Die Fleischindustrie: Der blinde Fleck wird zum Corona Hotspot

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Die Fleischindustrie: Der blinde Fleck wird zum Corona Hotspot
Die Fleischindustrie: Der blinde Fleck wird zum Corona Hotspot
Wiebke Claussen (19.5.2020)1

In der Corona-Pandemie gilt auch die Fleischindustrie als systemrelevanter Produktionsbereich. Und
zugleich ist der Bereich ein blinder Fleck, ein System deregulierter Arbeits- und Beschäftigungs-
verhältnisse und gnadenloser Ausbeutung der Mitarbeiter, die durch Subunternehmerketten
organisiert wird, in dem auch in der Corona-Pandemie den Unternehmen freie Hand gelassen wird. Ab
Anfang Mai rückten die prekären Arbeits- und Lebensbedingungen der Arbeiter in der Fleischindustrie
auf ganz unerwartete Weise in den Fokus der öffentlichen Aufmerksamkeit: als Infektionsherde in der
Corona-Pandemie, und dies nicht nur für die Fleischarbeiter selbst, sondern auch für die
Gesamtbevölkerung im Umfeld, für die die angekündigten Lockerungen der Corona-Auflagen nicht
aufgehoben zu werden drohten. Durch diese Betroffenheit aller in Kommune und Landkreis wurden
die Zustände in den Fleischbetrieben und ihrem Umfeld zum Skandalthema. In der Corona-Pandemie
können wir wie durch ein Brennglas erkennen, welche Strukturen die Fleischindustrie prägen, welche
Verhältnisse in der Branche in einer Kultur des Wegsehens und der fragmentierten Wahrnehmung
inzwischen herrschen und welche Folgen Preis- und Sozialstandarddumping insgesamt haben. Im
Zuge dieses Skandals besteht die Chance, dass in diesem Produktionssystem sozialen und
ökologischen Standards Geltung verschafft wird.

Bemerkenswert ist, dass dieses Thema erst im Zuge der Einführung einer Corona-Obergrenze in die
Öffentlichkeit geriet. Weil sich die Länder auf kein einheitliches Vorgehen hatten einigen können,
wurde eine Obergrenze von 50 (innerhalb der letzten 7 Tage) Corona-Neuinfizierten je 100.000
Einwohner eingeführt, als Interventionsgrenze für eine Fortführung bzw. Rücknahme der Lockerung
der Corona-Auflagen in den jeweiligen Kommunen und Kreisen. In einigen Kreisen kamen in diesem
Zusammenhang exorbitant hohe Infektionsraten zum Vorschein, für die es zunächst keine Erklärung
gab, dann aber wurden hohe Infektionsraten von Schlachtarbeitern als Ursache identifiziert.
Die Infektionszahlen im Kreis Coesfeld stieg von zunächst 37 Infektionen auf, kurze Zeit später, 73
Neuinfektionen je 100.000 Einwohner an und erreichte einen NRW-Landesspitzenwert. Der
sogenannte Notfallmechanismus wurde in Kraft gesetzt und die Lockerungen der Corona-
Maßnahmen wurden gestoppt, weil die Latte von 50 Infektionen je 100.000 Einwohner gerissen
wurde. Die geplante Lockerung der Auflagen war damit erst einmal perdu und Bevölkerung und
Wirtschaft waren wenig begeistert. Schnell wurde dann deutlich, dass viele Corona-Fälle bei den
Westfleisch-Schlachtarbeitern in Coesfeld zu finden waren. Und schnell wurde deutlich, dass es
offensichtlich keine Corona-Schutzmaßnahmen bei den Schlachtarbeitern gegeben hatte. Die
Arbeiter arbeiteten im selben Takt wie immer. Sie wohnten in Sammelunterkünften, eng
zusammengepackt in Mehrbettzimmern, mit gemeinsamen Kochstellen, Sanitäranlagen etc. Sie
wurden in Sammeltransporten zu den Arbeitseinsatzstellen gefahren. Es gab keine Hygienekonzepte.
Der Spiegel ermittelte Anfang Mai bundesweit über 600 Corona-Fälle in deutschen Schlachthöfen.
Besonders betroffene Betriebe in Coesfeld und in Bad Bramstedt wurden vorübergehend
geschlossen (Der Spiegel 9.5.2020).
Im Westfleisch Schlacht- und Zerlegebetrieb in Coesfeld arbeiten 1.200 Mitarbeiter, ein großer Teil
kommt aus Rumänien. Nach Angaben des Landratsamtes wurden bis zum 13.5.2020 über 260
Mitarbeiter positiv auf Corona getestet. Nachdem die Infektionszahlen des Coesfelder Betriebs durch
die Bundespresse gegangen war, redete sich Westfleisch zunächst heraus als systemrelevanter
Betrieb, dass der Betrieb selbstverständlich weiterliefe und die Personalengpässe aufgefangen

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    Wiebke Claussen ist Stadtplanerin in Dortmund.

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Die Fleischindustrie: Der blinde Fleck wird zum Corona Hotspot
würden. Erst Auflagen von Landesregierung und Kreis führten dazu, dass der Betrieb am 8.5.2020
geschlossen wurde (Tagesschau vom 8.5.2020, Erdenberger 2020).
Ein weiterer Fall ist der Westfleischbetrieb in Oer-Erkenschwick (Kreis Recklinghausen). Nach
Angaben des Arbeitsministers Laumann haben sich dort 33 von 1.250 Mitarbeitern mit dem Virus
angesteckt (Tagesschau vom 8.5.2020).
Einen weiteren Fall gab es in Schleswig-Holstein, im Schlachtbetrieb Vion in Bad Bramstedt (Kreis
Segeberg) mit 260 Mitarbeitern. Hier wurden am den 8.5. 119 Beschäftigte positiv getestet. Mit Vion
in Bad Bramstedt schloss ein anderes Großunternehmen der Branche seinen Betrieb nach einem
Corona-Ausbruch. 88 der infizierten Personen leben in einer ehemaligen Kaserne in Kellinghusen im
Kreis Steinburg (NDR 2020).
Nordrhein-Westfalen und Schleswig-Holstein kündigten daraufhin landesweit flächendeckende Tests
in Schlacht- und Zerlegebetrieben an. Allein in Nordrhein-Westfalen arbeiten insgesamt etwa 20.000
Mitarbeiter von Schlacht- und Zerlegebetrieben. Mit den Tests wurde nach dem 8.5.2020 begonnen.
Die Kosten dafür wird das Land Nordrhein-Westfalen tragen. Bei den Tests in Nordrhein-Westfalen
zeigen sich die Hürden mangelnder rechtlicher Handhabemöglichkeiten (z.B. die Handhabe
gegenüber Leiharbeitsbetrieben, das Recht auf Unversehrtheit des Wohnraumes bei privat
angemieteten Wohnungen, mangelnde grenzüberschreitende Abstimmung im holländisch deutschen
Grenzraum) und die Regelungslücken im Werkvertragswesen (Münten 2020, Ruhr Nachrichten 2020,
WDR Westpol vom 17.5.2020).
Laut Landwirtschaftsministerium gibt es in Schleswig-Holstein derzeit etwa 50 Schlachtbetriebe,
darunter sechs, sieben größere wie den in Bad Bramstedt. Sollten die Beschäftigten in
Werkswohnungen oder ähnlichen privaten Gemeinschaftsunterkünften leben und dort weitere nicht
im Schlachthof angestellte Personen wohnen, seien diese ebenfalls zu testen, teilte das
Gesundheitsministerium mit. Niedersachsen hatte am 8.5. noch nicht entschieden, ob man
flächendeckende Tests bei den Mitarbeitern von Schlachthöfen durchführen werde.
Aber es gab in den Folgetagen weitere Corona-Vorfälle in großen Fleischbetrieben
§   Schon Anfang April erkrankten Mitarbeiter im Müller-Fleisch Betrieb in Birkenfeld bei Pforzheim.
    Nach Angaben der Sprecherin des Landratsamtes des Baden-Württembergischen Enzkreises (am
    12.5.2020) wurden rund 400 Mitarbeiter positiv auf das Coronavirus getestet. Das ist über 1/3
    der insgesamt 1.100 Beschäftigen (labournet 11.9.2020, Lebensmittelzeitung 2020, Kopf 2020,
    Klawitter 2020, Kersting, Neuerer, Specht, 2020).
§   Am 12.5.2020 wurde die Froschfleisch Boeser GmbH in Schöppingen (Kreis Borken) stillgelegt, in
    der 33 Mitarbeiter positiv auf das Coronavirus getestet worden waren (Borkener Zeitung 2020).
§   In Hilden wurde ein Mitarbeiter des Fleischzerlegebetriebs Vion positiv auf das Coronavirus
    getestet. Insgesamt mussten hier 230 Mitarbeiter untersucht werden.
§   Am 13.5. tauchen positive Coronavirus-Tests bei Beschäftigten im Wiesenhof Geflügel-
    Schlachtbetrieb im Landkreis Straubing-Bogen auf. Im Betrieb arbeiten 1.000 Mitarbeiter. Bis
    zum 15.5. ist von 77 infizierten Mitarbeitern die Rede (Kain 2020).
§   Am 17.5.2020 teilte der Landkreis Osnabrück mit, dass 92 Mitarbeiter des Schlachthofs von
    WestCrown, einem Joint Venture von Westfleisch und Danish Crown, im niedersächsischen
    Dissen positiv getestet worden waren (Hasepost 2020, NDR Niedersachen 2020, Osradio 2020,
    Manager Magazin 2020, Dete 2015).
Und auch ein Blick ins Ausland zeigt, dass die Arbeits- und Lebensbedingungen von
Schlachthofarbeitern Corona-Infektionen befördern. Laut "Wired" sollen in den USA mehr als 5.000
Arbeiter in 19 US-Bundesstaaten betroffen sein. In Iowa und South Dakota sollen ein Fünftel aller
Arbeiter in Schlachtbetrieben erkrankt sein. In den USA kommen 80 Prozent der Fleischproduktion
aus ganzen vier Unternehmen. Die Konzerne Smithfield Foods, JBS und Tyson Foods teilen sich den
Großteil des Schlacht- und Fleischmarktes unter einander auf. So viel Konzentration heiße wenig
Konkurrenz und wenig Anreiz für bessere Bedingungen. Weitere Berichte von Häufungen in der
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Die Fleischindustrie: Der blinde Fleck wird zum Corona Hotspot
Fleischindustrie findet man ebenfalls aus Brasilien, Spanien, Kanada, Irland, und Australien
(agrarheute 2014, Der Stern vom 8.5.2020; Landwehr, 2020, Reimer 2020, Wipperfürth 2018, BUND
2018).
Nach den Corona-Fällen in den Schlachthöfen in Coesfeld und Bad Bramstedt und der Schließung der
Betriebe wurden landesweite Infektionstests in Nordrhein-Westfalen und Schleswig-Holstein und an
Schlachthofstandorten, an denen ebenfalls Corona-Infektionen auftauchten, durchgeführt. Die
Umsetzung von Hygienevorschriften wurde eingeklagt. Der Bundesarbeitsminister Hubertus Heil
nahm sich des Themas Arbeitsbedingungen in der Fleischindustrie ebenfalls an.
Doch wie kann es sein, dass Corona bezogene Hygienevorschriften, Präventions- und Schutzauflagen
in den Fleischereibetrieben und den damit verbundenen Einrichtungen zur Unterbringung der
Arbeitskräfte und zum Transport zum Arbeitsplatz bis Anfang Mai anscheinend keinerlei Anwendung
fanden? Wir kann es sein, dass die Unternehmen keine Vorkehrungen trafen, die Behörden nicht auf
die Aufstellung und Einhaltung von Hygienekonzepten hinwirkten? Warum ist das wochenlang
schlicht nicht aufgefallen, bzw. seitens der Ordnungsbehörden kein Augenmerk darauf gerichtet
worden?
Der Corona bedingte Lockdown vieler Einrichtungen des öffentlichen Lebens und die Verhängung von
Schutzmaßnahmen lief ab dem 13. März 2020. Das ist mehr als 2 Monate her. Die seit dem 16. April
geltenden Arbeitsschutzstandards fanden offensichtlich keine Anwendung bei den Arbeitern der
Fleischindustrie. Hotels und Pensionen im Tourismusbereich wurden ab Mitte März geschlossen. Erst
in dem Moment wurde die Situation öffentlich wahrgenommen, als auch die Infektionen der
Schlachtarbeiter die „Kreisinfektionsquote“ erhöhte, die Latte der Obergrenze und damit die
Lockerung der Corona-Einschränkungen zu reißen drohte. Außerdem dämmerte manchem, dass die
Infektionsherde auch die Gesundheit der gesamten Bevölkerung gefährden könnten und insofern
den Corona-Hygieneauflagen auch im Schlachthofsystem Geltung zu verschaffen sei: eine ziemlich
verspätete Einsicht.
Warum hielten es die Schlachtbetriebe und deren Subunternehmer, die den Transport der Arbeiter
und/oder deren Unterbringung organisieren, nicht für nötig, Arbeits- und Gesundheits-
schutzmaßnahmen umzusetzen? Warum wurstelte man weiter wie gehabt? Warum ist dieses
verantwortungslose Gebaren nicht aufgefallen? Warum haben Aufsichts- und Ordnungsbehörden
hier in keiner Weise interveniert? Woher rührt die selbstbewusste Reaktion der Fleischunternehmen
mit Abwiegelung und dem Verweis auf bedauerliche Einzelfälle und schwarze Schafe?
Nachdem die Infektionszahlen des Coesfelder Betriebs durch die Bundespresse publiziert wurde,
redete sich Westfleisch zunächst heraus, dass der Betrieb als systemrelevanter Betrieb
selbstverständlich weiterliefe und die Personalengpässe aufgefangen würden. Erst Auflagen von
Landesregierung und Kreis führten dazu, dass der Betrieb am 8.5.2020 geschlossen wurde.
Clemens Tönnies, Deutschlands größter Schlachthofbetreiber, versuchte flugs, Flurschaden zu
vermeiden, und verwehrte sich am 8.5.2020 und am 13.5.2020 (WDR Aktuelle Stunde 13.5.2020)
dagegen, dass mit dem neuen Erlass des NRW-Arbeitsministeriums mit einer Reihe von Hygiene-
Vorschriften die hiesigen Schlachthöfe unter Generalverdacht gestellt würden, zumal die Politik der
Fleischbranche zu Beginn der Corona-Krise signalisiert habe, dass sie systemrelevant sei, einen
Versorgungsauftrag habe und die Produktion aufrecht zu erhalten sei. Seinerseits habe man
Vorsorgemaßnahmen getroffen. Tönnies zeigte sich offen für die Testung aller Mitarbeiter, wenn ein
Infektionsgeschehen herrsche, stellte aber „die Auflagen der ungezielten generellen
Wohnraumkontrolle“ als nicht gerechtfertigt dar. Darüber bestehe kein Interventionsbedarf
aufgrund der geringen Infektionsrate im Kreis Gütersloh, dem Standort seine Firmenzentrale (Fels
2020).
Und nach der Veröffentlichung des Skandals ab Anfang Mai 2020 sind auch die Statements der
Politiker erstaunlich. Der nordrhein-westfälische Arbeits- und Gesundheitsminister Karl-Josef
Laumann (CDU) kündigte umgehend eine Untersuchung aller in den Schlachtbetrieben ca. 20.000
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Die Fleischindustrie: Der blinde Fleck wird zum Corona Hotspot
beschäftigten Menschen an, auch der Werkvertragsarbeiter (Tagesschau 2020). Angesichts des weit
überwiegenden Anteils von Werkvertragsarbeitern aus Südosteuropa in den Schlachthöfen2 ist diese
Aussage schon erstaunlich ignorant: gegenüber den Werkvertragsarbeitern und gegenüber der
restlichen Bevölkerung in den Orten – zumal die nordrhein-westfälische Landesregierung 2019 bei
Betriebskontrollen massenhafte Unregelmäßigkeiten in Schlachthöfen in Nordrhein-Westfalen in
Augenschein genommen hatte (Tenta 2019). Und in einem Beitrag von Report Mainz in 2013 wurde
Laumann als Vertreter der CDU-Arbeitnehmervertretung interviewt (SWR 2013).3 Warum wurde
Laumann als zuständiger Gesundheits- und Arbeitsminister aus dem Münsterland nicht viel früher
aktiv, sondern ließ die selbstgerechte Fleischindustrie gewähren?
Der CSU-Landwirtschaftspolitiker Max Straubinger forderte im Deutschlandfunk, möglichen
Missständen in den Betrieben mit aller Härte nachzugehen, forderte aber auch die
Eigenverantwortlichkeit der Mitarbeiter, Mindestabstände einzuhalten, um eine Verbreitung des
Coronavirus einzudämmen. Angesichts des bisherigen Vorgehens der Betriebe und der prekären,
beengten Wohnsituation ist diese Bemerkung nur ignorant (Schulz 2020).
Erschreckend auch, wie ahnungslos sich der Vertreter des DGB Region Münsterland, Ortwin
Birckhove-Swiderski, im Interview zeigte. Osteuropäische Mitarbeiter hätten ihm von der z.T.
katastrophalen Unterbringung mit 6-8 Leuten pro Zimmer berichtet (Tagesschau vom 8.5.202.
(https://www.tagesschau.de/investigativ/ndr-wdr/fleisch-mitarbeiter-infiziert-101.html). All das ist
lange bekannt.

Betriebe der Fleischindustrie
Laut Statistischem Bundesamt gibt es in Deutschland knapp 1.500 größere Schlacht- und
Verarbeitungsbetriebe. Dort arbeiten gut 128.000 Menschen. Das macht im Schnitt eine
Betriebsgröße von etwa 85 Mitarbeitern (Schwesinger 2020). In Deutschland gibt es rd. 370
Schlachtbetriebe mit jeweils mehr als 20 Beschäftigten. Die Branche wird jedoch von wenigen
Großbetrieben dominiert4 (Hans Böckler Stiftung 2017).
    §    Die Tönnies-Gruppe, mit Konzernsitz in Rheda-Wiedenbrück ist der bundesweit größte
         Fleischkonzern mit 16.500 Beschäftigten, darunter 3.250 Beschäftigten im Rhedaer Betrieb.
         Agrarheute platzierte Tönnies 2014 auf Platz fünf der weltweit größten
         Schweineschlachthöfe. Tönnies hat inzwischen einen Marktanteil von 30% der Kapazität der
         Schweinschlachtbetriebe in Deutschland (Hungerkamp 2020 und agrarheute). Der Umsatz
         der Tönnies Gruppe beläuft sich auf 6,35 Mrd. €. (Hans Böckler Stiftung 2017, S. 5;
         agrarheute 2014).
    §    Vion Food Germany mit Sitz in Buchloe/Düsseldorf beschäftigt 6.000 Mitarbeiter und tätigt
         einen Umsatz i.H.v. 2,96 Mrd. € (Hans Böckler Stiftung 2017, S. 5), der Marktanteil wird in
         2019 auf 14% veranschlagt (agrarheute 2020). Der Hauptsitz des Konzerns Vion Food Group
         ist Boxtel in den Niederlanden. Die Firmenwebsite von Vion weist 4.544 eigene Arbeitskräfte
         und 7.901 Fremdarbeitskräfte aus (https://www.vionfoodgroup.com/de/about-vion). Das
         Unternehmen wurde 1948 von Alexander Moksel in Buchloe im Ostallgäu als privater
         Schlachthof gegründet (https://de.wikipedia.org/wiki/Moksel).
    §    Westfleisch SCE mit Sitz in Münster hat 2.200 Mitarbeiter und tätigt einen Umsatz i.H.v. 2,47
         Mrd. € (Hans Böckler Stiftung 2017, S. 5), der Marktanteil beläuft sich auf 14% (agrarheute
         2020).

2 Nach Angaben der LINKEN arbeiten in der Branche 85 Prozent der Beschäftigten mit Werkverträgen (Deutscher
Bundestag 2020b).
3 In diesem Zusammenhang ist auch interessant, dass eine der ersten Amtshandlungen der neuen Umwelt- und

Agrarministerin Christina Schulze-Föcking (CDU) in 2017, deren Familie im Münsterland einen Schweinemastbetrieb
betreibt, die Auflösung der „Stabsstelle für Umweltkriminalität in NRW“ war.
4 Der Bereich der Fleischverarbeitung ist mit mehr als 1.000 Betrieben weniger konzentriert.

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Die Fleischindustrie: Der blinde Fleck wird zum Corona Hotspot
§    Danish Crown Fleisch (mit Sitz in Essen bei Oldenburg und Betrieben z.B. in Essen/Oldenburg,
         Husum Schleswig-Holstein, Teterow Mecklenburg-Vorpommern) gehört zum dänischen
         Danish Crown Konzern. Danish Crown Fleisch verbucht einen Umsatz von 0,5 Mrd. € und
         beschäftigt 1.300 Mitarbeiter (Hans Böckler Stiftung 2017, S. 5). Der Marktanteil in 2019
         belief sich auf 14% (agrarheute).
    §    Westfleisch und Danish Crown gingen das 2015 von der Europäischen Wettbewerbsbehörde
         genehmigte Joint Venture "WestCrown" ein.
In der Antwort auf eine Anfrage der Fraktion der LINKEN zu den Arbeitsbedingungen in der
Fleischindustrie heißt es: „Die zehn größten Unternehmen der Fleischindustrie setzen jährlich etwa
20 Mrd. Euro um. Der Erfolg der Branche ist auf den Status Deutschlands als „Billig-Schlachtland“
(Balser 2017a) zurückzuführen. Hierzulande wird Fleisch vergleichsweise günstig hergestellt und
erfolgreich in andere Länder exportiert. Lediglich 1,50 Euro kostet die Schlachtung eines Schweines,
wenn dafür Subunternehmer mit Werkverträgen engagiert werden“ (Deutscher Bundestag 2019b, S.
1).
In Nordrhein-Westfalen gibt es nach Angaben von Landwirtschaftsministerin Ursula Heinen-Esser 35
große Schlachtbetriebe, die 18 Mio. Schweine und 600.000 Rinder jährlich schlachten (Brosthaus
2020). Im Jahr 2018 wurden in 256 nordrhein-westfälischen Betrieben des verarbeitenden Gewerbes
Fleisch und Fleischerzeugnisse im Wert von rund 11,6 Milliarden Euro hergestellt. Im Jahr 2018
wurden in den nordrhein-westfälischen Schlachtbetrieben Schweinefleisch im Wert von
3,6 Milliarden Euro (−10,7 Prozent gegenüber 2017) und Rindfleisch mit einem Absatzwert von
1,3 Milliarden Euro (+4,5 Prozent) hergestellt. Der Produktionswert für Geflügelfleisch betrug
336 Millionen Euro (−0,4 Prozent). Deutschlandweit wurden im Jahr 2018 nach vorläufigen
Ergebnissen Fleisch und Fleischerzeugnisse im Wert von 37,2 Milliarden Euro (−3,6 Prozent)
produziert. Der Anteil der in Nordrhein-Westfalen industriell hergestellten Fleisch und
Fleischerzeugnisse am Bundesergebnis betrug 31,0 Prozent (Landesbetrieb IT NRW 2019).

Die zehn größten Schlachthöfe Deutschlands

Quelle: agrarheute 2018 (https://www.agrarheute.com/tier/schwein/schwein-zehn-groessten-schlachthoefe-deutschland-
445426)

Entsprechend groß ist auch die Macht der Fleischindustrie und ihrer großen „Player“ in Gesellschaft
und Politik.

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Die Fleischindustrie: Der blinde Fleck wird zum Corona Hotspot
Quelle: https://www.agrarheute.com/management/agribusiness/isn-schlachthofranking-toennies-baut-marktmacht-
566885

Quelle: Hans Böckler Stiftung 2017, S. 5

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Die 15 größten Fleischbetriebe stehen für mehr als 56% des Branchenumsatzes.
    §   Tönnies ist mit 16,2 Mio. Schlachtungen in Deutschland (2016) und einem mengenbezogenen
        Marktanteil von 27% (2016) das größte hiesige Schweineschlachtunternehmen.
    §   Die 10 größten Schweineschlachtunternehmen in Deutschland haben zusammen einen
        Marktanteil von ca. 77%, allein die Top 4 (Tönnies, Vion Food Germany, Westfleisch,
        DanishCrown Fleisch) haben einen mengenmäßigen Marktanteil von mehr als 60%.
    §   Vion ist mit ca. 800.000 Schlachtungen in Deutschland (2015) das größte
        Schlachtunternehmen für Rinder (mengenbezogener Marktanteil von ca. 25%).
    §   Das mit 2,46 Mrd. € (2015/2016) umsatzstärkste Unternehmen der Geflügelwirtschaft ist die
        PHW-Gruppe mit der bekannten Handelsmarke Wiesenhof.
    §   Mit einem Umsatz von 0,84 Mrd. € (2015) ist Kaufland Fleischwaren das größte LEH-
        Fleischwerk.
Quelle: Hans Böckler Stiftung 2017, S. 5

Der Branchenreport der Hans Böckler Stiftung (2107, S.7) beschreibt die Beschäftigungslage in der
Schlacht- und Fleischverarbeitungsbranche folgendermaßen:
In ca. 1.400 Schlacht- und Fleischverarbeitungsbetrieben mit über 20 Beschäftigen sind fast 114.000
Mitarbeiter tätig, davon ca. 32.000 im Schlachtbereich (2016).

    §   Die tatsächlichen Arbeitsverhältnisse und die hohe Fluktuation machen präzise Angaben zur
        Beschäftigung (inkl. Leiharbeit und Werkverträgen) schwierig.
    §   Die Zahl der sozialversicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnisse (SVB) in Betrieben ab
        1 Mitarbeiter ist 2016 gegenüber 2014 um mehr als 15.000 auf fast 159.000 angewachsen
        (+10,7%). Der Ausländeranteil unter den SVB ist von 16% (2014) auf 26% (2016) gestiegen.
    §   Dies ist nicht auf einen generellen Beschäftigungsaufbau zurückzuführen, sondern auf die
        seit 2015 in 88 Betrieben geltende Selbstverpflichtung, wonach (osteuropäische)
        Subunternehmen ihre Arbeitnehmer der Sozialversicherung in Deutschland melden müssen.
    §   Der Umsatz pro Beschäftigtem lag 2016 bei 364.908 € und somit deutlich über dem
        Durchschnitt der letzten 10 Jahre (348.553 €).

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§    Die Beschäftigtenzahl pro Unternehmen in der Fleischwirtschaft ist mit ca. 81 etwas niedriger
         als im Durchschnitt der Nahrungs- und Genussmittelindustrie (knapp 99).
    §    Die Betriebe mit 500 und mehr Beschäftigten vereinen 20% der Umsätze und mehr als 15%
         der Beschäftigten auf sich (2016). Die Betriebe mit 100 bis 249 Beschäftigten stehen für mehr
         als ein Drittel der Umsätze (35%) und mehr als ein Viertel der Beschäftigten (26%).
    §    Bei den großen Betrieben sind fortlaufende Restrukturierungs- und
         Rationalisierungsmaßnahmen an der Tagesordnung. Während an manchen Standorten die
         Kapazitäten ausgebaut werden und in automatisierte Abläufe investiert wird, werden andere
         Standorte geschlossen.
Im Schlachtbereich beträgt der Anteil eigener Beschäftigter zwischen 10% und 50% (HBS 2017, S7).
Bis auf Westfleisch beschäftigen die großen Schlachtbetriebe nach wie vor weniger als 50% eigenes
Stammpersonal. Der Rest sind Werkvertrags- und Leiharbeiter in Subunternehmen5.
Im Branchenreport zur Fleischindustrie (Hans Böckler Stiftung 2017, S. 10) ist die Situation der
Werkvertragsvertragsarbeiter nur sehr am Rande Thema.
    §    Leiharbeit und Werkverträge: Die Aufwendungen der Betriebe für Leiharbeit sind von 2007
         bis 2015 bei sinkenden Beschäftigtenzahlen um 79,4% gestiegen. Werkverträge werden in
         vielen Fällen nach wie vor missbräuchlich eingesetzt, um Tarif- und Sozialstandards zu
         unterlaufen.
    §    Chancengleichheit: Die Zahl der Minijobs hat von 2007 bis 2016 um ca. 13% abgenommen;
         mehr als zwei Drittel der Minijobber sind Frauen. Trotz Mindestlohn (8,75 €) bleibt
         Deutschland der „Billigheimer“ in Europa (vgl. Dänemark 25 €, Italien 23 €, Belgien 15 €;
         Balser 2017a, Deutscher Bundestag 2019b).
    §    Mitbestimmungssituation: Unter den Mindestlohntarifvertrag fallen nur gut ein Drittel der
         Beschäftigten in der Fleischwirtschaft. Trotz Mindestlohn und Sozialversicherung für
         Werkvertragsarbeiter ist das Mitbestimmungsprinzip quasi ausgehebelt.
    §    Die häufig kurzen Beschäftigungsverhältnisse von Werkvertragsarbeitern und
         Sprachprobleme erschweren eine grenzüberschreitende Zusammenarbeit von NGG und
         Betriebsräten mit Arbeitnehmerorganisationen im Ausland.
Interessant ist, dass auch der Pressesprecher von Danish Crown (Jens Hansen), die auch den
Schlachthof in Husum (Schleswig-Holstein) betreiben, den deutlichen Lohnunterschied zwischen
Beschäftigten von Danish Crown in Dänemark und in Deutschland bestätigt. Deutschland sei aus Sicht
des Unternehmens ein Billiglohnland. Die Angleichung an dänische Standards wäre ein erheblicher
Wettbewerbsnachteil. Jim Jensen von der dänischen Gewerkschaft NNF weist darauf hin, dass die
Mehrzahl der Beschäftigten auf den Schlachthöfen in Dänemark, dem Stammland von Danish Crown,
fest angestellt sind und ordentlich bezahlt werden. „Aber durch die Verlagerung der Produktion nach
Deutschland haben wir rund 10.000 Arbeitsplätze verloren“. (DGB Schleswig-Holstein Nordwest
2018, Riemann 2018).
Dabei handelt es sich bei der Fleischbranche um eine Branche, die stark subventioniert wird. Die
deutsche Bundesregierung fördert seit Beginn der 2000er-Jahre in Deutschland gezielt die
industrielle Intensivtierhaltung und den Export von Fleisch, Milch und lebenden Tieren. Es geht
darum Marktanteile in Asien zu gewinnen, um vom steigenden Wohlstand in China zu profitieren.
Nach Fernost wird vor allem Schweinefleisch exportiert. Rund 55 Millionen Schweine schlachteten
die deutschen Fleischproduzenten 2019 – viele davon importiert, denn gehalten wird in deutschen
Ställen nur ungefähr die Hälfte. Hinzu kommen Erlasse der EEG-Umlage (Reimer 2020).

5 Der Husumer Schlachthof gehört zu den 3 Großschlachthöfen Schleswig-Holsteins und ist Teil des Konzerns Danish Crown.
Bis zu 2.000 Rinder und Lämmer werden dort pro Woche geschlachtet. 150 rumänische Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter
sind über eine Werkvertragsfirma dafür tätig. Die unmittelbar bei Danish Crown angestellte Stammbelegschaft besteht
hingegen nur aus 35 Personen und arbeitet überwiegend für die Verwaltung und Logistik (DGB Schleswig-Holstein Nordwest
2018, Riemann 2018).

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Ein wichtiger Punkt sind auch die Umwelt- und Gesundheitsaspekte der industriellen
Fleischproduktion und -verarbeitung in Deutschland (in steigendem Maße für den Export) (u.a. BUND
2018, Kargemeier 2018, SWR 2018). Problematisch ist, dass hier meist nur die tier-, umwelt- und
gesundheitsschutzbezogenen Fragen thematisiert, die sozialen Aspekte des Werkvertragsunwesens
aber meist völlig außer Acht gelassen werden. Die Chance in der Corona-Krise besteht darin, dass die
Facetten des Systems der Billigfleischproduktion und der Ausbeutung der Billigstarbeitskräfte
zusammengeführt und die Debatte in Gänze geführt werden.

Subunternehmerketten
Das Geschäft mit den Schlachtarbeitern ist in Subunternehmerketten aufgebaut, die die Anwerbung,
die Unterbringung und die Verleihung von Werkvertragsarbeitern als Dienstleistungen für die
Fleischindustrie organisieren. Werkvertragsarbeiter aus Ost- und seit 2007/2010 aus Südosteuropa
stellen heute die Mehrzahl der Schlachtarbeiter und durch das Werkvertragssystem wurden die
Beschäftigungsbedingungen systematisch heruntergedrückt, bzw. massive bis illegale
Ausbeutungsstrukturen implementiert (Adrian 2006)6.
Die Werkvertragsarbeiter aus Südosteuropa genießen die Freizügigkeit und Niederlassungsfreiheit
wie andere EU-Bürger und entgegen anderen Zuwanderern aus Nicht-EU-Ländern. Und gleichzeitig
werden sie in vielen Bereichen des Sozialrechts ausgegrenzt7. Auch Arbeits- Gesundheitsschutzrechte
haben für sie keine Geltung, sie werden auf die Funktion von billigen, willigen Arbeitskräften und auf
prekäre, gesundheitsschädigende Lebensbedingungen ohne Teilhabeperspektive reduziert, um hohe
Gewinne und billige Lebensmittelpreise zu gewährleisten. Um sie herum ist ein regelrechtes
Verwertungssystem entstanden. Die Arbeiter aus Rumänien und Bulgarien leisten unter prekären
Bedingungen die harte Arbeit in Schlacht- und Zerlegebetrieben. Vom Lohn wird ihnen ein hoher
Mietpreis für die Unterkunft abgezwackt. Sie leben am Rande der Gesellschaft, unsichtbar, ziemlich
rechtlos, in einer abgeschotteten Welt, in abseitigen Orten in heruntergekommenen Immobilien,
Schrottimmobilien, alten Kasernen, die zu Sammelunterkünften umgemodelt und lukrativ verwertet
wurden. Eine moderne Form der Sklaverei inmitten von Europa. Ein höchst lukratives Geschäft für die
Strippenzieher (u.a. Husmann 2020, Theile 2020).
Und jetzt wird deutlich, dass auch in der Corona-Pandemie kein Aufhebens um Hygiene, Infektions-
und Gesundheitsschutz der rumänischen und bulgarischen Arbeiter in den Schlacht- und
Zerlegbetrieben gemacht wird, weder im Schlachtbetrieb selbst, noch in den Sammelunterkünften,
noch beim Transport zu den Arbeitsorten, um keine Gewinneinbußen zu riskieren.
Subunternehmerketten, das Aufsplitten von Verantwortlichkeiten, die Nichtbeachtung von
Vorgaben, das Nichtnachhalten durch Ordnungs- und Aufsichtsbehörden und deren personelle
Unterausstattung führen dazu, dass die Fleischindustrie zum Corona-Hotspot wurde. Und dies wird

6 Hintergrund sind hier die Agenda2010 mit der massiven Einführung von Leiharbeit. In dem Zusammenhang rühmte sich
der damalige Bundeskanzler Gerhard Schröder, in Deutschland einen Niedriglohnsektor einzuführen. Hinzu kommen auf
EU-Ebene die Lissabon Strategie, die Dienstleistungsrichtlinie, die Erweiterung und Öffnung der EU, wodurch
Niederlassungsfreiheit, Mobilität von Kapital und Arbeitskräften liberalisiert wurden.
7 Riedner (2018, S. 313f) untersucht den Tagelöhnermarkt am Münchener Hauptbahnhof und beschreibt, wie mit dem

Widerspruch von Freizügigkeit und Nationalprotektionismus innerhalb der EU umgegangen wird und innerhalb der
Bundesrepublik eine neue Grenzziehung etabliert wird, wem Freizügigkeit, bürgerschaftliche Rechte, Teilhabe eingeräumt
wird. Der Bund hatte im Jahr 2006 vorgesehen, arbeitssuchende Ausländer*innen von der Grundsicherung für Arbeits-
suchende und damit faktisch vom Recht auf ein Existenzminimum gesetzlich auszuschließen. Marktbürgerschaft heißt die
Gewährung von Bürgerschaftsrechten und Freizügigkeit nur für Erwerbstätige und Vermögende. Die neue Grenzziehung
gewährt nur denjenigen einen Anspruch, die erwerbsfähig sind bzw. eine ‚tatsächliche Verbindung zum Arbeitsmarkt‘
nachweisen können. Dadurch wurde das Jobcenter zur Grenzbehörde und die Ausländerbehörde zur Aktivierungsinstanz,
wie an der Androhung der Abschiebung deutlich wurde. Die „Migrationssteuerung wird [...] immer mehr von den
Ausländerbehörden an die Sozialleistungsträger ausgelagert“, so auch der Experte für die sozialrechtliche Situation von
Unionsbürger*innen in Deutschland Claudius Voigt (2016): „die Verweigerung des Zugangs zum Existenzminimum ersetzt in
Deutschland die Grenzkontrollen und wird zugleich zu einem zentralen Instrument der Verhaltenskontrolle“.
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erst zum Thema, als auch Nachbarn außerhalb der Schlachthofwelt dadurch angesteckt zu werden
drohen.
Offiziell wenig bekannt ist über die Unterbringung ausländischer Werkvertragskräfte - also etwa, wie
viel Platz jedem einzelnen zur Verfügung steht. Auch die Branche bestreitet aber nicht, dass sie
überwiegend in Sammelunterkünften leben. Das können einzelne Wohnungen sein, in denen
mehrere Mitarbeiter zusammenwohnen8 - aber auch leerstehende Kasernengebäude (Schwesinger
2020). Zum Teil werden stark sanierungsbedürftige Immobilien, Garagen, Keller etc. von
Privatvermietern an Fleischbetriebe vermietet. Häufig ist es aber die als Subunternehmertum
organisierte Unterbringung in Schrottimmobilien, größeren Gebäuden, Kasernenarealen,
Sammelunterkünften, notdürftig instandgesetzt, in prekären Wohnbedingungen, hygienisch
fragwürdigen Zuständen, ungesicherten Wohnverhältnissen und mit überteuerten Mieten.
Bei dem Thema Unterbringung der Werkvertragsarbeiter in Sammelunterkünften und
heruntergekommenen Immobilien schließt sich in vielen Kommunen der Kreis zum Problem der
Schrottimmobilie, wo es inzwischen konzertierte Vorgehensweisen von „Task Forces“ und rechtliche
Änderungen (z.B. Wohnungsaufsichtsgesetz NRW) gibt. Der Übergang in kriminelle Milieus und die
Verwertung von Schwarzgeldern stellt sich fließend dar (Der Spiegel 2018, Transparency
International 2019 und Süddeutsche Zeitung 2019).
Die Unterbringung von Zuwanderern aus Südosteuropa und prekär beschäftigten
Werkvertragsarbeiternehmern ist ein neues Geschäftsfeld, um in die Jahre gekommene,
heruntergekommene Gebäude oder auch Schrottimmobilien einer neuen Nutzung zuzuführen. Und
es ist ein ziemlich lukratives Geschäftsfeld, weil für die Verwertung keine weiteren Instandhaltungs-
oder Modernisierungsinvestitionen notwendig sind. In den Niederlanden wurden die Auflagen zur
Unterbringung von Werkvertragsarbeitern und tarifrechtliche Vorgaben verschärft. Seit einiger Zeit
werden nun im grenznahmen Bereich am deutschen Niederrhein ältere leer stehende oder schwierig
zu vermietende Gebäude einer neuen Nutzungsoption zugeführt: der Unterbringung
südosteuropäischer Arbeiter, die in holländischen Schlachtbetrieben arbeiten. Auch vermitteln
deutsche Leiharbeitsfirmen Fremdpersonal aus Deutschland an holländische Betriebe. So werden das
Tarifrecht unterwandert und Kosten und „Beschäftigungsrisiken“ umgangen. In Gebäuden, in denen
früher eine vierköpfige Familie wohnte, wohnen heute 12 bis 20 Leiharbeiter (in unzumutbaren
Wohnverhältnissen, zum Teil euphemistisch beschrieben als WG). Den Transport organisieren
Transport- oder Leiharbeitsfirmen wie die holländische Horizon Groep. Diese Entwicklung vollzieht
sich bisher weitgehend unbeobachtet. In der Corona-Pandemie stellt dieses Feld eine weitere
Gefahrenquelle dar, derer sich die Kommunalverwaltungen mehr (z.B. Emmerich) oder weniger
bewusst ist. Die grenzübergreifende Informationsbeschaffung und Abstimmung entlang der
Subunternehmerketten gestaltet sich hier noch schwieriger. Coronatests wird es für die
südosteuropäischen Werkvertragsarbeiter in Holland eher gar nicht geben. Der holländische
Fleischbetrieb verweist auf den deutschen Leiharbeitsbetrieb und dessen qua Zertifizierung
verantwortliche Prozessabläufe. Die deutschen Behörden sehen keine ausreichende rechtliche
Handhabe, um die Bewohner in den privat angemieteten Wohnungen zur Unterbringung der
Arbeiter (angesichts des Rechtes auf Unversehrtheit der Wohnung, eben nicht Werkswohnungen) zu
überprüfen. Hier vollzieht sich die Verlagerung von Verantwortungen und Zuständigkeiten
grenzüberschreitend ins Nichts, zulasten des Gesundheitsschutzes der Werksarbeitskräfte, ihrer
Kollegen im Betrieb und der umgebenden Nachbarn in den Wohnorten. Auch bei den landesweiten
Untersuchungen der Mitarbeiter der Fleischbetriebe wird das Regulationsvakuum der
Werksvertragsbereichs deutlich und muss geschlossen werden (Jessen 2020, Münten 2020, RN
2020). Dies erfordert auch transnationale bis EU-weite Absprachen.
Die Schlachtbetriebe schieben die Verantwortung auf Subunternehmer und mangelnde
Eingriffsmöglichkeiten. Die Regelung zur Corona-Prävention sieht vor, dass Mehrbettzimmer nur von

8
    Hier wird gern auf das Wohnmodell „WG-Wohngemeinschaften“ referiert.
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Partnern oder Familien bewohnt werden sollen und in den Unterkünften Geschirrspüler und
Waschmaschine sowie ein Wäschedienst vorhanden sein müssen9. Die Realität sieht deutlich
dürftiger aus. Arbeiter von Müller Fleisch etwa lebten in einer heruntergekommenen Wohnung im
Enzkreis auf 117 Quadratmetern mit bis zu 16 Personen. Mindestnutzflächen pro Person, wie
Niedersachsen sie festgelegt hat, gibt es in anderen Bundesländern nicht. Die Unternehmen
verweisen auf verstärkte Hygiene in den Betrieben (Der Spiegel 9.5.2020).
Das Bundesarbeitsministerium verweist auf die prekären Wohnverhältnisse. "Nach allem, was ich
weiß, in kaum einer Unterkunft eingehalten", sagt die stellvertretende Vorsitzende der SPD-
Bundestagsfraktion Katja Mast, die auch die Taskforce der SPD-Fraktion "Soziale Folgen der Corona-
Pandemie" leitet. Mast spricht sich dafür aus, die Fleischindustrie künftig auch für die Wohnsituation
haften zu lassen: „Das Geschäftsmodell mit den prekären Unterkünften für osteuropäische Arbeiter
muss beendet werden“ (Der Spiegel 9.5.2020).

Die freiwillige Selbstverpflichtung der Fleischbranche
In 2014 verabschiedete die Fleischindustrie einen freiwilligen Verhaltenskodex der
Fleischindustrie.
Seit Oktober 2015 gilt eine freiwillige Selbstverpflichtung der Branche. Sie sieht unter anderem vor,
dass die Fleischbetriebe den Anteil der Stammbelegschaften erhöhen und seltener auf Werkverträge
zurückgreifen und die Schlachter und Zerleger häufiger nach deutschem Sozialversicherungsrecht
beschäftigten sollen. Darin verpflichten sich die Unterzeichner z.B. Deutschkurse und weitere
Maßnahmen für eine bessere Integration der ausländischen Beschäftigten anzubieten. 21
Unternehmen mit rund 60 Betriebsstätten haben sich bislang der Selbstverpflichtung unterworfen.
Gebracht habe sie aber nicht viel, kritisiert Thomas Bernhard, Referatsleiter für die Fleischwirtschaft
bei der NGG: „Die freiwillige Selbstverpflichtung führt vor allem dazu, dass Schlachtbetriebe die
Verantwortung auf die Subunternehmer abwälzen können“ (Kersting, Neuerer, Specht, 2020). Im
Rahmen einer Selbstverpflichtung hat die Branche 2017 Besserung versprochen, doch nur in
Niedersachsen gibt es für Behörden die Möglichkeit, die Unterkünfte zu überprüfen (Frese 2020).
In der schriftlichen Stellungnahme der Gewerkschaft Nahrung Genuss Gaststätten (NGG) Schleswig-
Holstein zu dem Bericht der Landesregierung auf Schlachthöfen und in der Fleischverarbeitung in
Schleswig-Holstein (NGG 2020 Drucksache 19/1363 vom 29. Januar 2020) heißt es: „Durch die
„Standortoffensive deutscher Unternehmen der Fleischwirtschaft – Selbstverpflichtung der
Unternehmen für attraktivere Arbeitsbedingungen“ sind die rumänischen Firmen in deutsche
Subunternehmen umgewandelt worden. Eine Folge hiervon ist, dass es dadurch mehr deutsche
Arbeitsverträge gibt. Leider haben sich die Arbeitsstrukturen durch diese Maßnahmen für die
betroffenen Kolleginnen und Kollegen nicht zum positiven entwickelt. Wir wissen, dass die Menschen
in den Produktionsbereichen immer noch 10,5 Stunden arbeiten müssen. Durch die Pausen, die nicht
vergütet werden, sind die Kolleginnen und Kollegen gezwungen jeden Tag bis zu 12 Stunden in den
Schlachthöfen zu verbleiben“ (NGG 2020 Drucksache 19/1363 vom 29. Januar 2020, S. 2).
Die Schlachthöfe in Schleswig-Holstein waren bis 1995 tarifvertraglich abgesichert. Der letzte Lohn-
und Gehaltstarifvertrag ist für den Schlachthof in Husum im Jahr 1994 mit der Gewerkschaft NGG
abgeschlossen worden. Hier wurde vereinbart, dass der Grundlohn für eine Arbeiterin oder einen
Arbeiter in der Schlachtung bei einer wöchentlichen Arbeitszeit von 38 Stundenbei 2.503,-- DM für
einfache mechanische Tätigkeiten zu betragen hat. Dieses entspricht einem Stundenlohn von 15,16
DM, bzw. 7,77 €. Ausgehend von einer durchschnittlichen Lohnsteigerung von 2 % pro Jahr wäre
heute somit der Grundlohn bei 1923,07 € bei einer wöchentlichen Arbeitszeit von 38 Arbeitsstunden
anzusetzen, also ein Stundenlohn von 11,66 €. Eine Fachkraft hatte zu damaligen Bedingungen in

9   Dieselben Missstände zeigen sich zum Teil bei der Unterbringung von Erntehelfern in der Landwirtschaft.
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dem Schlachthof einen Garantielohn von 3.000,-- DM, also 1.538,46 €. Dies entspricht einem
Stundenlohn von 9,32 €. Ebenfalls ausgehend von einer durchschnittlichen Erhöhung von 2 %, würde
dies heute 13,98 € in der Stunde bzw. 2.307,69 € monatlich betragen. Zurzeit bekommen die
Arbeiterinnen und Arbeiter, die für die Subunternehmen hauptsächlich in der Schlachtung und/oder
in der Zerlegung tätig sind, den gesetzlichen Mindestlohn von 9,36 €. Abgesehen von der Tatsache,
dass ein Auskommen mit diesem Einkommen nicht möglich ist, belastet dieser Lohn unsere
Sozialkassen (NGG 2020 Drucksache 19/1363 vom 29. Januar 2020).
In den Gesprächen, die wir in den letzten Jahren bei regelmäßigen Besuchen in Unterkünften der
rumänischen Kolleginnen und Kollegen geführt haben, haben wir erfahren, dass beispielsweise eine
„Miete“ von bis zu 300 € im Monat pro Bett bezahlt werden muss. Uns liegen vertragliche
Vereinbarungen sowie Lohnabrechnungen vor, die dieses belegen. Die Kolleginnen und Kollegen
waren in Betrieben beschäftigt, die sich dem Verhaltenskodex der Fleischwirtschaft des Verbandes
der Fleischwirtschaft aus dem Jahr 2014 unterworfen haben. In dieser Selbstverpflichtung ist unter
anderem folgendes zu finden: „Im Falle der Gestellung von Unterkünften verpflichtet sich der
Arbeitgeber, diese nur zu einer angemessenen Miete gemäß gültigen Mietzins an seine
Arbeitnehmer/-innen zu vermieten. Diese Angemessenheit richtet sich nach Größe, Lage und
Ausgestaltung der Unterkünfte sowie der ortsüblichen Miete“. Die Arbeiter sind jedoch in der Hand
der Subunternehmen, die die Lohnzahlungen durch nicht nachvollziehbare Lohnabrechnungen
und/oder Stundennachweise und die Erhebung von unangemessenen Mieten pro Schlafstatt in
Mehrbettzimmern drücken (NGG 2020 Drucksache 19/1363 vom 29. Januar 2020, Husemann 2020).

Das "Gesetz zur Sicherung von Arbeitnehmerrechten in der Fleischwirtschaft".
Im Jahr 2017 verabschiedete der Bundestag gegen den Widerstand der Fleischindustrie das "Gesetz
zur Sicherung von Arbeitnehmerrechten in der Fleischwirtschaft". Mit dem Gesetz wurde 2017 eine
Generalunternehmerhaftung eingeführt, durch die ein inländischer Fleischverarbeiter für alle Taten
seiner Werkvertragspartner und gegebenenfalls auch für deren Subunternehmen einstehen muss.
Verstöße können teuer werden und künftig mit bis zu 50.000 Euro geahndet werden. Das Gesetz sah
unter anderem vor, dass der Arbeitgeber die Zahlung von Sozialbeiträgen für die oft aus dem Ausland
stammenden Mitarbeiter gewährleisten muss und ihnen Arbeitsmittel, Schutzkleidung und
persönliche Schutzausrüstung zur Verfügung stellen muss. Das Gesetz deckte aber vor allem den
Sozialversicherungsschutz ab, weniger die Interessen der Werkvertragsbeschäftigten, da es keinen
Haftungsanspruch des Auftraggebers für den Lohn von Beschäftigten von Subunternehmen regelt.
Der Verband der Ernährungswirtschaft hielt auch diese gesetzliche Neuregelung für überzogen (Die
Zeit 2.6.2017).
Die Bundesregierung räumt in der Antwort auf eine kleine Anfrage der LINKEN erneut ein, keine
Kenntnis darüber zu haben, ob die Arbeitsbedingungen von Kern- und Randbelegschaften in der
Fleischindustrie stark voneinander abweichen. Der Branchenmonitor weise diese Aussage in den
Jahren nach 2017 nicht mehr auf, heißt es zur Begründung (Deutscher Bundestag 2020a). Wie die
genaue Situation der Beschäftigten aussieht, weiß die Regierung mangels statistischer Aufarbeitung
nicht: "Angaben zu Leiharbeitskräften, Werkvertragsbeschäftigten und entsandten Beschäftigten von
ausländischen Subunternehmen ... liegen in der Beschäftigungsstatistik nicht vor" (Balser 2018 und
Deutscher Bundestag 2018, S. 2, Deutscher Bundestag 2020, S. 1) 10.
Das seit Mitte 2017 geltende „Gesetz zur Sicherung der Arbeitnehmerrechte in der
Fleischwirtschaft“, das vor allem auf die Einhaltung der Mindestlohnvorschriften zielt, müsse
verschärft werden. Arbeit in Schlachthöfen dürfe nur noch im Rahmen einer Festanstellung mit dem

10
  Nach Angaben der LINKEN arbeiten in der Branche 85 Prozent der Beschäftigten mit Werkverträgen (Deutscher
Bundestag 2020b).
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Betreiber des Schlachthofs möglich sein, fordert der CDA-Bundesvorsitzende Christian Bäumler
(Kersting, Neuerer, Specht, 2020).
Der DGB hatte 2017 bei der Verabschiedung des Gesetzes zusätzliche 10.000 Stellen gefordert, um
die Umsetzung und Kontrolle des „Gesetzes zur Sicherung von Arbeitnehmerrechten in der
Fleischwirtschaft" zu gewährleisten (Ausbeutung in der Fleischindustrie stoppen! klartext
27/2017vom 06.07.2017 (https://www.dgb.de/themen/++co++16c56556-6227-11e7-b10d-
525400e5a74a). Die Kontrollen zur Umsetzung des Gesetzes hinken offensichtlich diesem Bedarf
hinterher.
"Es ist nicht akzeptabel, dass die Kontrollen um 50 Prozent zurückgegangen sind, obwohl die
schlechten Arbeits- und Entlohnungsbedingungen in der Fleischbranche doch bekannt sind", kritisiert
die Grünen-Bundestagsabgeordnete Beate Müller-Gemmeke, Sprecherin für Arbeitnehmer- und
Arbeitnehmerinnenrechte sowie aktive Arbeitsmarktpolitik. "Damit läuft auch das Gesetz, das extra
für diese schwierige Branche gemacht wurde, ins Leere" (Balser 2018). Der Antwort auf eine Anfrage
der Bundestagsfraktion der LINKEN zu Arbeitsschutzkontrollen in Deutschland zufolge ist die Zahl der
Betriebsbesichtigungen durch Arbeitsschutzbehörden insgesamt im Zeitraum von 2008 bis 2018 um
ein Drittel gesunken. Im Durchschnitt werde jeder Betrieb nur alle 25 Jahre kontrolliert (Haffert 2020,
Deutscher Bundestag 2019a, S. 7, Ärzteblatt 2020).

Tabelle: Dienstgeschäfte der Arbeitsschutzbehörden der Länder in den Jahren 2007 bis 2017 (einschließlich
Besichtigungen von Baustellen, überwachungsbedürftige Anlagen außerhalb von Betrieben u. Ä.)

Quelle: Deutscher Bundestag 2019a, Tabelle 4, S. 7

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Tabelle: Aufsichtsbeamtinnen/-beamte in den Arbeitsschutzbehörden der Länder gesamt
in den Jahren 2007 bis 2017

Quelle: Deutscher Bundestag 2019a, Tabelle 1, S. 5
Tabelle: Beschäftigte im Zuständigkeitsbereich der Arbeitsschutzbehörden der Länder in
den Jahren 2007 bis 2017

Quelle: Deutscher Bundestag 2019a, Tabelle 3, S. 7
2019 wurden die katastrophalen Arbeitsbedingungen bei Betriebsbesichtigungen in nordrhein-
westfälischen Schlachthöfen deutlich und erhebliche Defizite und Rechtsbrüche zu Tage befördert.
Von den 34 großen Schlachthöfen in Nordrhein-Westfalen wurden zwischen Juli und September 30
überprüft. Sie beschäftigen 17.000 Mitarbeiter. Damit wurden, so Laumann, "alle wesentlichen
Player auf dem Gebiet kontrolliert". Nur in zwei Betrieben habe man keine Verstöße festgestellt. Sie
arbeiten mit einer festen Stammbelegschaft statt wie die anderen mit Subunternehmen. Eine
Zwischenbilanz der Hälfte bei den Kontrollen beschlagnahmten Unterlagen zeigten erschreckende
Zahlen:
    •   In 26 von 30 Betrieben gab es eine hohe Anzahl von gravierenden Arbeitsschutzmängeln.
    •   Über 3.000 Arbeitszeitverstöße wurden festgestellt, darunter 16-Stunden-Arbeitstage
        (erlaubt sind maximal 10 Stunden).
    •   In über 900 Fällen fehlte die gesetzlich vorgeschriebene arbeitsmedizinische Vorsorge.

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•   Es gab mehr als 100 technische Arbeitsschutzmängel mit hohem Gefährdungspotenzial, dazu
        zählen abgeschlossene Notausgänge und gefährlich abgenutzte Arbeitswerkzeuge
        (Desaströse Arbeitszustände in NRW-Schlachthöfen (Tenta 2019)).
Angesichts dieser Ergebnisse stellt sich aber die Frage, warum Arbeitsminister Laumann und der
Arbeitsschutz in Nordrhein-Westfalen in der Corona-Phase die Hygiene-Bedingungen in der
systemrelevanten Fleischindustrie in Nordrhein-Westfalen und deren zugeordneten, durch
Subunternehmen organisierten Bereichen nicht viel früher in Augenschein genommen hat.

Werkvertragswesen
Die empörenden Zustände der Ausbeutung in den Schlachthöfen sind seit Jahren bekannt. Die ZEIT
ging von Schätzungen von mindestens 40.000 Werkvertragsarbeitnehmern in der deutschen
Fleischindustrie aus, die unter anderem bereits 80 Prozent der Schlacht- und Zerlegearbeit erledigten
(Die Zeit 2014, SWR 2013, WDR 2020, Adrian 2006, Rügemer 2020).
Und die Bundesregierung handelt nach dem Prinzip: Was ich nicht weiß, macht mich nicht heiß. In
der Antwort auf die Anfrage der Fraktion der LINKEN heißt es, dass Angaben zu Leiharbeitskräften,
Werkvertragsbeschäftigten und entsandten Beschäftigten von ausländischen Subunternehmen ... in
der Beschäftigungsstatistik nicht vorliegen (Balser 2018 und Deutscher Bundestag 2018, S. 2,
Deutscher Bundestag 2020, S. 1). So bleibt das Thema Werkvertragswesen unter dem politischen
Radar und erfordert kein politisches Handeln (vgl. Deutscher Bundestag 2020, S. 1, Balser 2017a,
Balser 2017b).
Allein in Nordrhein-Westfalen arbeiten 200.000 Menschen als Leiharbeiter*innen. Sie schlachten
zum Beispiel Tiere, die billiges Discounter-Fleisch liefern – und sichern damit unseren Wohlstand. Sie
arbeiten in Schlachthöfen, auf Werften, in den zahlreichen Subunternehmen der Paketdienste und in
der Metallindustrie und trotz der Corona-Krise jetzt auch schon wieder auf den Spargelfeldern. Dabei
fällt der Status von Leiharbeiter*innen auf den ersten Blick nicht auf. Das ändert sich schnell, sobald
sie schwanger werden, unbezahlte Überstunden schieben oder in der Fleischfabrik bei einem Unfall
vier Finger verlieren, aber vom "Arbeitgeber" nicht krankenversichert sind, weil der durch die
Verzweigung der Subfirmen das Arbeitsrecht ausschaltet.
„Die Praxis der Werkvertragsarbeit ist ein System der Ausbeutung, das gegen die Menschenwürde
verstößt“, kritisiert der stellvertretende CDA-Bundesvorsitzende Christian Bäumler (Kersting,
Neuerer, Specht, 2020).
Als Missstände gelten die Arbeitsbedingungen mit extrem langen Arbeitszeiten, Akkordarbeit auf
engstem Raum, keinen Pausen, die schlechte Bezahlung sowie schmutzige und enge
Sammelunterkünfte zu Abzocker-Mieten (Reimer 2020). Vertreter der Gewerkschaft Nahrung Genuss
Gaststätten (NGG), der IG Werkfairträge und der Faire Mobilität (DGB) berichten von den folgenden
Missständen:
    • systematischer Lohnraub durch unbezahlte Überstunden, fehlende Zuschläge für Sonntags-
        und Nachtarbeit, Prellen der Beschäftigten um die Bezahlung von Rüst- und Wegezeiten
    • überteuerte Mieten, die von den Subunternehmen für Schlafplätze einbehalten werden
    • Sanktionen bei Arbeitsunfähigkeit (10,-- Euro mehr Miete für jeden Tag der
        Arbeitsunfähigkeit)
    • Kündigungen nach Arbeitsunfällen
    • Verlust der Werkvertragsarbeiter*innen von Arbeit, Einkommen und Unterkunft im Fall von
        Krankheit oder Schwangerschaft
    • drohende Obdachlosigkeit bei Arbeitsplatzverlust (Initiative für Demokratie in Wirtschaft und
        Betrieb 2019).

Der Prälat von Vechta, Peter Kossen, der sich seit vielen Jahren für die Werkvertragsarbeiter aus
Südosteuropa einsetzt, beschreibt die Lebenssituation der Vertragsarbeiter: "Wir haben es hier mit
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einer Schattenwelt zu tun, bei der die meisten wegsehen. Eine Geisterarmee haben wir erschaffen"
(Zeit 2014, SWT 2013, Husmann 2020). In einem Radiobeitrag im April dieses Jahres beschreibt
Kossen die Situation der Vertragsarbeiter als moderne Sklaverei und den Status von
Wegwerfmenschen. „Würde und Gerechtigkeit wird Wanderarbeitern und – arbeiterinnen aus
Rumänien, Bulgarien, Polen… in unserer Arbeitswelt und unserer Gesellschaft oft vorenthalten“.
„Brutale Arbeitsausbeutung, Menschenhandel und Abzocke für unwürdige und gesundheitswidrige
Behausungen sind die Folge.“ (WDR5 21.4.2020).

Die jahrzehntelange Kultur des Wegsehens gilt es zu brechen (Soric 2020)11. Mit dem Skandal um die
hohe Zahl von Corona-Fällen in der Fleischindustrie besteht eine Chance, die skandalösen Arbeits-
und Lebensbedingungen der Arbeiter, die organisierte Verantwortungslosigkeit,
Subunternehmerketten und die Produktionsbedingungen zu thematisieren. Wie kann die Situation
jetzt genutzt werden, um die skandalösen Arbeits- und Lebenssituation der Vertragsarbeiter zu
regulieren? Und wie können die betroffenen Arbeiter unterstützt und stark gemacht werden, um ihre
Beschäftigteninteressen durchzusetzen und sich kollektiv zu organisieren?

Welche Ansätze gibt es zur Verbesserung der Arbeits- und Lebenssituation der
Werkvertragsarbeiter aus Südosteuropa?
In der Fleischindustrie ist die Ausgliederung von Gewerken im Rahmen von Werkverträgen auf die
Spitze getrieben worden. Seit April 2016 hat das DGB-Projekt „Faire Mobilität“ die Aktivitäten in
dieser Branche verstärkt. Ziel ist es, Werkvertragsbeschäftigte über ihre Rechte aufzuklären und sie
dabei zu unterstützen, diese wahrzunehmen. Das Projekt Faire Mobilität bietet Beratung und
Unterstützung von Arbeitern aus Südosteuropa an mit Beratungsstellen in Kiel, Dortmund,
Oldenburg, Berlin, Frankfurt a.M., Mannheim, Stuttgart, Nürnberg und München (https://www.faire-
mobilitaet.de; Theile 2020).

11Die Missstände in der Fleischindustrie sind schon seit Jahren Gegenstand von Medienberichterstattung (z.B. Adrian 2006),
Anfragen im Bundestag (Deutscher Bundestag 2019) aber auch von Kriminalromanen (z.B. Wolfgang Schorlau (2014): Am
zwölften Tag, Wilfried Eggers (2008): Paragraf 301). Zugleich hat aber die skandalisierende Diskussion über die
Zuwanderung aus Südosteuropa auch dazu geführt, dass die Arbeitsbedingungen der aus Ost- und Südosteuropa
angeheuerten Werkvertragsarbeiter weiterhin ein blinder Fleck blieben und keine Solidarisierung stattfand.
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Quelle: Jessen 2020, WAZ vom 12.5.2020 (https://www.waz.de/region/niederrhein/unzaehlige-leiharbeiter-
unterkuenfte-kommunen-sind-hilflos-id229098837.html)
Hinzu kommen die Beratungsstellen für mobil Beschäftigte in Niedersachsen, die in Lüneburg,
Braunschweig, Oldenburg, Osnabrück und Hannover Dependancen unterhalten
(https://www.mobile-beschaeftigte-niedersachsen.de).
Eine wichtige Initiative ist die „Aktion Würde und Gerechtigkeit“ in Lengerich im Tecklenburger Land
in Nordrhein-Westfalen an der Grenze zu Niedersachsen (Aktion Würde und Gerechtigkeit 2019;
SWR 2013, WDR5 21.4.2020).
Im Schleswig-Holsteinischen Kellinghusen gibt es seit Anfang 2018 den überparteilichen „Stützkreis
für die Werkvertragstätigen in Kellinghusen“. Seine Mitglieder kümmern sich um die Missstände,
die durch die Ansiedlung eines 6.000 Schweine am Tag verarbeitenden Schlachthofes des Tönnies-
Konzerns in dieser Kleinstadt mit 8.000 Einwohnern im Kreis Steinburg in Schleswig-Holstein
entstanden sind, und um eine Verbesserung der Arbeits- und Wohnbedingungen der zum großen Teil
rumänischen Werkvertragsarbeiter im Tönnies-Betrieb. Dem Stützkreis gehören neben
Kellinghusener Bürgern auch hochrangige Kommunal- und Landespolitiker und der DGB Vorsitzende
des Kreises Steinburg an. Initiiert wurde der Stützkreis u.a. durch die Sprecherin der Kellinghusener
Bündnis 90/Die GRÜNEN, Anja Halbritter (Schattenblick 2019, Gräff 2019).
Seit 2017/2018 ist in Schleswig-Holstein ein akteursübergreifender Initiativkreis Arbeitsbedingungen
in Schlachthöfen in Schleswig-Holstein entstanden. e interessante Initiative war die
Veranstaltungsreihe, die der Veranstalterkreis aus DGB Schleswig-Holstein Nordwest, Christian-
Jensen-Kolleg, Gewerkschaft NGG, Kirchlichem Dienst in der Arbeitswelt, katholischer Einrichtungen
und lokaler evangelischer Kirchengemeinden unter dem Titel „Schlachthof fern der Heimat“ 2018 zu
Arbeits- und Lebensbedingungen von Schlachthofarbeitern, die zum Großteil aus Südosteuropa
kommen, durchführte. Veranstaltungsorte waren u.a. Husum und Kellinghusen, Standorte von
Schlachthöfen und Sammelunterkünften. Eingeladen wurden auch Vertreter der Betriebsleitungen,
Arbeiternehmervertreter und Anwohner (DGB Schleswig-Holstein Nordwest 2018, Riemann 2018).
Ziel waren Information und Sensibilisierung der Bevölkerung für das Thema und die Suche nach
Ansatzpunkten zur Kooperation zur Verbesserung der Arbeits- und Lebensbedingungen vor Ort.
Workshopergebnis des Initiativekreises: Problemlagen an den unterschiedlichen
Schlachthofstandorten

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