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polis aktuell 7/2021 ich bin nicht behindert, ich werde behindert Die Rechte von Menschen mit Behinderungen Soziales und menschenrechtliches Modell von Behinderung Inklusion Unterrichtsimpulse Materialien und Links
Liebe Leser_innen! In der Europäischen Union leben ca. 80 Millionen Men- Weiters finden Sie zahlreiche Hinweise für die Umset- schen mit Behinderungen bzw. mit einem lang andau- zung des Themas im Unterricht sowie weiterführende ernden Gesundheitsproblem. Das entspricht etwa 15 Materialien- und Linktipps. Prozent der EU-Gesamtbevölkerung. Für Österreich ist Vielleicht ist es Ihnen schon aufgefallen? In diesem der Prozentsatz ähnlich. Diese Menschen erfahren nach Heft haben wir uns entschlossen, mit dem Unterstrich wie vor viele Hürden, wenn es darum geht, gleichbe- oder „gender gap“ zu gendern, um die geschlechtliche rechtigt an der Gesellschaft teilzunehmen. Und immer Diversität jenseits der binären Unterscheidung von Män- noch werden sie stigmatisiert und auf ihre Behinderung nern und Frauen typografisch sichtbar zu machen. D amit reduziert. Die vorliegende Ausgabe von polis aktuell will richten wir uns nach den Empfehlungen des Vereins einen Anstoß zur Beschäftigung mit den Themen Behin- BIZEPS – Zentrum für Selbstbestimmtes Leben sowie von derung und Inklusion in der Schule liefern. Franz-Joseph Huainigg, Beauftragter für Barrierefreiheit Es stellt zunächst einige rechtliche Rahmenbedin- des ORF, da andere Gender-Kurzformen für elektronische gungen vor und geht auf das soziale und menschen- Vorleseprogramme an Computer und Handy – für blinde rechtliche Modell von Behinderung ein. Weiters stellen Menschen ein unverzichtbares Hilfsmittel – schlechter wir Ihnen den Klassiker der inklusiven Organisations- erkennbar sind. und Schulentwicklung – den Index für Inklusion – an- hand eines einzigartigen Praxisprojekts vor: In Wiener Wir wünschen Ihnen gutes Gelingen bei der Umsetzung Neudorf wird einer der umfassendsten Index-Prozesse des Themas im Unterricht und freuen uns über Ihr umgesetzt, der auf die Beharrlichkeit engagierter Bür- Feedback. ger_innen zurückzuführen ist. Wir haben das Vorzeige- projekt in der ersten Auflage dieses Hefts (polis aktuell Ihr Team von Zentrum polis 2/2012) erstmals präsentiert, nun erfahren Sie, wie es > service@politik-lernen.at mit dem Projekt weitergegangen ist. Titelbild: Patricia Carl lebt in Berlin und arbeitet im deutschen Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung. Seit 2013 ist sie Vorsitzende des deutschen Bundesverbands Kleinwüchsige Menschen und ihre Familien e.V. (BKMF). Bild: Andi Weiland, Gesellschaftsbilder.de Public Health Geschlechtsspezifische Transkulturelles und polis aktuell 3/2021 Gewalt gegen Kinder Interkulturelles Lernen und Jugendliche mit polis aktuell 2/2016 • Public Health: Geschichte Behinderung und Definitionen polis aktuell 9/2014 • Kultur(en): Begriffe und Konzepte • Soziale Ungleichheit • Definitionen und und Gesundheit rechtlicher Rahmen • Interkulturelles und Transkulturelles Lernen • Public Health • Ausmaß und Formen von und COVID-19 geschlechtsspezifischer • Ausgewählte Themenfelder Gewalt gegen junge Men- (u.a. Identität/en, Diver- • Child Public Health: schen mit Behinderungen sität, Mehrsprachigkeit) Begriffsbestimmung und spezifische Aspekte • Prävention • Kontextwissen für Lehrkräfte • Didaktische Vorschläge • Fokus Schule: Mobbing und Unterrichtsprojekte und inklusive Bildung • Unterrichtsideen, Materialien und Linktipps • Links und Materialien • Lehrkräfte befragt > politik-lernen.at/ • Materialien und Links > politik-lernen.at/ pa_transkulturelleslernen pa_publichealth > politik-lernen.at/ pa_geschlechtsspezifische gewalt_behinderung 2 polis aktuell 7/2021
1 Die Rechte von Menschen mit BehinderungEN Menschen mit Behinderungen erfahren die gleichen Men- schenrechtsverletzungen und Diskriminierungen wie an- dere Menschen, die einer gesellschaftlichen Randgruppe angehören; darüber hinaus sind sie jedoch aufgrund ihrer unterschiedlichen Beeinträchtigungen vielen Bar- rieren und Ausgrenzungsmechanismen ausgesetzt, die ihnen den Zugang zu ihren Rechten erschweren oder verunmöglichen. Viele Menschen mit Behinderungen er- leben strukturelle Diskriminierung, indem sie z.B. über keinen oder nur geringen Bildungsabschluss verfügen und kaum am Arbeitsmarkt integriert sind. Viele gehen einer Beschäftigung in einer Tageswerkstätte nach und Ein Schüler im Rollstuhl an der inklusiven Sophie-Scholl Schule in Ber- lin. Bild: Andi Weiland, Gesellschaftsbilder.de beziehen dafür nur Taschengeld. Großteils resultieren diese Diskriminierungen auch aus den Bildern, die wir in unseren Köpfen zu Behinderung abgespeichert haben. Häufig werden Menschen mit Behinderungen in der Ge- > methodentipp sellschaft noch immer als hilfsbedürftig, abnormal und Die Schüler_innen machen eine Analyse ihrer geschlechtslos wahrgenommen. Das beste Gesetz zur In- Schule: Wie inklusiv sind wir? Welche Barrieren klusion von Menschen mit Behinderungen nützt nichts, gibt es? Besuchen Schüler_innen mit Behinde- wenn es nur auf dem Papier besteht und es das Leben rungen unsere Schule? Gibt es Lehrkräfte mit von Menschen mit Behinderungen nicht selbstbestimm- Behinderungen? Etc. ter und unabhängiger macht. Neben guten gesetzlichen Regelungen braucht es daher auch Sensibilisierungs- maßnahmen und ein Bekenntnis zu einer Gesellschaft der Vielfalt, sowohl auf staatlich-gesellschaftlicher als > tipp auch auf individueller Ebene. Der komplette Text der Behindertenrechts konvention und eine Fassung in leicht 1.1. Die UN-Behindertenrechts verständlicher Sprache: konvention broschuerenservice.sozialministerium.at/Home/ Die UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Download?publicationId=19 Behinderungen (UN-BRK) wurde 2006 in New York ver- monitoringausschuss.at/download/grundlagen/ abschiedet. Sie ist ein internationaler Vertrag, um die un-konvention/un-konvention_ll.pdf Rechte von Menschen mit Behinderungen in allen ge- sellschaftlichen Bereichen zu gewährleisten. Österreich hat sie 2008 ratifiziert und sich damit verpflichtet, die Ebenen und lebenslanges Lernen für Kinder, Jugendliche darin festgelegten Standards durch österreichische Ge- und Erwachsene mit Behinderungen zu gewährleisten. setze umzusetzen. Im Schattenbericht des Monitoringausschusses von No- Auch das Zusatzprotokoll zur Konvention wurde von vember 2020, das als unabhängiges Kontrollmittel dient, Österreich ratifiziert: Darin akzeptiert Österreich, dass wird aber darauf hingewiesen, dass inklusive Schulen der UN-Ausschuss – verantwortlich für die Überprüfung nach wie vor die Ausnahme sind und Sonderschulen wei- der Einhaltung der UN-BRK in den Vertragsstaaten – ter ausgebaut werden. Barrierefreiheit ist nicht in allen individuelle Beschwerden über eine Verletzung dieser Schulen gewährleistet, betroffene Kinder und Jugend- Rechte in Österreich entgegennimmt und verfolgt. liche werden kaum in die Umsetzung von inklusiven Die Konvention schließt alle Lebensbereiche ein, dar- Strukturen eingebunden.1 unter auch das Bildungswesen. Artikel 24 der UN-BRK umfasst das Recht auf Bildung ohne Diskriminierung 1 Schattenbericht Monitoringausschuss (Überwachungsorgan der UN-BRK auf der Grundlage der Chancengleichheit. Österreich in Österreich), November 2020: monitoringausschuss.at/download/berich- ist verpflichtet, ein inklusives Bildungssystem auf allen te/Schattenbericht-zur-List-of-Issues_final.pdf polis aktuell 7/2021 3
> hörtipp > Weiterlesen Hörtipp: Zwei Wege, ein Ziel? Dokumente des Ausschusses Schulische Inklusion im Lockdown, kann das Alle Stellungnahmen (z.B über Familie und Part- funktionieren? Ein Hörspiel von Deutschlandfunk nerschaft 2019), Begutachtungen (z.B. über das Kultur. Covid-19-Maßnahmengesetz 2021) und Berichte deutschlandfunkkultur.de/schulische-inklusion- des Monitoringausschusses zum herunterladen. zwei-wege-ein-ziel.3720.de.html?dram:article_ monitoringausschuss.at/dokumente id=485056 > methodentipp Behindertenanwalt In einer Novelle zum Bundesbehindertengesetz wurde ein Anwalt für Gleichbehandlungsfragen für Menschen Lassen Sie die Schüler_innen die verschiedenen mit Behinderungen geschaffen. Der Bundesbehinderten- Textversionen der Behindertenrechtskonvention anwalt ist zuständig für die Beratung und Unterstüt- vergleichen. Was ist der Nutzen einer Leichter- zung von Personen, die sich im Sinne des Behinder- Lesen-Fassung der Konvention? tengleichstellungsgesetzes (bizeps.or.at/wissenswertes/ bundes-behindertengleichstellungsgesetz) oder des Dis- kriminierungsverbots des Behinderteneinstellungsge- Umsetzung der Konvention in Österreich setzes (bizeps.or.at/wissenswertes/behinderteneinstel- In Österreich ist das Bundesministerium für Soziales, lungsgesetz) diskriminiert fühlen. Gesundheit, Pflege und Konsumentenschutz für die behindertenanwalt.gv.at Umsetzung der Konvention im Bereich des Bundes zu- ständig. Jedes Land, das der Konvention beigetreten ist, muss regelmäßig Berichte über die Lage der Menschen > Weiterlesen mit Behinderungen an die UNO übergeben. Österreich Berichte der UNO hat seinen Staatenbericht zum UN-Übereinkommen über Auf Ebene der Vereinten Nationen ist ein_e die Rechte von Menschen mit Behinderungen 2010 das Sonderbeauftragte_r für die Einhaltung und erste Mal an die Vereinten Nationen übermittelt. Mitt- Förderung der Rechte von Menschen mit lerweile wurde Ende 2019 ein kombinierter zweiter und Behinderungen zuständig. Zu aktuellen dritter Staatenbericht an den UN-Behindertenrechts- Entwicklungen und Themen geben ausschuss übergeben. Die Berichte sind auf der BMSGPK regelmäßige Berichte Auskunft. zum Download bereitgestellt. ohchr.org/en/issues/disability/srdisabilities/ sozialministerium.at/Themen/Soziales/Menschen-mit- pages/reports.aspx Behinderungen/UN-Behindertenrechtskonvention.html Unabhängiger Monitoringausschuss zur 1.2. Europäische Strategie zugunsten Umsetzung der UN-Konvention über die von Menschen mit Behinderungen Rechte von Menschen mit Behinderungen 2021-2030 Dieser Ausschuss überwacht die Einhaltung der Menschen- Die UN-Behindertenrechtskonvention wurde von der EU rechte von Menschen mit Behinderungen für den Bereich 2010 ratifiziert und ist Anfang 2011 in Kraft getreten. der Bundesverwaltung. Die Mitglieder des Ausschusses Die EU ist somit verpflichtet, dafür zu sorgen, dass alle sind Vertreter_innen von Behindertenorganisationen Rechtsvorschriften, politische Maßnahmen und Pro- sowie Expert_innen aus den Bereichen Menschenrechte, gramme auf EU-Ebene mit den Bestimmungen der Kon- Entwicklungszusammenarbeit und Wissenschaft. Der Mo- vention in Einklang stehen. nitoringausschuss kann Stellungnahmen von Organen der 2010 veröffentlichte die EU-Kommission die „Euro- Verwaltung einholen, begutachtet Gesetze, schreibt Emp- päische Strategie zugunsten von Menschen mit Behin- fehlungen und Stellungnahmen betreffend der Rechte von derungen 2010-2020“. Trotz Fortschritten beim Zugang Menschen mit Behinderungen und berichtet dem Bundes- zu Gesundheitsversorgung, Beschäftigung, Teilhabe etc. behindertenbeirat regelmäßig über seine Beratungen. gibt es nach wie vor viele Hindernisse für Menschen mit monitoringausschuss.at Behinderungen. Die Strategie 2021-2030 baut darauf 4 polis aktuell 7/2021
David Völzmann hat eine Ausbildung zum Tischler in der Nähe von Cuxhaven absolviert und sitzt im Rollstuhl. Infos und Videos zu Davids Werdegang gibt es bei „Die Andersmacher“. die-andersmacher.org Bild: Andi Weiland, Gesellschaftsbilder.de auf und hat zum Ziel, dass Menschen mit Behinderun- 1.3. Das soziale und Menschenrecht- gen ihre Rechte wahrnehmen und uneingeschränkt am liche Modell von Behinderung gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Leben teilhaben Das soziale Modell der 1990er-Jahre verstand sich als können. Sie steht im Einklang mit den SDGs der Agenda Reaktion auf die vorherrschende medizinische Sicht auf 2030 der Vereinten Nationen für nachhaltige Entwick- Behinderung. Hier wird der Blick weniger auf die Behin- lung. In der Strategie werden Leitinitiativen u.a. für derung selbst, denn auf die Gesellschaft gerichtet. In folgende Bereiche dargelegt: den letzten Jahren wurde dieses „soziale Modell“ weiter • Barrierefreiheit (Einrichten eines Ressourcen- in Richtung des menschenrechtlichen Modells entwi- zentrums „Accessible EU“) ckelt. Es rückt nicht nur die soziale Umwelt, sondern vor • Wahrnehmung von EU-Rechten (Teilhabe an allem den Menschen, unabhängig davon, ob eine Beein- demokratischen Prozessen, EU-Behindertenausweis) trächtigung vorliegt, in den Mittelpunkt. Die Anerken- • gleichberechtigter Zugang und Nichtdiskriminierung nung von Behinderungen als Teil der Identität, neben (Sozialschutz, Gesundheitsversorgung, Bildung) geschlechtlichen, sexuellen, ethnischen, sprachlichen • Förderung der Rechte von Menschen mit oder nationalen Dimensionen, sowie die Achtung der Behinderungen weltweit Menschenwürde, sind hierbei von zentraler Bedeutung. Das menschenrechtliche Modell von Behinderung wird Auf der Website der EU-Kommission gibt es eine inzwischen von vielen Organisationen vertreten und Übersicht über wichtige Initiativen, Unterstützungs- findet seinen Ausdruck im Leitsatz der Selbstbestimmt angebote etc. für Menschen mit Behinderungen. Leben Bewegung: „Nichts über uns ohne uns“. ec.europa.eu/social/main.jsp?catId=1137&langId=de Nationaler Aktionsplan für Menschen mit Behinderungen (NAP) Der NAP 2012 bis 2020 wurde evaluiert. So wurde > methodentipp z.B. im Bereich Bildung eine fehlende verpflich- tende inklusive Bildungsstruktur im elementarpä- dagogischen Bereich bemängelt. Positiv wurde die Teilen Sie den Schüler_innen Auszüge aus der Verankerung der inklusiven Pädagogik in der neuen EU-Strategie 2021-2030 aus. In Kleingruppen Lehrer_innenausbildung hervorgehoben. lesen sie das Dokument und überlegen, welche Auf Basis der Evaluierung wird der NAP umfassend Maßnahmen in Österreich bereits umgesetzt überarbeitet. Die neue Version wird von 2022 bis sind und wo Handlungsbedarf besteht. 2030 Gültigkeit haben. eur-lex.europa.eu/legal-content/DE/TXT/PDF/?u behindertenrat.at/recht-und-soziales/nationaler- ri=CELEX:52021DC0101&from=DE aktionsplan polis aktuell 7/2021 5
2 inklusion Bild: CC by WhiteHotaru Inklusion bedeutet, dass eine Gesellschaft jeden Men- Der Index lehnt Kategorisierungen ab – z.B. „Kinder schen in seiner Individualität akzeptiert und gleichbe- mit und ohne Förderbedarf“ oder „Kinder mit und ohne rechtigte Möglichkeiten der Teilhabe für alle vorhanden Migrationshintergrund“; er wirbt für eine „Schule für sind. Das Konzept definiert Normalität neu – Vielfalt alle“. Inklusion nimmt den Bildungsprozess in seiner Ge- und Unterschiede sind normal, niemand muss sich an samtheit in den Blick: Schüler_innen, Pädagog_innen, Normen orientieren, sondern die Gesellschaft schafft Mitarbeiter_innen, die Kultur der Bildungseinrichtung, Strukturen, die es jedem/jeder ermöglichen, sich einzu- Inhalte, das Gebäude etc. Ziel ist im Wesentlichen der bringen bzw. teilzuhaben. Inklusion betrifft nicht nur Abbau von Barrieren für das Lernen und die Teilhabe für Menschen mit Behinderungen, sondern auch ältere Men- alle Kinder und Jugendlichen. schen, bildungsferne Gruppen etc. Sie bezieht sich auf Der Index für Inklusion wurde weiterentwickelt und alle Lebensbereiche und will Ausschlussmechanismen seit 2011 existiert auch ein kommunaler Index für In- durch einen ganzheitlichen Zugang abbauen. klusion. 2.1. Der Index für Inklusion Der Index für Inklusion ist ein inklusives Organisations- entwicklungstool. Er wurde 2003 von Tony Booth und > Weiterlesen Mel Ainscow für Schulen und Kindergärten entwickelt. Achermann, Bruno et al. (Hrsg.): Index für Eine Art Checkliste mit etwa 700 Fragen hilft dabei, Inklusion. Ein Leitfaden für Schulentwicklung. Bildungseinrichtungen auf Aspekte wie Teilhabe und Mit Online-Materialien. Auch auf Kindergärten, Vielfalt bzw. Ausgrenzung und Diskriminierung zu über- Hochschulen und andere Bildungseinrichtungen prüfen. Die Fragen unterstützen bei der Planung und übertragbar. 2019. bit.ly/3tMgz63 Umsetzung inklusiver Werte. Der Index gibt Hinweise Montag Stiftung Jugend und Gesellschaft für eine systematische inklusive Schulentwicklung und (Hrsg.): Praxishandbuch Inklusion in der Anregungen zu Reflexion und Selbstevaluation. Der Kommune: montag-stiftungen.de/service/me- Grundgedanke besteht darin, die vorhandene Vielfalt in dien/inklusion-auf-dem-weg Schule oder Kindergarten wahrzunehmen, zuzulassen Aktion Mensch: Praxishandbuch Inklusion. und als Bereicherung zu erfahren. Diese Grundhaltung 2020. aktion-mensch.de/kommune-inklusiv/ wird auf die drei Ebenen „Kultur“, „Struktur“ und „Prak- broschueren tiken“ der Bildungseinrichtungen übertragen. 6 polis aktuell 7/2021
2.2. Abgestempelt – und nun? und zwar im Sinne des Entgegenwirkens einer überzo- Zum Zusammenhang von Heterogenität, genen und verkannten „Orientierung“ (Obermayr 2020, Diagnostik und Inklusion in der Schule 91), die einer authentischen Wertschätzung von Indivi- Gastbeitrag von Eva Kleinlein, Lisa-Katharina Möhlen und dualität und Heterogenität – sowohl in der Theorie als Tina Obermayr. Die Autorinnen forschen zum Schwerpunkt auch in der Praxis – radikal im Wege steht. inklusive Pädagogik am Zentrum für Lehrer_innenbildung der Universität Wien. Die Diagnose SPF und inklusive SchulE (Lisa-Katharina Möhlen) Subjektive Erfahrungswelt(en) und Im österreichischen Schulwesen drückt sich etikettierte inklusive Schule (Tina Obermayr) Heterogenität durch den Sonderpädagogischen Förderbe- Im Hinblick auf die allgegenwärtige Inklusionsdebatte darf (SPF) aus. Die gesetzliche Grundlage hierfür wurde „ist das Verhältnis von Gleichheit und Verschiedenheit“ 1985 mit der Verabschiedung des Schulpflichtgesetzes, (Dederich 2013, 30) wohl als jenes zentrale „Schlüssel- Absatz 8 geschaffen und 1993 in sieben Förderschwer- problem“ (ebd.) zu identifizieren, welches „aufs Engs- punkten novelliert: Lernen, Erhöhter Förderbedarf, te mit Strukturen und Prozessen gesellschaftlicher Sehen, Hören, Sprechen, Körperliche und motorische Benachteiligung und Diskriminierung, der schulischen Entwicklung, Verhalten und Unterricht in Gesundheits- und sozialen Inklusion, ethischen Fragen“ (ebd.) usw. einrichtungen (Biewer 2017, 44; BMBWF 2021). Die verknüpft ist. So fokussieren sich (inklusions-)pädago- Systematisierung von Behinderung durch einen zuge- gische Intentionen (vermeintlich) vor allem darauf, die schriebenen SPF entstammt einem sonderpädagogischen Vielfalt menschlicher Daseinsweisen anzuerkennen, sie bzw. integrativen Verständnis, in welchem heilende und ohne „Wenn und Aber“ wertzuschätzen (siehe z.B. Sin- adaptive Praktiken im Fokus pädagogischer Interventi- ger; Kienle 2016, 90) und dabei auf jegliche Homogeni- on stehen und Ressourcen an Etikettierungen gebunden sierungstendenzen zu verzichten. Behinderung erscheint sind (Hinz 2002, 359). Im Regelfall stellen die Erzie- sodann als eine von vielen möglichen Ausprägungs- und hungsberechtigten (oder die Schulleitung) bei der zu- Lebensformen menschlichen So-Seins; das, was be-hin- ständigen Bildungsdirektion einen Antrag auf Ersuchen dert, wird dabei zumeist ausschließlich im Außen veror- eines SPFs (BMBWF 2021). Dabei beurteilen und bewer- tet. Im Zuge dessen wird Behinderung also als „soziales ten Vertreter_innen der Bildungsadministration, Schul- Konstrukt“ oder „kulturelles Artefakt“ (Kuhlmann 2003, leitung, Pädagog_innen und Erziehungsberechtigte die 157) identifiziert. Im Sinne eines sozialen und kulturel- individuellen Fähigkeiten der Schüler_innen. Die zum len Wandels soll dafür gesorgt werden, bestehende Bar- (normativen) Vergleich herangezogene Basis für solcher- rieren abzubauen und idealerweise zu verhindern, dass lei Entscheidungsprozesse bilden schulische Leistungen, neue hinzukommen. Aus kritisch-reflexiver Perspektive die anhand von Noten, aber auch mithilfe von spezifi- stellt sich jedoch die Frage, ob diese Tendenz nicht einer schen Instrumenten wie z.B. Schuleingangsscreenings, „Art Romantisierung von menschlicher ‚Vielfalt‘“ (ebd.) Lesescreenings und Deutschkenntnistests gemessen und anheimfällt und außerdem als hoch reduktionistisch erhoben werden. „Erfüllen Schüler_innen diese an sie eingestuft werden kann. Bei genauerem Betrachten birgt herangetragenen Erwartungen nicht, wird die[s] […] sie nämlich Gefahr, „reale Unterschiede“ (ebd.) und da- mit einem Diagnoseprozess bzw. der Feststellung eines mit die Dimension subjektiver Erfahrungen völlig auszu- […] SPF sanktioniert“ (Biewer et al. 2019). Entschei- blenden (ebd.; siehe auch Boger; Brinkmann 2021). Der dungskriterien und -prozesse wie diese verdeutlichen, für den Inklusionsdiskurs bekannte Glaubenssatz „wir dass man sich nach wie vor vorwiegend an medizini- sind alle verschieden und darin gleich“ (Singer; Kienle schen und psychologischen Kriterien der Leistungsfä- 2016, 91) verkommt unweigerlich zu einer „Nullaussa- higkeit orientiert und pädagogisch relevanten Aspekten ge“ (ebd.), werden alle jene Personen ausgeklammert, wie subjektive Erfahrungen oder individuelle Bedürfnis- „die sich mit der eigenen, besonderen Konstitution se lediglich ein sehr geringer Stellenwert zugeschrieben keineswegs abfinden wollen oder nur unter Mühen mit wird. ihr zurecht kommen“ (Kuhlmann 2003, 157). Aus der Inklusion hingegen zielt auf die Bildung aller Schü- Betroffenenperspektive betont Kuhlmann hiermit das ler_innen – unabhängig von kategorisierten Fähigkei- Bedeutungsfeld realer Verhältnisse, die sich schlicht ten, Behinderungen, sozialer Herkunft, Geschlecht etc. – nicht weg-dekonstruieren lassen: Die Erfahrung einer ab (Biewer 2017). Ressourcen zur Förderung werden schmerzenden, einer widerständigen bzw. „einer reni- institutionell vergeben und nicht an Etikettierungen tenten Physis“ (ebd.) etwa, Aspekte des Nicht-Könnens gebunden (Hinz 2002, 359). Seit der Ratifizierung der aufgrund begrenzter (körperlicher) Möglichkeiten – UN-BRK 2008 wird von wissenschaftlicher Seite eine Momente, denen (mutig) Bühne geboten werden muss; Reform diagnostischer Prozesse gefordert, die etiket- polis aktuell 7/2021 7
tierende, stigmatisierende und exkludierende Praktiken kognitive, motorische Kompetenzen), aufgegriffen und in der Schule verhindert (Liebers; Seifert 2012; Simon genutzt werden. Zudem wirkt eine solche inklusive Dia- 2014). Wie kann also eine solche inklusive Diagnostik gnostik weder homogenisierend und leugnet bestehen- und deren angemessene Einbindung in die Schulpraxis de Unterschiede zwischen Individuen, noch wird allein aussehen? auf Kategoriensysteme anderer Disziplinen mit anderen fachlichen Schwerpunkten zurückgegriffen. Die Hete- Neuorientierung der Diagnostik für die rogenität der Schüler_innen und die Bedürfnisse der inklusive Schule (Eva Kleinlein) Lehrenden werden ins Zentrum der Diagnostik gestellt, Wenngleich der Begriff der inklusiven Diagnostik bislang um eine systematische Grundlage für die Gestaltung noch wenig geschärft ist und unterschiedlich ausgelegt inklusiver Praxis zu bieten. Die große Kluft, die zwi- wird (Simon 2015), so ist gemeinhin doch das überein- schen der theoretischen Auslegung von Inklusion und stimmende Ziel inklusiver Diagnostik, die Bedürfnisse deren Umsetzung in der Praxis besteht, kann also nur von Lernenden möglichst präzise und ressourcenorien- dann geschlossen werden und zu umfassender inklusiver tiert zu erfassen (Simon; Geiling 2016). Es bleibt jedoch Bildung beitragen, wenn inklusive pädagogische Praxis häufig unklar, welches Ziel verfolgt wird und in welchen theoriegeleitet systematisiert wird, um dann als Grund- konkreten Zusammenhang die Diagnostik mit daran an- lage für die Entwicklung einer tatsächlich ressourceno- schließenden pädagogischen Interventionen zu bringen rientierten und praxisrelevanten inklusiven Diagnostik ist (Schäfer; Rittmeyer 2015). Dies ist problematisch, da genutzt zu werden. fehlende Zielperspektiven und Praxisanbindungen dazu Heterogenität, Diagnostik und inklusive Praxis un- führen können, dass die (inklusive) Diagnostik allein terliegen einem komplexen, teilweise fast ambivalenten zur Ressourcenbeschaffung oder Förderortbestimmung Zusammenspiel, welches sich in Theorie und Praxis wie- genutzt wird und damit stigmatisierend wirkt (Traut- derfinden und nur schwer auflösen lässt. Der im Bei- mann; Wischer 2011). Um dies zu umgehen, gilt es, Di- trag beschriebene Zugang respektiert die Erfahrungen agnosen mit geeigneten pädagogischen Interventionen und Lebenswelten der Lernenden, reflektiert bestehen- und Ansätzen inklusiver Praxis zu verknüpfen. de diagnostische Prozesse und stellt einen Ansatz dar, In der schulischen Praxis werden bereits Ansätze und der sich abwendet von stigmatisierenden und für das Strategien verfolgt, die einem inklusiven Paradigma fol- (inklusions-)pädagogische Feld unzureichenden Diagno- gen und zumeist aus der Initiative Einzelner hervorge- seprozessen. Um inklusive Bildung flächendeckend um- hen. Aufgabe einer inklusiven Diagnostik ist es, diese zusetzen und Lehrkräfte bei diesem Unterfangen nicht Ansätze zu erfassen, zu systematisieren und mit geeig- „alleine zu lassen“, ist es notwendig, dass Wissenschaft, neten diagnostischen Kategorien in Zusammenhang zu Schule und Politik die beschriebenen Spannungsfelder bringen. Auf diese Weise können sowohl die verschie- in kommende Entwicklungs- und Entscheidungsprozesse denen Handlungsebenen, über die Lehrkräfte verfügen auf den jeweiligen Ebenen einfließen lassen. (z.B. didaktische, räumliche, soziale Interventionen), Literaturangaben unter „4. Links und Tipps“ (S. 22). als auch die vielfältigen Anforderungsebenen, die an Lernende in Schulen herangetragen werden (z.B. soziale, 8 polis aktuell 7/2021
2.3. Das Wiener Neudorfer vationen der Anfangszeit sind zu selbstverständlicher Inklusionsprojekt Praxis geworden. An den Nahtstellen entstand eine Vorgestellt von Angela Gredler und Irene Gebhardt, Mitglieder Kultur des Austauschs und der Zusammenarbeit – so- des Inklusionsteams Wiener Neudorf. wohl unter den Pädagog_innen als auch bei Eltern und Kindern. Dazu gehören einrichtungsübergreifende Ar- In Wiener Neudorf, einer Gemeinde mit 9.000 Einwoh- beitsgruppen, gegenseitige Einladungen, gemeinsame ner_innen am südlichen Stadtrand von Wien, gibt es seit Unterfangen wie Theater- und Musikprojekte und Fort- Februar 2006 das Inklusionsprojekt, ein Vernetzungs- bildungen als Basis und Garant für qualitätsvolle Weiter- und Organisationsentwicklungsprojekt nach inklusiven entwicklung des Projekts. Das im damaligen Demokra- Parametern. Es begann in den Bildungseinrichtungen tisierungsschub entstandene Kinderparlament bespricht der Gemeinde – den vier Kindergärten, der 16-klassigen alle für die Schulgemeinschaft wichtigen Themen und Volksschule, der Musikschule und den beiden Horten – stößt damit immer wieder wichtige Innovationsschritte in Kooperation mit der Gemeinde und erfasst mittlerwei- an. Auch in die Themenfindung für die Leitbildentwick- le den ganzen Ort. lung der Gemeinde war es eingebunden. Die Musikschule Ziel ist es, eine Kultur des Miteinanders zu entwi- kultiviert mit den Bläser- und Streicherklassen in der ckeln und inklusive Werte zum Referenzrahmen für Volksschule ihren inklusiven Ansatz. Eine der zweiten Planen und Handeln in allen Bereichen des Zusammen- Klassen kann sich entscheiden, im dritten und vierten lebens im Ort werden zu lassen. Der Index für Inklusi- on mit seinen unterschiedlichen Versionen für Schule, Kindertagesstätte (Kindergarten, Hort) und Kommune ist Wegweiser und Begleiter im Prozess. Inklusive Werte sind z.B. Wertschätzung und Respekt im Umgang mit Vielfalt, Teilhaben an und Teil sein in der Gemeinschaft, Gleichberechtigung, Fairness und Hilfsbereitschaft so- wie ökologische Nachhaltigkeit und Zukunftsfähigkeit im Planen und Handeln. In Wiener Neudorf gibt es viele inklusive Initiati- ven und mehr als 20 Jahre Erfahrung in der Integration von Kindern mit Beeinträchtigungen in allen Bildungs- einrichtungen. In den vielen örtlichen Vereinen wird kein Kind abgewiesen, die Gemeinde unterstützt alle Bildungseinrichtungen in ihren Bemühungen um jedes Kind, Kinder und Eltern fühlen sich wohl. Das alles soll- te sichtbar gemacht werden. Dazu kam der Wunsch nach mehr Zusammenarbeit, effizienter Gestaltung der Naht- stellen, Bündelung der Ressourcen und mehr Austausch und Qualitätsentwicklung in der Schule. Der Index für Inklusion sollte die gemeinsame Basis bilden und die Entwicklungsarbeit unterstützen. So wurde die Idee des Inklusionsprojekts geboren. Vertreter_innen aller Bildungseinrichtungen, der El- tern und der Gemeinde als Erhalterin bildeten ein Steu- Schnittlauchfest im inklusiven Begegnungsgarten. Bild: Inklusionsprojekt erteam (mittlerweile Inklusionsteam genannt). Die Pä- dagogische Hochschule NÖ bekundete Interesse an der wissenschaftlichen Begleitung des Projekts. Der Start Schuljahr zu einer Bläser- bzw. Streicherklasse zu wer- erfolgte mit einer großen Befragung. Über 1.400 Frage- den, unabhängig von musikalischen oder sonstigen Fä- bögen auf Basis der Indikatoren des Index für Inklusion higkeiten. Jedem Kind wird die Unterstützung zuteil, wurden ausgegeben. Das Ergebnis zeigte eine hohe Zu- die es braucht, wie sonst in der Musikschule auch. friedenheit in allen Einrichtungen. Kommunikation und Der Brauch in Musik- und Volksschule, jede Konfe- Konfliktmanagement wurden als potenzielle Baustellen renz mit einer Indexfrage zu beginnen, hat bereits eini- identifiziert. ge inklusive Weiterentwicklungen angestoßen und hilft, Fünfzehn Jahre sind seither vergangen. Erfolge aber das Bewusstsein für inklusive Haltungen zu pflegen. An- auch Rückschläge kennzeichnen den Weg. Viele Inno- deres, wie der für alle Interessierten ohne spezielle Zu- polis aktuell 7/2021 9
gangsvoraussetzungen offene Hochschullehrgang „Kom- aus allen Bereichen der Gesellschaft wohl fühlen und munale Bildung“ – eine Kooperation der Pädagogischen Zeit verbringen. Bei Plaudernachmittagen, philosophi- Hochschule NÖ mit der Gemeinde Wiener Neudorf, 2010 schen Treffen, Gartenkinos und kleinen Festen. Hier für den Staatspreis für Erwachsenenbildung nominiert – trifft der Spruch „In einem Garten wächst mehr, als man blieb ein einmaliges Highlight. aussät“ besonders zu. Am Ende der ersten drei Jahre wurde im Rahmen ei- ner als Zukunftskonferenz gestalteten Zusammenkunft, 2.4. Inklusive Bildung in Österreich: zu der auch Vertreter_innen aus Politik, Verwaltung und Chronologie einer laufenden Hochschulen geladen waren, klar, dass sich das Anliegen Verschleppung Inklusion nicht als Aufgabe der Bildung beschränken Gastbeitrag von Martin Hochegger, Präsidiumsmitglied lässt, sondern ein gesamtgesellschaftliches Anliegen ist. der Lebenshilfe Steiermark. Der Autor beschäftigt sich Damit wurde das Projekt auf die Gemeindeebene geho- seit vielen Jahren mit inklusiver Bildung in Österreich.2 1 ben und so auch stärker mit der Gemeindepolitik verwo- ben – eine zusätzliche Herausforderung für das Projekt. Mit der Ratifizierung der UN-Konvention über die Rech- Wohl wurden die inklusiven Werte in der Präambel für te von Menschen mit Behinderungen (UN-BRK) hat das Gemeindeleitbild verankert, an der Außerstreitstel- sich Österreich 2008 dazu verpflichtet, die Rechte von lung des Inklusionsprojekts in der Parteipolitik arbeiten Menschen mit Behinderungen zu schützen, zu fördern wir immer noch. und zu gewährleisten – so auch das Recht auf Bildung. Die Mehrheiten im Gemeinderat und die politisch ver- Ausdrücklich hat sich damit Österreich gemäß Art. 24 antwortlichen Personen haben sich in den letzten Jah- Abs. 1 der UN-BRK zur langfristigen Etablierung eines ren geändert, Haltungen an das allgemeine politische inklusiven Bildungssystems bekannt. Der UN-Behinder- Klima angepasst. Das Inklusionsteam trifft sich nach tenrechtsausschuss geht in seiner Allgemeinen Bemer- wie vor regelmäßig und denkt und visioniert weiter- kung Nr. 4 davon aus, dass „Inklusion den Prozess einer hin eine inklusive Gesellschaft. Es hat sich mittlerweile systematischen Reform beinhaltet, die einen Wandel um Vertreter_innen von Vereinen, der Lebenshilfe, der und Veränderungen in Bezug auf den Inhalt, die Lern- Pfarre und interessierten Bürger_innen erweitert. Die methoden, Ansätze, Strukturen und Strategien im Bil- Schwerpunkte liegen aktuell noch mehr im kommuna- dungsbereich verkörpert, um Barrieren mit dem Ziel zu len Bereich. Die Auseinandersetzung mit der Vielfalt im überwinden, allen Lernenden einer entsprechenden Al- Ort hat unter anderem zur Entwicklung des Festes der tersgruppe eine auf Chancengleichheit und Teilhabe be- offenen Töpfe geführt, bei dem die verschiedenen Kultu- ruhende Lernerfahrung und Umgebung zuteilwerden zu ren im Vordergrund stehen und Musik, Kunst, Spiele und lassen, die ihren Möglichkeiten und Vorlieben am besten Kulinarik von den Wiener Neudorfer_innen mitgebracht entspricht.“ werden. Das Fest wurde zu einem fixen Bestandteil des Angesichts der Entwicklungen seit der Ratifizierung kulturellen Lebens. muss man sich die Frage stellen, wie vielen Generatio- Der Blick auf die Nahtstelle Familie/Kindergarten nen von Kindern, Jugendlichen und Student_innen mit führte zu den „Windelrockern“, regelmäßigen, beglei- Behinderungen das Recht auf inklusive Bildung noch teten Treffen für Babys und Kleinkinder mit ihren Be- vorenthalten wird. Keine Bundesregierung des letzten gleitpersonen. Bei jedem Treffen steht ein Thema im Jahrzehnts hatte es besonders eilig mit der Umsetzung, Vordergrund, das aus den Bedürfnissen und Wünschen egal welche Couleur gerade im Bildungsministerium am der Teilnehmenden kommt. Vor der Pandemie, und hof- Werken war. Es oblag in den meisten Fällen engagierten fentlich auch wieder danach, konnten die Treffen in ei- Einzelpersonen bzw. dem Zusammenspiel einiger we- ner Tagesstätte und Pflegeeinrichtung für Senior_innen sentlicher Player in den jeweiligen Bundesländern, dass stattfinden. – Eine gegenseitige Bereicherung! die Beschulung durch Sonderschulen zurückgedrängt Inklusion ist ein komplexes System mit vielen Pra- wurde. Dies wurde ganz besonders in den Bundesländern xisfeldern. Nachhaltigkeit in allen ihren Bedeutungen Kärnten und Steiermark sichtbar. ist dabei wesentlich. Dem Inklusionsteam ist auch die So ist laut aktueller Statistik über das Schuljahr ökologische Nachhaltigkeit ein wichtiges Anliegen und 2019/2020 beispielsweise der Anteil der inklusiv unter- so wurde vor vier Jahren der „inklusive Begegnungs- garten“ gegründet. Ein offener Garten in einem Park. 2 Statistische Daten in diesem Beitrag hat der Autor aus dem Entwurf Alle Menschen sind herzlich willkommen, gemeinsam zu des BMSGPK zum neuen NAP 2022-2030 (Version 21.5.2021) und aus der Evaluierung des NAP 2012-2020 sozialministerium.at/dam/jcr:ec106d2c- gärtnern. Im Garten wird nicht nur die Bedeutung eines 7346-4360-8756-975de92d9576/Evaluierung_des_NAP_2012_2020.pdf funktionierenden Ökosystems bewusst und sichtbar, er entnommen. ist auch so einladend gestaltet, dass sich dort Menschen 10 polis aktuell 7/2021
rufen und für den Bereich „Inklusive Bildung“ wurden alibimäßig drei Modellregionen auserwählt. Dies hätte in allen drei Bundesländern (Steiermark, Kärnten und Tirol) zu deutlichen Transformationsprozessen führen sollen. Die Berichte des Bundesrechnungshofs sowie die Evaluierung des NAP 2012-2020 sprechen eine deutliche Sprache und kommen zu ernüchternden Feststellungen. Bis auf Kärnten kam es in den anderen beiden Modell- regionen sogar zu rückläufigen Entwicklungen. Ursache: Fehlender politischer Wille auf Bundes- und Landesebe- ne sowie große Skepsis bzw. Ablehnung durch die Bil- dungsdirektionen. Dies scheint auch der Grund zu sein, warum man sich im aktuell durch das Bildungsministerium vorgeleg- ten neuen Entwurf des Aktionsplans 2022-2030 darauf kaum beruft bzw. die evaluierten Ergebnisse geflissent- lich übergeht. Zwar ist der aktuelle Entwurf des neuen Aktions- plans NAP „Inklusive Bildung“ durch das Bildungsminis- terium noch in Begutachtung, für eine wirkliche Dyna- mik in Richtung Transformation in Bezug auf inklusive Bildungsmaßnamen über alle Lebensphasen hinweg, Bild: Martin Hochegger, privat braucht es allerdings noch deutlich mehr gesetzliche Anstrengungen und überzeugendere Steuerungsmo- richteten Schüler_innen in Kärnten mit 84 %, in der delle. Kommt es zu keinen weiteren Nachjustierungen, Steiermark mit 82 % und in Oberösterreich mit 78 % wird damit der Transformationsprozess in Richtung in- am höchsten, während der geringste Anteil von inklusiv klusive Bildung weiter verschleppt. Und damit werden unterrichteten Schüler_innen mit sonderpädagogischem in Österreich weiterhin Menschenrechtsverletzungen an Förderbedarf in Tirol mit 55 %, in Niederösterreich mit Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen mit Behinde- 54 % und in Wien mit 49 % zu verzeichnen ist. rungen perpetuiert. Eine weitere Herausforderung stellt die Tatsache dar, dass Kindern ohne deutsche Alltagssprache und Kindern mit Staatsbürgerschaft außerhalb der EU überdurch- Beitrag zur Leseförderung schnittlich häufig ein Bescheid über einen Sonderpä- dagogischen Förderbedarf ausgestellt wird. Mangelnde Sprachkenntnis wird mit Lernbehinderung gleichgestellt Hand in Hand die Welt und ab geht es in die Sonderschule. begreifen. Ein Bild Kritik daran wurde immer wieder von Eltern, wörterbuch der Gebär- Expert_innen und fallweise auch von Mitgliedern ein- densprache. zelner Bildungsdirektionen geäußert. Seitens der Träger Andreas Costrau, Susann von großen Behindertenbetreuungsorganisationen war Hesselbarth, Ulrike man bisher eher zurückhaltend. Lediglich die Lebens- Jentzsch. Leipzig: Klett hilfe Österreich mit einigen Bundesländerorganisatio- Kinderbuch, 2010. nen hat seit vielen Jahren ein klares Bekenntnis zur Mit den Händen sprechen inklusiven Bildung abgelegt und eine entschlossene und erzählen? Es gibt Transformation und Zurückdrängung von Sonderschulen eine Sprache, die vielen von uns noch unbekannt gefordert. ist. Mit dem Bildwörterbuch „Hand in Hand die Genützt hat es leider wenig. Die jeweiligen Bundes- Welt begreifen“ können Kinder und Erwachsene regierungen waren nicht vom Reformeifer getrieben. So diese Sprache wahrlich erfassen und begreifen. Und wurde nach der harschen Kritik durch den UN-Fachaus- wer es sich noch nicht gedacht hat: Es handelt sich schuss für die Rechte der Menschen mit Behinderungen um die deutsche Gebärdensprache! zwar ein Nationaler Aktionsplan (NAP) ins Leben ge- polis aktuell 7/2021 11
Bild: Privat „Es geht um die Auseinandersetzung mit dem scheinbar Fremden und dem Wachsen aneinander und miteinander“ Ein Interview mit Franz-Joseph Huainigg über Inklusion in der Schule, die Rolle der Medien, Barrierefreiheit für alle und die Bedeutung von Humor. Franz-Joseph Huainigg war von 2002 bis 2017 Abgeordneter zum Nationalrat und ÖVP-Sprecher für Menschen mit Behinderungen. Er ist Kinderbuchautor, Medienpädagoge sowie Kabarettist und setzt sich unter anderem für mehr Inklusion im Journalismus, in Schule und Gesellschaft ein. Seit 2018 ist er Beauf- tragter für Barrierefreiheit im ORF. Seit einer Impfung im siebten Lebensmonat sind seine Beine gelähmt. Heute ist er auf einen Elektrorollstuhl und ein Beatmungsgerät angewiesen. Das Interview führte Nikolai Weber von Zentrum polis. 12 polis aktuell 7/2021
Sie engagieren sich seit Jahrzehnten in einer rungen und das Wissen sollen dazu beitragen, dass In- Vielzahl von Initiativen für die Inklusion von klusion gelingt. Menschen mit Behinderungen. Was bedeutet Beim Consulting Board wird ein spannender und Inklusion für Sie? wichtiger Dialog von Pädagog_innen, Schulbehörden, Inklusion bedeutet für mich das selbstverständliche Le- der Wissenschaft und betroffenen Menschen geführt. ben miteinander und die Einbeziehung von Randgrup- Erstaunlicherweise sind die Sichtweisen oft gar nicht pen, wie Menschen mit Behinderungen, auf gleicher so unterschiedlich, wie man denkt. Es geht darum, im Augenhöhe. Früher sprach man von „Integration“, das Dialog die Sichtweisen des anderen kennenzulernen. Als hieß, dass Menschen mit Behinderungen in die Gesell- eines der ersten Initiativen des Consulting Boards führ- schaft integriert worden sind. Aber wer integriert wird, ten wir 2018 Interessenvertretungen von Sonderschulen muss vorher ausgeschlossen werden. Im Gegensatz dazu und Inklusionspädagog_innen im Land Oberösterreich steht die Inklusion als ein Selbstverständnis der gleich- zusammen. Diese Gespräche entglitten nicht in gegen- berechtigten Teilhabe in allen Lebensbereichen, wie es seitige Beschuldigungen, sondern waren im Gegenteil auch die UN-Konvention über die Rechte von Menschen äußerst wertschätzend. Auch wenn die Wege durchaus mit Behinderungen vorsieht. unterschiedlich waren, gab es doch einige Konsensbe- Ich habe es meinen Eltern zu verdanken, dass ich reiche. nicht in ein Internat oder in eine Behinderteneinrich- Ich bin Bundesminister Faßmann dankbar, dass er tung abgeschoben worden bin. Sie kämpften dafür, dass dieses Board wieder eingesetzt hat und im Dialog mit ich ganz normal in die Regelschule gehen konnte, wie Expert_innen geeignete Maßnahmen zur Weiterentwick- auch mein nicht-behinderter Bruder oder unsere Nach- lung von Sonderpädagogik und Inklusion setzt. barskinder. Von der Schule wurde das zuerst abgelehnt, Im Consulting Board ist inzwischen außer Streit da behinderte Kinder in eine Behindertenschule gehen gestellt, dass Inklusion im Sinne der UN-Konvention mussten. Es erklärte sich aber eine Lehrerin bereit, es zu das Ziel ist. Es geht jetzt um das Wie und in welchen probieren. Ich bekam einen speziell gepolsterten Sessel Etappen. Eine wichtige Funktion hat das Consulting und rutschte in der Pause durch den Gang. Wir spielten Board auch innerhalb des Bildungsministeriums, da es fangen, ich war gar nicht so schlecht. Bewusstsein bei den Beamt_innen schafft, die Empfeh- Gemeinsamer Schulunterricht ist der Schlüssel zu lungen des Consulting Boards mit Respekt behandelt einer inklusiven Gesellschaft. Dafür kämpfe ich auch werden und in die Bildungskonzepte einfließen. heute noch. Beim miteinander Lernen werden Vorurteile abgebaut beziehungsweise entstehen sie erst gar nicht. Sie sind Beauftragter für Barrierefreiheit in der Wobei auch Inklusion keine heile Welt ist. Es geht auch Abteilung Humanitarian Broadcasting des ORF. um die Auseinandersetzung mit dem scheinbaren Frem- Welche Barrieren sehen Sie gegenwärtig beim ORF, die den und dem Wachsen aneinander und miteinander. am dringendsten beseitigt werden müssen? Welche Rolle spielen Medien hinsichtlich Inklusion? 2018 haben Sie im Bildungsministerium das Ich wollte schon als Kind Journalist werden. Medien „Consulting Board – Sonderpädagogik und schaffen Bewusstsein und prägen unsere Gesellschaft. schulische Inklusion“ als Beratungsgremium Bereits während meines Studiums habe ich im ORF des Bundesministers initiiert. Welche Ziele Landesstudio Kärnten Radiobeiträge für die Kulturredak- verfolgt das Gremium, was hat sich seitdem tion gestaltet und auch einige Ö1 Features. Das war eine verbessert, wo liegen die größten Schwierigkeiten? großartige Erfahrung, die mir viel Freude bereitet hat. Die politischen und gesellschaftlichen Positionen bei Die Umsetzung war oft gar nicht so einfach, da etwa zu der Inklusion von behinderten Kindern gehen sehr meinen Interviewpartner_innen Stufen geführt haben. auseinander. Auch bei den Eltern. Die einen sehen die Ich habe dann kurzerhand mein Auto in ein kleines Ton- bestmögliche Förderung in eigenen Schulen für Kinder studio verwandelt und meine Gesprächspartner_innen mit Behinderungen. Die anderen priorisieren das soziale am Beifahrersitz befragt. Miteinander. Ich möchte allen Menschen mit Behinderungen Ich stehe klar für Inklusion. Aber um etwas weiter- empfehlen, den Journalismus als Berufsmöglichkeit zu zuentwickeln, müssen beide Seiten ins Gespräch mitein- sehen. Es braucht Redakteur_innen mit einer Behinde- ander kommen. Es geht um ein Ausverhandeln der best- rung in den Redaktionen und vor dem Bildschirm, damit möglichen schulischen Bildung für behinderte Kinder. sich die gesendeten Bilder nachhaltig verändern. Redak- Ich bin der Meinung, dass der gemeinsame Unterricht teur_innen mit einer Behinderung berichten anders, da der eindeutig richtige Weg ist. Sonderpädagogik ist als sie auch einen anderen Erfahrungshintergrund haben. Wissensprinzip der Pädagogik sehr wichtig. Diese Erfah- Dafür setze ich mich auch im ORF ein. polis aktuell 7/2021 13
Die größten Barrieren sind immer noch in den führen, wie ich es tue. Es heißt in der Behindertenbe- Köpfen und die versuche ich als Beauftragter für Barrie- wegung: Man ist nicht behindert, man wird behindert. refreiheit durch Schwerpunkte aufzulösen. Nicht der Rollstuhl ist das Problem, sondern die Stufen, Beispielsweise die Ö3-Aktion „Ich will und ich kann das zu enge WC oder die Unsicherheit der Mitmenschen. arbeiten. Und ich verdiene eine Chance“, die bereits 2019 und auch dieses Jahr wieder auf Ö3 einen ganzen Sie haben neben Ihrer politischen Berufstätigkeit Tag lang ausschließlich der Lehrstellensuche gewidmet auch Kabarett gemacht. Welche Rolle spielt denn war. Die Reaktionen auf die Jugendlichen mit Behinde- der Humor für Sie, wenn es um Inklusion geht? rungen, die sich auf Ö3 selbst präsentierten, waren groß- Humor ist ein Türöffner! Humor ist auch für einen selbst artig! So kann man Bewusstsein schaffen! Nicht Defizite wichtig. Oft erlebt man im Rollstuhl sehr skurrile und stehen im Vordergrund, sondern die Fähigkeiten und der diskriminierende Situationen. Wenn man das in sich Wunsch nach Chancengleichheit. Heuer sind 142 Lehr- reinfrisst, wird man verbittert. Meine Strategie ist: Über stellen von Unternehmen gemeldet worden. Hier kann den Dingen zu stehen und dann haben die skurrilen Si- der ORF als Leitmedium einen wichtigen Beitrag zur Be- tuationen plötzlich einen grotesken und humorvollen wusstseinsbildung und tatsächlichen Inklusion in den Aspekt. Ich lächle oft, weil mir Situationen gerade durch Arbeitsmarkt beitragen. den Kopf gehen und viele meiner Mitmenschen wundern Wir arbeiten aber auch daran, die Barrierefreiheit der sich dann, warum ich schon wieder grinse. Programme durch Untertitel, Audiodeskription, Gebär- Das Leben mit Behinderung ist ein idealer Stoff für densprachdolmetschung oder einfache Sprache zugäng- die Kabarettbühne. Es ist zwar schon eine Zeit lang her, lich zu machen. Seit 2020 gibt es im ORF eine eigene aber mit „Füttern Verboten“ oder mit „Krüppel aus dem Inklusive Lehrredaktion, in der Menschen mit Lernbe- Sack“ stand ich mit meinem Rollstuhl auf der Kabarett- hinderungen täglich für news.orf.at Nachrichten in ein- bühne und habe nichts anderes getan, als Erlebnisse aus facher Sprache schreiben. Unter der Woche gibt es auch meinem Leben zu schildern. Viele haben gelacht, aber täglich einen Meldungsblock in einfacher Sprache auf gleichzeitig ist ihnen auch das Lachen im Hals stecken ORF III und einmal die Woche einen Wochenrückblick in geblieben, da sie gedacht haben: „Das hätte auch mir Radio Wien und Radio Steiermark. passieren können“. Wir wollen das gesamte Programm barrierefrei gestal- Man sollte nicht über Menschen lachen, sondern mit ten. Das ist eine große Herausforderung. Bis 2030 wol- ihnen – und das ist auch mein Lebensmotto. len wir das durch den Einsatz von neuen Technologien erreichen. Sie fahren selbst mit dem Rollstuhl und erleben spezifische Alltagsbarrieren. Wo besteht der größte Reformbedarf? Es muss gelingen, dass Barrierefreiheit nicht eine Sache für einige wenige Menschen ist, sondern dass Barriere- freiheit allen Menschen etwas bringt. Eine Rampe bei einer Eingangstüre hilft nicht nur dem Rollstuhlfahrer, sondern auch den älteren Menschen oder Personen, die einen Kinderwagen schieben. > HINWEIS Einfache Sprache wird zwar für Menschen mit Lern- behinderungen gemacht, es fördert aber auch das Ver- ständnis von Informationen bei Schüler_innen, älteren Ethik-Lehrplan 2021 Menschen oder Menschen, die Deutsch lernen. Nachrich- Unter dem Schwerpunkt „Diversität und ten in einfacher Sprache werden auch öfters in Kursen Diskriminierung“ sind die Themenbereiche für Deutsch als Fremdsprache eingesetzt. Generell hilft Integration und Inklusion, Umgang mit einfache Sprache allen. Beispielsweise sollten auch Ge- Behinderungen und Stereotypen Teil des setze durch einfache Sprache barrierefreier werden. neuen Ethik-Lehrplans 2021. Ich habe nicht nur einen Rollstuhl, sondern auch ein Beatmungsgerät und kann Arme und Beine nicht ris.bka.gv.at/Dokumente/BgblAuth/ bewegen. Wer mich sieht, empfindet wahrscheinlich im BGBLA_2021_II_250/BGBLA_2021_II_250. ersten Moment Mitleid. Aber auch Menschen mit Behin- pdfsig derungen können ein glückliches und zufriedenes Leben 14 polis aktuell 7/2021
3 unterrichtsimpulse 3.1. Projektaufgabe: Menschen mit Behinderungen im Alltag Dauer 2 bis 3 Tage Schulstufe Ab der 10. Schulstufe Methode(n) Recherche, Gruppenarbeit, Diskussion, Präsentation Materialien Evtl. Flipchartpapier, Laptop und Beamer für Präsentation, Kopiervorlagen Kompetenzen Sachkompetenz, Urteilskompetenz, Handlungskompetenz Zielsetzungen Die Schüler_innen finden heraus, inwieweit die Menschenrechte für Menschen mit Behinderungen in ihrem eigenen Umfeld realisiert sind. Durch die Auseinandersetzung mit Verantwortlichen üben sie sich im demokratischen Handeln. Lehrplanbezug Deutsch, Politische Bildung, Ethik Ablauf • Es gibt insgesamt vier Kleingruppen. Die Schüler_innen erfahren kurz skizziert die Gruppenauf gaben und teilen sich danach je nach Interesse auf die verschiedenen Gruppen auf. • Jede Gruppe erhält eine detaillierte Beschreibung ihrer Aufgabe (siehe S. 16-17), die sie über einen vorbestimmten Zeitraum erfüllen soll. • Während des Projekts sollte die Klasse immer wieder zusammenkommen, sodass die einzelnen Gruppen ihre Erfahrungen austauschen und Fragen stellen können. Dies ist gleichzeitig auch eine gute Möglichkeit, einen gewissen kontinuierlichen Fortschritt sicherzustellen. • Die einzelnen Aufgabenstellungen können nach Bedarf vom Lehrer/von der Lehrerin einge- schränkt oder erweitert werden. • Am Ende des Projekts präsentiert jede Gruppe ihre Ergebnisse in einem kurzem schriftlichen Be- richt und einem mündlichen Referat (visuelle Darstellung durch Plakat oder PowerPoint Präsenta- tion) vor dem Rest der Klasse. Zur Weiterführung kann ein_e Vertreter_in einer Behindertenorganisation eingeladen werden, um die Erkenntnisse der Schüler_innen zu diskutieren. Konkrete Resultate des Projekts könnten auch ein Brief der Klasse an verantwortliche Politiker_innen, ein Artikel in einer Lokalzeitung, eine Ausstellung der Ergebnisse auf Plakaten in der Schule oder eine Fortsetzung der Diskussion über die Behindertenfreundlichkeit der Schule in der Schulgemeinschaft sein. Autor Gerald Kador Folkvord Online unter politik-lernen.at/menschenmitbehinderungenimalltag polis aktuell 7/2021 15
Kopiervorlage: Menschen mit Behinderungen im alltag – gruppenaufgaben Aufgabe Gruppe 1 (Schule) Erforscht, wie gut eure Schule auf die Bedürfnisse von Menschen mit Behinderungen Rücksicht nimmt. Bezieht dabei folgende Fragen ein: Gibt es Hilfsmittel für Schüler_innen mit Behinderungen? Sind alle Räume (Chemiesaal, EDV-Raum, Lehrer_innenzimmer, Sprechzimmer der Schulärzt_innen usw.) barrierefrei zugänglich? Gibt es barrierefreie Toiletten? Gibt es Schüler_innen mit Behinderungen an der Schule? Lernen diese in eigenen „Integrationsklassen“ oder in „gewöhnlichen“ Klassen? Gibt es Lehrer_innen mit Behinderungen? Gibt es Hilfestellungen für Schüler_innen, die aufgrund einer Behinderung Lernprobleme haben? Welche Haltung haben die Schüler_innen gegenüber Mitschüler_innen oder Lehrer_innen mit Behinderungen? Führt ein Gespräch mit der_dem Schulleiter_in, um zu hören, wie sich die Schule zum Thema Schüler_innen bzw. Lehrer_innen mit Behinderungen stellt. Erstellt ein Plakat mit den wichtigsten Ergebnissen. Präsentiert die Ergebnisse eurer Recherche der gesamten Klasse. Aufgabe Gruppe 2 (Gemeinde) Findet heraus, wie leicht bzw. schwer es für Menschen mit Behinderungen ist, in ihrem Bezirk/ihrer Gemeinde zurechtzukommen. Berücksichtigt dabei folgende Fragen: Wie barrierefrei ist der öffentliche Raum? (Sind Gehsteige für Rollstühle und Kinderwägen abgeschrägt? Gibt es Fußgänger_innenampeln mit Tonsignalen für Personen mit Sehbehinderungen? Sind Hinweisschilder für Menschen mit Lernschwierigkeiten verständlich?) Wie barrierefrei sind öffentliche Verkehrsmittel? Werden die Bedürfnisse von Rollstuhlfahrer_innen, sehbehinderten und gehörlosen Menschen berücksichtigt? Sind öffentliche Gebäude (Ämter, Polizeiwachzimmer, Banken usw.) für Rollstuhlfahrer_innen zugänglich? Gibt es ein Blindenleitsystem? Sind Supermärkte, Einkaufscenter etc. so angelegt, dass bewegungsbehinderte Menschen zurechtkommen können? Gibt es bei Bedarf die Möglichkeit, vom Personal Hilfe zu bekommen? Sind Restaurants für Menschen mit Rollstühlen zugänglich? Führt ein Gespräch mit einer verantwortlichen Person in der Bezirks- oder Gemeindeverwaltung über die Ergebnisse eurer Recherchen. Erstellt ein Plakat mit den wichtigsten Ergebnissen. Präsentiert die Ergebnisse eurer Recherche der gesamten Klasse. 16 polis aktuell 7/2021
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