Wie das Böse nach Tessin kam

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                       Wie das Böse nach Tessin kam

   An einem Samstagabend im Januar klingelte der 17-jährige Felix D. mit einem
Freund an einer Haustür in seinem Heimatdorf. Dann töteten sie mit unfassbarer
Brutalität das dort lebende Ehepaar. Ein Versuch, diese Tragödie zu verstehen

  Von Sabine Rückert, Die Zeit, 21.06.2007

 So kann man sich den Einschlag eines alles vernichtenden Meteoriten auf der
Erdoberfläche vorstellen: Man steht friedlich auf seiner Terrasse, die Sonne scheint,
man raucht eine Zigarette und weiß beim Anstecken noch nicht, dass es die letzte sein
wird. Kein Grollen, kein Beben, kein Vorbote des Untergangs. Und dann, aus dem
Nichts, fängt der Himmel Feuer, der Boden unter den Füßen bricht ein, und ein Sturm
der Verwüstung fegt alles hinweg, was war – noch ehe das Gehirn begriffen hat.
  Am Morgen eines milden Wintertags, des 14. Januar 2007, tritt Karl-Heinz D., damals
Vorsitzender des Betriebsrats der ZEIT und bei der Innenverwaltung des Verlags
beschäftigt, vor die Tür seines Hauses im Dorf Tessin, um eine Zigarette zu rauchen. Es
ist Sonntag, am Abend zuvor war er mit seiner Frau im Kino gewesen. Jetzt trinkt sie in
der Küche Kaffee, die beiden Kinder, die 15-jährige Jana und den 17-jährigen Felix, hat
D. noch nicht gesehen, sie schlafen wohl noch. Der Mann braucht keine Jacke, die
Sonne füllt die Terrasse mit milchigem Licht. Da tritt der Nachbar an den Zaun; „Schon
gehört“, fragt er herüber, „gestern Abend sollen in der Dorfstraße zwei umgebracht
worden sein.“ – „Ich schau mal vorbei“, gibt D. zurück, löscht seine Zigarette und
nimmt für die paar Hundert Meter das Auto. „Tatortneugier“ habe ihn hingezogen, sagt
er heute, eine Vorahnung hatte er nicht.
  Den Menschenauflauf beim Haus Nummer 22 hat D. gleich gesehen. Die Polizei hatte
den Tatort abgesperrt. Alle Gesichter wenden sich ihm, dem Neuankömmling, wortlos
zu, als er aus dem Wagen steigt. D. wundert sich. Warum starren die ihn so an? So
unsicher? So fremd? Er kennt sie doch alle. Gehemmt kehren sie sich wieder ab.
Niemand spricht ihn an, als er durch die Umstehenden schreitet. Niemand gibt ihm eine
Antwort, wenn er fragt. D. wendet sich an einen Kriminalbeamten: Was passiert ist, will
er wissen. Die Auskunft fällt knapp aus: Das Ehepaar E. sei heute Nacht von zwei 17-
Jährigen erstochen worden. „Wenn Sie mehr erfahren wollen, wenden Sie sich an die
Staatsanwaltschaft Schwerin.“
  Zwei 17-Jährige? Eine dünne, böse Angst zieht sich zu um D.s Kehle. Sein Sohn Felix
ist 17. Aber der ist doch zu Hause im Bett.
 Oder?
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  Warum diese Blicke? Dieses Schweigen? Da entdeckt D. die Bürgermeisterin in der
Menge. Eine Amtsperson – sie wird ihm sagen, was los ist. „War mein Sohn dabei?“,
fragt D. ohne Kraft, während es ihm in den Ohren kracht und die Erde unter seinen
Füßen Risse bekommt. Und noch bevor die Frau antwortet, hat er verstanden.
  Felix. Der intelligente Junge, der erfolgreiche Gymnasiast, der wohlerzogene Sohn,
der jedermann höflich grüßte. Er war keiner von jenen Tunichtguten, die ihren Eltern
schlaflose Nächte bereiten. Deshalb hatten die D.s es auch nicht für nötig gehalten, zu
kontrollieren, ob er in der Nacht des 13. Januar im Bett lag, als sie gegen halb elf Uhr
heimgekommen waren. Nie hatte die Polizei Felix irgendwo aufgreifen und nachts nach
Hause bringen müssen, nie war er laut oder hinter Mädchen her gewesen, nie hatte er
gepöbelt oder sich geprügelt. Er trank nicht, er klaute nicht, ging selten auf Partys.
Rauschgift, Motorradgangs oder andere jugendliche Verirrungen, mit denen viele Eltern
über Jahre zu kämpfen haben, blieben den D.s erspart. Ihr Felix war anders: verlässlich,
vernünftig, verantwortungsvoll. Ein guter Bursche, ein zuversichtlicher Ausblick in die
Zukunft. Jedenfalls bis zum 13. Januar 2007 – da nämlich lagen gegen 22 Uhr zwei
blutüberströmte Leichen im Backsteinhaus Dorfstraße 22. Niedergemetzelt mit
Küchenmessern. Von Felix, dem Musterknaben.
  Noch am Tatort war er zusammen mit seinem Freund Torben verhaftet worden. Doch
niemand hatte seinen Eltern Bescheid gesagt. Kein Beamter hatte an die Tür gehämmert
und sie aus dem Schlaf gerissen. Erst am Tag nach der Tat kam die Kripo, durchsuchte
das Zimmer des Jungen und nahm seinen Computer mit. „Als mir aufging, was er
angerichtet hat“, sagt Karl-Heinz D., „wünschte ich, er wäre tot.“ Später, als er mit
seinem Sohn telefonieren durfte, sagte er bloß: „Lüg dich da nicht raus. Steh wenigstens
dazu, was du gemacht hast.“
  Der frühe Abend des 13. Januar verläuft scheinbar friedlich im Hause D. Felix, sein
Freund Torben, seine Schwester Jana und deren Freundin Eyleen essen mit den Eltern
D. zu Abend. Es gibt Hotdogs, und die Kinder greifen mit gutem Appetit zu. Nichts, gar
nichts deutet darauf hin, dass es in dieser Nacht ein Blutbad geben wird. Das einzige
Ungewöhnliche mag sein, dass die Jungs sich nachher freiwillig zum Küchendienst
melden und mustergültige Ordnung herstellen. Heute kennt D. den Grund für diesen
Eifer: „Sie wollten allein in der Küche sein, um an die Messer zu kommen.“ Mindestens
sechs werden Felix und Torben drei Stunden später beim Überfall mit sich führen.
  Als die Eltern D. im Kino sind, ziehen sich die Jungs in Felix’ Zimmer zurück, um
eine DVD anzusehen: Es ist der Film Final Fantasy VII, eine computeranimierte
Heldensaga, deren Erscheinen Felix mit großer Ungeduld erwartet hat. Danach brechen
sie zur Bushaltestelle auf.
  Tessin, ein Dorf an einer mecklenburgischen Straßenkreuzung in der Nähe von
Boizenburg, hat vielleicht zweihundert Einwohner. Mit der Bahn braucht D. vierzig
Minuten bis in die ZEIT- Redaktion . Es gibt einen hübschen Weiher und ein paar
Schritte weiter eine Bushaltestelle, wo sich mangels Alternative die Dorfkinder
versammeln. An diesem Abend sind es Jana und Eyleen, die mit anderen
Halbwüchsigen in der frühen Dunkelheit des Januarabends dort stehen, Alkopops
trinken und ihrer Langeweile mit Handystreichen beizukommen suchen.
 Felix wendet sich an Eyleen und überredet sie, ihn in die Finsternis zu begleiten. Die
beiden Jungs wandern mit dem Mädchen zum etwas abgelegenen Haus der E.s und
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betreten den Schuppen. Plötzlich fühlt sie von hinten einen harten Griff. Umständlich
fesseln und knebeln die Jungs die 15-Jährige, die den Übergriff noch komisch findet
und sich deshalb nicht sonderlich wehrt. Warum sollte sie auch: Felix ist der Bruder
ihrer besten Freundin, sie kennt ihn seit vielen Jahren. Schon früher haben die zwei
Burschen sie mal an einen Baum gefesselt und „satanische Rituale“ an ihr zelebriert, die
darin bestanden haben, dass sie Wunderkerzen ansteckten. Und Felix hat in der D.schen
Küche auch einmal mit den dumpfen Worten „Die Wege eines Kriegers sind
unergründlich!“ das Messer gegen sie erhoben – spaßhaft, wie es schien. Es kann sich –
so glaubt Eyleen – auch jetzt nur um eine fortgeschrittene Variante des Indianerspiels
handeln.
  Doch diesmal macht niemand Spaß. Eyleen ist eine Geisel, sie weiß es nur noch nicht.
„Du wirst heute noch Leichen sehen“, prophezeit ihr Felix. Dann lassen die beiden
Jungen die Gefesselte im Schuppen zurück und klingeln bei den E.s. Der Vater öffnet, er
kennt die zwei. „Reno“, sagt Felix, das ist ein Name aus Final Fantasy und das
Codewort zum Losschlagen. Die Jungs ziehen die Messer und halten sie E. an die
Kehle:
 Auf die Knie!
  Doch E. folgt nicht, er wehrt sich. Zornig greift er in die Messer, und plötzlich hat er
eines in der Hand. Da lassen die Eindringlinge alle Hemmung fahren und stechen
blindlings auf ihn ein, wie Besessene.
  Noch während der Mann im Todeskampf zu Boden geht, stürmen die 17-Jährigen die
Treppe hoch, irgendwo muss die Frau sein. Zunächst stoßen sie aber auf Florian, den
Sohn der E.s, ebenso alt wie sie selbst. Er stürzt in einen Raum, haut die Tür zu und
riegelt sich ein. Da rennt seine Mutter in heller Panik kreischend aus dem Schlafzimmer.
Augenblicklich wird sie von Klingen durchbohrt, 62 Messerstiche wird der
Gerichtsmediziner später allein an ihrem Körper zählen. Die Todesschreie der Frau
machen Felix noch aggressiver, wütend tritt er ihr ins Gesicht.
  Als Antje E. röchelnd in ihrem Blut liegt, schickt Felix den Freund Torben los: Er soll
die Geisel aus dem Schuppen holen. Eyleen soll sich das angerichtete Unheil genau
ansehen, dann wird sie wohl aufhören zu grinsen, dann wird sie erkennen, dass die Welt
Grund hat, sich vor Felix zu fürchten. Er selbst versucht mit Brachialgewalt in jenes
Zimmer zu gelangen, in dem sich Florian verbarrikadiert hat. Zum Glück steht drin ein
Telefon. Um 22.09 Uhr geht bei der Rettungsleitstelle Schwerin ein Notruf ein, der den
Horror im Hause E. dokumentiert:
  Krank vor Angst, versucht Florian den Beamten davon zu überzeugen, dass er in
tödlicher Gefahr schwebt, dass seine Eltern ermordet im Haus liegen und einer der Täter
ihm nun selbst ans Leben will. Der Feuerwehrmann, der laute Hintergrundgeräusche
hört, glaubt offenbar zunächst an einen Dummejungenstreich. Doch vor dem
verrammelten Zimmer tobt der vom Blutrausch gepackte Felix, er rennt auf und ab,
wirft sich gegen den Türstock, stößt Drohungen aus, spuckt pausenlos aus und hackt mit
dem Messer hektisch auf das Holz ein. Endlich entschließt sich der Mann von der
Rettungsleitstelle, dem jugendlichen Anrufer zu glauben und jemanden
vorbeizuschicken, jedoch nicht ohne auf die Kosten eines unsinnigen Einsatzes
hinzuweisen.
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  Als Florian auflegt, steht auf der anderen Seite der Tür inzwischen auch Torben mit
der zu Tode erschrockenen Eyleen. Felix bemerkt, dass die blutbesudelte, schwach
atmende Mutter noch Lebenszeichen von sich gibt. Da geht er auf die Sterbende los und
fordert Eyleen ausdrücklich auf zuzusehen. Dann sticht er Antje E. noch einmal heftig
in den Kopf, während das Mädchen sich abwendet. Und sich aufrichtend, fragt er sie:
Glaubst du’s jetzt?
  Unten geht die Haustür auf: Hallo!, ruft ein Polizeibeamter ins Haus. Felix hält Eyleen
das Messer an den Hals. Als sie merken, dass es Tote gibt und die Jungen eine Geisel
haben, ziehen die Beamten sich sofort zurück. Während Torben zunehmend die Nerven
verliert und sich nicht mehr konzentrieren kann, wirkt Felix beherrscht. Der Plan ist, das
Auto der E.s zu kapern und damit zu verschwinden. Die Jungs schleichen mit ihrer
Geisel durch den Hinterausgang, den Schlüssel für den alten weißen VW Polo der
Getöteten haben sie sich genommen. Torben setzt sich hinters Steuer, Felix nimmt
neben Eyleen im Fond Platz, in der blutverkrusteten Faust immer noch das
Küchenmesser. Ruckelnd und ohne Scheinwerfer setzt sich der Kleinwagen in
Bewegung, ringsum tiefe Nacht. Plötzlich gibt Torben Gas, durchbricht das
geschlossene Gartentor, durchstößt den Weidezaun auf der anderen Straßenseite und
schießt über eine Koppel, prallt an ein parkendes Fahrzeug. Die Fahrt ist zu Ende.
  Über eine Stunde bleiben die drei Halbwüchsigen – angestrahlt vom Scheinwerferlicht
der Polizeilampen – im VW auf der Weide sitzen. Nähert sich ein Beamter, hält Felix
der Geisel das Messer an die Kehle. Dazwischen sticht er in die Sitzpolster, an die
Fensterscheiben, in die Deckenverkleidung. Torben dreht das Radio an, die Musik von
N-Joy Radio füllt das Wageninnere. Den Jungs gefällt das, ihre Stimmung ist locker.
Umstanden von Rettungsfahrzeugen und Funkstreifenwagen, unterhalten sie sich
darüber, wie leicht es sich anfühlt, einen Menschen abzustechen. Dann gesteht Felix der
starr dasitzenden Eyleen seine Liebe, mit blutigen Händen streichelt er sie übers Haar
und fragt, ob er sie küssen dürfe. Dann wieder will er sich die Klinge selbst in die Brust
stoßen und fragt den Freund, ob er bereit sei, mit ihm zu sterben. Doch Torben will
davon nichts hören, er will leben. Erst als Eyleen dringend zur Toilette muss, erschließt
sich den Tätern die Aussichtslosigkeit ihrer Lage, Felix wirft das Messer durchs Fenster
ins Gras und klettert mit erhobenen Händen aus dem Fahrzeug.
  Der erste Gedanke – oder besser: die erste Hoffnung – der Eltern nach der Tat war
gewesen, Felix könnte wahnsinnig geworden sein und das Gemetzel im Zustand
geistiger Umnachtung angerichtet haben. Ein Verrückter kann nichts für das, was er tut.
Und konnte das sinnlose Wüten in jener Nacht etwas anderes gewesen sein als das Werk
eines Kranken? Psychiatrische Begriffe wie „Psychose“ und „schizophrener Schub“
erschienen den D.s plötzlich wie Worte des Trostes. Fachtermini aus der medizinischen
Literatur, die dem Grauen, welches das eigene Kind ihnen einflößte, in einen irgendwie
wissenschaftlichen Rahmen setzten. Gegen so was gibt es Medikamente, dachten die
D.s.
  Inzwischen wissen sie es besser. Ihr Sohn ist nicht krank und war es auch während der
Tat nicht. Die beiden jugendlichen Täter sind für das Verbrechen am Ehepaar E. voll
verantwortlich. Felix ist vom Berliner Sachverständigen Hans-Ludwig Kröber
untersucht worden, und der erfahrene Kriminalpsychiater hat bei ihm keinerlei
krankhafte seelische Störung finden können. Seither versuchen die D.s an der
Gewissheit, dass das Böse ihre Familie heimgesucht hat, nicht zugrunde zu gehen.
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  Alle 14 Tage besuchen sie ihren Sohn, der inzwischen einen Selbstmordversuch
unternommen hat, im Untersuchungsgefängnis. Sie treten in den Besucherraum, und da
wartet wieder jener Junge, der Felix vor dem 13. Januar gewesen war. Ein lieber Kerl,
ein zärtliches Kind, das begierig alles von zu Hause wissen will. Manchmal erzählt er
skurrile Geschichten aus dem Knastalltag. Manchmal weint er. Den Vater reißt es
mittendurch: Da sitzt sein Sohn, den er liebhat wie nichts auf der Welt – da sitzt ein
Doppelmörder, dessen Unbarmherzigkeit seine Vorstellungskraft übersteigt. „Wie geht
das zusammen?“, denkt sich D., „Wie soll ich das aushalten?“
  Wer die Familie D. in Tessin besucht, hat auf der Anfahrt das Gefühl, ins
Niemandsland zu reisen. Die Straße führt durch menschenleere Landschaften. Im
Winter verschmilzt das dünne Weiß der Schneedecke so vollständig mit dem
vernebelten Horizont, dass der Besucher aus der Welt geraten zu sein glaubt. Im
Sommer lastet der geräuschlose Friede schwer auf den Feldern. Honigfarbenes Licht
ergießt sich über alte Bäume, Wind spielt in den Blättern, Wasserläufer huschen über
Teiche. Hier ist das Leben kein munter springender Bach, sondern ein stehendes
Gewässer. Tessin – ein Ort für Maler im Ruhestand, für Ornithologen, die
ausgestorbenen Wasservögeln nachspüren, ein Refugium für Philosophen, die lebenssatt
ihre letzten Erkenntnisse formulieren. In jedem Fall ein Ort, an dem man sein Dasein
beschließt. Hier sollte sich nicht niederlassen, wer noch Erwartungen ans Leben hat.
  Als die D.s das alte Tessiner Backsteinhaus mit Garten kauften, war ihnen egal,
welche Perspektive sich hier für Jugendliche auftun würde. Sie kamen aus Lüneburg,
wo der Verkehr vor ihrer Haustür toste und der Streit der Nachbarn durch die Wände
drang. Hier fanden sie Platz und Ruhe für die beiden kleinen Kinder, Felix und Jana.
Die Mutter holt die Familienfotos aus der Schachtel. Ihr Mann „Kally“ mit dem
rotbackigen Felix auf den Schultern, drei Jahre ist er alt. Die Mama mit den Kindern
unterm Weihnachtsbaum. „Wir waren eine ganz normale Familie“, sagt sie, „jedenfalls
haben wir das geglaubt.“ Jeanette D. ist eine dunkle, zerbrechliche Person, mit schönen,
aber verschatteten Augen. Traurigkeit umweht sie wie Parfum. Bis zum Verbrechen
ihres Sohnes war sie Marionettenspielerin. Die ganze Familie half ihr dabei. In den
Ferien zogen sie mit dem Puppentheater zu viert durch die Städte und führten selbst
geschriebene Stücke auf. Auch die aufwendig ausgestatteten Figuren hat die Familie
zum größten Teil eigenhändig hergestellt. Felix, der sich mit den Jahren mehr für
Technik interessierte, war zuletzt für Toneffekte und Beleuchtung zuständig.
 Jetzt baumeln die Marionetten in ihrer kleinen Kammer schlaff am Haken. Das
Theater ist tot. Prinzessinnen und Außerirdische, Eulen, Teufel, Kraken, Hexen, Kasperl
und Wassermänner lassen die Arme hängen und gucken niedergeschlagen vor sich hin.
„Wie kann einer, der mit solchen Dingen aufgewachsen ist, Menschen töten?“, fragt der
Vater laut in die Stille. Und die Puppen schweigen ihn an.
  Erst am Tag nach der polizeilichen Hausdurchsuchung fanden die Eltern das Tagebuch
und andere private Texte ihres Sohnes in seinem Zimmer. Alles hatte offen im Regal
und im Schreibtisch gelegen, die Beamten hatten es übersehen. Bei der Lektüre dieser
Aufzeichnungen aus den vergangenen zwei Jahren nahm sie plötzlich Gestalt an, die
fremde, abgründige Person, die in Felix wohnte und von der sie nichts gewusst hatten:
kleine Geschichten von Wellensittichen neben finsteren Gedanken und
Tötungsfantasien. Im Laufe der Monate werden die hasserfüllten Einträge häufiger,
Todeslisten tauchen auf und Anspielungen auf geplante Gewalttaten. Einmal schildert
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Felix, wie er sich auf den Weg macht, ein Mädchen zu vergewaltigen, und dann doch
umkehrt. Ein anderes Mal beschreibt er einen Albtraum, in dem er Amok läuft. Er
zeichnet Messer und eine Vergewaltigung, dazwischen Monster und Krieger.
  Dann wieder versinkt er in Verzweiflung und verflucht seine Einsamkeit. Das
Tagebuch ist ein Dokument der Qual. Hier fragt einer nach einem Sinn seiner Existenz
und hört doch nur das eigene Echo. Hier sehnt sich einer nach Liebe und körperlicher
Nähe und bleibt doch unter den eigenen Hemmungen, dem Selbsthass verschüttet wie
ein Bergmann im Stollen. Mitten in seiner Familie lebend, atmend, essend, schlafend,
redend, fühlte Felix sich von einer Todeszone umgeben, die niemand bemerkte,
niemand durchdrang.
  Noch verstörender ist die Loseblattsammlung aus dem Schreibtisch: Hier werden
unter der Überschrift Die Rettung der Welt globale Vernichtungspläne gesponnen. Felix
hat sich in die Position des Weltenherrschers hineinfantasiert und verteilt Atombomben
über die Erdkugel. Sein Ziel: die Ausrottung der „Untermenschen“, darunter versteht er
Schwache, Dumme und alle, die herumkrebsen und nicht weiterkommen. „Wie kommt
so viel Hass in unser Kind?“, fragten sich die D.s fassungslos. Soll das ihr Felix sein,
der Kriminalbeamter werden wollte? Der Gewalt ablehnte? Der in seinem Boizenburger
Gymnasium Flugblätter gegen rechts verteilte? Der seinem sozial engagierten Vater
half, einen Selbsthilfeleitfaden für Hartz-IV-Empfänger zu texten, der den
Globalisierungsverlierern Wege aus der Misere zeigt? Den Förderschüler Florian E.,
dessen Eltern er erstach, hatte Felix noch kurz zuvor gegen drangsalierende Skinheads
verteidigt – und gleichzeitig in aller Stille in faschistoiden Einbildungen geschwelgt. Er
war gegen die Rechte von Homosexuellen und Frauen. War für die Todesstrafe und ein
totalitäres System.
  Krude Ideen sind wohl in allen Tagebüchern Jugendlicher nachzulesen, aber nicht alle
Jugendlichen töten Menschen. Hätten die D.s die Aufzeichnungen ihres Sohnes vor
einem Jahr gefunden, hätten sie womöglich alles als pubertären Spinnkram abgetan.
Doch unter dem Eindruck dessen, was in der Dorfstraße 22 geschah, entfalten die
Hirngespinste des Felix eine düstere Wucht. Es habe die Familie E. getroffen, weil sie
schwach sei, soll er im Auto sitzend die Auswahl der Opfer begründet haben. Auch das
bekommt für den, der die Aufzeichnungen kennt, einen besonderen Klang.
  Während er seine destruktiven Regungen sorgsam vor den Erwachsenen verborgen
gehalten hatte, war Felix seiner jüngeren Schwester Jana im vergangenen Sommer mit
seinen Weltvernichtungsfantasien mächtig auf den Geist gegangen. „Er hatte neue
Staaten geplant, ganze Kontinente sollten in Schutt und Asche gelegt werden und durch
Manipulation der DNA ein neuer Mensch entstehen“, sagt sie. Und wie sollte der
beschaffen sein? „Gut aussehende, muskelbepackte Kämpfer, die niemals krank
werden.“ Alle anderen waren minderwertig und sollten umkommen – ganz besonders
qualvoll seine Feinde. Und Felix glaubte sich von vielen umstellt. „Seine ganze Klasse
sollte sich in einer Reihe aufstellen und durch Kopfschuss hingerichtet werden“, sagt
Jana, „das waren so seine Gedanken, dauernd fing er mit so was an.“ Aber Jana hat
nicht Alarm geschlagen und die Geheimnisse des Bruders für sich behalten, halb, weil
sie – wie alle anderen – Felix für einen zutiefst harmlosen Menschen hielt, halb aus
falsch verstandener Solidarität.
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  Schon vor zwei Jahren hatte der in sich gekehrte Felix, der in seiner Klasse als
Einzelgänger galt, sich die Auslöschung der Schulkameraden ausgemalt. Auch davon
hatte die damals 13-jährige Jana gewusst und es aufgrund vermeintlicher
Bedeutungslosigkeit wieder vergessen. Auf der Klassenfahrt hätte es geschehen sollen:
Felix wollte das Segelschiff, mit dem die damalige 9d vor der niederländischen Küste
kreuzte, in seine Gewalt bringen und alle an Bord ermorden – bis auf ein paar hübsche
Mädchen, die zum Lustgewinn des Entführers noch eine Weile am Leben bleiben
sollten. Auch dieses Vorhaben hat Felix schriftlich fixiert – unter einer Überschrift in
fehlerhaftem Latein: Opus Magnus.
  Jetzt, wo alles heraus ist, kommt der Mutter im Nachhinein manches irritierend vor,
was ihr Sohn am Rande fallen ließ. So erinnert sie sich noch daran, dass Felix, von
besagtem Segeltörn zurückkehrend, äußerte: „Das ist ja gerade noch mal gut gegangen.“
Es habe sie kurz stutzen lassen, sagt sie, aber nachgefragt hat sie nicht. Kleine
bedrohliche Zeichen fallen ihr nun, in der Retrospektive, ein. So sei Felix in letzter Zeit
manchmal von einer ungewohnten Kälte gewesen. „Er verachtete uns plötzlich“, sagt
Jeanette D., „ganz besonders mich.“
  „Mama, so wie du möchte ich niemals werden“, habe ihr Felix wenige Wochen vor
der Tat noch ins Gesicht gesagt, „du bist doch bloß eine, die nichts zu sagen hat. Du hast
keine Macht.“ Jeanette D. schwieg, war aber verletzt. Umso mehr, als Felix ihr von der
Art her nachschlägt. Sie könne sich wirklich schlecht wehren, räumt sie ein, und halte
Konflikte nicht aus. Aber sie habe auch geschwiegen, weil sie gedacht habe, dass
Machtfantasien Menschen kennzeichnen, die sich hilflos fühlen, und dass Felix zu
diesen Menschen gehört habe.
  Von Anfang an war er ein sensibles und überängstliches Bübchen gewesen. Schon die
Kindergärtnerinnen hatten sich darüber beschwert, dass es ihm an Durchsetzungskraft
mangele. Überdurchschnittlich intelligent, aber schüchtern und scheu, war das Westkind
Felix von Anfang an ein Außenseiter in den noch von der DDR geprägten
Ostkindergärten gewesen. Bei den wenig zimperlichen Erzieherinnen und den derben
Landkindern war Felix rasch als Weichei verschrien. Gegen ihn konnte man gefahrlos
die Ellbogen einsetzen. Auch später, in der Schule, blieb er für sich. „Als er mit
Gummistiefeln ins Gymnasium kam, wurde er gleich fertiggemacht“, sagt seine Mutter.
Die D.s – Greenpeace-Sympathisanten und Umweltschützer – haben nie Wert auf
Statussymbole gelegt. Dicke Autos und Weltreisen kamen bei ihnen höchstens unter
dem Gesichtspunkt der Schadstoffemissionen vor. Jeanette D. sagt, sie habe inzwischen
viele ehemalige DDR-Bürger kennengelernt, die für einen Hungerlohn arbeiten und
gleichzeitig die schnittigsten Autos fahren, weil jeder Euro in Prestige und Image
investiert werde. Weder sie noch Kally hätten für so etwas je Verständnis gehabt. Umso
befremdlicher erschien es ihr, dass Felix plötzlich anfing, sich den Konsumzwängen zu
unterwerfen. Wenn seine Mutter ihn in ihrem alten VW Passat zur Schule fuhr, war das
für ihn eine Schande. Schamvoll verbarg er das Gesicht hinter seiner Schultasche und
wollte schon an einer entfernten Straßenkreuzung aussteigen.
  Als Felix elf Jahre war, schwänzte er eine ganze Woche lang die Schule, weil ihn die
damalige Klassendiva zum hässlichsten Jungen der Klasse gekürt hatte. Erst drei Jahre
später war er dazu imstande, seiner Mutter von dieser Demütigung zu berichten. Die
meisten Beleidigungen und Kränkungen durch Gleichaltrige habe Felix jedoch für sich
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behalten, sagt Jeanette D. Er fühlte sich gemobbt und zog sich nach und nach aus dem
Klassenverband zurück.
  Mit 13 Jahren bekam Felix eine Schönheitsoperation, weil er übermäßig unter seinen
abstehenden Ohren litt. Dabei blieb am linken Ohr eine Narbe zurück. „Felix war tief
verzweifelt“, erinnert sich seine Mutter, „er hat heftig geweint und geschrien: Ich bin
verkrüppelt!“ – „Mensch, das sieht man doch kaum“, tröstete sie ihn. Felix aber war
nicht zu trösten: „Jetzt wird sich niemals ein Mädchen in mich verlieben.“ – „Wenn ein
Mädchen dich liebt, liebt sie dich auch mit einer kleinen Narbe“, gab die Mutter zurück.
Doch ihr Sohn sei nicht zu überzeugen gewesen.
  Zu Felix’ Minderwertigkeitsgefühlen gesellten sich nach und nach tausend Ängste:
Die abwegigsten Krankheiten wie Alzheimer und BSE stellte er bei sich fest; die
Furcht, auf dem Gymnasium zu versagen, verfolgte ihn trotz sehr guter Noten
hartnäckig; er sorgte sich um seine Schwester, um die Familienfinanzen und um die
Zukunft der Erdatmosphäre. Sein Leben bestand aus Negativmeldungen und bösen
Überraschungen. Die Abendnachrichten deprimierten ihn zutiefst: Gammelfleisch und
Vogelpest, Terror und Krieg ließen ihn verzagen. Überschwemmungen oder
Hungersnöte auf der anderen Seite des Globus raubten ihm den Schlaf. Seine
immerwährende Krisenstimmung, seine weltumspannende Bekümmertheit, seine
Verzweiflung an der ganzen Menschheit brachten dem Jungen in der Familie den
Spitznamen „Katastrophulus“ ein. Alle Probleme des Erdkreises waren seine
höchstpersönlichen Angelegenheiten, und die Verantwortung für die Zukunft des
Planeten schien allein auf seinen Schultern zu ruhen, auf den Schultern des Felix D. aus
19258 Tessin.
  Als er seiner Mutter im vergangenen Jahr gestand, er litte unter Zwangsgedanken,
schickte sie ihn zu einem Psychologen. „Wie alles, was ihn quälte, hatte er auch dieses
lange perfekt verheimlicht“, sagt Jeanette D., „Felix kommt immer erst, wenn die Hütte
brennt.“ Ihr Sohn war von der Vorstellung besessen, Türen dreimal hinter sich
schließen, manche Sätze dreimal aussprechen und bestimmte Worte dreimal schreiben
zu müssen, sonst widerfahre seiner Familie ein großes Unglück. In seinen
Aufzeichnungen sind solch zwanghafte Wiederholungen, mehrfach durchgestrichen,
deutlich zu erkennen. Neurotische Zwänge sind bei Jugendlichen keine Seltenheit, die
meisten gelten bei Fachleuten eher als lästige Erscheinung denn als Vorwarnung einer
psychischen Erkrankung. Der Therapeut jedenfalls konnte Felix auch nicht helfen. Sein
Patient blieb in den Sitzungen stumm und ließ die Maßnahme nicht an sich heran. Nach
der Bluttat hat sich der völlig aufgelöste Psychologe wieder bei den D.s gemeldet und
ihren Sohn als seinen „persönlichen Bankrott“ bezeichnet.
  Mit der Zeit hat Felix offenbar einen ganz eigenen Weg gefunden, die ihn
überschwemmenden Ohnmachtsgefühle einzudämmen. Von der Wirklichkeit frustriert
und bedrückt, wich er – wie viele Jungs – mehr und mehr in die virtuelle Welt der
Computerspiele, Horrorfilme und Heldensagas aus. Tag und Nacht sahen die Nachbarn
ihn jetzt durchs Fenster an seinem Computer oder der Playstation sitzen. Gleich nach
dem Mittagessen verschwand er und tauchte erst zum Abendbrot wieder auf. Auch
wenn sein ewiger Trabant Torben zu Besuch kam, wanderten die beiden aus – ohne das
Haus zu verlassen: Sie suchten Abenteuer in der Scheinwelt der elektronischen
Fantasie. In den Spielen stählte Felix seine Aggressivität und Kampftechnik, mit den
Horrorfilmen zwang er seine Furchtsamkeit nieder, und in den computergenerierten
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Animationen der Heldenepen – wie zum Beispiel Final Fantasy VII – fand er seine
männlichen Vorbilder, die das genaue Gegenteil seines Vaters waren. So setzte,
unbemerkt von den Eltern, im Kinderzimmer ein Verpuppungsprozess ein: aus Felix,
dem Angsthasen, erwuchs Felix, der Amokläufer.
  Wer die Spiele spielt, die den jungen D. monate- und jahrelang in Atem hielten, kann
eine Ahnung bekommen von dem, was in ihm reifte. Viele sind für seine Altersgruppe
der unter 18-Jährigen gar nicht zugelassen. Er hatte trotzdem keinerlei Probleme, ihrer
habhaft zu werden, sei es durch Tauschen oder Kopieren. Zum Beispiel der Horror-Ego-
Shooter Doom (Das Verderben) 3:
  Als Spieler bin ich ein Soldat, der durch die unterirdische Finsternis des Mars stapft
und aus allen Winkeln von höllischen Kreaturen attackiert wird, die ich mit
martialischen Waffen niederstrecken muss. Verstümmelte Leichen und Körperteile
pflastern meinen Weg, Schmerzensschreie und Stöhnen sind die Begleitmusik. Ich sehe
die eigene Spielfigur nicht – ich bin die Figur: Der ganze Bildschirm stellt meine eigene
Perspektive dar, durch Drehen und Wenden habe ich Rundumsicht, und die brauche ich,
um den Angriffen der Bestien auszuweichen. Am unteren Bildrand sind meine eigenen
Hände zu sehen. Immer tragen sie ein oder mehrere Tötungswerkzeuge, mit denen ich
(per Mausklick) alles kurz und klein metzle, was sich mir in den Weg stellt.
 Oder Prey (Die Beute), ebenfalls ab 18:
  Jetzt bin ich ein junger Mann, der von menschenähnlichen Außerirdischen auf ein
Raumschiff verschleppt wurde. Um ihr Leben wimmernde Männer und Frauen werden
vor meinen Augen von einer speziellen Menschenvernichtungsmaschine aufgespießt
und zerquetscht, wahnsinnige kleine Kinder zerfetzen und durchbohren einander. Auch
durch dieses Spiel kann ich mich mit maximaler Grausamkeit bewegen. Wieder sehe ich
nur meine Hände: Die rechte ist blutbesudelt und hält einen blutverkrusteten
Schraubenschlüssel, mit dem ich auf alles einhacke, was sich rührt. Meine Gegner
zerplatzen, die Organe treten aus. Manchmal treffe ich hilflos umherirrende Personen,
die den Außerirdischen entkommen sind. Halb nackt sind sie und vor Angst halb
verrückt. „Ist besser für dich“, lässt der Computer mich sagen, wenn ich ihnen mit dem
Schraubenschlüssel den Schädel zertrümmere. Sie sind schwach. Menschlicher Müll,
den ich ungestraft beseitigen kann. Ich bin ihr Terminator, und das ist okay.
  Welch ein Zeitvertreib! Man braucht kein Jugendpsychiater zu sein, um die Wirkung
solcher Spiele auf unausgereifte Seelen zu erfassen. Jeder vernunftbegabte Mensch, der
Doom 3 oder Prey ein paar Stunden lang gespielt hat, weiß, dass sein Kind bei dieser
Beschäftigung nur Schaden nehmen kann. Witz und Wärme kommen nicht vor, der Ich-
Protagonist versinkt in Blut, Ekel und Hass. Nicht die soziale Kompetenz wird belohnt,
sondern die Totenquote. Die Spiele appellieren nicht an die menschliche Größe, sondern
an niedere Instinkte.
  Deshalb sind die Tage seit dem 13. Januar auch Tage der Selbstvorwürfe im Hause D.
„Warum sind wir nicht eingeschritten?“, fragen sich die Eltern, grau vor Reue und
Zigarettenqualm. Seit jenem apokalyptischen Tag rauchen sie Kette. „Wie haben wir
zulassen können, dass unser Sohn sich das Gehirn verseucht?“ Aber hatten nicht seine
Schulkameraden die gleichen Spiele zu Haus? Und hatte es in den Zeitungen nicht
geheißen, das Zeug sei halb so schlimm? Der Computer war Felix’ bester Freund, hätten
sie ihm den auch noch nehmen sollen? Er hatte doch immer einen so besonnenen
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Eindruck gemacht und obendrein prima Noten gehabt! Im Gymnasium hatte er sogar
einen Computerkurs geleitet. Er gehörte doch zu jener Generation, von der es heißt, sie
wachse spielerisch hinein in diese multimediale Welt und bewege sich kompetent durch
die Bytes und Bits.
 „Ich hätte ihm den Strom abdrehen sollen“, sagt Karl-Heinz D.
 „Wir haben ihn allein gelassen“, sagt seine Frau.
  Wie Pilotenanwärter Starts und Landungen in der Computersimulation üben, so muss
sich der empfindliche Felix im täglichen Nahkampf jede Regung des Gewissens und des
Mitleids abtrainiert haben und zum Berserker geworden sein. Und das im Hause seiner
Eltern.
  Als es kürzlich bei den D.s klingelte, stand Florian, der Sohn der getöteten E.s, vor der
Tür. Unterm Arm trug er zwei Hanteln, die er sich früher von Felix ausgeliehen hatte
und jetzt, nach dem gewaltsamen Tod seiner Eltern, dem Täter zurückgeben wollte. „Du
hättest sie wegschmeißen sollen“, sagte Karl-Heinz D. zu dem unerwarteten Gast, „wir
haben auch alles in den Müll getan, was Felix gehört hat.“ – „Auch die schöne neue
Playstation?“, fragte Florian prompt ganz bestürzt. Und D. antwortete: „Die
zuallererst.“ Dann bat er den verwaisten Nachbarsjungen herein, und sie sprachen lange
miteinander.
  Die persönlichen Aufzeichnungen ihres Sohnes haben die D.s nicht weggeworfen,
sondern – mit seinem Einverständnis – der Staatsanwaltschaft Schwerin überlassen. Die
Familie wollte reinen Tisch machen, und Felix hat den Eltern versprochen, künftig
keine finsteren Geheimnisse mehr mit sich herumzuschleppen. Die Hintergründe der Tat
wird in den nächsten Wochen das Landgericht Schwerin zu klären haben. Beide Täter
haben bestritten, das Haus der E.s mit einer dezidierten Tötungsabsicht betreten zu
haben, vielmehr habe man es auf das Auto der E.s abgesehen gehabt, mit dem man in
einer Nacht-und-Nebel-Aktion in Richtung Südjapan ausbrechen wollte, um dort das
Leben eines Ninja-Kriegers zu führen. Die Bluttat soll erst der heftige Widerstand des
Hausherrn ausgelöst haben, der sich geweigert habe, auf die Knie zu gehen.
 Der psychiatrische Gutachter Hans-Ludwig Kröber hat seinem Probanden Felix diese
Version angesichts seiner Aufzeichnungen nicht recht glauben können. Seiner Expertise
haben die D.s entnommen, dass er in ihrem Sohn andere Tatmotive vermutet. So hat
Felix dem Sachverständigen anvertraut, es habe ihn bedrückt, ein mediokres Leben nach
dem absehbaren SAART-Prinzip führen zu müssen, wobei das Akronym für die Abfolge
„Schule – Ausbildung – Arbeit – Rente – Tod“ steht. Das Brave, Fade, sozial
Abgefederte und gleichzeitig Tatenlose seiner Existenz muss sich mit der wachsenden
Selbstwahrnehmung als einsamer Held immer weniger vertragen haben.
  So gesehen wäre also die Bluttat des Felix D. die Folge der Männlichkeitskrise eines
Halbwüchsigen gewesen, der hässliche Streich eines egoschwachen Jungen, der eine
bürgerliche Biografie in jener sozialen Sicherheit ablehnte, für die Abertausende aus
Afrika und Asien die Ozeane durchschwimmen und sich an die Räder startender Jumbo-
Jets klammern. Animiert durch den Primitivmachismo der Computerspiele und der aus
solchen Spielen geborenen Heldenepen (wie Final Fantasy VII), hatte sich Felix in die
Abenteuerrolle eines Kriegers hineingesteigert, zu der es irgendwann auch gehört, einen
Menschen getötet zu haben.
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 Einmal im Leben stark und bedeutend sein, das war der innigste Wunsch dieses
Elftklässlers. Einmal im Leben ein unsterbliches Werk, ein Opus magnum vollbringen.
Einmal im Leben über das eigene, kleine Ich hinauswachsen – und sei es im Bösen. Die
übergroßen Erwartungen des Felix an die Welt und sich selbst sind umgeschlagen in
Destruktion.
  Ähnlich muss es im antiken Antihelden Herostrat ausgesehen haben, der eins der
sieben Weltwunder, den Artemis-Tempel von Ephesos, in Flammen aufgehen ließ, um
von der Welt nicht vergessen zu werden. Der Frevel hatte seine Ursache im
Ohnmachtsgefühl des Brandstifters, der damit gegen die eigene Endlichkeit und
Dürftigkeit aufbegehrte. Niemand außer dem Täter kann den Sinn einer solchen Tat
erkennen, ob sie 356 vor Christus in Ephesos begangen wird oder 2007 nach Christus in
Tessin. Das Verbrechen des Felix D. war eine herostratische Tat, und die unzähligen
Messerstiche galten im Grunde nicht dem Ehepaar E., sondern der tief im eigenen
Herzen wohnenden Überzeugung, ein Nichts zu sein.
  Und wie sieht ein Vater aus, dessen Sohn im Männlichkeitsrausch Menschen ersticht?
Bis zum 13. Januar war D. bodenständig, zufrieden und meistens guter Dinge. Ein ganz
normaler Mann eben, der dauernd irgendetwas repariert und am liebsten karierte
Hemden trägt. Karl-Heinz D., Sohn eines Kranführers im Hamburger Hafen, hat Kfz-
Mechaniker gelernt und in tausend Berufen sein Geld verdient. Am liebsten aber mit der
Gitarre, dem Banjo, der Mandoline. In Gesellschaft seines Bruders – ebenfalls Musiker
– hat er in den siebziger und achtziger Jahren die Welt bereist. Zwei Freaks, die durch
Europa trampten, auf den Philippinen und in den Clubs von Hongkong spielten. Auch
nach Kanada ist D. kurz einmal ausgewandert. Durch seine Vergangenheit weht der
Hauch von Woodstock und Lebenskünstlerei, und sie duftet nach Peace, Love and
Understanding.
  Als Vorsitzender des ZEIT- Betriebsrats war D. immer ein Mann der Kompromisse
und der Problemlösung im Guten. Was die große Politik angeht, glaubte er an
Bürgerinitiativen und passiven Widerstand. Anfang der Achtziger demonstrierte er
gegen das Kernkraftwerk in Brokdorf, auch bei der Bauplatzbesetzung am „Bohrloch
1004“ in Gorleben war er dabei. Seine Kinder hat er gewaltfrei erzogen, das
Familienvorbild ist Mahatma Gandhi. „Es darf keine Opfer geben“, lautete D.s
Bedingung an jede Form der Auseinandersetzung. Jetzt hatte er eigentlich wieder
friedlich protestieren gehen wollen, diesmal gegen den G8-Gipfel in Heiligendamm.
Und diesmal wollte er Felix mitnehmen, um ihm zu zeigen: „Man muss dem
Weltgeschehen nicht tatenlos zusehen. Man kann etwas tun.“ Stattdessen sitzt er jetzt
dieses Sohnes wegen in einem Mordprozess. Weil es Opfer gegeben hat.
  Zum offenen Konflikt ist es nie gekommen, aber dass „Felix Probleme hatte mit
meiner Art“, hat D. gesehen. „Sein Bild von einem erfolgreichen Männerleben war eher
konservativ.“ Statussymbole seien da wichtig gewesen, und ein Haus hatte weiß
angestrichen zu sein. „Wenn du Chefarzt werden willst, Rechtsanwalt oder
Vorstandsvorsitzender, dann solltest du daran denken, dass das einen Haufen Arbeit
bedeutet“, hat D. seinem Jungen entgegengehalten, „da ist nichts mehr mit fünf Stunden
Computerspiel am Tag.“ D. selbst hat nie auf die Universität gewollt. Und hätte er
studiert, dann natürlich Musik und nur um „persönlich zu reifen“, und „nicht, um das
Bruttosozialprodukt zu heben oder ein Karajan zu sein“.
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  Diese entspannte, auf maximale Freiheit zugeschnittene Lebensgestaltung muss der
dem medialen Bombardement einfältiger Männerbilder ausgesetzte Felix als drittklassig
empfunden haben: Sein Vater demonstrierte – während andere regierten. Machthaber
schrieben Geschichte – sein Vater einen Mutmacher für Hartz-IV-Empfänger. Die Welt
ging unter – und sein Vater machte Musik dazu.
  Felix dagegen wollte nicht musizieren, sondern herrschen, nicht demonstrieren,
sondern kämpfen. Er war ein Krieger, der alles allein erledigen musste und mit dem
niemand in die Schlacht zog – außer Torben, dem getreuen Vasallen.
  Die computeranimierten Männer in seinem Lieblingsfilm Final Fantasy VII, an dem
sich die zwei Täter noch gestärkt hatten, bevor sie auszogen, die Familie E. das
Fürchten zu lehren, sind freilich ganz anders als der Vater D.: Sie sind Helden und
ungefähr siebzehn. Sie haben gestylte Körper, jeder Muskel ist Design. Alle tragen
Stiefel, Umhänge, Schärpen, Sonnenbrillen, Kapuzen, Kopftücher, Handschuhe und
anderes unpraktisches Zeug – ein Overkill an Accessoires, kein realer Mensch könnte
sich darin vernünftig bewegen. Von ihren Köpfen wehen die ausgeklügeltsten Frisuren
im elektronischen Wind. Eine Schar intergalaktischer Gutausseher schreitet durchs Bild,
irgendwie eine gepixelte Version der Teenie-Band Tokio Hotel – nur dass sie bis an die
Zähne bewaffnet ist.
 Natürlich tun die Muskelmänner auch was: Sie müssen den Planeten retten oder
vernichten, je nachdem, zu welcher Gruppe sie gehören. Dazu wirbeln sie mit
überdimensionierten Motorrädern Staub auf. Sie sprechen mit wichtiger Miene große
Worte wie: Ehre, Schuld, Macht, Vergebung, Tod. Das hohle Pathos ihrer Reden und
Gesten schwimmt in hochdramatischer Musik mit religiös aufgeladenem Sound. Die
Handlung des Films ist weder spannend noch intelligent, Final Fantasy VII ist ein wirrer
Opfermythos, dessen Personal aus billigen Archetypen besteht.
  Meistens kämpfen die Männer gegeneinander. Dazu brauchen sie nicht ein Messer,
sondern sechs. Die Klingen sind so gewaltig, dass ein Mensch sie unter den normalen
Bedingungen der Schwerkraft niemals heben könnte. „Auf die Knie“, heißt es dann,
„zeige Demut und winsle um Gnade!“
  Was wäre gewesen, wenn die Eltern D. am Abend des 13. Januar nicht spontan Lust
bekommen hätten, ins Kino zu gehen? Der Überfall auf das Haus Nummer 22 war lange
geplant. Das Datum stand fest. „Hat Felix mich als Publikum vorgesehen?“, fragt sich
Karl-Heinz D. Wie muss sein Sohn es genossen haben, beim grandiosen Finale hell
beleuchtet und von der Polizei umstellt zu sein! „Das war seine große Stunde. Und das
entsetzte Gesicht seines Alten wäre für ihn die Krönung des Triumphes gewesen“, sagt
D., „gerade mir wollte er zeigen, was für ein Kerl er ist.“
  Jetzt schreibt Felix seinem Vater lange Briefe aus dem Gefängnis. Er schreibt, wie lieb
er die Familie hat, dass er keinen Fernseher braucht und keinen Computer. Tagsüber
macht er eine Ausbildung zum Handwerker, abends liest er die Bibel, nachts betet er.
Um den Hals trägt er seit Kurzem ein Kreuz, denn durch die Gespräche mit dem
Anstaltsgeistlichen ist er zum Christen geworden. Wenn man ihm sagt, er dürfe sich im
Laden etwas kaufen, winkt der Untersuchungshäftling D. ab und teilt den Beamten mit,
er sei an irdischen Gütern nicht mehr interessiert.
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  Felix hat sich auf eine lange Jugendstrafe eingerichtet. Er hadert nicht mit dem
Schicksal, im Gegenteil: Aus seinen Briefen spricht Demut, fast Zufriedenheit. Da sitzt
einer in seiner Zelle wie der Eremit in seiner Klause. Vier Wände drum herum, Gitter,
Stacheldraht. Felix muss den Planeten nicht mehr zerstören, und er muss ihn nicht mehr
retten. Eine schwere Last ist von seinen Schultern genommen. Die Möglichkeiten sind
plötzlich sehr begrenzt.
  Sein Opus magnum liegt hinter ihm. Felix hat die Erfahrung gemacht, äußerste Macht
auszuüben: Er hat Menschen das Leben genommen. Und diese Erfahrung ist nichts
wert. Einfach nur nichts.
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