Paula Modersohn-Becker und Otto Modersohn - die Amrumreise 1903

 
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Paula Modersohn-Becker und Otto Modersohn - die Amrumreise 1903
Paula Modersohn-Becker und
Otto Modersohn -
die Amrumreise 1903

Vom 9. Juli bis zum 5. August 1903 machten
Paula Modersohn-Becker und Otto Modersohn,
zusammen mit Tochter Elsbeth, eine der wenigen
gemeinsamen Urlaubsreisen. Wie bei Künstlern
nicht unüblich, hatten sie ihre Mal- und Zeichen-
utensilien dabei. Aus der Urlaubs- wurde eine
Studienreise.

Otto Modersohn notierte in seinem Reisetagebuch:
1903 – 9.7. – 5.8. fuhren wir mit Elsbeth über
Husum nach Amrum. Wir wohnten in Steenodde
im „Lustigen Seehund“, dann bei Ricklefs (…) Wir
malten und zeichneten in den Friesendörfern
(Nebel etc.). Das Meer, mit seinen Seevögeln, die
Bevölkerung, melancholisch, eigenartig in ihrer
Tracht. Oft stürmisches Wetter, Paulas kühnes
Baden an solchem Tage.

Der lustige Seehund in Steenodde auf Amrum

Es ist die erste gemeinsame Ausstellung dieser,
mit wenigen Ausnahmen kaum bekannten Reise-
ergebnisse, die die zunehmende Verschiedenheit
der künstlerischen Auffassungen des
Künstlerpaares offenbaren.

Wie auch an anderen Orten, erschließt sich Otto
Modersohn die Eigenarten der Insel zunächst mit
dem Zeichenstift. Viele Skizzen der Insel-
architektur, die in einigen Beispielen auch noch so
anzutreffen ist, sind heute für die Inselchronisten
von kulturhistorischem Wert.
Häufig zeichnete er am Kirchhof mit der
beeindruckenden St.-Clemens-Kirche in Nebel. Er
verwendete braun und blau getöntes Packpapier.
In Süddorf skizzierte er einige reetgedeckte Höfe.
Otto Modersohn achtet in diesen Zeichnungen
nicht so sehr auf die detailgenaue Wiedergabe der
Inselarchitektur;
Paula Modersohn-Becker und Otto Modersohn - die Amrumreise 1903
Otto Modersohn (1865-1943),
Dorfstraße in Nebel, 1903, Kreidezeichnung, Otto Modersohn
Museum

vielmehr interessieren ihn die Korrespondenzen
der Architekturformen, ihre Verhältnisse zuein-
ander. Einige Motive sind durchaus bildmäßig
erfasst. Neben den Namen der Hauseigentümer
(Urban Lars Urbans, Fritz Breckwoldt, Lorenz
Andresen, Eduard Fink, Konrad Matsen, Christine
Ludwigs) notierte er auch Farbangaben der
Häuser, des Himmels und der Landschaft. Einige
Ölstudien malte er in Steenodde vor der Natur und
ein, 1905 aus der Erinnerung gemaltes, größeres
Bild bezeugt den nachhaltigen Eindruck, den
dieser Urlaub bei ihm hinterlassen hat.

Am 25. September 1903 schrieb Otto Modersohn
in sein Tagebuch:
Dieser Sommer und besonders seit Amrum hat mir
die wichtigste Erkenntnis gebracht, seit ich male
(…) Mein ganzer Standpunkt ist ein anderer
geworden. Mit der Natur verbindet sich die
Persönlichkeit, rechtes Naturgefühl ist auch stets
ein persönliches. Das sind die wichtigsten Seiten
guter, großer Malerei. Sie entspringen alle aus
dem rechten Verhältnis zur Natur.

Paula Modersohn-Becker in Friesentracht auf Amrum
Paula Modersohn-Becker und Otto Modersohn - die Amrumreise 1903
Paulas Sendschreiben an die Familie Becker

Von Paula Modersohn-Becker sind einige Skizzen
der Ziehtochter Elsbeth und Otto Modersohns
erhalten. Drei kleine, beiläufige Landschafts-
skizzen, zwei Darstellungen von Kindern und das
Bild einer Friesin vor Windmühlenflügeln vom
Groninger Museum sind die wenigen malerischen
Zeugnisse ihres Amrumaufenthalts. Besonders das
Bild der Friesin vor der Windmühle am Hause
Schmidt in Steenodde zeigt in Komposition und
Farbe Paula Modersohn-Beckers künstlerische
Maxime der Formvereinfachung, sich in Nahsicht
drängende Bildelemente und die Beschränkung
auf erdige, naturnahe Töne, die die tiefe
Verbundenheit der Menschen mit ihrer Landschaft
zum Klingen bringen.

Fünf Postkarten und ein Sendbrief an ihre Familie
geben ein Stimmungsbild dieses Künstlerurlaubs:
Hintergrund des Dramas: Wattenmeer – völlig
leer. – Mit Schlamm und Gestank. Am Horizont
die drei Kirchtürme auf Föhr. Sonnenbrand. – Im
Mittelgrund die flußartige Schiffahrtsstraße, daran
zwei Schiffer mit Netzen beschäftigt. – Kies –
Schlamm – Sonnenbrand. Aus dem unendlichen
Raum – aus Höhen und Tiefen – dringen Vogel-
stimmen hervor: Tiüi-tiüi-tiüi – Wau-wau-wau –
Kähtsch-lal-ka-kak – Pip-pipih-pipih-pipih –
tuelü-lüh-lüh. Im Vordergrund die Familie:
Tochter barfuß, versuchend die nackte Badepuppe
zu zerhaun. Vater im Strandkorb des letzten
Paula Modersohn-Becker und Otto Modersohn - die Amrumreise 1903
Friesenhäuptlings, Mutter den einzigen Schatten
der Küste, Vaters Schatten aufsuchend –
Sonnenbrand.

Paula Modersohn-Becker (1876-1907)
Otto Modersohn im Strandkorb, Kreidezeichnung, Kunsthalle
Bremen

Zunächst wohnte die kleine Familie im „Lustigen
Seehund“ in Steenodde. Der bis in die Nacht
andauernde Lärm in der Gastwirtschaft führte
jedoch schon bald zu einem Quartierswechsel:
Der Seehund wird heute verlassen wegen des
großen Radaus und drei Häuser weiter im alten
Friesengehöfte des biederen Lootsen Herrn
Ricklefs betten wir unsere Glieder bis die Stunde
des Abschieds und des Wiedersehns schlägt. Die
Holde – ach die Holde! Denn Meer und Insel –
nichts kann mir die Heimath ersetzen.

Wie mehrere Postkarten belegen, hatten die
Modersohns als Spaziergänger und als Badegäste
mit Wind und Wetter zu kämpfen:

Paula Modersohn-Becker in friesischer Tracht am Wasser
Das Baden ist anders als man es sich dachte. Bei
uns badet bisher nur Mutter und Tochter. Vater
sieht zu. Soeben ist ihm eine Badehose bei Frau
Schamvogel im „Strandbazar“ besorgt worden.
Und nun hilft das nicht. Er muß hinein. Bis dato
war es meist leider hundekalt und regnerisch.
Andere Menschen sieht man wohl mit weißen
Kopfbedeckungen jeglicher geschmackloser Art
die Insel verunzieren. Baden sieht man sie nicht.
Nur eine Familie aus Itzehoe mit sechs Jungens
macht eine rühmliche Ausnahme. Die machen
einem das Herz im Leibe lachen. Mit dieser
Familie wohnen wir jetzt zusammen bei dem
famosen Lootsen Ricklefs, mit dem man die
feinsten Segelpartien machen kann. Man muß sich
diese Leute merken, billig und gut. Bekommen thut
es uns scheinbar gut nach allen Stürmen. Mutter
gewinnt übernatürliche Kräfte. Genieren brauche
ich mich nicht für sie beim Baden, wie einst
Vogeler in Helgoland, als seine Frau ihm zu dünn
aus der Badekabine kam. Wir alle sehen mehr
oder weniger wie nordamerikanische Rothäute
aus. Die Sonne steigt. Vaters Schatten wird immer
kürzer. Das Watt hat sich gefüllt. Kein Schlamm
mehr – kein Gestank – Man stürzt sich in die
Fluten. Sonnenbrand! Aus dem Wasser tausend
Grüße an Euch alle … Gegeben zu Steenodde auf
Amrum im Hause des biederen Lootsen Ricklefs
am 29. Julius 1903.
In ihrem Sendschreiben an die Familie
charakterisiert Paula Modersohn-Becker die
Eigentümlichkeiten der Insel:
Es ist doch hier alles wie am Rande des
Paradieses – kein Vogel singt – keiner – auch
nicht, die es von Natur wegen müssten – alles
passt sich dem stillen Eilande an. Die Lerchen
flattern nur piepend auf, die Stare umsitzen in
gedrückter Stimmung die mageren Inselkühe und
erwarten den sie allein froh machenden Nahrung
spendenden Augenblick. Aber ihr müsst mich auch
recht verstehen. Reis, viel Reiz ist hier für uns zu
finden. Die Friesendörfer mit ihrer
charaktervollen Architektur und Coloristik regen
uns sehr an. Und die Menschen! Die zarten,
anmutigen Holbeinfrauen mit ihrem friesischen,
ernsten Kopfputz, ihrem blauen Streif am
schwarzen Rock, ihrem Silberschmuck am
Sonntag. Die sind prächtig anzusehen. Und die
Männer! Mit ihrem schweren, ernsten
Seemannswesen nicht minder. Ein köstliches sind
die Blumen, die mit ihren rosa und lila Kissen in
allen Schattierungen die kurzgrasigen Wiesen
bedecken.
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