PRESS REVIEW Friday, July 2, 2021 - Daniel Barenboim Stiftung Barenboim-Said Akademie & Pierre Boulez Saal - Index of

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PRESS REVIEW Friday, July 2, 2021 - Daniel Barenboim Stiftung Barenboim-Said Akademie & Pierre Boulez Saal - Index of
PRESS REVIEW

         Daniel Barenboim Stiftung
Barenboim-Said Akademie & Pierre Boulez Saal

            Friday, July 2, 2021
PRESS REVIEW Friday, July 2, 2021 - Daniel Barenboim Stiftung Barenboim-Said Akademie & Pierre Boulez Saal - Index of
PRESS REVIEW                                                              Friday, July 2, 2021

Süddeutsche Zeitung Bayern, DB, DIVAN
Nirit Sommerfeld ist Israelin, Rihm Hamdan Palästinenserin. Beide leben heute bewusst in München.
Auf Demonstrationen begegnen sie sich immer wieder

Die Welt
So gut klingen erholte Stimmen nach der Zwangspause: Krzysztof Warlikowski begeistert in München
mit „Tristan und Isolde“ zur Eröffnung der Münchner Opernfestspiele

Frankfurter Allgemeine Zeitung
Richard Strauss bleibt ein Faszinosum: Uraufführungen in Garmisch-Partenkirchen und ein Film des
DSO mit Reinhold Messner

Rbb Inforadio
Novoflot: Beethoven hat den Blues

Süddeutsche Zeitung
Das Jüdische Museum Berlin zeigt eine große Werkschau der israelischen Künstlerin Yael Bartana

Süddeutsche Zeitung
Theater braucht Wagnis, davon erlebt man auf den deutschen Bühnen derzeit wenig

Frankfurter Allgemeine Zeitung
Fatima Daas und Sina de Malafosse erhalten in diesem Jahr den Internationalen Literaturpreis
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Quelle:       Süddeutsche Zeitung Bayern vom 02.07.2021, S.48 (Tageszeitung / täglich ausser Sonntag, München)
Auch in:      14 weiteren Quellen »
                                              Reichweite:    334.187
Auflage:      155.436                         Autor:         Martina Scherf                   Ressort:       Leute

           Zwei, die zurückkamen
           Nirit Sommerfeld ist Israelin, Rihm Hamdan Palästinenserin. Beide leben heute bewusst in
           München. Auf Demonstrationen begegnen sie sich immer wieder. Dem Nahostkonflikt
           entkommen sie auch hier nicht
           VON MARTINA SCHERF                                 rin, war entsetzt. Aber die Tochter                    Ramallah und zog mit ihrer Tochter
                                                              setzte sich durch.                                     ein. "Ramallah ist toll, da pulsiert das
           D    ie beiden Frauen teilen einen
                Traum. Den Traum von einem                        Doch von da an war sie nicht mehr
                                                              nur in der kleinen Welt rund um das
                                                                                                                     Leben", sagt Hamdan. "Wie in Tel
                                                                                                                     Aviv", wirft Nirit Sommerfeld an die-
           Land, in dem ihre Familien in Frieden
           leben. In dem sie feiern, reisen, sich             Haus ihres Onkels unterwegs. In der                    ser Stelle ein. "Ja genau", sagt Rihm
           besuchen können, frei und unbe-                    Schule traf sie auf Söhne und Töchter                  Hamdan. "Aber weil ich jetzt einen
           schwert. Dieses Land heißt Israel.                 höherer Beamter der palästinensi-                      Wohnsitz dort hatte, begannen neue
           Oder Palästina.                                    schen Autonomiebehörde. Die frag-                      Probleme", erzählt sie und kramt in
              Nirit Sommerfeld trägt einen klei-              ten: Was machst du als Deutsche                        ihrer Handtasche. Sie holt ein Doku-
           nen goldenen Davidstern am Hals. Ihr               hier? Sie war ein Sonderling. Und                      ment mit grünem Plastikeinband he-
           dunkles Haar fällt in Locken über die              gleichzeitig mit ihrem Pass privile-                   raus. "Ich bekam einen palästinensi-
           Schultern, sie gestikuliert oft, wenn              giert. "Wenn ich mit meiner Freundin                   schen Ausweis, damit war meine Be-
           sie spricht. Das hat sie mit Rihm                  zum Shoppen nach Jerusalem wollte,                     wegungsfreiheit plötzlich genauso ein-
           Hamdan, die ihr gegenübersitzt, ge-                konnte ich einfach den Checkpoint                      geschränkt wie die aller anderen."
           meinsam. Ihre Geschichten könnten                  passieren, sie wurde aufgehalten."                        "Mein israelischer Ausweis ist hell-
           kaum unterschiedlicher sein. Som-                  Von Ramallah nach Jerusalem sind es                    blau", sagt Nirit Sommerfeld, "sollen
           merfeld ist Israelin, Hamdan Palästi-              nur 20 Kilometer, weniger als von                      wir mal tauschen?" Die beiden lachen.
           nenserin. Die eine ist in Eilat am Ro-             München nach Starnberg. Doch der                       Es ist ein eher sarkastisches Lachen.
           ten Meer geboren, die andere in Mün-               Weg führt über die Mauer. Israelische                     Eines Tages starb Rihm Hamdans
           chen. Vom Alter her könnten sie Mut-               Soldaten sortieren die Leute aus – du                  Cousin. Die israelische Armee hatte
           ter und Tochter sein. Doch je länger               darfst, nein, du nicht. Die Angst, nicht               wieder Häuser kontrolliert, "das pas-
           das Gespräch dauert, desto klarer                  pünktlich zur Arbeit zu kommen, zum                    siert zu jeder Tages- und Nachtzeit".
           wird, wie sehr die beiden Frauen der-              Arzt, zu den Verwandten, ist immer                     Ihr Cousin floh übers Dach, ein Soldat
           selbe Konflikt geprägt hat. Und neuer-             dabei, erzählt die junge Frau.                         verfolgte ihn, am Ende lag er tot am
           dings treffen sie sich öfter auf De-                   "Die Mauer ist allgegenwärtig und                  Boden. Hamdan war zu jung, um zu
           monstrationen.                                     sie ist massiv", sagt sie und unter-                   verstehen, was damals passierte.
              Rote Fingernägel, kurzes Top, eine              streicht die Aussage, indem sie ihre                   "Aber das Foto vom blutigen Fußab-
           Mähne mit blonden Strähnen, so sitzt               Arme ausbreitet. Die Mauer haben die                   druck auf dem Dach ging durch die
           Rihm Hamdan an diesem Sommertag                    Israelis rund um das Westjordanland                    sozialen Medien." Daran erinnert sie
           in Noah’s Bar am Jakobsplatz und                   gebaut. Sie ist höher als die Berliner                 sich noch. Sie fand das alles immer
           sprudelt los. Sie erzählt von ihrer                Mauer war und trennt nicht nur Israe-                  bedrückender. Am Ende des Schuljah-
           Kindheit, von ihrer ersten heimlichen              lis und Palästinenser, sondern auch                    res flog sie nach München und sagte
           Liebe – und von ihrem Papa, "mein                  Freunde und Familien. Das Westjor-                     zu ihrem Papa: "Ich bleib wieder hier
           bester Freund". Ihr Vater stammt aus               danland wurde nach dem Osloer Frie-                    und geh in meine alte Schule." Der
           Palästina, kam einst zum Studium                   densabkommen 1995 in drei Zonen                        Papa seufzte und war froh.
           nach München und blieb. Hier ist                   geteilt, erklärt Sommerfeld, die bis                      Nirit Sommerfeld nimmt einen
           Rihm Hamdan vor 26 Jahren gebo-                    dahin still zugehört hat. Zone A, die                  Schluck ihrer Rhabarberschorle und
           ren. Die Ferien verbrachte sie jedes               größeren Städte, verwaltet die palästi-                nickt. Sie hat 40 Jahre früher eine
           Jahr in Palästina, im Flüchtlingslager             nensische Autonomiebehörde allein.                     ähnliche Erfahrung gemacht, sagt sie.
           Qalandia in der Westbank, vor den                  Zone B wird von Palästinensern ver-                    "Echt?", fragt Rihm Hamdan, "erzähl
           Toren Jerusalems.                                  waltet und vom israelischen Militär                    mal."
              Als sie zwölf war, wollte sie dort              kontrolliert. Zone C, der größte Teil,                    Die Jüdin, 59, ist in Israel geboren,
           bleiben. "Ich hatte mich ein bisschen              wird ganz von Israel kontrolliert, dort                als Tochter einer marokkanisch-jüdi-
           verliebt in einen Jungen", sagt sie,               werden immer noch israelische Sied-                    schen Mutter und eines deutsch-jüdi-
           "aber es war nicht nur das. Ich fand               lungen gebaut. Auf der Landkarte                       schen Vaters. Ihr Großvater wurde im
           einfach alles toll, die Menschen, das              sieht das Land aus wie ein einziger                    KZ Sachsenhausen ermordet. Seinen
           Essen, die Freiheit der Kinder auf der             Flickenteppich und zwischen jedem                      Sohn konnte er vorher nach Palästina
           Straße." Ihr Onkel fand eine Privat-               Flicken gibt es Kontrollen. "Man muss                  schicken. Ahuva Sommerfeld, Nirits
           schule mit internationalem Standard                es mit eigenen Augen gesehen haben,                    Mutter, war zehn Jahre alt, als unweit
           in Ramallah. Ihr Vater war skeptisch,              um zu begreifen, was das bedeutet",                    ihres Hauses in Jerusalem eine Bom-
           aber er gab nach. "Dann lernst du we-              sagt Sommerfeld.                                       be explodierte. "Der sechsjährige Sha-
           nigstens richtig Arabisch", sagte er.                  Rihm Hamdans Mutter war das                        lom, der jüngste Bruder meiner Mut-
           Ihre Mutter, ebenfalls Palästinense-               damals jedenfalls nicht geheuer. Sie                   ter, der Großvater und ein Onkel ka-
                                                              mietete kurzerhand eine Wohnung in                     men ums Leben." Die kleine Ahuva

                                                                                                                                                                3
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war kurz zuvor mit ihrer Freundin un-       Mauer. Sie sehen nicht, wie es dort       Shisha?" Über Politik kann sie mit
terwegs gewesen. Die Freundin hatte         aussieht." Nach der verheerenden          ihm nicht reden. Sie sind trotzdem
ihre Puppe vergessen, war zurückge-         Bombardierung des Gazastreifens           noch befreundet.
laufen. "Ein Granatsplitter bohrte sich     durch die israelische Luftwaffe im           Vor mehr als 30 Jahren hatte Fuad
in ihre Lunge, sie verbrannte inner-        Winter 2008/2009 kehrte sie nach          Hamdan, Rihms Vater, in München
lich." Die Geschichte wurde in der Fa-      München zurück.                           die jüdisch-palästinensische Dialog-
milie immer wieder erzählt.                     Seither organisiert sie Reisen nach   gruppe gegründet. Er ist "der friedlie-
    Als Nirit Sommerfeld acht Jahre alt     Israel, um Menschen beide Seiten die-     bendste Mensch, den ich kenne", sagt
war, zogen die Eltern mit ihr nach          ses zerrissenen Landes näher zu brin-     seine Tochter. Er glaube nicht an eine
Bayern. Sie wollten die Vergangenheit       gen. Und beim letzten Mal sagte eine      Zwei-Staatenlösung. Er wolle ein
hinter sich lassen. Die Ferien ver-         Cousine zu ihr: Nimm mich mal mit         Land, in dem Menschenrechte für alle
brachte sie fast jedes Jahr in Israel.      rüber, ich trau mich alleine nicht.       gelten, wie auch immer dieses Land
Nicht im Flüchtlingslager, wie Rihm             Auch Rihm Hamdan fliegt jedes         dann heißt. Aber Frieden könne es
Hamdan, sondern bei der Familie in          Jahr nach Palästina. Doch mit ihrem       nur gegeben, wenn auch über das Leid
Tel Aviv. "Sie leben dort unbeschwert       grünen Ausweis kann sie nicht mehr        der Palästinenser gesprochen werde,
und ohne Kontakt zu Palästinensern,         mit ihrem Vater im gleichen Flugzeug      über die vielen zivilen Opfer. "Kinder
mal abgesehen vom Gärtner oder              sitzen. Anders als sie, hat er nur den    und Zivilisten können sich nicht weh-
Müllmann", sagt sie. 1972, da war sie       deutschen Pass und kann nach Tel          ren", sagt Nirit Sommerfeld, "nicht in
elf, verübte die PLO das Attentat auf       Aviv fliegen. Sie muss den Umweg          Jerusalem, nicht in Gaza, nirgendwo."
die israelische Olympiamannschaft in        über Jordanien nehmen, mit dem Bus        Die Traumata würden von Generation
München. Es war furchtbar, "und spä-        zur Grenze fahren und dort im Som-        zu Generation vererbt.
testens ab da galten auch in meiner         mer bei 40 Grad Hitze stundenlang            Hoffnung zu haben in der heutigen
Familie alle Palästinenser als Terro-       warten, "bevor ich über den Jordan        Situation sei naiv, sagte Daniel Baren-
risten. Halt nicht der eigene Gärtner.      gehen darf", sagt sie in Anspielung auf   boim nach der jüngsten Eskalation
Aber alle anderen."                         das biblische Sinnbild.                   der Gewalt. Der Dirigent hat 1999 das
    Als sie 17 war, verliebte sie sich in       Hass, sagen beide Frauen, spüren      West Eastern Diwan Orchestra ge-
den Ferien. Sie wollte in Tel Aviv blei-    sie nicht unter ihren Freunden und        gründet, mit jüdischen und palästi-
ben. Ihr Vater überzeugte sie, das Abi-     Familien. Eher Fatalismus. Ihre Tan-      nensischen Musikern. Stimmt, sagt
tur in München zu machen. Sie folgte,       ten, sagt Rihm Hamdan, rieten ihr:        Sommerfeld. "Vielleicht müssen wir
doch die Sehnsucht im Herzen blieb.         Lass die Politik, heirate und kriege      an Wunder glauben, wie beim deut-
Sie studierte, heiratete, bekam zwei        Kinder, dort drüben, in deinem siche-     schen Mauerfall." Aber solange sich
Töchter, arbeitete als Schauspielerin       ren Deutschland.                          auch in Deutschland Menschen ge-
und Sängerin. Sie gründete 1999 die             Aber so einfach will sie es sich      genseitig ausgrenzten und die Realität
Band "Klezmorim", die jetzt "Orches-        nicht machen. Als vor wenigen Wo-         ausblendeten, gebe es keine Verstän-
ter Shlomo Geistreich" heißt und mit        chen wieder der Gaza-Krieg auf-           digung. Im Hintergrund leuchtet das
der sie bis heute auftritt. Sie singt auf   flammte, nachdem die israelische Ar-      Dach der Synagoge in der Sonne. Zur
Deutsch, Hebräisch und Jiddisch, kri-       mee angedroht hatte, palästinensische     Eröffnung vor 15 Jahren hatte sie
tisch, mitunter provozierend, von ih-       Häuser in Ost-Jerusalem zu räumen,        noch dort gesungen. Seit ihrem Enga-
rer Familie und dem Jüdisch-Sein,           da haben beide Frauen in München          gement für die Rechte der Palästinen-
wie sie es erlebt.                          demonstriert, zusammen mit Vertre-        ser werde sie nicht mehr eingeladen,
    2007 war die Sehnsucht nach Isra-       tern verschiedener politischer Grup-      sagt sie.
el so groß, dass sie mit ihrem Mann         pierungen. Es waren friedliche Protes-       Die beiden Frauen wollen, dass alle
und ihrer jüngeren Tochter noch ein-        te, ohne Häme, ohne Ideologie. Sie        Seiten gehört werden, auch in
mal nach Tel Aviv zog. Sie ging auch        nannten nur die traurige Bilanz: 248      Deutschland. Es sei der einzige Weg
in die Palästinensergebiete. "Manche        Palästinenser und zwölf Israelis getö-    zum Verständnis: Sich einmal in die
Frauen berührten mich ungläubig wie         tet, mehrere tausend Menschen ver-        Schuhe der Anderen stellen. Damit
ein Wesen von einem anderen Stern.          letzt.                                    der Traum kein Traum bleibt.
Sie kannten bis dahin nur israelische           Rihm Hamdan engagiert sich jetzt      Als Rihm Hamdan den grünen
Soldaten." Sie sprach auch mit jüdi-        im Verein "Palästina spricht". Sie ist    palästinensischen Ausweis be-
schen Siedlern. "Manche sagen einem         in Verbindung mit dem Verein "Jüdi-       kam, begannen die Probleme
ins Gesicht, das Land sei ihnen von         sche Stimme für einen gerechten Frie-     Die Traumata werden von Gene-
Gott gegeben, deshalb müssten die           den", bei dem sich sowohl Nirit Som-      ration zu Generation vererbt,
Palästinenser weichen." Sie sprach          merfeld als auch ihre Tochter Lili en-    sagt Nirit Sommerfeld
mit Müttern auf beiden Seiten, die ih-      gagieren. Einer ihrer jüdischen Freun-
                                                                                      (Abbildung)
re Söhne verloren hatten. In ihrer Fa-      de, sagt Rihm Hamdan, stammt aus          Rihm Hamdan (links) und Nirit Sommerfeld set-
milie fand sie dafür kein Verständnis.      Aserbaidschan. "In der Shisha-Bar         zen sich von München aus für den Frieden zwi-
"Manche betrachten mich als Verräte-        scherzen wir immer: Rauchen wir ei-       schen Israelis und Palästinensern ein. Foto: Ro-
                                                                                      bert Haas
rin. Aber sie gehen ja nie durch die        ne jüdische oder eine palästinensische

                                                                                                                                         4
22 FEUILLETON                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                               DIE WELT       FREITAG, 2. JULI 2021

                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                              gelbe     Seidenschluppenbluse        und
                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                              schwarze Hosen mit weitem Schlag zu
                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                              etwas tantiger Hochtoupier-Frisur,
                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                              dann in ein langes rotes Kleid gesteckt,
                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                              ist erst die Schnippisch-Wütende, die
                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                              mit ihrem Schicksal hadert. Ihrer noch
                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                              tantiger mit einem blauen, später grü-
                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                              nen Kleid ausstaffierten Freundin Bran-
                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                              gäne (großartig orgelnd: Okka von der
                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                              Damerau) geht sie damit gewaltig auf
                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                              die Nerven; deshalb serviert die dann
                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                              auch in Kelchgläsern Liebes- statt To-
                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                              destrank. Die Harteros klingt ideal
                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                              weiblich und weich im Parlando, wenn
                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                              Petrenko auf Piano schaltet. Fährt Pe-
                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                              trenko hoch und peitscht, verliert ihre
                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                              Stimme die Farben, kommt durch, wird
                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                              aber schrill. So ist sie Isolde, die
                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                              schlecht gezähmte Widerspenstige.
                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                 Jonas Kaufmann schlurft mit seinem
                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                              lottrigen Pastorenkumpel Kurwenal
                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                              (muss man in München aushalten: Wolf-
                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                              gang Koch) erst als Schluffi durch den
                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                              halbhohen, getäfelten Einheitsraum mit
                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                              seinen sechs Durchgängen und zwei als

                                                                  Möge diese Musik
                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                              Kinoleinwand sich senkenden Raumtei-
                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                              lern. Der Saal bleibt vage im Vierziger-
                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                              jahre-Ambiente zwischen Schiffskabine,
                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                              Reichskanzlei und Psychiaterzimmer,
                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                              wo rechts Freuds Couch mit der Orient-

                                                                   niemals enden
                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                              teppichbedeckung wartet.
                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                 Kaufmann kann die hohen Töne, lässt
                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                              sich Zeit, spart im Mittelakt, wo es nur
                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                              kontaktlose Liebe zwischen zwei Leder-
                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                              sesseln gibt, während beide Protagonis-
                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                              ten sich hinten per Video in einem Ho-
                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                              telzimmer auf dem Bett liegend verdop-
                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                              peln. Der dritte Akt ist dann seiner, den
                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                              gestaltet er souverän an seine Grenzen
                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                              kommend, aber endlich wieder hell sin-
                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                              gend, nicht bellend. Ein anrührender
                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                              Held, nicht schwer, sondern nachhaltig
                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                              traumatisiert.
                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                 Er liegt mal auf der Freudcouch, mal
                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                              sitzt er zwischen kahlköpfigen Dum-
                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                              mies bei einer Tea Party. Ein weiteres ir-
                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                              gendwie chemotherapiegezeichnetes
                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                              Avatar-Pärchen in blauen und rosa

                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                          © WILFRIED HÖSL
    Die Sehnsucht, nicht die Erfüllung: Jonas Kaufmann                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                        Baseballblousons hat schon das Vor-
    und Anja Harteros als Tristan und Isolde in München                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                       spiel bebildert, sie starb in seinen Ar-
                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                              men, und taucht auch jetzt wieder auf.

D
                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                 Krzysztof Warlikowski spielt das ruhig
                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                              und genau ausgemessen mal surreal, mal

                                So gut klingen erholte Stimmen nach der Zwangspause: Krzysztof Warlikowski begeistert
                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                              trivial durch, selten erhellend, meist
                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                              enervierend. Da scheint es in Etappen

                                    in München mit „Tristan und Isolde“ zur Eröffnung der Münchner Opernfestspiele
                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                              zum Selbstmord zu gehen, auf den ver-
                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                              meintlichen Todestrank wird mit dem
                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                              auch stimmlich bieder-braven König
                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                              Marke (Mika Kares) mit Champagnerkel-
               ie Geschichte einer ganz      Kuss von Tristan auf die Stirn Isoldes          Und die es doch erst schafft, wenn                                                                                   sediert, verärgert, Nähe nicht zulassen                                                                    de Staatsintendant Nikolaus Bachler                                              chen angestoßen, im zweiten Akt wird
               großen Liebe, die so über-    im zweiten Akt.                              nach dem längst schon nicht mehr nach                                                                                   will als kaum selig machendes, ewiges                                                                      startete seine ersten Festspiele 2009                                            das Heroinbesteck ausgepackt. Tristan
               wältigend ungewöhnlich           Christoph Marthaler und Katharina         dieser Welt klingenden Liebestod der                                                                                    Herauszögern. Bei ihm ist alles bewusst,                                                                   mit Wagners „Lohengrin“, das – damals                                            stürzt sich ganz klar in das Schwert von
               ist, dass sie nicht sein      Wagner haben das zuletzt sogar in Bay-       Isolde alles ertrinkt und versinkt „in                                                                                  ohne Lust. Petrenko ergibt sich in diese                                                                   noch unter dem indifferenten Dirigat                                             Merlot (Sean Michael Plumb).
               kann, weil Tristan schon      reuth so exerziert, viele andere davor       dem wogenden Schwall, / in dem tönen-                                                                                   Deutung samt strenger Optik, aber er                                                                       von Kent Nagano und mit einer eben-                                                 Am Ende liegen beide da, sie steht
längst auf der dunklen Seite steht, wohin    und danach auch. Man würde diese             den Schall, / in des Welt-Atems / wehen-                                                                                unterwirft sich ihr nicht. Das macht                                                                       falls schwachen Inszenierung von Ri-                                             wie die Primadonna zur Finalarie auf
Isolde ihm folgt. So lautet längst das Re-   grandios nach innen gestülpte Love-          dem All“, wenn – „unbewusst / höchste                                                                                   dann doch den Reiz dieses über weite                                                                       chard Jones – erstmals das spätere                                               und singt ernüchternd den Liebestod,
gietheaterklischee von Richard Wagners       story also gern einmal wieder etwas lei-     Lust!“– sich diese Klangwelt endlich                                                                                    Strecken intellektuell drögen Opern-                                                                       Münchner Operntraumpaar Anja Harte-                                              wofür der viel zu schade ist. Und wieder
aktionsloser, aber gefühlssatter „Hand-      denschaftlicher und dann umso                nach Dur wendet, zärtlich geformt, lang                                                                                 abends aus. Er arbeitet mit dem aller-                                                                     ros und Jonas Kaufmann gemeinsam                                                 kommt das Hotelvideo: Jetzt liegen bei-
lung in drei Akten“, uraufgeführt 1865       schrecklicher umschlagen sehen, wenn         anhaltend nachklingend.                                                                                                 feinsten Chirurgenbesteck, dringt fast                                                                     präsentierte. Zwölf Festspiel-Ausgaben                                           de zwischen Tablettenröhrchen auf
am Münchner Hof- und Nationaltheater.        der tagesgrausame König Marke in diese          In seiner letzten Münchner Premiere                                                                                  invasiv in Wagners verzweigt zuckende                                                                      später singen diese beiden Ausnahmein-                                           dem spießigen Doppelbett, schlagen die
                                             amouröse Nachtverstricktheit ein-            als Längst-nicht-mehr-Generalmusikdi-                                                                                   Klangnervenenden vor.                                                                                      terpreten, die sich auch bei Verdi und                                           Augen auf und blicken sich verliebt an.
            VON MANUEL BRUG                  bricht, um seinen besten Freund mit          rektor der Bayerischen Staatsoper, son-                                                                                    Und so erfährt wenigstens der Hörer                                                                     Giordano vereint haben, nun als Rollen-                                          „Tristan und Isolde“, alles nur gelogen?
                                             seiner Gattin zu erwischen.                  dern Coronagestählter Chefdirigent der                                                                                  einen intensiv orgasmischen Taumel in                                                                      debüts Tristan und Isolde. Beider Stim-                                          Eine schwache Warlikowski-Finte.
  Dort erfuhr das immer noch uner-              Zum Glück aber gibt es ja noch Ri-        Berliner Philharmoniker aber lassen Ki-                                                                                 einer Art Fruchtblase aus Klang, in der                                                                    men sind dafür nicht geboren, aber sie                                              Aber wie wusste es schon der theater-
hörte Werk 156 Jahre später seine            chard Wagners chromatikverschlunge-          rill Petrenko und das nach seinem Wil-                                                                                  sich wunderbar wohlig schwimmen und                                                                        sind gewachsen und wurden intelligent                                            praktische Richard Wagner? „Dieser
neunte Neuinszenierung durch den Po-         ne Wunderpartitur, die schwelgt und          len perfekt geformte Staatsorchester                                                                                    dämmern lässt. Petrenkos Dirigat ist ele-                                                                  auf die ganz große Wagnerspur gesetzt.                                           Tristan wird was Furchtbares! Vollstän-
len Krzysztof Warlikowski, der genau         lüstern ausschlägt, in Wallung gerät und     dieser Musik Gerechtigkeit widerfahren.                                                                                 gant, erlesen und lyrisch, kann auch stür-                                                                 Sie hat die vergangenen 15 Monate ge-                                            dig gute Aufführungen müssen die Leu-
diesem ausgetretenen Deutungspfad            doch auch in transzendente Welten jen-          Sie schmiegt sich eng an das Bühnen-                                                                                 misch werden, brodeln und tosen. Doch                                                                      schwiegen, er hat ebenfalls viel weniger                                         te verrückt machen“, orakelte er noch
folgt. Lustverweigerung, Berührungs-         seits jeder irdischen Emotion zu ent-        geschehen, atmet intuitiv richtig mit                                                                                   immer wieder treibt es mild dahin, man                                                                     gearbeitet, klingt ausgeruht.                                                    vor der Uraufführung. Mit Kirill Petren-
verbot auf der Bühne – bis auf eine mo-      führen weiß. Die anheizt und anmacht,        den Sängern, bewahrt aber doch in jeder                                                                                 möchte es nie enden lassen, ertrinken,                                                                        Die Harteros, von der Warlikowski-                                            ko und diesen Sängern hätte solches
mentkurze beiderseitige Annäherung a         sich aber dauernd stöhnend in Harmo-         Note ihre Eigenständigkeit, kommen-                                                                                     versinken. So schließt sich in München                                                                     Dauerausstatterin und Gattin Małgor-                                            passieren können. Die Regie hat es ver-
tergo im ersten und einen keuschen           nie auflösen möchte.                         tiert, tröstet, wühlt auf, wo Warlikowski                                                                               – wieder mal – ein Kreis. Der scheiden-                                                                    zata Szczꍶniak zunächst in eine knall-                                        hindert. Vielleicht besser so.

Der letzte Held der DDR

H
Andreas Kleinert hat das Leben des Schriftstellers Thomas Brasch verfilmt. Und läutet so die dritte Phase der DDR-Filmvergangenheitsbewältigung ein
        einrich Breloer hat seine            Witwe Helene Weigel, die nun das Berli-         Regisseur Andreas Kleinert jobbte         „Lieber Thomas“ (und Andreas Dre- jetzt einmal eingeführt werden, ein Al-                                                                                                                                                                                              Schießerei. In solchen Sequenzen geht
        Schriftsteller-Familiensaga „Die     ner Ensemble (BE) regierte. Sandas           erst als Transportarbeiter. Er hatte ge- sens „Gundermann“) stehen hingegen brecht-Schuch-Held. Albrecht Schuch                                                                                                                                                                                                     der Film weit über das handelsübliche
        Manns“ genannt. Andreas Klei-        Bruder, der Schauspieler Vladimir            rade sein Regiestudium in Babelsberg für das Erzählen über die DDR aus der spielt seit einigen Jahren jede gute Rol-                                                                                                                                                                                                Biopic hinaus, ein Film über einen Un-
nert hätte das volle Recht gehabt, seine     Weigl, hat eine Tochter mit der blutjun-     beendet, als die Mauer fiel. Man kann in Post-DDR heraus: durch eine Generati- le, die es im deutschen Film zu geben                                                                                                                                                                                                angepassten muss Unkonventionelles
Künstler-Familiensaga „Die Braschs“ zu       gen Katharina Thalbach, Tochter des          seinen Filmen viel Autobiografisches on dort geborener Filmemacher, die ih- scheint: Bennis Anti-Aggressionstrainer                                                                                                                                                                                                 wagen.
nennen, denn die Braschs sind für den        BE-Hausregisseurs Benno Besson. Die-         entdecken. Der unerschütterlich an den re Karriere erst nach der Wende began- in „Systemsprenger“, Franz Biberkopfs                                                                                                                                                                                                    Darin liegt der Unterschied zu Anne-
Osten das, was die Manns für den Wes-        se Katharina wiederum verliebt sich          Sozialismus glaubende Horst Brasch ist nen. Es geht, wie in den Kolonialismus- Verderber in „Berlin Alexanderplatz“,                                                                                                                                                                                                katrin Hendels Kinodokumentation
ten waren. Aber Kleinerts Film heißt         Hals über Kopf in Thomas. Sanda heira-       auch Kleinerts Vater, der stets uner- debatten, um die Formung des Narra- den haltlosen Freund von „Fabian“ in                                                                                                                                                                                                      „Familie Brasch“ von vor drei Jahren,
„Lieber Thomas“, denn es ist vor allem       tet dann den Autor Klaus Pohl, der viel      schütterlich an die 98-Prozent-Wahler- tivs durch die Betroffenen selbst bezie- Dominik Grafs neuer Kästner-Verfil-                                                                                                                                                                                                 die auf viele Zeitzeugen zurückgreifen
eine kritische Liebeserklärung an Tho-       später einen Schüsselroman über diese        gebnisse in dem SED-Staat glaubte. hungsweise deren Kinder, um die Rü- mung, den Gestapo-Chef in der neuen                                                                                                                                                                                                          konnte. „Lieber Thomas“ ist einer von
mas Brasch – ausnahmetalentierter Ly-        Braschs schreiben wird.                      Ausgerechnet bei den manipulierten ckeroberung der Geschichtshoheit „Schachnovelle“ und kommendes Jahr                                                                                                                                                                                                              jenen „Basierend auf realen Ereignis-
riker, Filmregisseur mit zwei Cannes-           Schon dieser ziemlich kursorische         Kommunalwahlen von 1989, die das En- durch die Unterlegenen der Geschichte. einen der Weltkriegssoldaten im Re-                                                                                                                                                                                                     sen“-Filmen, die sich Freiheiten heraus-
Einladungen, Frauenmagnet, System-           Überblick über Braschsche Familien-          de der DDR einleiteten, war er Mitglied      Dazu gehört, wie es auch in der make von „Im Westen nichts Neues“.                                                                                                                                                                                                     nehmen und die Wahrheit der Fakten
sprenger, Romantiker der Revolution,         bande lässt erahnen, welche Kräfte in        der Wahlkommission und musste sich schwarzen Bürgerrechtsbewegung ge-                   „Lieber Thomas“ scheut sich nicht,                                                                                                                                                                                          durch eine Wahrheit der Sinnhaftigkeit
Kokainist.                                   Bewegung gesetzt werden, wenn einer          wegen der Fälschungen vor Gericht schieht, das Erfinden von Helden. Tho- Schuchs Brasch zu mögen. Seine Wi-                                                                                                                                                                                                         ersetzen. Vielleicht kam deshalb das
                                             da nicht mitspielen will. Und Thomas         verantworten.                              mas Brasch ist, diese Kategorie muss derspenstigkeit und Unbeugsamkeit,                                                                                                                                                                                                  Drehbuch von Klaus Pohl nicht zum Zu-
        VON HANNS-GEORG RODEK                ist kein Mitspieler. Er ist auch kein Dis-      „Lieber Thomas“ läutet ei-                                                                  Widersprüchlichkeit und Un-                                                                                                                                                                                          ge, was dem Film einige Skepsis von
                                             sident, kein Oppositioneller, er ist ein     ne neue, die dritte Phase der                                                                  stetheit, seine unermessli-                                                                                                                                                                                          Seiten der zahlreichen Braschisten ein-
                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                   ZEITSPRUNG PICTURES/WILD BUNCH GERMANY/PETER HARTWIG

   Man muss heute, zwanzig Jahre nach        radikaler Individualist. Das geht gut, so-   DDR-Filmvergangenheitsbe-                                                                      chen Ansprüche an sich                                                                                                                                                                                               bringen dürfte.
seinem frühen Tod, das Geflecht Brasch       lange er in der Prenzlauer Berg-Bohème       wältigung ein. Die begann                                                                      selbst. Sein Starsein und sein                                                                                                                                                                                          Doch sie bekommen stattdessen ei-
kurz aufdröseln. Der Vater Horst, ein        unter dem Radar bleibt, wo man Che           einst mit depperten Vopos                                                                      Gefallen daran, Star zu sein.                                                                                                                                                                                        nen wahren Filmhelden, einen besesse-
Jude, wird 1939 durch einen der Kinder-      Guevara statt Walter Ulbricht an der         und Spreewaldgurken in „Son-                                                                   Brasch kokettierte mit dem                                                                                                                                                                                           nen Autor, der einst ein Stück schrieb,
transporte nach England gerettet und         Wand hängen hat.                             nenallee“ und „Good Bye, Le-                                                                   Verbrechen als der einzig                                                                                                                                                                                            das nur aus Sätzen des Neuen Deutsch-
kehrt nach dem Krieg als überzeugter            Das geht schrecklich schief, als er       nin!“. Das frisch vereinte Land                                                                ernsthaften Negierung der                                                                                                                                                                                            land bestand (aber trotzdem nicht auf-
Sozialist zurück. Natürlich in die DDR,      und Sanda nach der Prager Invasion           musste sich erst den Schre-                                                                    bürgerlichen Existenz; Jahr-                                                                                                                                                                                         geführt werden durfte), sowie einen
wo er mit der Seilschaft Honecker Kar-       1968 Flugblätter in die Briefkästen          cken der Diktatur aus den Kla-                                                                 zehnte lang schrieb er an ei-                                                                                                                                                                                        Charismatiker und einen vom wahren
riere macht und Vize-Kulturminister          stopfen: Stasi. Hohenschönhausen.            motten lachen. Mit dem „Le-                                                                    nem Roman über einen Seri-                                                                                                                                                                                           Sozialismus träumenden Idealisten –
wird. Thomas’ kleiner Bruder Klaus ist       „Bewährung“ in der Produktion, weil          ben der Anderen“ begann die                                                                    enmörder, doch die 16.000                                                                                                                                                                                            der sich nicht zu schade dafür ist, mit
ein talentierter Schauspieler mit Bran-      der Vater interveniert hat, den der          filmische Aufarbeitung des                                                                     Schreibmaschinenseiten wur-                                                                                                                                                                                          kapitalistischen Verlegern um Hundert-
do-Allüren.                                  Starrsinn des Sohnes die Parteikarriere      Überwachungssystems, die bis                                                                   den nie veröffentlicht. Klei-                                                                                                                                                                                        tausende zu pokern. Ach ja, und auf der
   Thomas Brasch ist liiert mit der ru-      kostet. Immerhin, Thomas lernt unter         heute andauert; im August                                                                      nert visualisiert solche Fant-                                                                                                                                                                                       Abschiedsfeier vor seiner Übersiedlung
mänischen Sängerin Sanda Weigl, die          dem Proletariat des Kabelwerks doch          kommt „Nahschuss“ in die Ki-                                                                   asien, mit einer schockieren-                                                                                                                                                                                        in den Westen soll er den vernich-
bei der Ankunft in Schönefeld von ihrer      so einiges, was er für das Leben und die     nos, über das letzte vollstreck- Albrecht Schuch ist Thomas Brasch in Andreas Kleinerts        den Mord/Selbstmordszene                                                                                                                                                                                             tendsten aller DDR-Witze geprägt ha-
Tante abgeholt worden war, der Brecht-       Lyrik brauchen kann.                         te Todesurteil in der DDR.       „Lieber Thomas“                                               und einer Bonnie-and-Clyde-                                                                                                                                                                                          ben: „Der Letzte macht das Licht aus.“

                                                                                                     © WELTN24 GmbH. Alle Rechte vorbehalten (einschl. Text und Data Mining gem. § 44 b UrhG) - Jede Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exclusiv über https://www.axelspringer-syndication.de/angebot/lizenzierung
2.7.2021                                              https://zeitung.faz.net/webreader-v3/index.html#/467229/11

        F.A.Z. - Feuilleton                                                                                        Freitag, 02.07.2021

                               Präzise, kristallklar und unsentimental
        Richard Strauss bleibt ein Faszinosum: Uraufführungen in Garmisch-Partenkirchen und
        ein Film des DSO mit Reinhold Messner.

        Richard Strauss als „Spät­ro­man­ti­ker“ zu bezeich­nen, der im zwan­zigs­ten Jahr­hun­dert nie heimisch
        gewor­den sei, ist grob fahr­läs­si­ger Unsinn. Konse­quen­ter als Gustav Mahler oder Arnold Schön­berg
        hatte der reflek­tier­te Ironi­ker Strauss sich von aller Roman­tik losge­sagt und anders als diese beiden
        Funda­men­ta­lis­ten begrif­fen, dass er Kunst im nach­me­ta­phy­si­schen Zeit­al­ter mache, weil es keine tran­-
        szen­den­te „Hinter­welt“ mehr gebe, die den Wahr­heits­an­spruch von Kunst verbür­gen könne. Doch die
        Konse­quenz bei Strauss ist eben nicht, larmo­yan­te Abschie­de zu feiern, sondern diese Welt ohne Letzt­-
        be­grün­dun­gen zu beja­hen als jene, in der nun gelebt werden müsse.

        Wer die von Domi­nik Šedivý intel­li­gent program­mier­ten Richard-Strauss-Tage in Garmisch-Parten­kir­-
        chen besucht, stößt genau auf diesen Strauss: einen Mann, der künst­le­risch klar­sich­tig, unsen­ti­men­tal
        und modern war. „Schau­en Sie sich nur einmal seine Einrich­tung der großen g-Moll-Sympho­nie von
        Mozart an: Strichar­ten und Dyna­mik, die er in die Parti­tur einge­tra­gen hat, entspre­chen dem, was man
        heute – nach moder­nen Erkennt­nis­sen – ,histo­ri­sche Auffüh­rungs­pra­xis‘ nennen würde“, erklärt
        Šedivý, als wir im Arbeits­zim­mer von Strauss’ Garmi­scher Villa stehen. In Beet­ho­vens neun­ter Sympho­-
        nie habe Strauss, einer der führen­den Diri­gen­ten seiner Zeit, an allen Höhe­punk­ten ein „senza espres­-
        sio­ne“ verlangt: „ohne Ausdruck“. Die Musik selbst war ihm stark genug, als dass die Spie­ler noch ihren
        Empfin­dungs­si­rup drüber­pin­seln soll­ten.

        Am Abend spielt die Came­ra­ta Salz­burg im Garmi­scher Kongress­zen­trum Beet­ho­vens vierte Sympho­nie
        exakt nach der Parti­tur­ein­rich­tung von Richard Strauss, mit dessen Strichar­ten, Dyna­mik und Metro­-
        nom­zah­len. Auch wenn das Orches­ter einen Diri­gen­ten gebraucht hätte, um noch exak­ter, plas­ti­scher
        zu agie­ren, ist das Ergeb­nis verblüf­fend: schnel­le Tempi, lebhaf­te Strich­wech­sel, knis­tern­de Elek­tri­zi­tät,
        spru­deln­de Klar­heit. Der Unter­schied zu den Lesar­ten von Niko­laus Harnon­court und Paavo Järvi ist
        gering, jener zum Strauss-Zeit­ge­nos­sen Wilhelm Furt­wäng­ler gewal­tig. Strauss scheu­te Erha­ben­heit,
        bei der nach­ge­hol­fen wurde. Seine Leiden­schaft kam aus Präzi­si­on, Klar­heit und Zuspit­zung.

        Die Strauss-Tage in Garmisch haben ein gewal­ti­ges Kapi­tal: Sie finden an einem authen­ti­schen Ort statt
        und sind philo­lo­gisch nah an den Quel­len. Natür­lich ist es für das Publi­kum etwas Beson­de­res, sich
        morgens vor der Villa zu versam­meln, in der Strauss vier­zig Jahre gelebt hat, und dann zu einer Wande­-
        rung aufzu­bre­chen, wie sie der Kompo­nist täglich mit seiner Frau Pauli­ne unter­nahm. Und natür­lich
        profi­tiert das Kompo­nis­ten­fes­ti­val davon, wenn es durch Domi­nik Šedivý direk­ten Zugang zum Nach­-
        lass im Archiv der Fami­lie hat. So gibt es bei diesen Strauss-Tagen die Urauf­füh­rung eines Klavier­stücks
        in d-Moll und einer Konzertou­ver­tü­re in h-Moll, beide aus der Kind­heit des Kompo­nis­ten und beide
        sehr deut­li­che Belege, wie stark Strauss ursprüng­lich durch den Klas­si­zis­mus Carl Maria von Webers,
        Louis Spohrs, Felix Mendels­sohn Barthol­dys und Franz Lach­ners geprägt ist. Die tumul­tö­sen Gesten
        seines nach­wag­ne­ria­ni­schen Vita­lis­mus ruhen auf dem Funda­ment einer luzi­den Satz­tech­nik. So
        bewahrt er sich noch in dem, was er selbst „Nerven­kon­tra­punk­tik“ und „Neuro-Mantik“ nannte, Leich­-
        tig­keit und Grazie. Deshalb ist es wich­tig, diese kind­li­chen Anfän­ge des Kompo­nis­ten Richard Strauss
        öffent­lich zu machen.

        Johan­nes Hinter­hol­zer stellt im Kurpark zudem das Horn von Franz Strauss vor, dem Vater Richards,
        einem führen­den Hornis­ten der Zeit und Mitwir­ken­den der Urauf­füh­rung von Wagners „Tris­tan und
        Isolde“. Chris­ti­an Hörbur­ger, ein Urgro­ß­cou­sin von Richard Strauss, hat es dem Strauss-Insti­tut
        zugäng­lich gemacht. Es sei ein zier­li­ches und fili­gra­nes Instru­ment, erzählt Hinter­hol­zer. Die Mensur
        des Mund­stücks sei so eng, dass langes Blasen darauf die Schmerz­gren­ze über­schrei­te. So sei schon rein
        physisch zu erklä­ren, warum Franz Strauss ein entschie­de­ner Gegner der langen Opern Richard
        Wagners gewe­sen sei, für die er sich trotz­dem mit all seinem Können einsetz­te.
https://zeitung.faz.net/webreader-v3/index.html#/467229/11                                                                               1/2
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        Als Hinter­hol­zer dann mit dem Pianis­ten Vene­lin Fili­pov das Nottur­no Des-Dur op. 7 von Franz Strauss
        spielt, hört man eben einen instru­men­ta­len Belcan­to mit mendels­sohni­scher Tönung, der zu den früh­-
        kind­li­chen Eindrü­cken des Sohnes Richard gehört haben muss.

        Šedivý über­nahm die Leitung der Strauss-Tage recht kurz­fris­tig im vergan­ge­nen Jahr, nach­dem Alex­an­-
        der Lieb­reich sie nach nur zwei Festi­val­aus­ga­ben nieder­ge­legt hatte: erstens, weil er wegen der Pande­-
        mie keine Geneh­mi­gung für die Saison 2020 bekom­men hatte, und zwei­tens, weil er nicht länger
        vergeb­lich auf seinen unter­zeich­ne­ten Vertrag warten musste. Aus dem Innern des Gemein­de­rats hörte
        man aller­dings auch Äuße­run­gen eines häss­li­chen und engstir­ni­gen Provin­zia­lis­mus, dass man kein
        Festi­val für hoch­nä­si­ge Münch­ner und inter­na­tio­na­le Gäste ausrich­ten wolle, die auf die Einhei­mi­schen
        herab­sä­hen.

        Domi­nik Šedivý ging prag­ma­tisch damit um, akzep­tier­te vorerst die Drit­te­lung des Etats und bezog die
        Bläser der Musik­ka­pel­le Parten­kir­chen ins Eröff­nungs­kon­zert ein. Dass die künst­le­ri­sche Quali­tät dabei
        nicht auf der Stre­cke bleibt, beweist nicht nur ein erle­sen schö­nes Park­kon­zert mit dem Salz­burg
        Ensem­ble und Bläser­se­re­na­den von Strauss und Mozart. Für Klug­heit und Fines­se steht vor allem ein
        Lieder­abend mit Julian Prégar­di­en, der Beet­ho­vens Zyklus „An die ferne Gelieb­te“ mit den Liedern op.
        10 nach Hermann von Gilm von Richard Strauss sowie verin­ner­licht-kargen Liedern nach Chris­ti­an
        Morgen­stern vom finni­schen Strauss-Zeit­ge­nos­sen Yrjö Kilpi­nen konfron­tiert. Prégar­di­en versteht das
        Leise nicht als Reduk­ti­on, sondern als Verdich­tung, als Stei­ge­rung von Inten­si­tät. Kota Saka­guchi folgt
        ihm am Klavier unge­heu­er acht­sam, wenn er den melo­di­schen Aufschwung bei den „letz­ten roten
        Astern“ im Strauss-Lied „Aller­see­len“ mit einer leich­ten Verzö­ge­rung verbin­det. Das eben macht die
        Zerris­sen­heit dieses Liedes aus: Aufschwung und Zögern sind eins – weil man weiß, dass die Gelieb­te
        nicht mehr, wie bei Beet­ho­ven, fern, sondern tot ist.

        Strauss faszi­niert unsere Gegen­wart. Man sieht es auch in dem ganz neuen Film, den Frede­ric Wake-
        Walker und Andre­as Morell zur „Alpen­sin­fo­nie“ gedreht haben. Das Deut­sche Sympho­nie-Orches­ter
        Berlin (DSO) spielt darin unter seinem Chef­di­ri­gen­ten Robin Ticcia­ti das Werk komplett, dazwi­schen
        reflek­tiert – sinn­fäl­lig im Timing zur Musik – Rein­hold Mess­ner über das Berg­stei­gen: über Erfah­run­-
        gen der Wehr­lo­sig­keit, über ein inten­si­ves Licht und über den Tod als bestän­di­ge Möglich­keit, über das
        Erha­be­ne, dessen Akteur nicht der Mensch, sondern das Gebir­ge sei. Wie in Mess­ners Refle­xio­nen ist
        auch in Strauss’ Musik, wenn das Oboen­so­lo auf dem Gipfel klein­laut in die Knie geht, der Mensch
        plötz­lich Neben­sa­che: Abschied vom Anthro­po­zen­tris­mus. Am Sonn­tag wird der Film um 22 Uhr im
        RBB ausge­strahlt. Er bebil­dert Strauss’ Musik nicht, er erkun­det deren Bedeu­tung. Jan Brach­mann

https://zeitung.faz.net/webreader-v3/index.html#/467229/11                                                                   2/2
2.7.2021                                                 Novoflot: Beethoven hat den Blues | Inforadio

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Fr 02.07.2021 | 07:55 | Kultur
Novoflot: Beethoven hat den Blues
Durch Corona konnte der 250. Geburtstag von Ludwig van Beethoven nicht richtig gefeiert
werden. Das hat die Opernkompagnie "Novoflot" jetzt nachgeholt – mit einer ganzen
eigenen Hommage an den Klassiker im Berliner Admiralspalast. Von Barbara Wiegand

Stand vom 02.07.2021

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2.7.2021                                             https://epaper.sueddeutsche.de/webreader-v3/index.html#/809955/12

       Und er­lö­se uns von der Ge­schich­te

       Das Jü­d i­s che Mu­s e­u m Ber­l in zeigt ei­n e gro­ß e Werk­s chau der is­r ae­l i­s chen Künst­l e­r in Ya­e l Bar­t ­a ­n a. Die
       Aus­s tel­l ung ist ein Coup, auch in­t el­l ek­t u­e ll

       VON S ON ­J A Z E ­K R I

       Ne­b en der Tür des Ate­l iers hängt der schnee­wei­ß e Man­t el von Mal­k a Ger­m a­n ia, der Kö­n i­g in Ger­m a­n ia. Yael Bar­-
       t­a ­n as Film „Mal­k a Ger­m a­n ia“ ist ab­g e­d reht und der Hö­h e­p unkt ih­rer gro­ß en Werk­s chau im Jü­d i­s chen Mu­s e­u m
       Ber­l in. Aber ein paar Re­q ui­s i­t en der an­d ro­g y­n en Mes­s ias-Fi­g ur ste­h en noch her­u m, hier in ih­rem Kreuz­b er­g er
       Ate­l ier, und auch in der Aus­s tel­l ung. Wenn es um Deut­s che, Ju­d en und Is­ra­e l geht, um Trau­m a­t a und um Schuld,
       dann bleibt im­m er et­was üb­r ig, und oft ist es ge­ra­d e das, was man gern sau­b er ver­s taut hät­t e. Das Un­g e­wöhn­l i­-
       che bei Yael Bar­t ­a ­n a ist, dass die­s e Über­res­t e zwar meist in die Ver­g an­g en­h eit wei­s en, aber manch­m al auch in die
       Zu­k unft.

       An ei­n er Ate­l ier­wand leuch­t et in blau­e r Ne­o n­s chrift „Trem­b ling times“, von ei­n em Fo­t o da­n e­b en blickt Yael Bar­t ­-
       a­n a als Theo­d or Herzl, der Be­g rün­d er des Zio­n is­m us – oder, wie sie scherz­h aft sagt, Theo­d or Herzl als Yael Bar­t ­-
       a­n a –, mit hei­t e­rer Gra­v i­t as her­a b. In der Ecke steht ein Schreib­t isch mit gro­ß en Bild­s chir­m en: „Hier ent­s teht
       die gan­z e Ma­g ie“, sagt Bar­t ­a ­n a. Hier ent­s tand „Mal­k a Ger­m a­n ia“.

       Die Vi­d eo­i n­s tal­l a­t i­o n war ei­n e Auf­t rags­a r­b eit für das Jü­d i­s che Mu­s e­u m, die Dreh­a r­b ei­t en un­t er pan­d e­m i­s chen
       Be­d in­g un­g en wa­ren, wie man so sagt, her­a us­for­d ernd, und die Er­ö ff­n ung der Aus­s tel­l ung „Redemp­t i­o n Now“
       wur­d e zig­m al ver­s cho­b en. Man kann die 40 Mi­n u­t en über ei­n e pla­t in­b lon­d e Er­l ö­s e­r in wört­l ich neh­m en und sich
       dann schön auf­re­g en: Ein Skan­d al, die­s e Bil­d er! Man kann sie aber auch an­d ers auf­f as­s en – als hu­m or­vol­l e Ein­-
       la­d ung zur Selbst­e r­for­s chung.

       Da­b ei sind die An­f än­g e pe­n e­t rant arisch. Auf drei gro­ß en Lein­wän­d en im Jü­d i­s chen Mu­s e­u m wird die An­k unft
       der Til­d a-Swin­t on-haf­t en Kö­n i­g in in ei­n em Wäld­c hen bei Ber­l in ge­z eigt. Weiß ge­k lei­d e­t e Tän­z e­r in­n en bie­g en die
       Lei­b er im Son­n en­l icht, Ath­l e­t en he­c heln vor­b ei. Gleich­z ei­t ig er­reicht ein Trupp is­rae­l i­s cher Sol­d a­t en Ber­l in.
       Dann zie­h en al­l e nach Os­t en, die Sol­d a­t en zu Fuß, Mal­k a auf ei­n em ge­s check­t en Esel, vor­b ei an der Sie­g es­s äu­l e,
       Rich­t ung Bran­d en­b ur­g er Tor. Und nichts bleibt, wie es ist.

       Erst se­g elt aus ge­s chnie­g el­t en Alt­b au­t en deut­s ches Kul­t ur­g ut auf die Stra­ß e, Re­c lam­h ef­t e, Goe­t he-Büs­t en, ei­n e
       Ku­c kucks­u hr. Dann tauscht an ei­n er Kreu­z ung ein Mann mit Kip­p a deut­s che Stra­ß en­n a­m en ge­g en he­b räi­s che
       aus. Die Sol­d a­t en lau­fen auf den Reichs­t ag zu, ei­n er von ih­n en trägt Ge­b ets­r ie­m en. Schlie­ß ­l ich das bom­b as­t i­s che
       Fi­n a­l e am Wann­s ee: Vor den Au­g en Mal­k as und der un­g läu­b i­g en Ba­d e­g äs­t e steigt un­t er Brau­s en und Sum­m en
       die gi­g an­t i­s che Kup­p el von Al­b ert Speers „Welt­h aupt­s tadt“ Ger­m a­n ia em­p or. In ei­n er Art Epi­l og sieht man
       schlie­ß ­l ich Men­s chen mit Kof­fern Bahn­g lei­s e ent­l ang­g e­h en. So weit die Schlüs­s el­s ze­n en.

       Man muss da­n ach erst mal Luft ho­l en und sor­t ie­ren, was ge­n au man da ei­g ent­l ich ge­s e­h en hat. Ei­n e an­t i­s e­m i­t i­-
       sche Fan­t a­s ie? Ei­n e zio­n is­t i­s che Fan­t a­s ie? Bei­d es? Keins da­von? Und ist das nicht ab­s o­l ut un­g e­h eu­e r­l ich, Speers
       voll­e nde­t e Ruh­m es­h al­l e und da­n ach Deut­s che mit Kof­fern auf Glei­s en zu zei­g en wie einst die jü­d i­s chen Op­fer
       der Sho­a h? Yael Bar­t ­a ­n a kennt die­s es Er­s chre­c ken über die Bil­d er, sie hat es be­a b­s ich­t igt, sie spielt da­m it: „Ach­-
       ten Sie dar­a uf, was Sie wirk­l ich se­h en“, sagt sie: „Wir wis­s en nicht, wo­h in die Men­s chen mit den Kof­fern ge­h en,
       es gibt kei­n e Ge­walt. Wir al­l e tra­g en das kol­l ek­t i­ve Wis­s en aus dem Ki­n o, aus Ar­c hi­ven, von his­t o­r i­s chen Fo­t os
       und Do­k u­m en­t a­t io­n en in uns. Die­s e Bil­d er brin­g en wir mit. Des­h alb den­ken wir, dass wir et­was se­h en, das es im
       Film gar nicht gibt.“

       Hat man aber den Film als vi­s u­e l­l e Übung ak­z ep­t iert, als Schu­l e des Se­h ens, ge­s chieht zwei­e r­l ei. Selbst die as­s o­-
       zia­t ivs­t en Bil­d er wer­d en plötz­l ich von ih­rer his­t o­r i­s chen Last be­f reit. Men­s chen auf Glei­s en könn­t en tat­s äch­l ich
       nur Men­s chen auf Glei­s en sein. Und is­rae­l i­s che Sol­d a­t en, die aus dem Dun­kel zur Sie­g es­s äu­l e em­p or­s chau­e n,
       kön­n en zwar an das ikoni­s che Bild is­rae­l i­s cher Fall­s chirm­j ä­g er an der Kla­g e­m au­e r im Sechs-Ta­g e-Krieg er­i n­-
       nern, aber sie müs­s en es nicht. Se­h en die Ber­l i­n er In­va­s o­ren nicht so­g ar et­was ver­l o­ren aus? Woll­t en sie wirk­l ich
       ein­m ar­s chie­ren oder ha­b en sie sich nur ver­l au­fen?

https://epaper.sueddeutsche.de/webreader-v3/index.html#/809955/12                                                                                             1/3
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       Die­s e Be­f rei­u ng der Bil­d er wie­d er­u m ist das In­s tru­m ent ei­n er viel um­f as­s en­d e­ren, ge­s chichts­o p­t i­m is­t i­s chen In­-
       ter­p re­t a­t i­o n. Mag sein, dass aus den Tie­fen des Wann­s ees der ver­d räng­t e Grö­ß en­wahn der Deut­s chen in Ge­s talt
       der Ruh­m es­h al­l e auf­s teigt. Aber was ge­n au wür­d e das be­d eu­t en? Die Bil­d er las­s en of­fen, ob die Strand­g äs­t e die
       Kon­f ron­t a­t i­o n be­j u­b eln oder ver­f lu­c hen wer­d en. Wich­t i­g er ist oh­n e­h in die Fra­g e, wel­c he Ge­f üh­l e das Bild im Zu­-
       schau­e r aus­l öst.

       In ei­n em De­p ot ne­b en der Lein­wand sind Re­q ui­s i­t en zu se­h en, dar­u n­t er ei­n e gol­d e­n e Mal­k a-Fi­g ur, die den
       Reichs­a d­l er in die Frei­h eit flie­g en lässt – und mit ihm wo­m ög­l ich den deut­s chen Grö­ß en­wahn. Die Zu­k unft hat
       noch nicht statt­g e­f un­d en und ist schon ein Fall fürs Mu­s e­u m: So könn­t e es sich ab­s pie­l en, und das blie­b e da­von
       üb­r ig.

       Bar­t ­a ­n as Film han­d elt von der Er­l ö­s ung durch Kunst. Nicht nur die Bil­d er, son­d ern auch die Ge­s chich­t e kann
       neu ge­s chrie­b en wer­d en. Selbst das schuld­b e­l as­t e­t e, oft so un­a uf­r ich­t i­g e Ver­h ält­n is der Deut­s chen zu Ju­d en und
       zu Is­rae­l is könn­t e an­d ers be­f ragt, an­d ers ge­l ebt wer­d en. Im Ide­a l­f all wir­ke ih­re Kunst wie ei­n e Psy­c ho­a na­ly­s e,
       die den Men­s chen hilft, aus den ewi­g en en­g en Zy­k len aus­z u­b re­c hen, sagt Bar­t ­a ­n a. In „Mal­k a Ger­m a­n ia“ zieht
       ge­l e­g ent­l ich ein Ka­m el durchs Bild, kein Res­s en­t i­m ent, kein ru­h e­l os „wan­d ern­d er Ju­d e“, son­d ern ei­n e Er­m un­t e­-
       rung an die Deut­s chen: Traut euch, be­wegt euch, es kann bes­s er wer­d en. Kunst als Be­we­g ungs­t he­ra­p ie.

       Bar­t ­a ­n a lebt seit zehn Jah­ren in Ber­l in, sie sieht sich selbst als Au­ß en­s ei­t e­r in, die im­m er da sein möch­t e, wo sie
       ge­ra­d e nicht ist. Vie­l e ih­rer Wer­ke, auch in der Ber­l i­n er Aus­s tel­l ung, ent­h al­t en Kri­t ik an der is­rae­l i­s chen Po­l i­t ik,
       der Be­s at­z ung, der Zu­r ück­s et­z ung der Ara­b er, den Sied­l ern. Das hat ihr selbst schon den Vor­w urf ein­g e­b racht,
       sie sei an­t i­z io­n is­t isch oder so­g ar an­t i­s e­m i­t isch.

       Am An­f ang von „Mal­k a Ger­m a­n ia“ aber stand die Sehn­s ucht nach der he­b räi­s chen Spra­c he, er­z ählt sie: Ei­n es
       Nachts ha­b e sie da­von ge­t räumt, dass al­l e Stra­ß en­s chil­d er in Prenz­l au­e r Berg he­b rä­i sch sei­e n: „Viel­l eicht hat­t e
       ich Heim­weh.“ Wenn man im Film sieht, wie un­b e­e in­d ruckt die zu­f äl­l ig in die Dreh­a r­b ei­t en ge­ra­t e­n en Ber­l i­n er
       sind – ganz die ab­g e­b rüh­t en Haupt­s täd­t er –, dann ist das schon al­l ein sehr hübsch. Für Is­rae­l is ist die Sze­n e
       noch un­t er­h alt­s a­m er, denn die Ber­l i­n er Stra­ß en hei­ß en jetzt „Re­h ov Ge­u ­l a“, Stra­ß e der Er­l ö­s ung, und „Re­h ov
       Ha­kovs­h im“, Stra­ß e der Er­o be­rer, es sind mar­t ia­l i­s che Na­m en ei­n er völ­l ig all­t äg­l i­c hen Kreu­z ung in Tel Aviv.

       Dass Bar­t ­a ­n a ganz an­d ers an­g e­f an­g en hat, an­t hro­p o­l o­g i­s cher, do­k u­m en­t a­r i­s cher, kann man in ih­rer Aus­s tel­l ung
       „Redemp­t i­o n Now“ gut ver­fol­g en. Zwar ist die Werk­s chau nicht chro­n o­l o­g isch ge­o rd­n et, aber zu Be­g inn fin­d en
       sich ei­n i­g e ih­rer frü­h en Vi­d e­o s wie „Kings Of The Hill“ von 2003, wo Män­n er mons­t rö­s e SUVs den Strand hin­a uf-
       und her­u n­t er­q uä­l en. Oder „When Adar En­t ers“ aus dem­s el­b en Jahr, ein Be­s uch zum Pu­r im-Fest bei den Or­t ho­-
       do­xen in Mea Shea­r im in Je­r u­s a­l em und Bnei Brak bei Tel Aviv. Al­l e ver­k lei­d en sich, die Mäd­c hen tra­g en wei­ß e
       Klei­d er wie Bräu­t e, ein Jun­g e ei­n e Gas­m as­ke. Auf der Stra­ß e tan­z en Män­n er mit Fa­ke-Fez.

       Es ist ei­n e Welt, die der sä­k u­l a­ren Bar­t ­a ­n a halb fremd, halb ver­t raut ist. Aber dass der An­d e­re un­a b­d ing­b ar ist,
       um die ei­g e­n e Iden­t i­t ät zu for­m en, ge­h ört ja ge­ra­d e zu ih­ren Kern­t he­s en. Is­rae­l is wie sie bei­s piels­wei­s e wer­d en
       sich erst in Eu­ro­p a ih­rer jü­d i­s chen Iden­t i­t ät be­w usst, sagt sie. Aber was ist, wenn die­s er An­d e­re fehlt als Fol­g e
       von Ver­n ich­t ung? Wie um­g e­h en mit ei­n em so ver­s tö­ren­d en Vaku­u m? Ei­n e Ant­wort dar­a uf gibt in Ber­l in ihr be­-
       kann­t es­t es Werk, das viel­g e­s tal­t i­g e Pro­j ekt „And Eu­ro­p e Will Be Stun­n ed“. Es kreist um ei­n e fik­t i­ve pol­n i­s che
       Be­we­g ung, die 3,3 Mil­l io­n en Ju­d en – so vie­l e wie vor der Sho­a h in Po­l en leb­t en – zur Rück­kehr be­we­g en will. Das
       „Je­w ish Re­n ais­s ance Mo­vement in Po­l and“ war – heu­t e schwer vor­s tell­b ar – Po­l ens Bei­t rag zur Bi­e n­n a­l e in Vene­-
       dig 2012, es be­r ührt Fra­g en von Zu­g e­h ö­r ig­keit, von Hei­m at, auch von Er­l ö­s ung.

       Die Re­a k­t io­n en in Is­ra­e l wa­ren stür­m isch, sagt Bar­t ­a ­n a: Pol­n isch­s täm­m i­g e Ju­d en wein­t en, als sie die Spra­c he ih­-
       rer Kind­h eit hör­t en. An­d e­re wa­ren fas­s ungs­l os: „Willst du uns zu­r ück in die Gas­k am­m er schi­c ken?“ Und dann
       gab es noch ei­n e Les­a rt, po­l i­t i­s cher, ak­t u­e l­l er: „Wenn die Ju­d en nach Po­l en zu­r ück­keh­ren, müss­t en dann nicht
       die Pa­l äs­t i­n en­s er nach Is­ra­e l zu­r ück­keh­ren dür­fen?“, fragt Bar­t ­a ­n a. Ih­re Ant­wort: „Ja, das müss­t en sie.“

       „Redemp­t i­o n Now“ ist die ers­t e Aus­s tel­l ung der neu­e n Mu­s e­u ms­d i­rek­t o­r in Het­t y Berg, ge­p lant lan­g e be­vor sie
       ih­ren Pos­t en an­t rat, nun aber ein künst­l e­r i­s cher und in­t el­l ek­t u­e l­l er Coup. Man fin­d et die Fo­t os von Herzl als
       Bar­t ­a ­n a wie­d er, auch ein Vi­d eo mit dem Ti­t el „Trem­b ling Time“. Es zeigt in Zeit­l u­p e den ein­f rie­ren­d en Ver­kehr
       wäh­rend der Schwei­g e­m i­n u­t e für die is­rae­l i­s chen Kriegs­g e­f al­l e­n en. Bar­t ­a ­n a hat zio­n is­t i­s che Ju­b el­b il­d er aus den
       Drei­ß i­g er­j ah­ren mit Ara­b ern nach­g e­s tellt und ei­n e is­rae­l i­s che Frie­d ens­d e­m ons­t ra­t i­o n als an­t i­kes Re­l i­e f ge­f ilmt.

https://epaper.sueddeutsche.de/webreader-v3/index.html#/809955/12                                                                                                 2/3
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