Osteopathie und (Hatha-)Yoga
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Osteopathische Medizin ANDERE THERAPIEN Osteopathie und (Hatha-)Yoga Torsten Liem* Zusammenfassung Im Folgenden werden anhand einiger wie Schüler sind hier gleichermaßen Die folgende Übersicht bietet einen kur- praktischer Beispiele Berührungspunkte gefordert. In der Osteopathie – als zen Überblick über historische und an- zwischen Yoga und Osteopathie heraus- einer Form von Behandlungssystem wendungsorientierte Unterschiede zwi- gestellt. Die Bedeutung der Körperlichkeit sowie Vorgehensweisen zu Heilungs- und – bleibt der Patient nicht selten rela- schen Osteopathie und Yoga sowie über Bewusstwerdungsprozessen mittels der tiv passiv, im Gegensatz zum aktiven ihre Berührungspunkte. Beiden gemein ist Körperlichkeit sowie mögliche Redukti- osteopathischen Therapeuten. Förderung des Heilwerdens, was sich im Yoga vornehmlich durch Streben nach Be- onismen im Yoga und in der Osteopathie wusstwerdung und in der Osteopathie in werden diskutiert. Ähnlichkeiten und sich erster Linie durch Unterstützung der Ge- ergänzende Sichtweisen in Grundhaltun- Berührungspunkte – sundheit ausdrückt. Ein wesentlicher Un- gen und Ausrichtungen (z.B. anhand des praktische Beispiele terschied ist z.B., dass im Yoga das eigene Konzepts der Stille) in Yoga und Osteopa- Engagement im Vordergrund steht. Lehrer thie werden dargestellt. Trotz dieser Unterschiede gibt es jedoch sowie Schüler sind hier gleichermaßen da- viele Berührungspunkte zwischen einer rin gefordert, die jeweiligen Sichtweisen Schlüsselwörter Yogapraxis und einer osteopathischen zu überprüfen, die sie ihrem Leben gegen- Osteopathie, Yoga, Hathayoga, Körperlich- Behandlung. Ein Beispiel aus der Praxis: über angenommen haben. keit, Heilung, Bewusstsein, Asana, Prana- Ein Wirbel ist „blockiert“, d.h. in seiner In der Osteopathie – als einer Form eines yama, Stille, Dekonditionierung, Gewebe- Beweglichkeit eingeschränkt, mit Ver- Behandlungssystems – bleibt der Patient Energie-Bewusstseins-Korrelanz spannungen und/oder Fibrosierungen nicht selten relativ passiv, gegenüber dem an Bändern und kleinen tief liegenden aktiven osteopathischen Therapeuten. Muskeln. Dies kann z.B. durch ein kör- perliches (oder auch seelisches) Trauma oder eine Organstörung hervorgeru- Einleitung punkt, Gesundheit im Organismus fen worden sein, ein Ereignis, das nicht zu fördern. Sie umfasst spezielle selten schon Jahre zurückliegen kann. Historisch gesehen bestehen große manuelle Diagnose- und Therapie- Möglicherweise bleibt dies zunächst völ- Unterschiede zwischen Yoga und methoden mit dem Hauptfokus auf lig symptomlos. Beginnt der Patient mit Osteopathie. Während Yoga bereits strukturelle Beziehungen und Wech- einer Form des Hathayoga, wird er meist einige tausend Jahre in Indien exis- selwirkungen der verschiedenen Ge- schon sehr bald erste positive Verände- tiert, entstand die Osteopathie etwa webe und ihrer Funktion. rungen in seinem Leben wahrnehmen. Mitte des vorletzten Jahrhunderts, Auch wenn offensichtlich vor allem Es ist jedoch auch möglich, dass selbst vor allem als Reaktion auf ein frü- der gesundheitliche Aspekt der kör- durch fortgeschrittene Yogapraxis fi- hes allopathisches Medizinmodell in perlich orientierten Yogaformen im xierte Wirbel sich nicht unbedingt auf- den USA. Westen besondere Wertschätzung er- lösen, sondern im Gegenteil ober- oder Die Osteopathie geht vor allem als fährt, ist das traditionelle Hathayoga unterhalb liegende Wirbelsegmente eine quasi Offenbarungslehre auf Still zu- und das Yoga nach Patanjali wie auch Überflexibilität entwickeln. In der Regel rück, das Yoga als Offenbarungslehre alle anderen Yogaformen jedoch pri- spürt der Yogapraktizierende dann kei- ist nicht auf eine einzige historische mär eine auf Erfahrung basierende ne Beschwerden im betroffenen Wirbel, Person zurückzuführen. Methode zur Bündelung der Geis- sondern die Symptome entstehen im Von Beginn an hat die Osteopathie tesbewegungen, zur Befreiung kon- Laufe der Zeit in den hyperflexiblen Re- ebenso wie körperlich orientierte Yo- traktiver Konditionierungen sowie gionen, sei es ober- und/oder unterhalb gaformen eine Körper-Geist-Seele- zur Hinwendung auf unmittelbares des betroffenen Wirbels. Einheit postuliert. Dieser Einheit nä- Gewahrsein auf eine unverzerrte, un- Es passiert nur in seltenen Ausnahmen, hert man sich in der Osteopathie wie konditionierte Wahrnehmung und dass der Yogapraktizierende so viel Be- auch im Hathayoga primär über den auf ein höheres postpersonales-pos- wusstheit in der Yogapraxis entwickelt, Körper. Dabei bestehen jedoch deut- trationales Selbst. dass er z.B. bei der Ausführung von liche Unterschiede in der praktischen Deutlich ist der Unterschied in der Vorwärts- oder Rückwärtsbeugen tat- Ausrichtung und Zielsetzung: Ausrichtung: Im Yoga geht es um sächlich die Spannungen um den be- Die Osteopathie stellt ein manuelles die Praxis, Verantwortung und Ein- troffenen Wirbel berücksichtigt, denn Medizinsystem dar mit dem Schwer- sicht des Praktizierenden. Lehrer das würde in der Tat diesem Wirbel die * Torsten Liem, D.O., Osteopath GOsC (GB). Ehemaliger Leiter der Osteopathie Schule Deutschland (OSD) und Gründer eines M.Sc.- Programms in pädiatrischer Osteopathie. Mitbegründer und ehemaliger Chefredakteur der Zeitschrift „Osteopathische Medizin“. Autor zahlreicher Veröffentlichungen. 21 10. Jahrg., Heft 1/2009, S. 21–27, Elsevier GmbH – Urban & Fischer, www.elsevier.de/ostmed
Osteopathische Medizin ANDERE THERAPIEN Möglichkeit geben, sich wieder in die gedrückt werden. Zahlreichen gestalt- „Ich“ nennen. Unser Körper, seine Körperphysiologie zu integrieren. bildenden Kräften sind wir bereits von physiologischen Abläufe und unsere Hier kann eine osteopathische Be- Anbeginn unserer Entwicklung ausge- Art zu fühlen, zu denken und wahrzu- handlung helfen, zum einen, indem sie setzt (elektrische, magnetische, elektro- nehmen werden durch all diese Fakto- exakt befundet, welcher Wirbel und dynamische Felder, morphogenetische ren beeinflusst und determiniert. welches damit zusammenhängende Felder, Biophotonen, UV-Lichtfre- Das eigene innere Wachstum ist aufs Gewebe tatsächlich eine Bewegungs- quenzen, chemotaktische Mechanis- Engste mit dem Verstehen, der Ausei- einschränkung aufweisen, und zum men, mechanische Belastungen etc.) nandersetzung, dem Akzeptieren, dem anderen, indem sie diese durch sanfte [1]. Prä- und perinatale Erlebniswelten Integrieren und dem Meistern der Impulse wieder korrigiert. können einen nachhaltig prägenden oben dargestellten Bewusstseinsinhal- Ein weiteres Beispiel ist ein Längenun- Einfluss auf unser Leben nach der Ge- te, Erlebnisse und Einflüsse verknüpft. terschied der unteren Extremitäten, sei burt ausüben [2]. Wir entwickeln uns Dabei ist zu berücksichtigen, dass sich es eine echte oder durch eine Becken- bereits im Mutterleib in relativer Ab- Gefühls-, Gedanken- und Glaubens- verwringung hervorgerufene kompen- hängigkeit und Wechselbeziehung zur muster sozusagen im Organismus ver- satorische Längendifferenz von mehr als Mutter und über die Stimmungen und körperlichen [44–46]. So zeigt jeder einem Zentimeter: Unbehandelt kann Erfahrungen der Mutter indirekt auch Mensch je nach den Erfahrungen, die hier z.B. eine regelmäßig ausgeführte zur Außenwelt [3, 4]. Wissenschaftliche er gesammelt hat, ganz spezifische Kör- Vorwärtsbeuge im Stand (Padangustha- Untersuchungen belegen sogar, dass permerkmale, -haltungen und -span- sana) auf Dauer Schmerzen und Störun- unsere Gesundheit bereits lange vor nungen. Verallgemeinert könnte man gen hervorrufen. Durch die Asymmetrie der Befruchtung durch den Gesund- sagen, je stärker die unverarbeiteten entwickelt sich bei Ausübung eine große heitszustand unserer Eltern (z.B. durch Energien, Erfahrungen und Ereignisse ungleiche Spannung vor allem in der Exposition mit fettlöslichen Chemika- sind, desto stärker sind in der Regel Ver- unteren Wirbelsäule und im Iliosakral- lien) mit beeinflusst wird [5–14]. härtungen, Verspannungen und Verfes- gelenk, die vielleicht sogar Bandschei- Weitere Faktoren, die unsere Körper- tigungen bzw. desto unzureichender ist benvorfälle provozieren oder auslösen lichkeit beeinflussen, sind: die Stabilität in Körper und Seele. Es könnte. Falls diese Störungen sich osteo- • physikalische und neurobiologische besteht sozusagen eine Gewebe-Ener- pathisch nicht auflösen lassen, ist es z.B. Wirkmechanismen [16], gie-Bewusstseinskorrelanz [18]. sinnvoll, während der Vorwärtsbeuge • das familiäre, emotionale, histori- Körperlich ausgerichtete Yogaformen im Stand (Padangusthasana) das Knie sche, kulturelle und gesellschaftliche ebenso wie die Osteopathie nutzen des längeren Beines leicht zu beugen. Umfeld und die biosoziale Umwelt, und benutzen den Körper, um eine Auf der anderen Seite erfahren in in denen wir aufwachsen und leben, Dekonditionierung von abnormen meiner Praxis die meisten „chronisch • Geburtserfahrungen sowie beson- chronischen Körperspannungen und kranken“ Patienten eine Besserung, ders die ersten Lebensjahre, Fehlhaltungen zu erreichen. Ob durch wenn sie beginnen, wieder selbst Ver- • unsere Ernährung, Osteopathie und Hathayoga ebenso antwortung für ihre Gesundheit zu • Krankheiten, Unfälle, psychische eine Integration von einschränkenden übernehmen. Hier kann Yoga wie auch Traumata, Bewusstseins-, Gefühls- und Glau- viele andere Wege sehr hilfreich sein. • Lern- und Arbeitsbedingungen, bensmustern und bindenden Selbstbil- • zahlreiche Rhythmizitäts-bestimm- dern erreicht wird, hängt stark davon te Regulations- und Organisations- ab, inwieweit diese in der praktischen Heilungs- und Bewusst- muster [17], Anwendung tatsächlich ausreichend • weitere Einflüsse, Belastungen und und adäquat berücksichtigt werden. werdungsprozesse mittels Gewohnheiten, Es scheint jedoch gegenwärtig so zu Körperlichkeit • Lebensmuster, die wir uns aneignen sein, dass Yogaübenden wie auch Os- und Entscheidungen, die wir treffen. teopathiepatienten in der Regel wenig Unsere Körperlichkeit bildet sich je All dies prägt uns, d.h. konditioniert unterstützt werden, Zusammenhänge nach genetischen Informationen und uns, wie wir uns selbst und die Welt zwischen Lebensumständen und ih- dem Umfeld, indem genetische Infor- um uns herum wahrnehmen und uns rem Verhalten und den damit zusam- mationen stimuliert, ausgelöst und aus- mit dem identifizieren, was wir unser menhängenden physischen und psy- A So werden die subjektiven Ebenen in der osteopathischen Praxis zwar postuliert, meist jedoch nur völlig unzureichend erforscht und unre- flektiert umgesetzt. Wissenschaften (wie z.B. Empirismus, Positivismus, Neuro- und Kognitionswissenschaften) ermöglichen weitreichende Erklärungen in Bezug auf die Zusammenhänge und Einflüsse zwischen Körper und Geist. Die große Stärke der Hathayoga-Tradition besteht demgegenüber darin, eine immense Fülle an Informationen über das Potenzial des menschlichen Körper-Verstand-Gemüt-Systems [47] aus einer subjektiven Sicht des Praktizierenden zu offerieren, mit Vorgehensweisen, die auf eine lange und vielfach erprobte Tradition verweisen können. Hingegen beleuchten z.B. die Hermeneutik und der Neostrukturalismus der Postmoderne intersubjektive Faktoren, die im Yoga wie in den objektiven Wissenschaften gleichermaßen nicht berücksichtigt wurden. Hermeneutik und Neostrukturalismus ebenso wie die Erkenntnisse der objektiven Wissenschaften könnten helfen, verklärte Erklärungsmo- delle und unangemessene metaphysische Dogmen des frühen Yoga zu relativieren und stattdessen die Essenz umso erfahrbarer zu machen. 22 10. Jahrg., Heft 1/2009, S. 21–27, Elsevier GmbH – Urban & Fischer, www.elsevier.de/ostmed
Osteopathische Medizin ANDERE THERAPIEN chischen Reaktionen bewusst zu wer- Hier liegt in der ausschließlichen überbetonten Körperkultwahn des den und die Einflüsse nichtbewusster Beschäftigung mit körperlichem Yo- Hathayogas – ein weiterer Reduktio- Inhalte auf ihre Befindensstörungen, ga auch eine gewisse Gefahr: Durch nismus darin, den Grad der Körper- Körperspannung und Körperstatik ver- die zunehmende Dehnbarkeit und flexibilität mit dem Grad der Persön- stehen zu lernen.A Kräftigung des Körpers kann unter lichkeitsentwicklung gleichsetzen zu Die Asanas (Körperhaltungen) im Yoga Umständen eine Überidentifikation wollen. Ganz sicher ist es unrichtig können uns mit unverarbeiteten Erfah- des Yogapraktizierenden mit seinem und zu eindimensional, ausschließlich rungen und Gefühlen konfrontieren. Körper entstehen und die kontrakti- vom Ausmaß der Körperflexibilität Gleichzeitig sind sie in der Lage, uns mit le Natur der Ich-Identifikation kom- Rückschlüsse auf die Bewusstheit ei- unseren inneren Ressourcen und Kräf- pensatorisch auf die Körperlichkeit nes Menschen zuzulassen. ten zu verbinden. Durch bewusste At- projiziert werden. Dies vermindert Es scheint sogar im Gegenteil so zu mung und inneren Fokus in Verbindung die Fähigkeit, das Gewahrsein in der sein, dass zahlreiche zu unterschei- mit den Asanas wird es möglich, die im Gegenwart fokussiert zu lassen, und dende Entwicklungslinien im Men- Gewebe gespeicherten Empfindungs- behindert die Integration des kleinen schen sich relativ unabhängig von- muster auf eine sanfte und bewusste Art Ich in einer überpersönlichen, über- einander und in unterschiedlichem und Weise zu durchleben und zu inte- bewussten, postrationalen Bewusst- Tempo schrittweise entwickeln [25], grieren. Indem der Körper durch das seinskonstanz. so z.B. die kognitive Entwicklung [26, Yoga schrittweise flexibel wird, besteht Deshalb betont bereits die Haupt- 27, 28], Werteentwicklung [29], emoti- außerdem die Chance, dass wir auch in schrift über Hathayoga, dass dieses onale Entwicklung [30], Entwicklung unserem Inneren mehr Flexibilität er- sein Potenzial nur entwickelt, wenn es von Bedürfnissen [31], spirituelle Ent- reichen. Gebundene Energien werden in den größeren Rahmen des Rajayo- wicklung und die körperliche Perfor- so zunehmend integriert und frei und gas (Yoga der Geisteskontrolle) gestellt mance. kommen wieder ins Fließen. Dadurch wird [21,22] sowie nur im Rahmen Hier besteht eine gewisse Gefahr, erleben wir den Augenblick mit mehr von anderen Bewusstseinsübungen dass ein zu starker Fokus auf erhöhte Präsenz, Freude und Lebendigkeit und und Richtlinien, die die Beziehung Körperflexibilität und Körperbeherr- werden nebenbei gleichzeitig gesünder. und Haltung zu anderen (bzw. zur schung im Hathayoga verdrängte Ele- So wird das Hathayoga auch als Pro- Außenwelt) und die Beziehung zu mente oder niedere Ebenen anderer zess beschrieben, physisches, mentales, mir (bzw. nach innen) reguliert und Entwicklungslinien (z.B. im Bereich emotionales und psychisches Gleichge- harmonisiert [23] (Yama und Niya- zwischenmenschlicher Beziehungsfä- wicht zu erlangen, indem das ganze We- ma). In Patanjalis Sutren, der ersten higkeit) überdeckt und kompensiert sen beginnend vom physischen Körper methodologischen Schrift zum Yoga, (anstatt eines Entwicklungsprozesses systematisch verfeinert, gestärkt, trans- nehmen die Asanas nur einen sehr ge- von zunehmender Akzeptanz, Diffe- formiert und geläutert wird, um in die ringen Raum ein neben vielen ande- renzierung, Relativierung und Integ- Lage versetzt zu werden, höhere Ebe- ren Betrachtungen und Bewusstsein- ration) und unter Umständen sogar nen des Bewusstseins zu erfahren [19]. sausrichtungen, wie z.B. Pranayama dissoziierend wirkt. Dies bezieht sich In der Osteopathie kann dies z.B. ge- (Atembewusstheit/Atemkontrolle), vor allem auf die im Übermaß körper- schehen, indem dysfunktionelle Kör- Rückzug der Sinne, Konzentration, betonten Yogaformen. Eine derartige perspannungen befundet und gelöst Meditation etc. [24]. Entwicklung kann sich allerdings in werden. Auch hier besteht die poten- Auch wenn zweifelsohne wichtige Be- vielen Schattierungen jedweder Diszi- zielle Chance, dass damit assoziierte züge und Wechselwirkungen zwischen plin und vor allem in monopolistisch Energie-Bewusstseins-Muster relati- Körper, Gefühls- und Bewusstseins- agierenden Vorgehensweisen zeigen. viert und neu integriert werden. welt existieren, besteht – vor allem In der Osteopathie ist die Gefahr bei dem im Westen anzutreffenden der Reduktion anders gelagert: In Mögliche Reduktionis- men körperlich orien- tierter Yogaformen und der Osteopathie Entsprechend dem oben Gesagten ist im körperlich ausgerichteten Yo- ga auch nicht das primäre Ziel, Kör- perakrobatik zu vollbringen oder besondere Körperverknotungen zu verwirklichen. Wer dies glaubt, hat Abb. 1: Paschimottanasana – intensive Dehnung des Rückens (westlicher Aspekt des in der Tat das tiefere Ziel des Yoga Körpers „Pashima“); Kräftigung der Bauchorgane, Stärkung der Nieren, Verbesserung der Verdauung, positive Wirkung auf die Wirbelsäule etc. Foto: © Karsten Franke, Hamburg missverstanden und verfehlt [20]. 23 10. Jahrg., Heft 1/2009, S. 21–27, Elsevier GmbH – Urban & Fischer, www.elsevier.de/ostmed
Osteopathische Medizin ANDERE THERAPIEN der Übersetzung menschlicher, zwi- Lebenszusammenhängen zu erfahren scher Ansätze zur Relativierung mo- schenmenschlicher Phänomene auf und zu verstehen. nopolistischer innerer Erfahrungen ausschließlich anatomisch-physiolo- Hinzu kommt, dass es in der Osteopa- werden im Folgenden etwas ausführli- gische Prozesse – häufig Kennzeichen thie – im Gegensatz zum Yoga – so gut cher diskutiert. Im Yoga verabsolutiert aktueller osteopathischer Vorgehens- wie keine methodologische Grundlage fast durchgängig jeder Praktizierende weisen – besteht die Gefahr einer Re- zur Förderung der Entwicklung sub- seine eigene innere Erfahrung. Jedoch duzierung der Person und zwar dann, jektiven Erlebens im Therapeuten (wie sind die Inhalte seines Gewahrseins das wenn innerliche Erfahrungen auf die auch im Patienten) gibt, mit Ausnahme eine, die psychologischen individuellen energetische Ebene oder das Körper- der Techniken des palpatorischen Ge- und die kollektiven Strukturen, vor de- liche reduziert werden. So können webeerlebens in der osteopathischen ren Hintergrund Bewusstseinsinhalte strukturell-physiologische Dynami- Ausbildung. Der Osteopath ist meist erst „gesehen“ und interpretiert wer- ken zwar als Bedingung, nicht aber wenig vorbereitet auf die Berücksich- den, das andere. Diese Strukturen sind als hinreichende Ursache für mensch- tigung innerer Erlebniswelten des Pa- einer rein phänomenologischen Praxis liche Phänomene angesehen werden tienten (wie auch seiner eigenen). Die weitgehend unzugänglich [49]. Eine le- [32]. Um die sogenannte Ganzheit Phänomenologie lehrt hier, dass insbe- diglich subjektive Innenschau – selbst des Patienten zu behandeln, reicht es sondere die Auseinandersetzung mit wenn sie nicht aggressiv ausschließend nicht aus, nur das Gewebekorrelat zu dem raum-zeitlichen Charakter des agiert, sondern mit in Bescheidenheit behandeln. Daseins, sowie die Auseinandersetzung bekleideter Ignoranz und noch so auf- Eine weitere damit zusammenhän- mit dem Leiblichsein, dem Miteinan- richtig und hingebungsvoll betrieben gende Gefahr besteht darin, dass die dersein in einer gemeinsamen Welt, wird – kann diese nicht erkennen. osteopathische Behandlung es dem dem Gestimmtsein, dem Gedächtnis Durch eine „monologische“ Innen- Patienten unter Umständen erschwert, und Geschichtlichsein, dem Sterblich- schau können wir zwar die Phänome- eigene Verantwortung für sein körper- sein, der allgemeinen Offenständigkeit ne unseres individuellen Bewusstseins lich-psychisches Befinden zu über- des Daseins und die Entfaltung dieser immer besser studieren, doch sowohl nehmen. So passiert es nicht selten, tragenden Möglichkeiten zur Freiheit psychodynamische Aspekte (à la Freud dass der Patient seinen Körper einem des Daseins hinführen [33]. und Jung) sowie auch Entwicklungs- Osteopathen einfach zur Behandlung Innerhalb der Osteopathie bestehen strukturen (à la Gebser, Graves, Kegan, übergibt, ähnlich wie ein Auto, das gegenwärtig zahlreiche notwendige Cook-Greuter) entdecken wir dadurch man in der Werkstatt reparieren lässt. Bestrebungen, im Rahmen ihrer Mög- nicht [49]. Diese werden nur durch ein Nimmt der Osteopath diese Rolle un- lichkeiten mit viel Aufopferung von Verständnis der jeweiligen individu- reflektiert an, verpasst er die Chance, Einzelnen, mithilfe objektiver Wis- ellen und geschichtlich-historischen dem Patienten zumindest die bewuss- senschaften, Wirkungsnachweise zu kulturellen Kontexte (intersubjektiver te Entscheidung zu ermöglichen, aktiv untersuchen. Auf der anderen Seite Strukturen) erschließbar, wofür eine im Heilungsprozess teilzunehmen. treten in einzelnen - vor allem dem dialogische und hermeneutische Praxis Das erschwert dem Patienten, sich der „Kranialen“ nahe stehenden – Berei- unverzichtbar ist. Nicht selten herrscht Zusammenhänge zwischen Lebens- chen, unter dem Mantel der Ganzheit- gerade hier ein außerordentlicher Wi- umständen, dem eigenen Erleben und lichkeit, völlig unreflektierte regres- derwille „bei gewissen Yogapraktizie- Verhalten einerseits und den damit in sive Tendenzen in Erscheinung, z.B. renden“. Vielleicht weil die verfängli- Verbindung stehenden Befindensstö- in Veröffentlichungen prärationaler chen monopolistischen Modelle mit rungen, Dysfunktionen andererseits osteopathischer Neospiritueller, em- ihren Versprechungen und nicht selten bewusst zu werden. bryonaler Heilslehrer, quantenphysi- Forderungen uns leicht dazu verführen, Erforderlich sind die Erarbeitung von kalischer Schädelknochenrenker und unsere Mündigkeit im Eingangsbe- Methodiken und Fähigkeiten, um auf- fundamentalistischer Gottesheiler mit reich abzugeben – im süßen Glauben, tretende innerliche Bewusstseinskom- einer beängstigend steigenden Zahl endlich unser neues Zuhause, jenseits ponenten im Patienten erfahren, be- von Jüngern.B verwirrender Worte und Meinungen rücksichtigen und in die Behandlung Im Yoga wie in der Osteopathie fehlen gefunden zu haben. integrieren zu können. Das heißt z.B. gleichermaßen nicht selten die Integ- Daraus resultieren abstruse, teilweise ge- die Entwicklung von Vorgehenswei- ration und Umsetzung intersubjekti- fährliche blinde Übernahmen indischer sen, die eine aktive Einbindung des ver Erkenntnisse. So werden im Yoga Techniken und Systeme in westliche Yo- Patienten im Heilungsprozess fördern zum Teil traditionelle Yogaformen gastudios. Wird z.B. nicht berücksich- – beispielsweise im Sinne einer Palpa- einfach übernommen, ohne kulturelle tigt, dass Inder gegenüber dem Westler tionspraxis, die den Patienten unter- Unterschiede ausreichend zu würdi- seit frühester Kindheit im Schneidersitz stützt, Bedeutungszusammenhänge gen und zu berücksichtigen. sitzen und deshalb bestimmte in Indi- zwischen Befindensstörung, Dysfunk- Die so wichtige Bedeutung der Inter- en entstandene Hathayoga-Systeme tion und innerlichen wie äußerlichen subjektivität sowie neostrukturalisti- einfach nicht eins zu eins an Westler B Auch wenn der quasi objektive Positivismus und mit ihm die „Evidence based Medicine“ zweifelsohne nicht verabsolutierend in der Osteopathie angewendet werden sollten, so scheinen doch diese magischen Hände und ihre Geister nicht selten in tiefsten selbsthypnoti- schen Zuständen und Größenwahn festzustecken. 24 10. Jahrg., Heft 1/2009, S. 21–27, Elsevier GmbH – Urban & Fischer, www.elsevier.de/ostmed
Osteopathische Medizin ANDERE THERAPIEN angepasst werden können, läuft man jektiven Inhalte der Lehre auch durch bewussten und unbewussten Hinter- Gefahr, körperliche Schäden wie Knie- noch so viel Innenschau und yogische gründen wird oft unterschätzt, weil er verletzungen der Teilnehmer in Kauf Praktiken nicht erkennen kann. Es ist ja einfach nicht direkt „gesehen“, sondern zu nehmen. Fundamentalistische Züge gerade eine der großen Schwachpunk- nur durch hermeneutische und struk- (bloß nicht vom Ursystem abzuwei- te der alten Lehren, dass die Menschen turelle Vorgehen erkannt werden kann chen), vor allem in Verbindung mit ri- damals noch nicht verstehen konnten, [51]. Eine hermeneutische Abgleichung giden Persönlichkeitsstrukturen (trotz dass die Subjekterfahrungen der Yogis könnte zum Beispiel untersuchen, wel- großer Gelenkigkeit?!) und Ignoranz keine Wahrheiten per se sind, sondern che Assoziationen, Deutungen bei ver- gegenüber westlichen reflektorischen zum großen Teil von kollektiv intersub- schiedenen Osteopathen bei bestimm- Errungenschaften, machen dabei blind jektiven und individuell psychodyna- ten subjektiven Palpationen von Gewe- für solche Einsichten. mischen Inhalten bestimmt wurden. bequalitäten auftreten. Eine strukturel- Das Problem liegt außerdem darin, Dies lässt im Praktizierenden teil- le Untersuchung könnte sich z.B. der dass die yogischen Erklärungsmodelle, weise innere tiefe Erfahrungen mit Erkennung wiederkehrender Muster in ihre auf Metaphysik gestützten theore- nicht mehr passenden Bezugsrahmen unserer Palpation widmen. tischen Modelle und Traditionen zwar entstehen. Diese im Praktizieren- Abgesehen davon, darf nicht vergessen zur Zeit ihrer Entstehung stimmig den entstehende Zerrissenheit führt werden, dass Stills Begrifflichkeiten waren, sie es aber in der heutigen Zeit zu zwangsläufig reduktionistischen, (wie z.B. material body, spiritual body, nicht mehr sind. Nicht nur weil die Er- blickverengenden Haltungen, die ihn body of mind) heute unter Umstän- klärungsversuche heutigen Diskursen bedauerlicherweise in vielen seiner den ganz anders gedeutet werden, als nicht standhalten, sondern z.B. auch, anderen Entwicklungslinien sogar be- Still diese verstanden hat [52–55]. weil die Menschen damals einfach hindern anstatt zu unterstützen. Nötig nicht in der Lage waren, intersubjek- wäre hier meist keine große Änderung tive Einflüsse zu berücksichtigen und der jeweiligen Praktiken, sondern eine Grundhaltung und stattdessen subjektiven Erfahrungen Ergänzung der alten Lehren und eine Ausrichtung im Yoga absolute Gültigkeit beimaßen. Relativierung der monopolistischen Für das menschliche Bewusstsein so be- Bezugsrahmen der alten Traditionen und in der Osteopathie deutende Erkenntnisdisziplinen wie die und Integration in die differenzier- Psychoanalyse und der Entwicklungs- teren, integrierteren, umfassenderen Wir suchen ständig nach dem ulti- strukturalismus sind gerade erst einmal d.h. weiter entwickelten Bezugsrah- mativen Trick, einer einfachen Vor- 100 Jahre alt, wohingegen die Praxis der men der Postmoderne. Dies würde gehensweise, einer „magischen“ Tech- Innenschau schon seit Jahrtausenden auch die kostbaren Schätze dieser nik, die all unsere Probleme löst. Aber tradiert wird, weshalb man in den Tra- Tradition viel deutlicher in den Vor- Heilung und Wachstum funktionieren ditionen von Ersterem nur wenig findet dergrund bringen und tatsächlich eine nicht auf diese Art und Weise. [49]. Indem unreflektiert diesen alten gesunde, adäquate Integration für den Die Einfachheit liegt jedoch in unse- Modellen gefolgt wird, werden moder- Praktizierenden ermöglichen. rer Grundhaltung: Wir lösen uns von nen Praktizierenden der Innenschau In der Osteopathie gestaltet sich dies Erwartungen und Vorstellungen, wie unreflektiert die archaischen, magischen, ähnlich, wenn auch weniger extrem, in sich das innere Wachstum und die Ge- mythischen Inhalte der Traditionen als Fällen in denen die Osteopathie aus- sundheit in uns präsentieren sollten, „zeitlos gültige“ Wahrheiten übermittelt, schließlich als eine Art Offenbarungs- beginnen stattdessen jede Yogastunde was einer der Gründe dafür ist, warum lehre verstanden wird und kultur-, in einem Zustand des Nichtwissens und die kontemplativen Traditionen allge- sozial- und wissenschaftshistorische lassen offen, wo im Organismus welche mein, einschließlich ihres ungemein Bedingtheiten im Entstehungsprozess Änderung geschieht. Ebenso in der Os- wertvollen phänomenologischen Erbes, der Osteopathie nicht berücksichtigt teopathie: Der Osteopath ist kein Wun- von den modernen Wissenschaften werden [50]. So verschließt man sich derheiler. Er kann begleiten und Unter- auf den Müllhaufen der Erkenntnisge- nicht nur evolutionären Potenzialen, stützung anbieten, je nachdem, inwie- schichte geworfen werden [49]. sondern mindert auch mögliche tiefe- weit der Patient in der Lage ist, die the- Das Problem dabei ist, dass der heutige re Heilimpulse in der Behandlung. Der rapeutischen Impulse zu integrieren.C Yogapraktiker diese Infizierung des Be- reflektierende Umgang mit der eige- Ebenso wie eine Asanapraxis durch wusstseins durch die frühen intersub- nen „kulturellen Geschichte“ mit ihren Stabilität (Sthira) und Leichtigkeit C Allerdings scheinen fast alle Medizinsysteme, so auch die Osteopathie, dadurch gekennzeichnet zu sein, dass nicht selten kurzfristige Be- schwerdefreiheit (z.B. durch osteopathische Manipulation) auf Kosten von Erkenntnisgewinn der Zusammenhänge zwischen Krankheits- symptomen und eigenem Lebenszusammenhang erlangt wird. Es ist die Freiheit des Patienten zu entscheiden. Hier kann der Osteopathie nicht grundsätzlich ein Vorwurf gemacht werden, solange sie dem Patienten die Entscheidungsmöglichkeit aufzeigt. Werden allerdings mög- liche emotionale Wunden in einer somatischen Dysfunktion weder erkannt noch im Lösungsprozess der Dysfunktion berücksichtigt, führt die Behandlung nur zur translativen Kompensation. Dies kann nötig werden, z.B. um einen Zusammenbruch im Physischen zu verhindern, kann aber gleichzeitig auch transformative Prozesse verhindern, zumindest bis zur nächsten Phase der Instabilität oder Symptomentstehung. Auf der anderen Seite besteht auch die Möglichkeit, dass der Patient die in der beschwerdefreien Zeit gewonnene Energie nutzt, um transfor- mative Prozesse zu unterstützen [48]. 25 10. Jahrg., Heft 1/2009, S. 21–27, Elsevier GmbH – Urban & Fischer, www.elsevier.de/ostmed
Osteopathische Medizin ANDERE THERAPIEN (Sukha) gekennzeichnet ist [34,35], des Patienten berühren lässt. Zu berüh- sind dies auch Qualitäten, die ein Os- ren heißt für einen Osteopathen, zuzu- teopath bei der Behandlung im Pati- hören, einfach da zu sein, mit sanfter enten fördert. Aufmerksamkeit auf den Moment zu Im Yoga ebenso wie in der Osteopa- warten, bis das Gewebe zu ihm spricht, thie die Aufmerksamkeit ausschließ- und seine ihm eigene Geschichte ver- lich auf das Lösen von Blockaden oder stehen zu lernen. Essenziell ist dabei Stärken von Schwächen zu richten, die Fähigkeit des Therapeuten, einen birgt die Gefahr, dass wir nur immer Zustand der Stille einzunehmen bzw. mehr Negatives finden und uns damit für die Stille empfänglich zu sein. Je hö- beschäftigen. her der Entwicklungsgrad des Bewusst- Deshalb findet im Yoga wie auch in seins im Therapeuten ist, desto mehr der Osteopathie eine Ausrichtung auf bzw. tiefer wird er in der Lage sein, sich eine Vision oder ein Ziel statt, das für mit der Stille zu synchronisieren. Abb. 2: Schritte von dharana (Konzen- uns Sinn macht und Motivation gibt, Im zweiten Sutra in Patanjalis Sutren- tration) über dhyana (Meditation) zu vielleicht auch auf etwas Größeres als sammlung heißt es: Yogascittavrtthi- samadhi. 1. Dharana: Ausrichtung des uns selbst. Diese Ausrichtung kann nirodhah [39–42]. Hier definiert Pa- Geistes auf ein Objekt, den Atem, einen Körperbereich, einen Ton, den Begriff z.B. im Yoga auf das Fließen in und tanjali sein Verständnis von Yoga: die Mitgefühl etc.; 2. dhyana: Unser Geist um uns herum, auf das Gewahrsein je- Erlangung der Fähigkeit, sich völlig verbindet sich mit diesem Objekt im den Augenblicks, auf die Vereinigung zu fokussieren und in dieser Ausrich- Sinne einer kontinuierlichen Verbindung; des kleinen Ich mit der Unendlich- tung ohne Ablenkung zu verweilen, 3. samadhi: unser Geist verschmilzt mit dem Objekt, wird eins. [57] keit oder auf eine unkonditionierte sodass der Geist von einem Zustand Form des Mitgefühls und der Freude der Unruhe und Getriebenheit in gerichtet sein. Der Osteopath stellt einen Zustand der Ruhe, Stille und kontrollieren und manipulieren zu in der Behandlung eine Resonanz zu Klarheit gelangen kann. Diese Defi- wollen), sich hingeben zu können, der den homöostatischen Kräften bzw. nition vermittelt einen Eindruck über Zugang zur eigenen Verletzlichkeit zur Gesundheit oder zum Fließen im die Tiefe der sich eröffneten Stille ei- und Selbstbewusstheit wirkten sich Patienten her. Auch gibt es Behand- nes auf diese Weise dekonditionier- unmittelbar auf die therapeutische In- lungsansätze, in denen die Aufmerk- ten Geistes. teraktion und auf ein wertungsfreies samkeit des Osteopathen während der Das Ausmaß des Vermögens, Stil- Palpieren aus. Behandlung z.B. in die Weite schweift le erfahren zu können, steht in un- Die konditionierten Sichtweisen oder in der Unendlichkeit ruht. mittelbarer Relation zur bewussten und Einstellungen des Therapeuten Differenzierung, Relativierung und können nicht von heute auf morgen Integration der eigenen sensorischen, willkürlich geändert werden, bedin- Stille im Konzept der mentalen, psychoemotionalen Kondi- gen aber entscheidend das Ausmaß Osteopathie und des Yoga tionierungen bzw. einschränkenden und die Qualität der Stille, zu der der Wahrnehmungsmuster. Somit ist es Therapeut in Kontakt treten kann. Stille ist in der Osteopathie [36–38] wie Ausdruck der eigenen Bewusstseins- Um diese Art von innerer Dekonditi- im Yoga ein wichtiger Aspekt [39]. Im entwicklung. Die eigene Reifung, onierung zu erlangen, existiert in der Zustand der Stille kann sich eine Pal- unser eigenes inneres Gleichgewicht, Osteopathie allerdings keine metho- pation ohne vorgefasste Meinung ent- die Zentriertheit in der Gegenwart, in dologische Didaktik. wickeln, indem sich der Osteopath wie der Stille und im „Sein“, die Fähigkeit Hier könnten u.a. Ansätze aus dem ein „leeres Gefäß“ von den Eindrücken sich dem Leben zu öffnen (anstatt es Yoga hilfreich sein, um die Kompetenz des Osteopathen zu entwickeln. Alle yogischen Systeme sind genau darauf ausgerichtet, den Wahrnehmenden von verschleiernden konditionierten Sicht- weisen zu lösen: in der Erkenntniser- langung im Jnanayoga, in der Fähigkeit der Geisteskontrolle des Rajayoga, in der Hingabe des Bhaktiyoga, wie auch im selbstlosen Dienen und Handeln des Karmayoga [56]. Eine mögliche systematische Methodologie wird z.B. in den Yogasutren von Patanjali darge- stellt (siehe Abb. 2). Abb. 3: Ashtavakrasana – dem Weisen Ashtavakra gewidmet; stärkt Arme, Hände und Bauchmuskulatur. Foto: © Kirsten Petersen, Hamburg Das alles geht allerdings weit über die tägliche Berufspraxis des Osteopa- 26 10. Jahrg., Heft 1/2009, S. 21–27, Elsevier GmbH – Urban & Fischer, www.elsevier.de/ostmed
Osteopathische Medizin ANDERE THERAPIEN then hinaus: Die Voraussetzung für Bewusstsein - nicht nur im Wachzu- medizinisches Behandlungssystem eine echte Synchronisation mit tie- stand, sondern ebenso im Schlaf und und das Yoga als ein primäres Selbst- feren Seinsebenen im Anderen setzt Tiefschlaf - und erwartungslose Of- erfahrungssystem treffen und ge- ein eigenes authentisches Gewahrsein fenheit der Stille gegenüber. genseitig befruchten könnten. Beide, dieser Ebenen voraus, wobei jeder Osteopathie wie auch Yoga – aus zum Lebensaspekt mit eingeschlossen ist Teil unterschiedlichen Gründen – be- (unsere Beziehung und Sichtweisen Abschließende Gedanken nötigen jedoch, wie oben ansatzweise zu Körper, Lebenspartner, Kindern, dargestellt, notwendige neue Bezugs- Freunden, „Feinden“, Sex, Essen, Ur- Auch in der Osteopathie ist das Ziel rahmen und Ergänzungen, um in der laub, Geld, Macht etc.). Sicherlich ist nicht primär die Erlangung eines sym- Gegenwart, in der Postmoderne anzu- dies nicht immer bequem und unter ptomfreien Zustandes, sondern das kommen und ihr jeweiliges Potenzial Umständen auch Angst besetzt, da aus Gesund- oder Heilwerden in Form weiter zu entwickeln. fb dieser Sichtweise eine Trennung zwi- einer größeren Ordnung oder einer schen Beruf und Privat nicht besteht. höheren Komplexität (auch wenn dies Nicht zuletzt verbergen sich gerade in Lehre und Praxis bisher nicht im- Korrespondenzadresse: im Privaten viele unserer Schatten. mer umgesetzt wird). Die englischen Torsten Liem D.O. Auf der anderen Seite - haben wir erst Begriffe health (Gesundheit), healing Osteopath (G.Os.C. GB) einmal begonnen uns hier zu öffnen (Heilung) und wholeness (Ganzheit) Osteopathie Schule Deutschland - wird uns eine weitaus größere Tiefe haben ihre sprachliche Wurzel in dem (OSD) und Kohärenz als Ressource auch für Begriff „haelan“, auf den auch das Frahmredder 16 die therapeutische Interaktion zu- deutsche Wort Heilung zurückzufüh- 20393 Hamburg tliem@osteopathie-schule.de gänglich und potenziert unser manu- ren ist. Diese Bedeutungszusammen- elles Handwerkszeug. So eröffnet sich hänge zeigen Berührungspunkte auf, schrittweise ein reiferes (Zeugen-) in dem sich die Osteopathie als ein Literatur 1 Liem T. (2006) Morphodynamik in der Osteopathie. Stuttgart: Hippokrates, S. 87–115 30 Goleman D. (1997) Emotionale Intelligenz. München: DTV 2 Liem T. (2006) Morphodynamik in der Osteopathie. Stuttgart: Hippokrates, S. 135–140 31 Maslow AH. (2002) Motivation und Persönlichkeit. Reinbek: Rowohlt 3 Nathanielsz PW. (1999) Life in the womb: The origin of health and disease. 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