Porträts aus der Ostschweiz - Historisches und Völkerkundemuseum
←
→
Transkription von Seiteninhalten
Wenn Ihr Browser die Seite nicht korrekt rendert, bitte, lesen Sie den Inhalt der Seite unten
Porträts aus der Ostschweiz Brigitte Schmid-Gugler Jacques Erlanger Benjamin Brigitte Meyer Chaya Bracha Beit David Margrith Bigler Michaella Guez-Barasch Roland Richter Tovia Ben-Chorin Als Ergänzung zur Wanderausstellung: Schweizer Juden – 150 Jahre Gleichberechtigung 16. Februar 2018 – 9. September 2018 Historisches und Völkerkundemuseum St. Gallen
Brot zu backen. Pessach dauert acht Tage. Manch- mal bot mir jemand in der Schule in diesen Tagen Kuchen an, den ich ablehnte. Das gab schon ab und zu blöde Kommentare. Ich habe einfach nicht viel dazu gesagt, da es mir ehrlich gesagt ziemlich peinlich war, den Kuchen abzulehnen. Aber wenn ich erklärte, aus welchem Grund ich keinen Ku- chen esse, war die Sache eigentlich erledigt.“ Heu- te halte er sich nicht mehr streng an die jüdischen Gebote und Verbote, da dies mit dem Studium und den Aktivitäten mit Freunden schwierig zu verein- baren wäre. „Ich finde, man muss immer den ge- sunden Menschenverstand walten lassen. Mir per- sönlich ist es wichtig, Gutes zu tun.“ Benjamin ist zwanzig Jahre alt. Im Alter von drei Jahren zog er mit seiner Familie aus Winterthur Benjamin liest am liebsten historische Romane und nach St. Gallen, in den Osten der Stadt. Dort be- Geschichtsbücher. Das Buch Eine kurze Geschichte suchte er die Primarschule. Die Mutter Haus- der Menschheit von Yuval Noah Harari, 500 Seiten, haltleiterin, der Vater Softwareentwickler. Einer habe er schon als Jugendlicher verschlungen. „Die- seiner zwei Brüder hat eine kognitive Beeinträch- ses Buch betrachtet die Geschichte der Menschheit tigung. Das sei für die ganze Familie eine grosse aus sehr interessanten Blickwinkeln. Es hat nicht Herausforderung gewesen, erzählt Benjamin. viel mit jüdischer Religion zu tun, sondern ist ein „Aber irgendwie ging's. Wir redeten normal mit Blick in die Vergangenheit und in eine mögliche ihm. Er konnte jedoch besser auf Mimik und Kör- Zukunft. Es versucht, den Werdegang der Mensch- persprache reagieren.“ Der Bruder lebt heute in heit historisch zu erklären.“ einer betreuten Wohngemeinschaft. Benjamin begann mit neun Jahren Klavier zu spielen; spä- Überall könne man indes auch in der Gegenwart ter war er Mitglied eines Schulorchesters. Er kam Zeichen der jüdischen Geschichte des Exils entde- erst ins Untergymnasium, dann in die Kantons- cken. In Rom, wo er mit ein paar Freunden war, schule. War immer gut in Mathematik. Machte die habe er auf einem Triumphbogen, dem sogenann- Matura, wurde Sanitätssoldat und begann letzten ten Titusbogen, das Relief Herbst in Zürich ein Physikstudium. Mir ist es gefunden, welches dar- auf hinweise, dass dieser „Dass ich jüdisch bin, war und ist für die meis- wichtig, Bogen aufgrund der Er- ten meiner Freunde kein grosses Thema. Für mich selbst ist es von Bedeutung. Ich berücksichtige Gutes zu oberung Jerusalems und des Sieges des Römischen einige der Speiseregeln und bin mit jüdischer Tra- dition vertraut. Yom Kippur, Chanukka, Pessach, tun Kaisers Titus erbaut wor- den sei und auch an die Rosch ha-Schana und viele andere jüdische Feste Flucht der Juden in die Diaspora erinnere. „Auf feiere ich mit meiner Familie. Jedoch haben wir das dem Relief ist unter anderem ein siebenarmiger in meiner Kindheit regelmässiger getan. Einige Leuchter zu sehen. Dieser wird Menora genannt.“ jüdische Traditionen und Gebote sind mir auch heute noch sehr wichtig. Ich esse kein Schweine- Benjamins Grossmutter väterlicherseits war von fleisch versuche, Milchiges und Fleischiges nicht Polen nach Frankreich gegangen, um dort Medizin gleichzeitig zu essen. Als Kind und Jugendlicher zu studieren. Während des Zweiten Weltkrieges besuchte ich regelmässig den Religionsunterricht versteckte sie sich vor den Nazis bei einer Bauern- in den Räumlichkeiten der Jüdischen Gemeinde familie. Einige Jahre nach dem Krieg lernte sie ih- und lernte dabei viel über das Judentum und seine ren Mann kennen und zog zu ihm in die Schweiz. Geschichte. Weniger wisse er über die Vorfahren mütterlicher- seits. Immerhin: Ernst Dreyfuss, Benjamins Ur- Während der Primarschulzeit war es in einigen grossvater, war von 1951 bis 1961 Präsident der Fällen ziemlich schwierig, Traditionen, die ich von Jüdischen Gemeinde St. Gallen. zu Hause gelernt habe, und ‘normale’ Aktivitä- ten miteinander zu vereinbaren. An Pessach essen religiöse Juden kein Brot beziehungsweise nur un- gesäuertes Brot. Das heisst, die Zubereitung des Brotes darf nicht länger als 18 Minuten dauern, da beim Auszug aus Ägypten – das wird an Pessach gefeiert – keine Zeit mehr blieb, um gewöhnliches Porträts aus der
Eingeschweisst in eine Schutzhülle seien die Bü- schwer erkrankte und kurz darauf starb. „Nach mei- cher liegen geblieben, welche die Mutter als Abon- ner Rückkehr begann ein Spiessrutenlauf. Gläubi- nentin eines Verlages jeweils bestellt habe. Das ger klopften an. Meine Mutter hatte mich, zurück- Geschäftliche ging vor. Eingeschmolzen zu einem haltend wie sie gewesen war, nicht eingeweiht in Silber-Relief prangen die letzten Verkaufsstücke die prekäre Situation, in der sie sich mit ihrem des Schmuckgrosshandels an der Fassade des Hau- Unternehmen seit dem Tod meines Grossvaters ses, das Jacques Erlanger knapp vor dem Konkurs befand.“ Jacques Erlanger liquidierte das Geschäft des Familienbetriebes retten konnte. Die Künstlerin und konnte das Haus retten, das heute auf vier Elisabeth Nembrini hatte den Auftrag erhalten, aus Wohnetagen erneut von mehreren Generationen dem Rohmaterial ein kleines schmuckes Kunst am bewohnt und belebt wird. Auch die Lebenspartne- Bau-Objekt zu gestalten. Sie liess die edelmetallene rin des Hauseigentümers, Judith Eisenring, ist mit Hinterlassenschaft, von der Partie. Verneigung für die es längst kei- vor der Mutter nen Absatz mehr gab, in der Kunstgiesserei Der soziale Gedanke, gepaart mit Geschäftssinn und der Affinität zu Kunst und Kultur in einer, wie im St. Galler Sitterwerk zu eben jener „Silbertafel“ Jacques Erlanger sagt, zur Jahrtausendwende offe- giessen. Anders als die verschweissten Bücher, die nen Aufbruchsstimmung in der Stadt, verdichteten irgendwann entsorgt werden mussten, ist die „Sil- sich für ihn konkret in der Aufgabe als Geschäfts- bertafel“ eine Reminiszenz an eine gute, behütete führer im Sitterwerk. Als Mitglied des damals neu Kindheit mit einer Mutter, die auf das ihr auferleg- ins Leben gerufenen Unternehmens, damals noch te Stigma pfiff, in den 1960er-Jahren ein uneheli- als Verein organisiert, trieb er die Gründung der ches Kind auf die Welt gebracht zu haben. „Sie er- Stiftung voran; in den fünf Jahren seiner Tätig- zählte mir erst, als ich dreizehn Jahre alt war, wer keit wurden Künstlerateliers, Werkstoffarchiv und mein Vater ist. Gefragt hatte ich nie danach. Ich Kunstbibliothek aufgebaut sowie das Kesselhaus dachte mir, dass er wahrscheinlich tot sei. Es war für die Skulpturen von Hans Josephsohn saniert ein Tabu. Mein Grossvater hatte quasi die Vater- und eingeweiht. rolle übernommen, nur, dass er vermutlich weni- ger streng war als ein Vater“, schmunzelt Jacques Erlanger in seinen Bart hinein. Kein Tabu waren die Zugehörigkeit zum Juden- tum und zur jüdischen Gemeinde in St. Gallen. „Das koschere Fleisch wurde zweimal pro Wo- che per Kurier ins Haus geliefert. Der Bote de- ponierte die Pakete jeweils in dem in die Mauer eingelassenen Brunnentrog bei der Aussentrep- pe. Heute wachsen Schwertlilien darin.“ Der Stammbaum, den Jacques Erlanger auf dem Tisch seiner im Vintage-Stil eingerichteten Woh- nung aufrollt, geht zurück bis ins Jahr 1853. Alle Generationen lebten in der Schweiz; der Grossvater stammte aus Luzern. Nach dem Zweiten Weltkrieg führte er in St. Gallen eine Bijouterie. Die Tochter Nach seinem Abgang konnte er viele seiner Erfah- wurde früh ins Geschäft involviert. Sein einziges rungen in ein neues ambitioniertes Projekt stecken: Enkelkind, Jacques, nahm er oft mit in die Synago- Die Stadt als Besitzerin der ehemaligen Militärkan- ge. „Ich erlebte mich nie als Aussenseiter. Weder tine „Kastanienhof“ wartete nach der gescheiterten versteckten wir unser Jüdischsein, noch stellten Wettbewerbs-Ausschreibung zwar nicht auf geist- wir es aus. Es gehörte einfach zu uns; ich empfand reiche Vorschläge. „Wir waren zu viert, erarbeite- es eher als Plus zum christlichen Umfeld. Die Ritu- ten in einer Nacht-und-Nebel-Aktion ein Konzept ale und Regeln sind Teile des Alltags; sie gesche- und reichten es trotzdem ein.“ Die Zeit war reif. hen nicht abgesondert von ihm. Wir feierten die Die Idee bezaubernd. Das Stimmvolk befürwortete Feste sehr diskret und ich machte auch am Schab- den Kredit. Heute findet man die „Militärkantine“ bat – dem jüdischen Feiertag von Freitagabend bis mit Restaurant und Hotel unter den schönsten Ho- Samstagabend – alle schulischen Aktivitäten mit. tels der Schweiz aufgeführt. Seit Mitte Sommer Anders als ein strenggläubiger jüdischer Schul- 2016 ist Jacques Erlanger, inzwischen solide ver- kamerad, der untätig am Pult sass. netzt und als verlässlicher Partner gefragt, freibe- ruflicher Kulturmanager und Projektleiter. Man In der „Verlängerung“ des Verzehrs von kosche- trifft ihn oft an Orten, die sein Herzblut waren und rem Fleisch stellte Jacques Erlanger nach dem blieben, und man hört ihn gerne sagen, dass Einge- Auszug aus dem Familienhaus auf vegetarische schweisstes ausgepackt gehört. Auch das im Kopf. Ernährung um. Dies in Lausanne, wohin er gegan- gen war, um Soziologie und kulturelle Anthropo- logie zu studieren. Dort blieb er als Dozent und Mitarbeiter der ETH, bis die Mutter im Jahr 2000
Ein Keramikobjekt steht am Fuss der Treppe ins Brigitte Meyer erlebt ihre jungen Frauenjahre als ein Obergeschoss. Es handelt sich um einen Chor in Hin- und Hergerissen-Sein zwischen den in den langen Roben. Die Lippen der Singenden sind zu ei- 1970er-Jahren aktiven zionistischen Jugendgrup- nem O gerundet. Die Mienen andächtig. Die Köpfe pen, mit denen sie nichts anzufangen weiss, mit leicht in den Nacken geneigt. Ihnen gegenüber ein ihrem Engagement für Frauenfragen, mit Ihrer sprudelndes Erzählen zwischen Gestern und Heu- Leidenschaft für Musik und Theater, mit ih- te. Zwischen Sehnsucht und betriebsamem Alltag. rem Coming out als homosexuelle Jüdin wäh- Brigitte Meyer holt ihr geliebtes Cello erst vom rend ihrer Zeit in Berlin. Das bedeutete in jenen oberen Stock ins Wohnzimmer, nachdem sie da- Jahren ein doppeltes Stigma. Sie absolviert in rum gebeten worden ist. Doch wer ihr zuschaut Basel ein Studium in Deutsch und Geschichte, und -hört, wie sie, und sei‘s zum Spass, mit dem unterrichtet an einem Basler Gymnasium. Bildet Bogen über die Saiten streicht, fragt sich, wieso sich weiter und macht sich schliesslich im Kommu- sie diesen anschmiegsamen Leib aus Klängen nicht nikationsbereich selbstständig. Das Cello immer in zum Instrument ihrer Berufung gemacht hat. Wes- der Arm- und Herzkuhle. halb dieses grosse Hingezogen-Sein zur Musik im- mer noch eine Treppe nehmen muss. Jedes Grei- fen ein Anklopfen an eine Türe. Ein Horchen. Ein Hineinfragen. Eine Art Zwiesprache. Es murmelt, singt und brummt auf jeden Fall vielstimmig zu- rück. Seit Jahren steht Brigitte Meyer nebst ihrer hauptberuflichen Tätigkeit mit interdisziplinären künstlerischen Projekten in der Öffentlichkeit. Den in Feuer gebrannten Chor brachten Brigitte und Ruth – die Frauen sind seit 23 Jahren ein Paar – von einer Fahrradtour durch Tschechien zurück in ihr Haus in St. Gallen. In einer schön ausgepols- terten Kiste. Brigitte Meyer schildert diesen aben- teuerlichen Transport im gleichen lebhaften Ton, wie sie mit ihrem unverkennbaren Basler Dialekt später „Gib Gutzi“ sagen wird. Es heisst so viel wie Als sie 1994 ihre Partnerin kennenlernt, steht sie „Mach mal vorwärts“. Oder in einem anderen Kon- bereits seit einigen Jahren als Coach und Kurslei- text: „Lass uns Klartext reden!“ Mit dem Judentum terin auf eigenen Beinen. 2008 holt sie der Kanton nicht mehr sehr stark verbunden, aber doch die St. Gallen ins Amt für Soziales. Sie wird Projekt- Familiengeschichte leiterin im Integrationsbereich, später verantwort- Weihnachten ehrend und achtend, sei sie zutiefst er- liche Leiterin für Gleichstellungsfragen. Es gibt viel zu tun, der Apparat ist zäh und selten musisch auf- und Ostern schrocken und habe geladen. „Doch die Sensibilisierungsarbeit um die sind schwierig sich verletzt gefühlt, als ausgerechnet in Felder Berufswahl, Integration und Lohngleich- heit liegen mir am Herzen. Mein Vater hielt mir für mich ihrem engeren Um- feld ein Bekannter als 16-Jährige einen englischen Text unter die Nase, den ich übersetzen musste. Es ging darin um den Satz fallen liess: „Alle Juden sind geizig.“ Ob Gerechtigkeit und ethische Werte. Beides wurde er denn überhaupt Juden kenne, habe sie zurück- hoch gehalten und in der Familie immer wieder gefragt. Der andere verneinte kleinlaut. Vorurteile, diskutiert. Rassismus. Gedankenlos geäussert. Viele ihrer Familienmitglieder mussten solches erleben und An Pessach, dem grossen jüdischen Fest im Früh- überlebten es nicht. „Und wenn es nicht den glück- ling, das wir früher immer mit Bekannten feierten, lichen Zufall gegeben hätte, dass Vater Werner habe ich allerschönste Erinnerungen. Wir konnten Meyer im Jahr 1936 als 12-Jähriger mit seinem feiern, essen, teilen und gleichzeitig lachen über die kleinen Bruder Ludwig aus Ostpreussen ins Insti- biblischen Geschichten. Der Mensch stand immer im tut auf am Rosenberg und ihre Mutter, Ilse Abend, Mittelpunkt. Weihnachten und Ostern sind schwie- nach dem Krieg zur Heilung ihrer Tuberkulose nach rig für mich. Der kirchliche Antisemitismus. Ich Davos geschickt worden wären, gäbe es mich nicht.“ spüre an solchen Tagen immer sehr deutlich, dass ich nicht dazu gehöre – auch wenn diese Haltung Nachdem der Zweite Weltkrieg ausgebrochen war, einem Ressentiment gleichkommt.“ Vier Finger- blieb das Schulgeld für die beiden Buben aus. De- kuppen setzen an zu einem Allegro ma non troppo. ren Eltern wurden später in Auschwitz ermordet. Werner und Ludwig mussten das Institut verlassen und wurden privat betreut. Brigitte Meyers Mutter kam nach ihrer Genesung in ein jüdisches Mäd- chenheim in Basel. An einem jüdischen Fest begeg- neten sich Brigitte Meyers Eltern zum ersten Mal. Das Paar heiratete, lebte vor dem Umzug nach Ba- sel kurzzeitig in St. Gallen. Der Vater, ein Ökonom, war 1950 St. Galler Ortsbürger geworden.
„Was kann man tun für den Weltfrieden?“, be- ginnt Chaya Bracha. Ihre Mutter hat den Holocaust in Deutschland nur deshalb überlebt, weil sie im Alter von drei Jahren an einer schweren Lungenent- zündung erkrankt war. Deren Eltern, später nicht mehr auffindbar, hatten die Gefahr erkannt und ihr Kind über die Grenze nach Basel gebracht. Später kam Chaya Brachas Mutter in eine Pflegefamilie nach Wollishofen und heiratete als junge Erwach- sene den Sohn einer aus Italien eingewanderten jüdischen Familie; Ihr Vater starb, als das einzi- ge Kind, Chaya Bracha, vier Jahre alt war. „Sein überliefertes Erbe an mich waren die Worte: Wenn alles hoffnungslos ist und alles schief zu gehen scheint, wisse, in Israel kannst du immer ein neu- Die Silhouette des Alpsteins flankiert an dieser hoch es Leben beginnen. In meinem Elternhaus gab gelegenen Stelle des Appenzeller Dorfes die Hänge es diese grosse Sehnsucht nach der israelitischen wie ein aufgestacheltes Orchester. Bald dürften Sache.“ erste konzertante Salven herüberdonnern, mal mit Wagner’scher Wucht, dann wieder zart wie bei Chaya Bracha entschied sich für ein Studium der Sibelius. Die zierliche Frau mit den dichten dunklen Chemie, das Fach, welches lehrt, wie man Materie Haaren und der unauffällig bescheidenen, femini- gemäss den natürlichen Gesetzmässigkeiten trans- nen Kleidung, die auf das Klopfen aus der Türe des formieren kann. Dies wird sie später als Vergleich Bauernhauses tritt, könnte ihre Dirigentin sein. So dafür heranziehen, „wie sich der Mensch – die präsent und einem vom ersten Augenblick an Menschheit schlechthin zugewandt wie sie dasteht, so wunderlich ist Was kann ich – veredeln und transfor- es, sie hier anzutreffen, weitab vom nächsten bewohnten Haus. tun für den mieren kann bis hin zur Rehabilitierung von IHM, „Ich musste mich umsehen nach einem Ort, an Weltfrieden? dem von uns verachteten Juden Jesus, unserem re- dem ich nachdenken, lesen, forschen und schreiben ligiösen Bruder. Die Spannung um das jüdische kann und nicht abgelenkt werde“, erklärt Chaya Idol der Anderen, das heisst, das Bewusstsein, dass Bracha Beit David. Sie bittet ins Haus, das sie hü- das Idol beim jüdischen Volk auf dem letzten Platz tet und bewohnt, solange der Bauer mit seinen Kü- steht und bei den Anderen zum Himmel gelobt hen oben auf der Meglisalp ist. In der Küche hat und als Erlöserfigur dargestellt wird, begann mich sie ihr eigenes Koch- und Essgeschirr fein säuber- immer mehr zu beunruhigen. Wer ist dieser Jude, lich in einen separaten Schrank gestellt. Als sie vor der seit 2000 Jahren bei den Anderen im Anden- sechzehn Jahren aus der Stadt Zürich, wo sie auf- ken bewahrt wird? Haben wir mit ihm noch etwas gewachsen ist, ins Appenzellerland zog, trug sie zu schaffen?“ Als eine aus dem Stamm Beit David alles erst zum Becken eines koscheren Wasserfalls. Geborene sei es ihre Pflicht und ihr Recht, sich mit Das gebot ihr nicht das Elternhaus, sondern allein diesen Fragen auseinanderzusetzen. ihre persönliche Religiosität, zu der sie sich immer hingezogen fühlte und zu der sie letztlich auch ge- Chaya Bracha Beit David unterrichtete ein paar funden, oder besser, zurückgefunden hat. Jahre in Zürich. Dann reifte der Entschluss, sich dem israelitischen Erbe zu widmen. Sie reiste und Sie schätze es sehr, dass der Bauer ihr vertraue reist immer wieder nach Israel, „ins Land des Le- und nichts einzuwenden habe gegen ihre dem bens, wie mein Vater es nannte. Für mich begann orthodoxen jüdischen Glauben gewidmeten Feier- dort der Prozess der Entdeckung meiner Wurzeln. tage, die Riten, gegen die vielen Bücher und Psal- Die Rückkehr. Das intensive Talmud-Studium bei men. Fünfzehn Stufen führen ins Obergeschoss. angesehenen Rabbinern. Talmud, Midraschim, Ein guter Ort für Chaya Bracha, religiöse Verse Halacha. Der Bau Jerushalajims, die Erlösung und an den Treppenabsätzen anzubringen. „Es waren der Weltfrieden mit der Hilfe des Himmels sind fünfzehn Stufen gewesen, für die König David die und bleiben meine innerste Sehnsucht.“ sogenannten Stufenlieder verfasst hatte“. Chaya Bracha spricht sie alle auswendig. Sie füllt Wasser in ein Glas, Tee in ein anderes und geht voraus in die Stube, deren Wände bestückt sind mit zauber- haften Appenzeller Malereien. Der Hausherr selbst ist der Künstler. Porträts aus der
„Ich wollte nie so werden wie meine Mutter. Nie Lehrerin, machte mir grossen Eindruck. Ich lernte meine Talente so unter den Scheffel stellen wie sie am Familientisch kennen. Als Kind, wohl so um sie es tat – tun musste. Das Musische, das Singen 1938 herum. Damals begann ich, bei den Gesprä- waren ihr in die Wiege gelegt worden, doch sie chen unter den Erwachsenen zuzuhören. Anna konnte ihre Leidenschaft nur im Kreis der Familie Siemsen diskutierte intensiv und rauchte zudem ausleben. Ich wollte auch nie durch Ehe und Fami- eine Zigarre – damals etwas Unerhörtes für eine lie abhängig werden vom Einkommen eines Ehe- Frau.“ mannes.“ Die Mutter hatte sieben Kinder auf die Welt gebracht; zwei starben früh. Margrith Biglers Als die Anwältin Margrith Bigler, erste Bundes- lachsfarbenes Kostüm changiert mit den wachen, richterin der Schweiz, für die Recherchen zu ih- vitalen braunen Augen. Die Atmosphäre in ihrem rer Dissertation von der Bundespolizei benach- von Sonne durchfluteten Wohnzimmer flirrt. Die richtigt worden war, dass sie schon nach Bern 84-Jährige giesst Tee in zwei Tässchen und fährt kommen müsse, wenn sie Einsicht in gewisse Ak- fort: „Was vielleicht doch wieder mit dem dama- ten erhalten wolle, ging sie halt nach Bern. Suchte ligen Frauenbild, welches auch meine Mutter ge- dort ein Zimmer. Fand eines beim Fräulein Bigler, prägt hat, zusammenhing, ist die Tatsache, dass an deren Briefkasten auch noch der Name eines ich früher schlecht Nein sagen konnte.“ Dr. Kurt Bigler stand. Sie habe sich gewundert. Ein unehelicher Sohn vielleicht? Ein Neffe? Ein Bruder? Kurt Bigler stellte sich als der Adop- tivsohn von Fräulein Bigler vor. Er war Sekundar- lehrer und Amtsrichter in Erlach. Margrith Big- ler, damals noch Eggenberger, erfuhr, dass Kurt Bigler, auch er ein erklärter Sozialdemokrat, früher den Nachnamen Bergheimer getragen hatte und von den Nazis in ein Konzentrationslager in Südfrankreich geschafft worden war. Im Alter von sechzehn Jahren konnte er – anders als seine eben- falls internierten und später in Auschwitz ermor- deten Eltern – dank der französischen Résistance fliehen. Nach einer längeren Odyssee kam er zu Fräu- lein Bigler in Bern, er konnte Schulen und Matura nachholen, ein Studium der Germanistik und Lite- „Ja“ sagte sie, als ihr Kurt Bigler nach einem ratur absolvieren. Jahr Bekanntschaft einen Heiratsantrag mach- te. Nicht, dass sie es bereut hätte, es war nur, dass sie in jenem Jahr – als sie gerade den Ab- 1959 heirateten Kurt Bigler und Margrith Eggenberger. Wir müssen schluss ihrer Dissertation über Rückfallverbre- Ihr Mann habe ihr sehr bald wachsam cher abschloss – ein Praktikumsangebot in Zü- rich erhalten hatte, wo sie – nebst zwei Jahren in nach ihrem ersten Treffen seine Geschichte erzählt. bleiben Genf – studiert hatte. Sie sagte ab, um bei ihrem Neu für sie sei gewesen, dass da, anders als bei den im Berner Seeland wohnhaften Mann zu bleiben. Flüchtlingen, die sie im Elternhaus kennengelernt Zu ihrem „Ja“ hatte sie die Auflage hinzugefügt, hatte, jemand war, der die Erfahrung eines Konzen- beruflich keine Konzessionen machen zu müssen. trationslagers hinter sich hatte – und dieses Grauen Dennoch habe sie sich in der Arbeitswelt von Män- unauslöschbar in sich trug. Die Panikattacken, die nern oft wie ein Mensch zweiter Klasse behan- heftigen Reaktionen, wenn jemand eine unbedach- delt gefühlt. Zu ihrer Empörung gesellte sich der te Bemerkung machte. „Er war sehr auf ein stabi- Kampfgeist. „Ja“ hatte sie zu dem geliebten Men- les Umfeld angewiesen.“ Ihre Arbeit, erst in einer schen nicht zuletzt auch deshalb gesagt, weil er in Anwaltskanzlei in Biel, dann am Bundesgericht sich so vieles von dem vereinte, was sie in ihrem in Lausanne und schliesslich als Dozentin an der Elternhaus gehört, gesehen und erlebt hatte. Der Universität St. Gallen, boten diese Voraussetzung. Vater, Lehrer und Politiker bis hin zum National- Kurt Bigler wechselte 1965 ans Lehrerseminar rat, der aus einer Bergbauernfamilie stammte, leb- Rorschach. te seinen Kindern die Werte des Sozialdemokraten vor. Wehrte sich gegen jegliche Art von Ausbeu- Seine Frau, unerschütterliche Kämpferin der ers- tung von Arbeitskräften. „Die Grossmutter mütter- ten Stunde für die Rechte und Gleichstellung der licherseits lebte nach dem Tod ihres Mannes bei Frau, zweifache Ehrendoktorin, betreut weiter- uns. Sie hatte nichts. Ich erlebte das erste Mal, was hin den von ihr und Kurt Bigler eingerichteten es heisst, verarmt zu sein. Die Einführung der AHV Fonds für Projekte um die Holocaust-Forschung. war 1948 ein Glücksfall für die 76-Jährige, die bis- „Wir müssen wachsam bleiben!“, mahnt Margrith her über keinen Rappen eigenes Geld verfügt hatte.“ Bigler, „und zwar in jeder Hinsicht. Besonders auch in Bezug auf die zunehmend mangelnde Aufmerk- Während den Kriegsjahren hatten Eggenbergers in samkeit junger Frauen, was die Errungenschaften Uzwil ein offenes Haus. Flüchtlinge fanden bei ihnen der Emanzipation betrifft. Wir leben nach wie vor Unterschlupf. „Einmal wohnte ein österreichischer in einem Männerstaat!“ Arbeiterdichter bei uns. Und die aus Deutschland geflohene Anna Siemsen, eine linke Politikerin und
auch Ministerpräsidentin werden.“ Es kam dann anders. In der Fabrik, in der sie als Studentin zeit- weise arbeitete, lernte sie ihren zukünftigen Mann kennen. Gemeinsam mit ihm verliess sie Israel im Jahr 1988. „Mein Mann wollte aus privaten Gründen etwas Abstand zu seiner Heimat gewin- nen. Wir dachten – und ich hoffte es damals sehr – nach zwei, drei Jahren zurückzukehren. Daraus sind nun dreissig Jahre geworden.“ Michaella Guez-Barasch trägt eine Traurigkeit in sich. Der Tee riecht nach Zimt und Ingwer, die Datteln sind fleischig. Sie stammen aus ihrer Hei- mat, die sie so oft wie möglich besucht. Eine ihrer Schwestern ist zum orthodoxen jüdischen Glauben Der zurückhaltende, aber bestimmte Tonfall in übergetreten. Sie hat sechs Kinder. Ja, es gebe Dis- ihrer Stimme, die feingliedrige Erscheinung, der kussionen, heftige manchmal. „Neulich etwa we- wilde Lockenkopf. Michaella Guez-Barasch öffnet gen den Palästinensern, die zur Arbeit nach Israel ihre Wohnungstüre weit, bittet ins helle Wohnzim- gehen und keine Konservenbüchsen mehr mit sich mer mit einer breiten Fensterfront, der Blick ins führen dürfen. Wegen Bombengefahr. Also müssen Appenzellerland spektakulär. „Was soll ich sagen? sie sich ihren Thunfisch in Plastikbeutel füllen. Das Ich bin seit meinem zweiten Lebensjahr eine bedaure ich sehr.“ Doch man dürfe nie und nichts Migrantin.“ So beginnt sie, die Geschichte des Mäd- bagatellisieren. Es gebe keine einzige Familie, kei- chens, das damals, als es zwei Jahre alt war, mit ne einzige Freundin, die nicht in irgendeiner Weise Eltern und Geschwistern aus der tunesischen Hafen- von dieser schrecklichen Geschichte betroffen sei. stadt Bizerta nach Aschdod übersiedelte. Nach der Abschaffung des französischen Kolonialregimes im Jahr 1956 war es dort zu mehreren Zwischenfällen Trotz des Morschach im Kanton Schwyz. Das war die mit vielen zivilen Opfern gekommen. 1961 startete Israel eine Rettungsaktion. Die jüdischen Tunesier Heimwehs erste Station der Fa- milie Guez-Barasch. aus Bizerta, es waren einige hundert, wurden eva- bin ich sehr Michaella erwartete kuiert und nach Israel gebracht. dankbar ihr erstes Kind. Dann Weggis. In Herisau „Ich war ja sehr klein und habe keine Erinnerun- im Kanton Appenzell Ausserrhoden erhielten sie gen, weder an Tunesien, noch an die Reise. Man schliesslich eine Aufenthaltsbewilligung. Da war brachte uns über Algerien nach Marseilles und Tel sie nun. Als Jüdin. Als Migrantin. Als berufstäti- Aviv. Wir, die Eltern und meine drei Geschwis- ge Mutter von inzwischen zwei Kindern in einem ter, waren eine typische Immigrantenfamilie Kanton, der das Frauenstimmrecht noch nicht neben sehr vielen anderen Einwanderern in der kannte. Das Paar gründete eine bis heute erfolg- Stadt Aschdod, die neben der antiken Stadt prak- reiche internationale Handelsfirma für Fruchtsaft- tisch aus der Wüste gestampft worden war. In un- konzentrate. Die Kinder, beide heute erwachsen, serem Haus gab es Menschen aus Indien, Argentini- besuchten in Herisau die Grundschule, später das en, Rumänien, Marokko und aus dem Irak. Es roch kantonale Gymnasium in Trogen. Trotz ihres Heim- immer nach wunderbaren Gewürzen. Meine Mut- wehs sei sie für vieles, was man ihrer Familie in ter lernte, indische Gerichte zu kochen. Wir spra- der Schweiz ermöglicht habe, äusserst dankbar. chen in der Familie französisch. Wenn die Eltern wollten, dass wir nicht mithörten, wechselten sie Mit der Synagoge in St. Gallen ist sie verbunden, seit ins Arabische. Wir waren eine liberale, nordafrika- ihr Sohn sich als Jugendlicher vorbereiten musste nische jüdische Familie. Das Essen war koscher, an auf Bar Mizwa, die religiöse Mündigkeit. Seither ist Yom Kippur, dem höchsten jüdischen Feiertag im ihr, die sich als nicht religiösen Menschen bezeich- Herbst, hat man gefastet, aber Vater hat an net, das Gottes- und Gemeinschaftshaus spirituelle Schabbat geraucht.“ Unterstützung. Eine Brücke zwischen Berufstätig- keit, Familie und dem freiwilligen Engagement Michaella Guez-Barasch wäre gerne Sozialarbeite- für Flüchtlinge und andere Hilfsbedürftige. Sie rin geworden, doch sie entschied sich für ein Öko- wendet ihren Blick Richtung Küche, zum Gemälde nomiestudium. Als Jugendliche und junge Frau des israelischen Künstlers Reuven Rubin. Ein fei- war sie politisch aktiv. Sie wollte auch wissen, was ner weisser Nebel zieht herab über einen alt ge- und wie andere Menschen denken, sie pflegte Be- wachsenen Olivenhain. Ein Bild wie aus der Bibel, ziehungen zu einer christlichen Gemeinde im Nor- die auf dem Tisch liegt. Auf der aufgeschlagenen den des Landes. Sie war hingerissen von Golda Seite ist von den Propheten die Rede. Meir. „Ich dachte immer, ich sehe ein bisschen aus wie sie. Was mich auf die Idee brachte, ich könnte
Eines möchte Roland Richter gleich zu Beginn „Den Religionsunterricht erhielt ich bei Rabbiner klarstellen: Zuschreibungen wie „jüdische Her- Lothar Rothschild. Während meiner Zeit an der Kan- kunft und jüdischer Hintergrund“ seien fehl am tonsschule war ich beeindruckt von seiner grossen Platz. „Ich bezeichne mich als akkulturierten Ju- Fähigkeit, die jüdische Geschichte unaufdringlich den mit einer starken jüdischen Identität.“ Er weise und ohne ideologischen Unterton zu vermitteln. auch gerne auf den grossen Unterschied zwischen Er weckte mein Interesse an ihr, das bis heute nie Akkulturation und Assimilation hin. Würde er mehr abgebrochen ist.“ Ganz besonders stark wuchs Letztere anstreben, müsste er sich verbiegen. Roland Richters Begeisterung, als er 1987 mit sei- „Wir Juden sind Weltmeister darin, uns den lo- ner Frau Jacqueline und der damals 17-jährigen kalen Gegebenheiten anzupassen. Keine Ethnie Tochter Nadine ein erstes Mal nach Israel reiste. kennt sich besser damit aus. Die jüdische Geschich- „Die Aufbruchsstimmung gefiel uns sehr!“ Als dann te ist seit 2000 Jahren die der Diaspora. Das die Tochter 1995 endgül- Bewusstsein, zu einer Minderheit zu gehören, Ich bin stolz tig nach Israel auswan- begleitet mich seit meiner Kindheit und nicht derte, dort einen Juden nur um Weihnachten herum.“ Die Kinderjahre darauf, Jude heiratete, dessen Gross- verbrachte Roland Richter in der Stadt St. Gal- len. Beide Elternteile waren Juden, deren Fa- zu sein eltern aus Mosul im al- ten Babylon und aus dem milien Ende des 19. Jahrhunderts aus Galizien in Spanien der Judenvertreibung von 1492 stamm- die Schweiz eingewandert, beziehungsweise ge- ten, justierte Roland Richter seine Haltung erneut. flüchtet waren. In Russland und der Ukraine hatte „Nadine sagte schon als Kind allen klipp und klar, es damals Pogrome gegen die jüdische Bevölke- dass sie Jüdin sei. Sie hat in Israel ihre Heimat ge- rung gegeben. funden. Wir reisen seither regelmässig hin, schon wegen unserer Enkelin. Der gelebte Alltag, die vielen Gespräche mit den unterschiedlichsten Menschen, sie halfen uns, langsam eine sehr per- sönliche Beziehung aufzubauen. Und es gibt den reinigenden Aspekt: Wir können aus einem Minder- heiten-Dasein heraustreten. Ich kann heute auch die Aussage in einem Dokumentarfilm über Kinder von Schoah-Überlebenden nachvollziehen: Israel ist das einzige Land, in dem ich als Jude nicht je- den Juden nett finden muss.“ Roland Richter hatte Medizin studiert und als jun- ger Mann seinen Lebensmittelpunkt nach Basel ver- schoben, wohin ein Bruder sowie die Mutter nach dem Tod ihres Mannes gezogen waren. Die Faszi- nation im Studium, erst das der Chirurgie, dann 1931 hatten Roland Richters Eltern geheiratet; bald der Gynäkologie, sei so immens gewesen, dass die darauf ergriffen in Deutschland die Nationalsozi- 1968er-Jahre praktisch an ihm vorbeigerauscht alisten die Macht. „Meine Eltern, der Vater führte seien, erzählt der heute 73-Jährige. Die Begeiste- eine Zahnarztpraxis am Schibenertor, dachten so- rung hielt die ganzen Berufsjahre über an; steigerte gar hier in St. Gallen über kollektiven Suizid nach, sich noch, als er 1991 in Israel weilend, der Golf- sollten die Deutschen die Schweiz überfallen. Sie krieg war gerade zu Ende, eine neue Methode des wussten nicht, wem sie trauen konnten. Sie ver- Kaiserschnitts kennen lernte, die er später selber kehrten in jüdischen Kreisen, waren aber ein ganz als Lehrender bis nach China trug. Heute werde normales, gemässigt religiöses jüdisches Paar, das sie weltweit angewendet. mit den drei Söhnen – ich als Nesthäkchen – die jü- dischen Feiertage einhielt, am Samstag weder Fahr- Bevor er 1984 beschloss, in seine Geburtsstadt zu- ten unternahm noch Sport trieb und sich bis in die rückzukehren und in St. Gallen eine Praxis aufzu- 1950er-Jahre hinein koscher ernährte.“ Die den Kib- bauen, war er Leitender Arzt an der Frauenklinik buz idealisierende zionistische Jugendgruppe, die Basel gewesen. Und wieder war es ein Mann namens es in Roland Richters Kindheit in der Stadt gab, habe Rothschild, Simon mit Vornamen, welcher der Fa- ihm wenig zugesagt, zu sehr sei er im bürgerlichen milie – diesmal nicht geistige, sondern funktionale – Elternhaus eingebettet gewesen. Auch später habe Türen aufstiess, um in der Stadt Fuss zu fassen. Von er sich gelangweilt, als er sich in einem Umfeld ihm übernahm er 1995 das Präsidium der jüdischen bewegte, das sich sehr intensiv – zu intensiv für Gemeinde und behielt es bis 2009. „Ja“, unter- seinen Geschmack – mit der jüdischen Lebensart streicht Roland Richter nochmals, „ich bin Jude beschäftigte. und ich bin stolz darauf.“ Porträts aus der
Froh gelaunt vor sich hin summend, trippelt der er war Zionist, kam nur Palästina in Frage. Dort Rabbiner der Jüdischen Gemeinde St. Gallen wuchs ich auf. Als Kinder spielten wir Soldaten mit aus seinem Arbeitszimmer, verabschiedet seine gebastelten Gewehren. Später war ich selber drei- Frau, mit der er über fünfzig Jahre verheira- mal im Krieg. Ich erlebte die Gründung des Staates tet ist und Englisch spricht, mit einem „Bye, bye, Israel. 1964 ging ich für das Studium nach Ameri- Sweetheart“. „Sie sollten eigentlich mit ihr sprechen. ka. Dort lernte ich meine Frau kennen, eine Ame- Sie weiss viel mehr über die Rabbiner als ich. Sie ist die rikanerin. Sie war an der gleichen Uni, studierte Tochter, die Schwester, die Mutter und die Frau eines Geografie und Stadtplanung. Unsere beiden Söh- Rabbiners“, sagt Tovia Ben-Chorin lachend. Über- ne leben in Tel Aviv und Haifa. Der eine ist Anwalt haupt lacht er gern. „Sie wollen wissen, weshalb und Atheist, der andere Rabbiner. Liberal wie ich. ein orthodoxer jüdischer Schüler am Schabbat Er beschreitet viele unkonventionelle Wege bei nicht mitschreibt in der Schule? Rabbiner Joshua seiner interreligiösen Arbeit mit Jugendlichen und Heschel sagte ein- Erwachsenen. Wir haben fünf Enkelkinder. Selbst- Das Phänomen mal: Der Schabbat verständlich vermissen wir sie. Das ist ein heikles des Recht- ist ein Palast der Zeit. Ich als libera- Thema zwischen mir und meiner geliebten Gattin. haben-Wollens ler Rabbiner über- setze die Regeln ist uns nicht und Riten weniger fremd im praktischen und schon gar nicht im ideologischen Sinn, sondern eher spirituell, ermes- se sie an ethischen Werten. Es ist wie ein Sonntag bei den Christen, ein Freitag bei den Moslems, ein Tag der Einkehr, des In-sich-Ruhens, und folglich des Verzichts auf jegliche körperliche Anstrengung. Orthodoxe Juden schalten am Schabbat auch kei- nen Lichtschalter, keinen Fernseher an, weil das Element Energie, vom Feuer abgeleitet, damit in Verbindung gebracht wird. Wobei es heutzutage natürlich Möglichkeiten gibt, diese Schalter zu pro- grammieren. Ich persönlich würde am Schabbat Und wenn Sie mich jetzt fragen, warum ich im nicht einkaufen gehen. Aber ein Museumsbesuch Alter von 79 Jahren nochmals eine neue Aufga- muss drin liegen. Die Karten kaufe ich aber bereits be angenommen habe, dann antworte ich Ihnen: am Tag zuvor. Wenn wir nach Israel zurückgekehrt wären, dann fände mein Leben zwischen Kaffeehaus, Arztpra- Ich liebe St. Gallen. Wir sind seit zwei Jahren hier. xis und Bankschalter statt. Das wollte ich nicht. Es ist wie in einer Mini-Grossstadt, mit den Mu- Es ist sehr interessant, eine so kleine jüdische Ge- seen, dem Theater, den Konzerten, den Lesungen meinde mit nur 100 Mitgliedern zu betreuen. Ich und sonstigen Veranstaltungen. Und die vielen Ge- bemühe mich darum, alle persönlich zu kennen. spräche, die sich spontan ergeben. Neulich in ei- Und ich verbringe viel mehr Zeit als früher mit ner Papeterie ruft die Verkäuferin: Sie sind doch meiner Frau. Wenn wir nicht in die Synagoge ge- der Rabbiner! Sie hatte mein Foto auf einem Flyer hen, beten wir hier zusammen. Wir sprechen über gesehen, den jemand bei ihnen im Laden kopiert einzelne Wörter. Was sie bedeuten könnten. Sie hatte. Und an der Kasse in der Migros zückte ein kennt sich in der Judaistik hervorragend aus. Ich junger Mann sein Handy. Nicht, weil er mich foto- bin im Moment in einer Phase, in der ich alles noch- grafieren wollte, sondern weil er eine kleine An- mals überdenke. Auch das Phänomen des Recht-ha- sprache von mir an einer interreligiösen Veran- ben-Wollens. Es ist uns allen nicht fremd. Dabei staltung aufgenommen hatte und mir das Video müssten wir doch fragen: Was blockiert mich, dich zeigen wollte. Die Zugfahrt nach Zürich erlebe ich verstehen zu können? Was blockiert dich, mich jedes Mal wie einen Film. Immer habe ich viel zu verstehen zu können? Ich glaube, ich habe früher lesen dabei und schaue doch nur aus dem Fenster viel nachgeplappert. Ich richtete, wenn ich von in die Landschaft. Zürich ist mir nicht fremd. Ich Gott sprach, den Zeigefinger nach oben. Das wür- verbrachte, nach Jahren in Jerusalem und Man- de ich heute nicht mehr tun. Ich denke eher an den chester, dreizehn Jahre als Rabbiner in der jüdisch- Schöpfer im Zyklushaften des Lebens, des Todes liberalen Gemeinde Or Chadasch. Bis 2009. Dann und der Seelenwanderung, als an einen barmher- folgten fünf Jahre in Berlin. zigen Richter im Himmel.“ 1935 hatten meine Eltern, die bis dahin in Mün- chen gelebt hatten, das richtige Gespür gehabt. Mein Vater war ein Religionswissenschaftler und Philosoph, der sich stark für den christlich-jüdi- schen Dialog engagiert hatte. Seine Schwester hat- te ihnen bereits Schiffskarten für die Überfahrt nach Argentinien geschickt. Doch für meinen Vater,
Sie können auch lesen