ausland, ihre Betei- reisen aufmerksam zu machen. Selbst dieser ligung an der Berliner Demonstration am 29. kleine und kurzzeitige Protest bot der ARD-Tages- März 2019 angekündigt hatte, und andererseits schau, Bild und zahlreichen weiteren Medien An- bereits weitere internationale Aktionstage in Aus- lass für eine eigene Berichterstattung. sicht standen: Am 24. Mai 2019 fanden im Vorfeld der Europawahlen in vielen europäischen Städten Mit den Demonstrationen in Aachen und dem erneute Großdemonstrationen statt. Umland hatte es FFF erneut geschafft, gegen di- verse Bedenken – nun auch trotz Warnungen der Für den 21. Juni 2019 wurde unter dem Motto Polizei vor Eskalationen und juristischen Sanktio- „Climate Justice without Borders – United for a nen – einen komplexen, logistisch aufwändige Ak- Future“ zum ersten zentralen internationalen tionsrahmen zu schaffen und zu füllen. Hierbei Streik in Aachen aufgerufen. Aachen ist nicht nur waren die Routine und Ortskenntnis der Akti- als eine unweit von der französischen und belgi- vist*innen von „Ende Gelände“ sicherlich hilf- schen Grenze liegende Stadt, sondern auch we- reich. Auch weitere Gruppen, darunter Teile des gen des in diesem Raum noch immer stattfinden- Umweltverbandes BUND, von Greenpeace, Cam- den Braunkohlebergbaus für eine Klimaschutzbe- pact, den Naturfreunden und der Grünen Jugend wegung von hoher symbolischer Bedeutung. Ein waren, wie schon bei vorausgegangenen Aktio- Teil dieser Aktionen war ausdrücklich als ziviler nen von FFF, unterstützend tätig, vermieden es Widerstand angekündigt. Als dessen wichtigster allerdings, steuernd einzugreifen, um dem Ruf Träger verstand sich allerdings nicht FFF, sondern von FFF als einer unabhängigen, basisdemokra- die seit ca. 2015 offensiv auftretende Gruppe tisch ausgerichteten Bewegung nicht zu schaden. „Ende Gelände“, die sich vor allem durch den von wiederholten Besetzungsaktionen begleiteten In Deutschland hatte sich bis August die Zahl Kampf gegen den Braunkohleabbau in Deutsch- der Ortsgruppen von FFF auf 600 erhöht. Damit land bundesweite Aufmerksamkeit verschafft gewannen auch Fragen der internen Strukturie- hatte. FFF erklärte seine Solidarität mit der rung, der Verantwortlichkeiten, der Finanzierung Gruppe, rief aber als Gesamtorganisation nicht zu und der Transparenz nach innen wie nach außen 3
an Bedeutung. 3 Die Anforderungen an die über- brachte erstmals Aktivist*innen und Sympathi- regionale Koordination mittels der wöchentlichen sant*innen – die sich bis dahin in erster Linie Telefonkonferenz und an die rund 20 Arbeits- durch den Austausch per Telefon oder Messen- gruppen, darunter zu Finanzen, Kampagnen und ger-Dienste kannten – an einem Ort zu einem län- politischen Forderungen, wurden immer größer. geren Informations- und Erfahrungsaustausch so- Ein umfangreiches, allerdings noch nicht be- wie in größerem Rahmen durchgeführte Strate- schlossenes Strukturkonzept soll künftig für mehr giedebatten zusammen. Anwesend waren vor al- Klarheit und Verbindlichkeit sorgen.4 Trotz und lem junge Leute, ausgenommen eine kleine Zahl vielleicht auch gerade wegen interner und exter- von Klimawissenschaftler*innen und sonstigen ner Kritik ist es bislang gelungen, produktiv mit ei- Expert*innen, die ebenfalls eingeladen waren. ner Reihe von Herausforderungen (Veränderung Von diesem Treffen, das die Organisator*in- des Zielkatalogs, strategische Umorientierung, in- nen in erstaunlich kurzer Vorbereitungszeit, terne Organisation und Entscheidungsfindung, wenngleich mit Unterstützung externer Instituti- Vertretung gegenüber der Öffentlichkeit) umzu- onen6, auf die Beine gestellt hatten, könnte eine gehen, so dass es in der Summe, zumindest in weitere Schubkraft für FFF ausgehen. Insbeson- Deutschland, weder zu einer starken Demobilisie- dere könnten die Diskussionen zu einer inhaltli- rung noch zu einem nachlassenden medialen und chen und strategischen Weiterentwicklung füh- öffentlichen Wohlwollen kam. Diese Entwicklung, ren. Zugleich verdeutlicht dieses Treffen aber die deutlich von der vieler anderer Protestbewe- auch, dass die bei vielen andere Protestbewegun- gungen abweicht, soll im fünften Abschnitt er- gen vorhandenen internen Differenzen, sich auch klärt werden. bei FFF abzuzeichnen beginnen. Dazu gehört die Außerordentliche Resonanz erzielte zuletzt Frage nach internen Entscheidungsprozessen und der von FFF in den frühen Augusttagen durchge- die nach der Rolle exponierter Sprecher*innen führte Sommerkongress in Dortmund, an dem der Kampagne. Dazu gehört aber auch die Span- sich insgesamt rund 1.700 Menschen beteiligten.5 nung zwischen eher moderaten und eher offensi- In rund 140 Workshops ging es um inhaltliche De- ven, für zivilen Ungehorsam plädierenden Akti- batten zur Klima- und Umweltpolitik bis hin zu vist*innen. Aus Kreisen letzter Fraktion wurde zu- Grundsatzdiskussionen über Geschlechterge- letzt gar die (politisch wenig realistische) Hoff- rechtigkeit und Post-Wachstum, aber auch um nung geäußert, den dritten globalen Klimastreik Medienarbeit, Diskussionen über Formen des zi- am 20. September 2019 mit einem umfassenden vilen Ungehorsams oder die Weiterentwicklung „Generalstreik“ verbinden zu können. der internen Organisation. Diese Veranstaltung _____ 3 Die Finanzierung erfolgt bislang überwiegend durch https://www.spiegel.de/lebenundler- Spenden, ergänzt durch den autorisierten Verkauf ei- nen/schule/fridays-for-future-schuelerproteste-im-vi- nes Armbands. Die eingehenden Gelder landen aller- sier-rechter-blogs-a-1263355.html [04.08.2019]. dings nicht direkt bei FFF, sondern bei der „befreunde- 4 Vgl. Der Spiegel Nr. 31/27.7.2019, S. 24-27. ten“ Stiftung Plant-for-the-Planet. Das führte zu kriti- 5 An der Freitagsdemonstration am 3. August waren schen Nachfragen und später zu Vereinsgründungen dem WDR zufolge rund 1.500 Menschen beteiligt. wie „Donate for Future“ und „Organize Future!“. Die Siehe: https://www1.wdr.de/nachrichten/ruhrge- beiden Vereine repräsentieren jedoch nicht das ge- biet/fridays-for-future-demonstration-dortmund- samte Netzwerk FFF in Deutschland, welches keine 100.html [04.08.2019]. Rechtsform aufweist, sondern meist als diffuses „Wir“ 6 figuriert. So Jakob Blasel zur Frage nach der Rolle von Darunter auch die Stiftung Mercator, die 35.000 Euro Plant-for-the-Planet: „Die Kollegen von ‚Plant for the zur Finanzierung des Sommerkongresses beisteuerte. Planet‘ haben für uns bei ihrer Bank ein Unterkonto für Vgl. Der Spiegel Nr. 31 vom 27.7.2019, S. 27. die Spenden eingerichtet. Aber auf das Geld auf die- sem Konto greift ‚Plant for the Planet‘ nicht zu. Wir er- statten denen nicht einmal ihre Bankgebühren. Alles Geld, was Menschen an ‚Fridays for Future‘ spenden, kommt auch ‚Fridays for Future‘ zugute.“ Siehe: 4
2. Organisation und Ablauf Eindruck, pragmatisch und dezidiert unideolo- gisch angegangen wird. Ergänzend kommen an- der Demonstrationen am dere Formate, z. B. Telegram-Gruppen ins Spiel, 15. März 2019 die vor allem für die interne Kommunikation wichtig sind, weil damit auch Abstimmungen Auf die Randbedingungen der Demonstration am möglich sind. 15. März 2019 gehen wir nur kursorisch ein, da Basiseinheiten von FFF sind die unabhängigen sich hier, gemessen an den FFF-Protesten an an- Ortsgruppen, die in aller Regel „von unten“ ent- deren Freitagen, wenig Auffälligkeiten zeigen. stehen. Für die bundesweite Koordination wer- Insgesamt erfolgte die Mobilisierung auf weitge- den meist zwei Delegierte pro Ortsgruppe be- hend dezentraler Basis, d. h. durch die Engagier- stimmt bzw. gewählt. Ihre Rolle und ihr Status ten vor Ort. Je nach Ortsgröße und Zahl der Teil- sind noch nicht abschließend geklärt. Derzeit ist nehmer*innen ist für eine Demonstration ein un- ihre Hauptfunktion die Teilnahme an den wö- terschiedlich großer organisatorischer Aufwand chentlichen Telefonkonferenzen („Deli-TK“) und erforderlich. Bei größeren Protesten übernimmt die Weitergabe von Informationen. Daneben be- in aller Regel ein lokales Organisations-Team die stehen aufgabenspezifische Arbeitsgruppen, Federführung, während andere Teams für spezi- etwa für Finanzen und Medienkontakte. ellere Aufgaben zuständig sind (Bühne, Ordner, Finanzen, etc.). Beim gesamten Informationsfluss Vieles an dieser Struktur wirkt noch unfertig und der Protestmobilisierung spielen jenseits der und improvisiert. Genau dieser Charakter ist es neu gebildeten Strukturen auch die an allen Schu- aber, der FFF auch unter strukturellen Gesichts- len existierenden Strukturen von Klassenspre- punkten für junge Menschen attraktiv macht und cher*innen und Organen der Schüler*innenmit- einen scharfen Kontrast zu Strukturen in etablier- verwaltung von der lokalen bis zur Ebene der ten Verbänden und Parteien bildet. Neben Eu- Bundesländer eine Rolle. Zwar dürfen diese Or- phorie um die eigenen Mobilisierungserfolge und gane nicht für politische Zwecke eingesetzt wer- die starke mediale Aufmerksamkeit war aber den und respektieren auch formal dieses Gebot, auch vereinzelt interne Kritik an den führenden um Konflikte mit Schulleitungen und Kultusbe- Repräsentant*innen der Bewegung zu hören. Ins- hörden zu vermeiden. Faktisch waren aber doch besondere die mediale Präsenz Luisa Neubauers oft Klassen- und Schulsprecher*innen an der Mo- wurde nicht nur wohlwollend begrüßt, sondern bilisierung beteiligt, die ihre Verbindungen und mitunter als „Personenkult“ abgelehnt.8 Kanäle nutzten und dabei von ihrer Organisati- In Berlin wie in Bremen, den beiden Orten un- onserfahrung und ihren Artikulationsfähigkeiten serer Befragung, folgten die Proteste einem be- profitierten.7 Direkte Treffen in und außerhalb reits eingespielten Muster. In Berlin fand die ge- der Schulen dienen FFF als Rahmen des Erfah- gen 11:00 Uhr beginnende Auftaktkundgebung rungs- und Informationsaustauschs. Daneben an dem leicht zugänglichen Invalidenpark in Nähe spielt die Kommunikation per WhatsApp und an- des Hauptbahnhofes statt. Nach ca. einer Stunde deren Messenger-Dienste eine wichtige Rolle. formierten sich die Teilnehmer*innen zu einem WhatsApp begrenzt die Zahl der unmittelbar Protestzug, der in einer großen Schleife in die Kommunizierenden auf 256 Personen. Will sich Nähe des Reichstages und des benachbarten ein größerer Kreis an der Kommunikation beteili- Kanzleramtes führte, um dann auf anderem gen, so wird ein neues Forum, wiederum be- Wege wieder am Ausgangspunkt anzukommen. schränkt auf 256 Teilnehmer*innen, eröffnet. In Der vordere Teil des Protestzugs kam nach einer der Folge muss es zu Abstimmungsprozessen zwi- guten Stunde zurück; die hinten Marschierenden schen diesen Foren kommen, was bislang, so der erreichten den Ausgangspunkt deutlich später. _____ 7 8 Siehe auch Ergebnisse der Demonstrationsbefragung www.welt.de/politik/deutschland/article- zu bürgerschaftlichem Engagement in Abschnitt 3.5. 192070931/Luisa-Neubauer-und-Fridays-for-Future- Unmut-hinter-den-Kulissen.html [04.08.2019]. 5
Dadurch „franste“ die abschließende Kundge- großer Teil selbstgemalte Pappschilder mit deut- bung aus; nur teilweise wandten sich die Versam- schen und englischsprachigen Slogans zum Klima- melten den Reden und Musikbeiträgen zu. Das wandel mitgebracht hatte. Die Stimmung auf der Ende der Veranstaltung markierte ein Tanzen vor Demonstration war lebhaft. Die Teilnehmer*in- der Bühne, an dem vor allem die Jüngeren teil- nen stimmten häufig Sprechchöre an. Die Polizei nahmen, während sich viele der übrigen De- beschränkte sich darauf, den Verkehr zu regeln monstrierenden am Rande des Geschehens in und war ansonsten zumindest nicht mit einem Kleingruppen unterhielten oder sich bereits den sichtbaren Aufgebot vor Ort. Für die Abschluss- Ort der Kundgebung verließen. Die Stimmung war kundgebung auf dem Marktplatz galt das Gleiche insgesamt fröhlich bis euphorisch. Auch die Jour- wie für die Auftaktkundgebung: Die unterdimen- nalist*innen waren auf ihre Kosten gekommen, sionierte Technik führte dazu, dass nur ein sehr machten Interviews mit einzelnen Teilneh- kleiner Teil der Menge die dort gehaltenen Reden mer*innen und schossen serienweise Bilder vom verstehen konnte. Einsetzender Nieselregen stationären wie mobilen Protestauftritt, der teil- sorgte dann dafür, dass sich die Demonstration weise auch auf kalkulierten Inszenierungen der gegen 13:00 Uhr langsam auflöste. Der Befragung Veranstalter*innen beruhte. Zum Beispiel wur- standen die allermeisten angesprochenen Teil- den speziell die sehr jungen Teilnehmer*innen nehmer*innen offen und interessiert gegenüber. (von ca. 11 bis 14 Jahren) von einem deutlich äl- Auch hier gab es nur wenig ablehnende Reaktio- teren Organisator bzw. Ordner mit Megaphon nen. hinter dem Fronttransparent platziert. Dort skan- dierten die Kinder, unterstützt von koordinierten Hüpfbewegungen, ihre Parolen in ausgelassener 3. Anlage und Ergebnisse Stimmung. Nachdem sich alle interessierten Foto- graf*innen vor oder seitlich des Transparents der Befragung postiert hatten, setzte sich der Zug, angeführt von den jubelnden Kindern, in Bewegung. Mitglieder des Instituts für Protest- und Bewe- gungsforschung sowie Beteiligte aus früheren An der Berliner Demonstration nahmen rund Forschungsgruppen am Wissenschaftszentrum 20.000 (Polizei) bis 25.000 Menschen (laut Veran- Berlin (WZB) haben bereits mehrfach in der Ver- stalter*innen) teil, wobei uns erstere Angabe re- gangenheit Protestierende befragt. Tabelle 1 lie- alistischer erscheint. Lediglich 5.000 waren bei fert einige Eckdaten ausgewählter Befragungen den Anmeldebehörden erwartet worden. Nur im Vergleich. Es ist erkennbar, dass, nicht zuletzt wenige der von uns Angesprochenen verweiger- abhängig von der Größe der Demonstrationen, ten ein Interview vor Ort bzw. die Annahme des ganz unterschiedliche Anteile der Protestieren- Flyers, mit dem zur Teilnahme an der Online-Be- den durch die Befragung erfasst werden. Daran fragung aufgerufen wurde. sollte allerdings nicht die Aussagekraft der Ergeb- In Bremen startete die Demonstration mit ei- nisse gemessen werden, kommt es doch darauf ner Auftaktkundgebung um 10:00 Uhr auf dem an, bei der Auswahl der Protestierenden deutli- Bahnhofsvorplatz. Die Organisator*innen hatten che Verzerrungen zu vermeiden, also eine strikte im Vorfeld mit etwa 1.000 Teilnehmer*innen ge- Zufallsauswahl der zur Teilnahme an der Befra- rechnet. Als dann tatsächlich mindestens fünfmal gung aufgeforderten Personen zu gewährleisten. so viele erschienen, erwies sich der Lautsprecher- Dies erfordert unter anderem, dass beim Einsatz wagen als viel zu klein dimensioniert, so dass nur der Interviewer*innen bzw. Verteiler*innen von ein kleiner Teil der Demonstrant*innen etwas Fragebögen oder Flyern alle Segmente der Men- von den Statements der Organisator*innen mit- schenmenge bzw. des Protestmarsches gleicher- bekommen konnte. Vom Hauptbahnhof zog der maßen abgedeckt werden. Das ist schwierig im Demonstrationszug in einer etwa einen Kilometer Rahmen eines Protestgeschehens, das manchmal langen Route durch die Innenstadt bis zum histo- leicht chaotische Züge annimmt, bei dem Leute rischen Marktplatz mit dem Sitz der Bremischen kommen und gehen, ein Vordringen zur Bühne Bürgerschaft. Das Gesamtbild der Demonstration aufgrund der dicht stehenden Menschen verhin- war geprägt von Schüler*innen, von denen ein dert wird oder wenn ein langsamer Umzug plötz- 6
lich im Laufschritt vorangeht, um eine entstan- Auch wenn wir bei bisherigen Befragungen dene Lücke zu schließen. Ein weiterer Faktor für durchaus unterschiedliche Rücklaufquoten erzielt mögliche Verzerrungen ist die Art und Quote des haben, so handelt es sich doch selbst bei den ver- Rücklaufs. Rein quantitativ verringert sich dieser gleichsweise niedrigen Werten für die FFF-Befra- mögliche Verzerrungseffekt mit der Höhe der gung um Quoten, die weit über denen von reprä- Quote. sentativen Bevölkerungsumfragen liegen. Tabelle 1: Übersicht zu Protestbefragungen in Deutschland 9 Teilnehmende, Verteilte Demonstration Rücklauf Rücklaufquote; % geschätzt Fragebögen Irakkrieg, 2003 500.000 1.430 740 51,7 Hartz IV, 2004 10.700 1.610 783 48,6 Stuttgart 21, 2010 17.500 1.500 814 54,3 Pegida, 2015 17.000 670 123 18,4 Anti-TTIP, 2015 200.000 3.780 482 14,2 G20, 2017* 80.000 4.187 1.095 31,0 FFF, 2019 25.500 2.200 355 16,1 Berlin 20.000 1.202 204 17,0 Bremen 5.500 998 151 15,1 Befragungen von Demonstrierenden ein anderes 3.1 Methodik und Repräsentativität Vorgehen geboten. Darauf wird noch einzugehen Auch wenn methodische Detailfragen als Angele- sein. genheit von Expert*innen gesehen werden und Tabelle 2 zeigt die Eckdaten der europäischen für das breite Publikum kaum von Interesse sind, Befragungsaktion zu FFF in neun Ländern. Die so legen wir doch großen Wert darauf, unser me- Rücklaufquoten sind insgesamt zufriedenstel- thodisches Vorgehen eingehend zu beschreiben lend. Sie schwanken zwischen 12 Prozent (Ams- und auch dessen Schwächen und Grenzen aufzu- terdam) und 30 Prozent (Stockholm). Mit unseren zeigen. Das erscheint uns gerade im Untersu- Befragungen in Berlin und Bremen (mit 17 % bzw. chungsfeld der quantitativen Befragung von Pro- 15 %) liegen wir damit im unteren Bereich. Auch testteilnehmer*innen notwendig – einem Feld, die von den Berliner Organisator*innen auf der das erst seit den früher 2000er Jahren Konturen Bühne ausgesprochene Ermunterung, sich an der gewonnen hat und in dem noch viel experimen- Umfrage zu beteiligen, hat offenbar nicht zu einer tiert wird (siehe z. B. Andretta und della Porta markanten Steigerung der Rücklaufquote ge- 2014; Teune und Ullrich 2015). Im Unterschied zu führt, wie der Vergleich mit Bremen zeigt. repräsentativen Bevölkerungsumfragen ist bei _____ 9 Tabelle 1 zeigt eine Auswahl der Studien, die unter * Während des G20-Gipfels in Hamburg wurden zwei Beteiligung von Wissenschaftler*innen des Instituts Demonstrationen untersucht. Siehe: Haunss et al. für Protest- und Bewegungsforschung entstanden sind. 2017. 7
Tabelle 2: Eckdaten der internationalen Befragung in neun Ländern Teilnehmende, Kurz- Verteilte Rücklauf- Stadt Rücklauf geschätzt interviews Fragebögen quote; % Amsterdam 5.500 118 609 72 12 Berlin 15.000 - 25.000 257 1.202 204 17 Bremen 5.000 - 6.000 100 998 151 15 Brüssel 30.000 - 35.000 140 733 166 23 Florenz 10.000 - 30.000 0 1.000 195 20 Genf 5.000 - 6.000 103 1.000 154 15 Lausanne 12.000 - 15.000 152 1.000 183 18 Malmö 600 - 650 95 528 114 22 Manchester 800 76 398 100 25 Stockholm 3.000 - 5.000 108 588 174 30 Truro (UK) 300 62 260 38 15 Wien 15.000 - 25.000 180 930 154 17 Warschau 6.700 170 916 220 24 Quelle: Wahlström et al. 2019b, übersetzt ins Deutsche Das Problem der Repräsentativität muss versuchen, durch eine Reihe von Vorkeh- rungen möglichst nahe an das Repräsentativitäts- Die Frage der Repräsentativität ist für die quanti- kriterium heranzukommen, wobei bestenfalls Re- fizierende empirische Sozialforschung eine präsentativität für die jeweilige Demonstration, Schlüsselfrage, der wir große Aufmerksamkeit nicht aber für ähnliche Veranstaltungen an ande- und Energie widmen. Nicht immer gelingt es, das ren Orten herzustellen ist. Grundprinzip bei der Ziel der (annähernden) Repräsentativität zu errei- Befragung von Protestierenden ist die Sicherung chen. Zum Beispiel sind wir bei unserer Befragung einer Zufallsstichprobe bei der Kontaktierung von von Teilnehmer*innen an einer Pegida-Demonst- Personen vor Ort. Dafür wurden in unserem kon- ration im Januar 2015 zu dem Schluss gekommen, kreten Fall den Befragungsteams (jeweils zwei dass wir aus einer Reihe von Gründen keinerlei Personen) bestimmte Sektoren während der sta- Repräsentativität beanspruchen können (Daphi tionären Kundgebung bzw. Abschnitte innerhalb et al. 2015b). des Demonstrationszuges zugewiesen, um dann Im Unterschied zu repräsentativen Bevölke- nach einer festen Quote jede x-te Person für ein rungsumfragen sind bei den vor Ort Demonstrie- Kurzinterview anzusprechen bzw. einen Flyer zu renden die Merkmale der Grundgesamtheit un- verteilen. Dabei ist die Arbeitsteilung im Team bekannt. Man kann also nicht aufgrund bereits zentral: Während eine Person im Team, der soge- vorhandener Daten eine relativ kleine und den- nannte Pointer, die Zielperson nach dem genann- noch repräsentative Stichprobe ziehen, sondern ten Schema auswählt, ist die zweite Person für die 8
Kontaktaufnahme und das Gespräch bzw. Inter- mindestens 14-Jährige einbezogen, nachdem das view mit der Zielperson verantwortlich. So sollen Alter durch eine Eingangsfrage geklärt worden Verzerrungen (selection bias) vermieden werden, war. Alle elf Interviewfragen sind auch im Online- die z. B. durch eine (unbewusste) Auswahl nach Fragebogen enthalten und somit in ihren Ergeb- Sympathie, ähnlicher Altersgruppe oder erhoff- nissen direkt vergleichbar. In Berlin wurden die ten „Erfolgschancen“ bei der Ansprache der Ziel- Antworten von den Interviewer*innen in ein Pa- person entstehen können. Die Interviews und die pierformular eingetragen, in Bremen dagegen auf Verteilung der Flyer erfolgen also nach einem an- einem Tablet registriert, was sich als deutlich ef- deren Prinzip als die Verteilung von Flugblättern fizienter erwies. Zweck der Interviews war nicht, oder Werbezetteln in einer Fußgängerzone, wo die Rücklaufquote zu erhöhen oder vertiefende die Verteiler*innen bemüht sind, möglichst Informationen zu gewinnen. Vielmehr sollte mit schnell möglichst viele ihre Zettel loszuwerden. dieser zusätzlichen Erhebung einzig und allein ge- prüft werden, ob die nach der Zufallsauswahl er- Der von uns verteilte Flyer wurde zunächst in haltenen direkten Interviews vor Ort, für die wir englischer Sprache unter den verschiedenen nati- eine annähernde Repräsentativität beanspru- onalen Teams in seinem Wortlaut abgestimmt chen können, mit Blick auf die entsprechenden und dann ebenso wie der ausführliche Online- Fragen des Online-Instruments ähnliche Ergeb- Fragebogen – in die jeweilige Landessprache nisse zeitigen würden. Abweichungen könnten übersetzt. Er enthält die Aufforderung, sich an sich z. B. dadurch ergeben, dass netzaffine und der Online-Befragung zu beteiligen. Zudem ist auf junge Teilnehmer*innen eher als andere Gruppen jedem Flyer ein individueller ID-Code vermerkt, an der Online-Umfrage teilnehmen und damit das der einmalig den Zugang zum Online-Fragebogen Durchschnittsalter der an der Online-Umfrage Be- ermöglicht, aber danach nicht erneut nutzbar ist. teiligten geringer ausfällt als das Durchschnittsal- Dadurch wird sichergestellt, dass im Prinzip nur ter der Demonstrierenden vor Ort. Teilnehmer*innen an der Demonstration (abge- sehen von der Möglichkeit, den Flyer an jeman- Der Vergleich der Antworten aus den direkten den weiterzureichen), vor allem aber nicht ganze Interviews und der Online-Befragung förderte ein Gruppen, zum Beispiel Schulklassen, an der Befra- Ergebnis zutage, dass wir in dieser Deutlichkeit gung teilnehmen und damit das Zufallsprinzip der nicht erwartet hatten. Zusammengefasst: Die Beteiligung verletzen. Auch aufgrund der positi- durch beide Instrumente ermittelten Merkmals- ven Grundstimmung während den Demonstratio- verteilungen sind annähernd gleich. Das soll nen war die Ablehnungsquote für die Verteilung nachfolgend lediglich für einige Fragen belegt der Flyer sehr gering. Sie betrug in Berlin 5,3 Pro- werden: zent und in Bremen 5,4 Prozent. Auch dies ist ein Der Frauenanteil betrug bei den direkten In- wichtiger Indikator dafür, dass nicht bereits bei terviews vor Ort 57,6 Prozent, bei der Online-Be- der Verteilung der Flyer ein möglicher Verzer- fragung 59,6 Prozent. Der Anteil von Schüler*in- rungseffekt entsteht, insofern sich eine größere nen und Student*innen betrug bei den direkten Personengruppe der Beteiligung an der Befra- Interviews 76,7 Prozent und war bei den Online- gung verweigert. Interviews mit 71,4 Prozent nur etwas geringer. Besondere Aufmerksamkeit widmeten wir der Auch bei der Altersverteilung der Befragten lie- Durchführung von direkten Interviews vor Ort, gen die Werte aus beiden Befragungen in einer die elf Fragen enthielten und durchschnittlich ähnlichen Größenordnung (siehe Tabelle 3). fünf Minuten beanspruchten. Hier und bei der ge- samten Befragungsaktion wurden aus for- schungsethischen und juristischen Gründen nur 9
Tabelle 3: Altersverteilung im Vergleich beider Befragungsmethoden; in % Altersgruppe Kurzfragebogen Online-Survey 14-19 58,0 51,5 20-25 17,0 18,9 26-35 11,3 11,3 36-45 7,1 5,1 46-55 3,6 6,5 56-65 1,5 3,4 Über 65 1,5 3,4 Gesamt % 100,0 100,0 N 336 355 Tabelle 4: Demonstrationserfahrung im Vergleich beider Befragungsmethoden; in % Demonstrationserfahrung Kurzfragebogen Online-Survey Keine Teilnahme 24,4 25,1 1 bis 5 mal 35,7 33,2 6 bis 10 mal 15,5 18,2 11 bis 20 mal 12,2 9,2 Mehr als 20 mal 12,2 14,2 Gesamt % 100,0 100,0 N 336 346 Und auch der Vergleich der Antworten auf die die Direktinterviews erheblich war und naturge- Frage nach früheren Demonstrationsteilnahmen mäß auch die Kapazitäten bei der Verteilung der in Tabelle 4 liefert ein sehr hohes Maß an Über- Flyer – und damit die Rücklaufquote – reduzierte, einstimmung. so sehen wir doch diesen rein methodisch moti- vierten Aufwand als sinnvoll an. Wir sprechen Aufgrund der sehr ähnlichen Ergebnisse bei- zum ersten Mal in unserer Serie von Demonstra- der Befragungsmethoden, können wir davon aus- tionsbefragungen von einer annähernden Reprä- gehen, dass die annähernde Repräsentativität, sentativität. die wir aufgrund der Zufallsauswahl für die 336 Direktinterviews beanspruchen, auch für die On- line-Befragung gilt, auf die sich alle folgenden Analysen beziehen. Auch wenn der Aufwand für 10
3.2 Wer sind die Teilnehmer*innen? G20-Gipfel 2017 (Haunss et al. 2017) und gegen die Freihandelsabkommen TTIP und CETA 2015 Eine ganze Reihe von Fragen diente der Ermitt- (Daphi et al. 2015a) war das Verhältnis der Ge- lung des sozio-demografischen Profils der Protes- schlechter nahezu ausgeglichen. Im Falle der FFF- tierenden. Bei der Darstellung der Ergebnisse gilt Proteste in Berlin und Bremen betrug der Frauen- es zu beachten, dass die Ausübung von Protest als anteil zusammengenommen 59,6 Prozent. In der Artikulationsform von verschiedenen sozio-struk- Gruppe der Schüler*innen lag er mit 64,6 Prozent turellen Merkmalen geprägt ist und Demonstrie- sogar noch höher. rende in den wenigsten Fällen ein repräsentatives Abbild der Gesamtbevölkerung darstellen. So zei- Altersstruktur: Entgegen dem medial gezeich- gen zahlreiche Studien für Deutschland und viele neten Bild, FFF würde ganz überwiegend von sehr andere westeuropäische Länder, dass vor allem jungen Schüler*innen getragen, zeigt unsere Be- formal höher Gebildete, Menschen mit über- fragung ein differenzierteres Bild. Dabei ist zu be- durchschnittlichem Einkommen und die Altersko- rücksichtigen, dass unsere Befragung aus juristi- horte der 30-50-Jährigen auf die Straße gehen (z. schen und forschungsethischen Gründen nur Teil- B. van Aelst/Walgrave 2001). Während Demonst- nehmer*innen ab 14 Jahren einschließt. Unter rationen lange stark von Männern geprägt waren, den Befragten ist der Anteil der Schüler*innen zeigen jüngere Untersuchungen eine annähernd (49,3 %) und der Gruppe der Erwachsenen, die paritätische Verteilung der Geschlechter. Im Fol- nicht mehr zur Schule gehen (50,7 %) nahezu genden wird das Profil der FFF-Protestierenden gleich groß. Dieses Verhältnis spiegelt sich auch in im Hinblick auf einige der genannten Merkmale der Altersstruktur der Befragten wider (siehe Ab- genauer in den Blick genommen. bildung 1). So ist die Gruppe der 14-19-Jährigen mit 51,5 Prozent am stärksten vertreten, gefolgt Verteilung der Geschlechter: Auffällig an der von der Gruppe der 20-25-Jährigen mit knapp 19 Geschlechterverteilung, zumal im Vergleich mit Prozent und – jetzt in Zehn-Jahres-Schritten – der den meisten sonstigen Demonstrationen, ist der Gruppe der 26-35-Jährigen mit 11,3 Prozent. Ab- hohe Frauenanteil bei den FFF-Protesten. Bei der bildung 3 zeigt auch, dass die FFF-Demonstrieren- Befragung von Demonstrierenden gegen Stutt- den in Bremen mit einem Anteil der 14-19-Jähri- gart 21 betrug der Frauenanteil 40 Prozent gen von mehr als 60 Prozent etwas jünger sind als (Baumgarten und Rucht 2014), unter den Pegida- in Berlin, wo sich Studierende stärker an den Pro- Demonstrierenden lag er lediglich bei 18 Prozent testen beteiligten. (Daphi et al. 2015b). Bei den Protesten gegen den Abbildung 1: Altersstruktur der Demonstrierenden in Bremen und Berlin; in % 60 50 40 30 20 10 0 14-19 20-25 26-35 36-45 46-55 56-65 über 65 Berlin (N=204) Bremen (N=151) Gesamt (N=355) 11
Die Daten verdeutlichen, dass der Protest im Diesen anderen Demonstrationen – von Wesentlichen von jungen Menschen getragen Pegida bis zu den G20-Protesten – werden in ers- wird, dass sich aber auch Erwachsene und ältere ter Linie durch die mittleren Alterskategorien ge- Menschen beteiligen und solidarisch zeigen. Ins- prägt. Der Mittelwert der Gruppe der unter 25- gesamt handelt es sich bei FFF aber um eine au- Jährigen liegt für diese Proteste zusammen bei ßergewöhnlich junge Protestbewegung, wie der nur 14 Prozent, während er bei den FFF-Protesten Vergleich mit anderen von uns untersuchten De- mehr als 70 Prozent beträgt. monstrationen zeigt (siehe Abbildung 2). Abbildung 2: Altersstruktur, Vergleich ausgewählter Demonstrationen; in % 80 70,4 Pegida 70 Stuttgart 21 60 Hartz IV 50 Irakkrieg 40 TTIP 30 G20* 20 13,8 12,1 FFF 10 3,7 0 unter 25 25-39 40-64 über 64 Ein beachtlicher Anteil der Befragten bei FFF werbstätigkeit und der Bildungsgrad der Eltern- sind Schüler*innen oder Student*innen (71,8 %). teile herangezogen werden. 39,2 Prozent der Hinzu kommen kleinere Anteile von Vollzeitbe- Mütter sind vollerwerbstätig, weitere 31,4 Pro- schäftigten (21,1 %) und Teilzeitbeschäftigten. zent sind teilzeitbeschäftigt. Bei den Vätern lie- Arbeitslose sind, gemessen an der Gesamtbevöl- gen die entsprechenden Anteile bei 62,9 Prozent kerung, unterdurchschnittlich vertreten (2,9 %). und 5,2 Prozent. Bei 57,5 Prozent der erwachse- Gleiches gilt für Rentner*innen (6,9 %) und Haus- nen Befragten ab 20 Jahren hat die Mutter einen frauen bzw. Hausmänner (1,7 %).10 Hochschulabschluss bei den Vätern sind es 58,8 Tabelle 5 zum angestrebten bzw. erworbenen Prozent; bei den Schüler*innen beträgt der Anteil Ausbildungsgrad signalisiert die starke soziale Se- 45,8 bzw. 49,4 Prozent. Das sind Werte, die etwa lektion der Demonstrierenden. Diese sind in der doppelt so hoch sind wie in der Gesamtbevölke- Gesamttendenz dem Bildungsbürgertum zugehö- rung.11 rig. Dies zeigt sich noch deutlicher, wenn die Er- _____ 10 Mehrfachantworten möglich. 6. September 2018 „verfügten 29 % der 30- bis 34-Jäh- 11 Die Quote der Personen mit Hochschulabschluss un- rigen über einen Hochschulabschluss, während der An- terscheidet sich stark nach Altersgruppen. Laut einer teil unter den 60- bis 64-Jährigen bei 19 % lag“. Siehe: Pressemitteilung des Statistischen Bundesamtes vom https://www.destatis.de/DE/Presse/Presse-mitteilun- gen/2018/09/PD18_332_217.html [04.08.2019]. 12
Tabelle 5: Ausbildungsgrad (bei Schüler*innen: angestrebter Abschluss); in % Ausbildungsgrad Online-Survey Keinen Schulabschluss 0,9 Grundschule 0,6 Hauptschulabschluss 0,9 Realschulabschluss / POS / mittlerer Schulabschluss 4,5 Fachhochschulreife / Abitur 55,1 Abgeschlossenes Studium 32,1 Doktor / PhD 4,8 Sonstiges 1,2 Gesamt % 100,0 N 366 Abbildung 3: Schichteinstufung von Schüler*innen und Erwachsenen; in % 70 63,3 60 53,6 50 39,1 40 30 27,6 20 10 7,1 4,6 2,0 2,6 0 Oberschicht Obere Mittelschicht Untere Mittelschicht Arbeiterschicht Schüler*innen (N=98) Erwachsene (N=151) Von Interesse ist auch die subjektive Schicht- Kategorie mit 4,3 Prozent schwach besetzt, einstufung der Befragten. Hier wurde die im briti- würde aber vermutlich auch bei einer anderen schen Sprachraum und weiteren europäischen Benennung in Deutschland nicht wesentlich hö- Ländern durchaus gebräuchliche und wenig her ausfallen. Bei den Befragten ist, wie in der Ge- schambesetzte Kategorie working class im deut- samtbevölkerung, der Anteil derer, die sich der schen Fragebogen mit dem Begriff „Arbeiter- Oberschicht zuordnen, mit 1,8 Prozent ver- schicht“ übersetzt. Erwartungsgemäß ist diese schwindend gering. Am stärksten präsent sind die 13
Obere Mittelschicht mit 43,6 Prozent und die un- in Deutschland geboren. Weitere 2,1 Prozent tere Mittelschicht (26,2 %). Weitere 7,9 Prozent kommen aus dem europäischen Ausland und 0,9 wollten sich keiner dieser Kategorien zuordnen. Prozent aus Ländern außerhalb Europas. Neben Insbesondere unter den Schüler*innen ist der An- den Angaben zum eigenen Geburtsland wurden teil derjenigen, die sich keiner Schicht zuordnen die Befragten auch gebeten, das Geburtsland ih- (9,2 %) oder die keine klare Meinung zu dieser rer Eltern anzugeben. Daraus lässt sich der indivi- Frage haben (26,8 %) relativ hoch. Klammern wir duelle Migrationshintergrund rekonstruieren und diese Antworten aus und vergleichen die Gruppe mit der Gesamtbevölkerung vergleichen (Abbil- der Schüler*innen mit der der Erwachsenen, so dung 4). Dabei zeigt sich, dass Personen mit eige- nehmen mehr Schüler*innen als Erwachsene eine ner Migrationserfahrung zwar im Vergleich zur subjektive Schichtzuordnung in der oberen Mit- Gesamtbevölkerung unterrepräsentiert sind, telschicht vor (siehe Abbildung 3). aber die Gruppe derjenigen, die mindestens ei- nen im Ausland geborenen Elternteil haben, ins- Die Demonstrierenden wurden auch nach ih- besondere in Berlin relativ stark vertreten ist. ren Herkunftsländern befragt. Das Bild ist eindeu- tig. Die weitaus meisten Befragten (97,6 %) sind Abbildung 4: Migrationsgeschichte der Demonstrierenden, im Vergleich; in % 0 20 40 60 80 100 FFF Berlin (N=189) 79,9 FFF Bremen (N=138) 87,7 FFF Gesamt (N=327) 83,2 ALLBUS 2016 80,7 Direkte Migrationserfahrung / Eigene Geburt im Ausland Mindestens ein Elternteil im Ausland geboren / Eigene Geburt in Deutschland Kein unmittelbarer Migrationshintergrund / Eigene Geburt und Geburt der Eltern in Deutschland worten enthaltenen Schlüsselbegriffe vorgenom- 3.3 Anliegen der Protestierenden men und auch exemplarisch einige Statements im Ein zentrales Ziel der Umfrage war es, mehr über Wortlaut12 herausgegriffen. die Motive der Demonstrant*innen zu erfahren. Aus den optisch quantifizierten Antworten auf Dafür haben wir sowohl geschlossene Fragen mit die offene Frage nach den Gründen für die Teil- festen Antwortmöglichkeiten als auch drei offene nahme an der Demonstration (Abbildung 5) wird Fragen gestellt. Einige Ergebnisse bezüglich die- deutlich, dass insbesondere von den Schüler*in- ser Fragen sollen im Folgenden dargestellt wer- nen Klimawandel und die Sicherung der Zukunft den. Dabei haben wir eine quantitative und gra- als langfristiges und dringendes Problem gesehen phisch visualisierte Auswertung der in den Ant- wird. _____ 12 Die nachfolgenden Zitate werden im Original inklu- sive sprachlicher Fehler zitiert. 14
Abbildung 5: Zentrale Motive der Demonstrierenden Q6: „Bitte sagen Sie uns kurz, warum Sie an diesem Protest teilgenommen haben“ Aus Statements wie beispielsweise dem fol- Oder: „Ich finde den Protest der Jugendlichen genden: „Weil sich in der Politik etwas ändern großartig und möchte meinen Enkeln eine be- muss und wenn die das nicht angehen oder mer- wohnbare Erde hinterlassen. War dort zusammen ken müssen wir halt für unsere Zukunft kämpfen! mit meiner Tochter und Enkelin (8).“ Die notwendigen Maßnahmen müssen umgesetzt In den Antworten auf die offene Frage nach werden“ spricht eine Sorge um die eigene Zu- den Schuldigen des Klimawandels lassen sich grob kunft, dem am häufigsten genannten Motiv. Viel- zwei Perspektiven unterscheiden (Abbildung 6, fach wird dabei die besondere Rolle von Jugend- nächste Seite). Bei einem Teil der Protestieren- lichen betont: „Um zu zeigen, dass wir Schüler den steht individuelles Handeln im Vordergrund. eine große Gruppe sind die sich für ihre Zukunft Sie betonen, dass alle Menschen durch ihren Kon- interessiert und auch eine politische Meinung ha- sum und Lebensstil die Schuld am Klimawandel ben“. Oder: „Ich finde es wichtig, dass gerade tragen: „der mensch und seine gier nach mehr.“ junge Menschen auf die Straße gehen und für ihre Ähnlich die Antwort: „Die Menschheit im Ganzen. Zukunft eintreten um wirklich etwas zu ändern.“ Man kann die Schuld nicht einer Person zuschie- Vereinzelt werden auch spezifischere Motive ben, da wir alle unseren Teil dazu beigetragen ha- genannt: „Um eine Rede zu halten und gegen den ben, wenn auch manchmal unbewusst. Es ist der Kapitalismus zu demonstrieren.“ Ein anderer Teil- Bequemlichkeit zuzutragen, die wir alle so lieben, nehmer nennt an erster Stelle eine berufsbezo- und der Profitgier, die meiner Meinung nach doch gene Motivation: „Mein Arbeitsplatz hängt vom in jedem steckt.“ In einem Fall wird auch den Ju- Klima ab (Forstwirtschaft). Außerdem bin ich sehr gendlichen ausdrücklich eine Mitschuld zugewie- naturverbunden, das Aussterben von Tier-, Insek- sen: „Schule (sic! - gemeint ist Schuld) ist Egois- ten und Pflanzenarten erschreckt mich, ich halte mus und Kurzsichtigkeit vorrangegangener und dies für grausam und unnötig. Die Politik tut teilweise auch der jungen Generation“. nichts, hält eigene Klimaziele nicht ein, greift nicht Zuweilen werden solche Aussagen aber auch durch“. In manchen Antworten kommt auch der weiter differenziert, indem beispielsweise auf die tragende Einfluss der sozialen Umgebung zum Schuldfrage geantwortet wird: „Der unverant- Ausdruck: „Wir wurden in der Schule darauf auf- wortliche Konsum des normalen Bürgers sowie merksam gemacht und haben uns dann ent- die großen Firmen die nichts ändern wollen“. schlossen teilzunehmen“. Eine andere Gruppe der Befragten sieht in ers- Ältere Befragte erklären sich solidarisch mit ter Linie die Wirtschaft bzw. Industrie oder Unter- den Jungen: „Ich finde es wichtig, dass gerade nehmen und Politik in der Verantwortung. So junge Menschen auf die Straße gehen und für ihre heißt es: „Untätigkeit der Regierungen, dubiose Zukunft eintreten um wirklich etwas zu ändern.“ 15
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