PSYCHISCHE GESUNDHEIT IN PANDEMIEZEITEN - EINE STANDORTBESTIMMUNG - NEOS
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POLICY BRIEF #2/20 PSYCHISCHE GESUNDHEIT IN PANDEMIEZEITEN – EINE STANDORTBESTIMMUNG Dieter Feierabend | Stand: 22.12.2020 PSD in Wien hat sich bei 27% aller Wiener_innen HERAUSFORDERUNG eine Verschlechterung ihrer psychischen Gesund- heit eingestellt. Bei Personen, deren psychische • Psychische Gesundheit ist ein Zustand des Wohl- Gesundheit schon vor der Krise angeschlagen war, befindens, in dem eine Person ihre Fähigkeiten aus- ist dieser Wert mehr als doppelt so hoch (56%). schöpfen, die normalen Lebensbelastungen bewäl- • Österreich weist eine Unterversorgung im Be- tigen, produktiv arbeiten und einen Beitrag zu ihrer reich der psychischen Gesundheit auf: eine geringe Gemeinschaft leisten kann. Psychische Gesundheit ist Anzahl an Fachpersonal, mangelhafte Kassen- also mehr als nur die Abwesenheit von Erkrankungen leistungen, lange Dauer zwischen Diagnose und und Symptomen und ein zentraler Bestandteil eines Behandlung, eine schwache Zusammenarbeit von guten und gesunden Lebens. Bund und Ländern sowie fehlende Prävention zur • Psychische Erkrankungen sind in unserer Ge- Sicherstellung eines guten Wohlbefindens. Wenn sellschaft häufig und können jeden treffen. Schät- nun, wie in einer Pandemie zu erwarten ist, mehr zungen zufolge erkranken jedes Jahr zwischen Personen Leistungen in Anspruch nehmen wollen, 17-25% der Erwachsenen an einer psychischen Er- verschlechtert sich die Lage. krankung. Die Gesamtkosten für psychische Erkran- • Langfristige Probleme im Bereich Psychische kungen werden auf mehr als 4% des BIP geschätzt, Gesundheit wie Stigmata, Vorurteile bzw. geringes • Gleichzeitig wirkt sich COVID-19-Pandemie Wissen über Psychische Gesundheit, sowie oftmals stark auf die psychische Gesundheit der österrei- fehlende oder schlechte Daten, verschärfen die chischen Bevölkerung aus: ersten Erhebungen des strukturellen Defizite. lab.neos.eu
PSYCHISCHE GESUNDHEIT IN PANDEMIEZEITEN – EINE STANDORTBESTIMMUNG Was zu tun ist Sofortpaket Psychische Gesundheit schüren. Be- sich Österreich vorgenommen, die psychosoziale stimmte Gruppen unserer Gesellschaft sind momentan Gesundheit bei allen Bevölkerungsgruppen zu fördern. einer besonderen psychischen Belastung ausgesetzt: Die bisherigen Wirkungsziele und Maßnahmen sind ein das Gesundheits- und Pflegepersonal, Menschen, die Schritt in die richtige Richtung. Jedoch gibt es für die in ökonomisch prekären Situationen leben. Für diese Wirkungsziele keine Zielvorgaben, Indikatoren für die Gruppen muss es ein Maßnahmenpaket geben, um das Wirkungsziele sind oftmals nicht ausreichend, und die psychische Wohlbefinden sicherzustellen, Symptome Datenqualität ist mangelhaft. Ebenso fehlt eine aktu- einer verschlechterten psychischen Gesundheit, wie elle Prävalenzerhebung für psychische Erkrankungen Stress oder Angstzustände zu lindern und Erkran- und eine darauf aufbauende Analyse des gedeckten kungen zeitnah zu behandeln. Die Aufstockung der Bedarfs. Weitere Indikatoren für das psychische Wohl- Kontingente für Psychotherapie und der „Pakt gegen befinden sind zu ergänzen. Einsamkeit“ sind ein erster Schritt, jedoch müssen um- fassendere Lösungen zeitnah entwickelt werden. Eben- Gesundheitsinfrastruktur ausbauen. Auf Bundese- so sind Generationenaspekte zu berücksichtigen: jene bene ist eine Kassenregelung für Psychotherapie die gerade jetzt finanzielle Sorgen haben, da sie am auf Krankenschein oberste Priorität. Ein Ausbau von Start ihrer Berufslaufbahn sind bzw. ältere Menschen, niedergelassenen Angeboten muss forciert werden, insbesondere wenn sie in Alten- und Pflegeheimen insbesondere in ländlichen Regionen. Ebenso sind für wohnen, sind besonderen Belastungen ausgesetzt. eine gute Gesamtplanung von Leistungen und Ange- boten Indikatoren für Wirkungsketten zu entwickeln. Psychische Gesundheit bei Maßnahmen und Kom- Darauf aufbauend sind Maßnahmen und Zielvorgaben munikation verstärkt mitdenken. Starke Einschrän- zu setzen. Hierzu müssen der österreichische Struktur- kungen in allen Lebensbereichen "harter Lockdown" plan Gesundheit (ÖSG) und Regionale Strukturpläne wechseln sich mit temporären Maßnahmen (z.B. Öff- Gesundheit (RSG) entsprechend angepasst werden. nungen im Handel, Besuchsmöglichkeiten in Spitälern Durch die Pandemie wurde notgedrungen E-Health, etc.) ab. Vor jeder Verschärfung und nach deren Ende also digitale Lösungen, verstärkt angewendet. Durch sehen wir einen Ansturm auf jene Bereiche, in denen eine Evaluation der durchgeführten Maßnahmen, Einschränkungen eingeführt werden. Ebenso wech- bessere gesetzliche Regelungen und Begleitforschung selseitige Schuldzuweisungen (ineffektive Regierungs- kann dieser Bereich dauerhaft gestärkt werden. maßnahmen vs. verantwortungslose Gesellschaft). Dieser Teufelskreis muss durchbrochen werden. Dies Maßnahmen im Lebensumfeld setzen. Gerade wenn erreichen wir, indem Maßnahmen und Empfehlun- es um Wissen über psychische Gesundheit, dem Abbau gen klarer voneinander getrennt und kommuniziert von Vorurteilen und Stigmata oder das Screening des werden, sowie mit einer sachlichen Information über Gesundheitszustandes geht, sind Maßnahmen im Maßnahmen, aktuelle Entwicklungen und Gefahren. Lebensumfeld von zentraler Bedeutung. Daher müssen Ebenso müssen verstärkt Empfehlungen erarbeitet niederschwellige Angebote und Infrastruktur, insbe- werden, die es der Bevölkerung erlauben, ihre (psy- sondere im Schulumfeld, an Arbeitsstätten und dem chosozialen) Bedürfnisse zu decken und gleichzeitig AMS ausgebaut werden. Ebenso ist die Vernetzung zu ihre Kontakte einzuschränken. So wäre beispielsweise sozialen Dienstleistern zu verbessen. Grundsätzliches die Empfehlung, sich in den kommenden Monaten nur Ziel muss sein, das Wissen über psychische Gesundheit 2-3 Personen, die nicht im selben Haushalt leben, zu zu erhöhen, den Abbau von Vorurteilen & Stigmata vor- treffen und alle anderen Kontakte digital zu pflegen anzutreiben und möglichst früh auftretende Probleme viel sinnvoller als ständig abwechselnde Apelle bzw. und Herausforderungen zu erkennen und geeignete Mahnungen an die Bevölkerung. Maßnahmen einzuleiten. Ziele setzen, Indikatoren entwickeln, Datenlage verbessern. Als eines der zehn Gesundheitsziele hat 2
PSYCHISCHE GESUNDHEIT IN PANDEMIEZEITEN – EINE STANDORTBESTIMMUNG Faktenlage Auch im Jahr 2020 reden wir, wenn wir über Gesund- sich an entsprechendes Fachpersonal zu wenden. heit sprechen, oft über die körperliche Verfassung. Dies ist in der Praxis oftmals der Hausarzt, im Alltag Wie es unserer Psyche geht, wird oft nicht mitgedacht wird in diesem Fall jedoch oftmals an "den Psychiater" oder in manchen Fällen sogar losgelöst von der kör- gedacht. Doch so einfach ist es nicht. In Österreich perlichen Verfassung betrachtet. Dies ist jedoch höchst können wir zwischen Psychologie, Psychiatrie und Psy- problematisch. Doch was ist psychische Gesundheit chotherapie unterscheiden. Diese Berufsfelder haben eigentlich? Die WHO (WHO 2019) definiert psychische eigenständige Tätigkeitsbereiche, die sich in der Praxis Gesundheit als einen Zustand des Wohlbefindens, in jedoch oftmals überschneiden (vereinfachte Darstel- dem eine Person ihre Fähigkeiten ausschöpfen, die lung, ein genauer Überblick findet sich hier: https:// normalen Lebensbelastungen bewältigen, produktiv www.psyonline.at/): arbeiten und einen Beitrag zu ihrer Gemeinschaft leisten kann. Damit ist die psychische Gesundheit • "Psychotherapeut" bzw. "Psychotherapeutin" eine Voraussetzung für eine lebensfähige, sozial werden in Österreich jene Menschen genannt, die eine verantwortliche und produktive Gesellschaft, die den entsprechend dem Psychotherapiegesetz festgelegte Zusammenhalt und das Sozialkapital verstärkt und die Ausbildung absolviert haben. Um eine Psychotherapie- Sicherheit des Lebensumfelds verbessert. Ein gutes ausbildung zu machen, muss man nicht Psychologie und selbstbestimmtes Leben ist ohne psychische Ge- studiert haben. sundheit nicht möglich, womit sie mehr ist als nur die • "Fachärzt_innen für Psychiatrie (und Neurologie)" Abwesenheit von Erkrankungen. bzw. "Psychiatrie und Psychotherapeutische Medizin" haben ein Medizinstudium mit entsprechender Fach- Rund um den Begriff psychische Gesundheit ranken ausbildung studiert sich viel Halbwissen und Vorurteile. Beispielsweise • "Psychologe" bzw. "Psychologin" die an einer ist damit nicht gemeint, dass ein psychisch gesunder postsekundären Bildungseinrichtung das Studium Mensch immer glücklich oder produktiv ist. Vielmehr Psychologie absolviert haben. ist damit gemeint, dass wir es schaffen mit negativen Gefühlen wie beispielsweise Trauer umzugehen. Es Es gibt viele Behandlungsformen von psychischen gibt verschiedene Faktoren, die dazu führen, dass uns Erkrankungen. Neben einer medikamentösen Be- gewisse Bewältigungsstrategien mit negativen Emoti- handlung spielt die Psychotherapie eine wichtige, onen umzugehen nicht mehr helfen. Diese Risikofak- wenngleich umstrittene Rolle. Das österreichische Psy- toren sind vielfältig und lassen sich in drei Gruppen chotherapiegesetz definiert Psychotherapie wie folgt einteilen: soziale, wirtschaftliche und umfeldbedingte (Psychotherapiegesetz, Fassung vom 08.12.2020): Faktoren. Hierzu gehören beispielsweise Ausgrenzung, Isolation, Arbeitsstress, schlechte Wohnbedingungen, "§ 1. (1) Die Ausübung der Psychotherapie im Sinne Gewalt, geringe soziale Kontakte, Arbeitslosigkeit oder dieses Bundesgesetzes ist die nach einer allgemeinen Diskriminierung (vgl. Busch, M., Hapke, U., & Mensink, und besonderen Ausbildung erlernte, umfassende, be- G. 2011). Dies führt dazu, dass wir erkranken. Niemand wußte und geplante Behandlung von psychosozial oder ist davor gefeit, psychisch zu erkranken. Die WHO auch psychosomatisch bedingten Verhaltensstörungen (WHO 2019) definiert psychische Störungen wie folgt: und Leidenszuständen mit wissenschaftlichpsychother- sie stellen Störungen der psychischen Gesundheit apeutischen Methoden in einer Interaktion zwischen einer Person dar, die oft durch eine Kombination von einem oder mehreren Behandelten und einem oder belastenden Gedanken, Emotionen, Verhaltensweisen mehreren Psychotherapeuten mit dem Ziel, bestehe- und Beziehungen zu anderen gekennzeichnet sind. nde Symptome zu mildern oder zu beseitigen, gestörte Beispiele für psychische Störungen sind Depressio- Verhaltensweisen und Einstellungen zu ändern und die nen, Angststörungen, Verhaltensstörungen, bipolare Reifung, Entwicklung und Gesundheit des Behandelten Störungen und Psychosen. zu fördern". Wie bei einer sich verschlechternden körperlichen Wieso ist die Psychotherapie umstritten und welche Verfassung, gilt auch bei der psychischen Gesundheit, Auswirkungen hat dies? 3
PSYCHISCHE GESUNDHEIT IN PANDEMIEZEITEN – EINE STANDORTBESTIMMUNG Im Bereich der Psychotherapie gibt es viele verschie- Abständen, eine repräsentative Umfrage durchgeführt, dene Schulen und Methoden, jedoch werden nicht alle die österreichische Gesundheitsbefragung beziehungs- wissenschaftlich anerkannt. Manche Methoden, die weise Austrian Health Interview Survey (ATHIS). Der- als Psychotherapieverfahren angegeben werden, wer- artige Erhebungen sind international Standard in der den kritisiert, da seriöse Wirksamkeitsstudien fehlen Gesundheitspolitik. Im Jahr 2019 war ein sehr großer beziehungsweise die entsprechenden Methoden als Teil der österreichischen Bevölkerung mit ihrem allge- widerlegt gelten. Diese Debatte ist jedoch sehr umstrit- meinen Gesundheitszustand zufrieden. 74,5 % beur- ten und führt unter anderem dazu, dass bestimmte teilten ihren Gesundheitszustand mit „sehr gut“ oder Berufsgruppen bzw. Behandlungsmethoden in euro- „gut“, 6,4 % der Personen beurteilten ihre Gesundheit päischen Gesundheitssystemen sehr unterschiedlich mit „schlecht“ bzw. „sehr schlecht“. Frauen gaben geregelt werden (einen Überblick über evidenzbasierte etwas seltener als Männer einen sehr guten oder guten Psychologie liefert Eiling, A. et. al., 2016): Gesundheitszustand an: 73,3 % beziehungsweise 75,7 % (Statistik Austria 2020a). • In Deutschland ist die Psychotherapie streng regle- mentiert, nur drei Verfahren werden anerkannt und Die allgemeine Lebenszufriedenheit wird durch die neben Ärzten dürfen nur Psychologen und Heilprakti- Statistik Austria auf einer Skala von 0-10 erhoben, ker psychotherapeutisch arbeiten wobei höhere Werte eine bessere Lebenszufriedenheit • In der Schweiz gibt es keine grundsätzliche gesetz- darstellen. Im Jahr 2019 war der Mittelwert dieses liche Reglementierung der Verfahren, die Zulassung Indikators bei 8,0 - also sehen wir im Durchschnitt eine erfolgt durch Zusammenarbeit mehrerer Fachinstitu- hohe Lebenszufriedenheit (Statistik Austria 2020b). tionen. Hingegen legt die Schweiz ihren Fokus auf die Beide Indikatoren sind in den letzten Jahren sehr stabil, Qualifikation des Personals: zugelassen sind psycho- wobei jeweils ein leicht positiver Trend hin zu einer therapeutisch ausgebildete Ärzte. Diese können ihrer- besser wahrgenommenen Lebenszufriedenheit bzw. seits psychotherapeutisch ausgebildete Psychologen Gesundheitszustand festzustellen ist. anstellen. • In Österreich gibt es 23 anerkannte Methoden, So wichtig diese Indikatoren sind, da Wohlbefinden ein gleichzeitig besteht bei der Ausübung keine Beschrän- sehr umfassendes Konzept ist, müssen neben diesen kung auf bestimmte Berufsgruppen wie Ärzte oder Indikatoren auch spezifische Aspekte angesehen wer- Psychologen. Ein umgangssprachlich "Genie-Paragraf" den, nicht zuletzt da wir nicht wissen, ob die Befragten genannter Absatz des Psychotherapiegesetzes ermög- bei der Antwort sich auf die nur körperliche Verfassung licht es dem Bundeskanzler auch andere Berufsgrup- bezogen haben oder auch die psychische Gesundheit pen zur Psychotherapie-Ausbildung zuzulassen. miteinbeziehen. In der österreichischen Gesundheits- befragung werden unter anderem auch Informationen Die OECD (Making Mental Health Count 2014) zeigt, zum sozialen Umfeld erhoben. Dies ist ein wesentli- dass es sehr große länderspezifische Unterschiede cher Einflussfaktor auf die subjektive Gesundheit. Eine hinsichtlich des Personals gibt, und unklare Rollenab- gute soziale Unterstützung kann sich auf das psychi- grenzungen sowie mangelnde Standardisierung ein sche Wohlbefinden auswirken und helfen, psychosozi- Problem für die psychische Gesundheitspersonalpoli- ale Belastungen gut zu bewältigen. Etwas mehr als die tik darstellt. Hälfte der Bevölkerung (55,3 %) gab an, starke soziale Unterstützung zu erfahren, wobei keine geschlechts- spezifischen Unterschiede feststellbar sind. 7,9 % WIE STEHT ES UM PSYCHISCHE der Männer und 7,3 % der Frauen gaben an, nur eine geringe soziale Unterstützung zu bekommen. Diese GESUNDHEIT IN ÖSTERREICH? Werte sind im internationalen Vergleich sehr gut (Vgl. Eurostat 2018). Die Statistik Austria erhebt hierzu jährlich zwei Indika- toren, die es erlauben einen gesamthaften Überblick Gleichzeitig zeigt die österreichische Gesundheitsbe- zu geben: der subjektiv wahrgenommene Gesund- fragung, dass die psychische Gesundheit nicht in allen heitszustand sowie die Lebenszufriedenheit. Neben Fällen so gut ist, wie man angesichts dieser Daten dieser jährlichen Erhebung wird, in unregelmäßigen meinen könnte. Um Informationen über Depressio- 4
PSYCHISCHE GESUNDHEIT IN PANDEMIEZEITEN – EINE STANDORTBESTIMMUNG nen zu bekommen wurde einerseits erhoben, ob die Epilepsie und Kopfschmerzsyndromen berücksich- Befragten in den letzten 12 Monaten depressiv waren tigt, steigt die Gesamtzahl um mehr als 300 Millionen (bzw. eine Diagnose von einem Arzt gestellt wurde), auf 50%. Die OECD (OECD 2018 - Health at a Glan- andererseits wurden aktuell bestehende depressive ce) verwendet Schätzungen des Institute for Health Symptome anhand eines ScreeningInstruments für Metrics and Evaluation (IHME), einer internationalen Depressionen erfasst. 5,7 % der Männer und 9,2 % der Fachorganisation. Diesen Daten zufolge, hat mehr als Frauen gaben an, dass sie innerhalb der letzten zwölf jeder sechste Mensch in EU-Ländern ein psychisches Monate unter Depressionen gelitten hatten. Bei drei Gesundheitsproblem. von vier betroffen Personen (77,9 %) wurde dies anhand einer ärztlichen Diagnose festgestellt. Das im Angststörungen und Depressionen sind die häufigsten ATHIS verwendete Screeinginstrument unterschei- Erkrankungen, knapp jeder zehnte EU-Bürger ist ent- det zwischen minimalen, milden und mittelgradige weder an einer an einer Angststörung oder Depression bzw. schwere depressive Symptomatiken. In Summe erkrankt. Diese Daten zeigen klar, dass psychische zeigten sich bei 16,6% der Männer (1,1% mittelgradig/ Erkrankungen häufig sind, und alle Menschen treffen schwer, 3,3% mild. 12,2% minimal) und 24,3% der können. Auch in Österreich gibt es Studien über die Frauen (1,9%/5,0%/17,4%) depressive Symptomatiken Prävalenz von psychischen Erkrankungen. Wancata (Vgl. Statistik Austria 2020a). Wie dieses Beispiel zeigt, (2017) geht von einer Ein-Jahres-Prävalenz für Männer sind eindeutige Aussagen über den Gesundheitszu- 20,3% und für Frauen 25,1% aus. Wittchen und Jabobi stand bzw. die Krankheitslast im Bereich der psychoso- (2005) berichteten in ihrer Studie eine Ein-Jahres-Prä- zialen Gesundheit gar nicht so einfach. valenz von 27,4% für die österreichische Gesamtbe- völkerung. Wir können also davon ausgehen, dass Dies führt zu einer einfachen Frage, die aber nur sehr pro Jahr in etwa jeder fünfte in Österreich psychisch schwer zu beantworten ist: wie viele Menschen haben erkrankt. eigentlich eine psychische Erkrankung? Die soge- nannte Prävalenz kann nur geschätzt werden. Auch Wancata zeigt, dass es geschlechtsspezifische Un- wenn es signifikante Informations- und Wissenslücken terschiede bei den Erkrankungen gibt. Frauen leiden über psychische Gesundheitsprobleme gibt, zeigt häufiger unter affektiven Krankheiten, wie z.B. De- die vorhandene Evidenz, dass jedes Jahr Millionen pressionen, während Männer häufiger unter Substanz- Menschen in der EU an eine psychische Erkrankung missbrauch bzw. Abhängigkeit leiden. Psychischen erkranken. Die WHO (WHO 2019) schätzt die Prävalenz Erkrankungen kommen unter anderem häufiger bei psychischer Störungen in Europa (Kontinent, nicht finanziellen Sorgen und bei der Versorgungpflichten EU) im Jahr 2015 auf 110 Millionen, also 12% der Ge- für ein lang-dauernd erkranktes Familienmitglied samtbevölkerung. Werden durch Substanzmissbrauch vor. Ebenso zeigt sich, dass 86% der Personen mit bedingte Störungen inkludiert, erhöht sich diese Zahl einer psychischen Erkrankung auch eine körperliche um 27 Millionen (auf 15%). Bei einer breit gefassten Erkrankung, also eine sogenannte Komorbidität hatten. Definition, die neurologische Störungen wie Demenz, Diese Ergebnisse für Österreich zeigen ein Muster, dass Jede sechste Person in der EU hat eine psychische Erkrankung Anteil der Bevölkerung, die an psychischen Erkrankungen leidet abbildung 1: Psychische Erkrankungen in der EU Angststörungen Depressive Störungen Alkohol und Drogenkonsum Störungen Bipolare Störungen and Schizophrenie Andere 20 4 4 3 4 4 3 3 3 4 4 3 5 4 4 4 4 3 4 4 3 4 15 1 1 1 1 2 1 4 1 1 1 1 2 2 1 4 1 4 4 4 4 4 2 3 3 2 1 1 3 2 2 1,3 2 2 4 4 4 3 2 4 5 3 2 3 1 3 1 1 1 1 4 1 6 2 2 2 2 2,4 5 2 2 1 1 1 1 2 10 5 3 3 3 3 1 2 5 5 6 5 5 3 3 2 4 4 5 5 5 4 4 4,5 4 4 4 4 2 4 6 4 5 6 5 4 4 4 3 4 3 4 3 5 7 6 6 6 6 6 6 6 6 5,4 6 6 6 6 7 6 4 5 5 5 4 4 4 4 4 4 4 4 5 3 3 3 Großbritannien Griechenland Luxemburg Niederlande Deutschland Dänemark Rumänien Schweden Tschechien Bulgarien Norwegen Finnland Frankreich Lithauen Lettland Slowenien Portugal Etland Spanien Belgien Österreich Zypern Ungarn Irland Malta Italien Kroatien Slowakei Schweiz EU28 Polen Island Schätzungen des Institute for Health Metrics and Evaluation (IHME), Daten der EU-Mitgliedsstaaten + UK, Island, Schweiz, Norwegen Quelle: OECD - Health at a Glance 2018 5
PSYCHISCHE GESUNDHEIT IN PANDEMIEZEITEN – EINE STANDORTBESTIMMUNG sich auch international finden lässt. Ergänzend sei hier weltweit. Angesichts der normalen Zeitabläufe für Er- angefügt, dass Studien (Überblick siehe OECD 2018) hebung und Analyse derartiger Fragen kann nicht stark zeigen, dass psychische Störungen mit zunehmendem genug betont werden, dass alle nun verwendeten Stu- Alter ansteigen. dien und Erhebungen, für wissenschaftliche Verhältnis- se quasi in Lichtgeschwindigkeit erstellt wurden. Ohne zeitnahe Diagnose, eine wirksame Behandlung und Unterstützung der Betroffenen können psychische In den Monaten April und Mai hat SORA im Auftrag der Gesundheitsprobleme verheerende Auswirkungen Psychosozialen Dienste in Wien (PSD) und der MA 23 auf das Leben der Menschen haben. Hierzu gehört (Wirtschaft, Arbeit und Statistik), eine erste repräsen- auch ein signifikant erhöhtes Risiko Suizid zu begehen. tative Erhebung zu den psycho-sozialen Folgen der Für Österreich weist die Statistik Austria (Daten sind Corona-Pandemie in Wien erhoben. Anhand eines altersstandardisiert, berücksichtigen also das Bevöl- standardisierten Fragebogens wurden unter anderem kerungswachstum) im Zeitraum von 2010 bis 2018 folgende Themen abgefragt: die körperliche und psy- einen abnehmenden Trend: von 15,3 Todesfällen je chische Gesundheit vor und während der Corona-Pan- 100.000 Einwohnerinnen und Einwohner auf 13,5 Fälle demie, psychosoziale Belastungen wie Depression (-12%). Gleichzeitig liegen diese Werte ist im europäi- oder Orientierungslosigkeit, aktuelle Sorgen oder schen Vergleich etwas über den Durchschnitt (Quelle: Bedarf an Hilfsangeboten). Die Ergebnisse zeigen, dass Statistik Austria 2020c - Agenda 2030 für nachhaltige sich bei mehr als einem Viertel der Befragten, die psy- Entwicklung in Österreich – SDG Indikatorenbericht). chische Gesundheit während der Corona-Pandemie Die OECD-Daten zeigen, dass Männer häufiger als verschlechtert hat. 27% gaben eine Verschlechterung Frauen Suizid begehen, und insbesondere ab dem 45. ihrer psychischen Gesundheit an, 66% erlebten keine Lebensjahr vermehrt Suizide zu verzeichnen sind. Veränderung. Von jenen Befragten, deren psychische Gesundheit schon vor der Krise angeschlagen war, COVID 19 & PSYCHISCHE GE- hat sich die Situation für mehr als die Hälfte (56%) SUNDHEIT nochmals verschlechtert. Besonders starke Ver- schlechterungen wurden für Personen, die direkt vom Seit einigen Monaten leben wir global in einer Pande- Corona-Virus betroffen waren, sowie Personen mit miezeit, die sich auch auf die psychische Gesundheit geringen sozio-ökonomischen Ressourcen festgestellt auswirkt. Wenngleich viele Informationen erst im (Vgl. SORA/PSD 2020). Laufe der Zeit erhoben und analysiert werden müssen, gibt es erste Evidenz, sowohl in Österreich als auch Im Rahmen der Befragung wurden auch mehre Symptome einer sich verschlechternden psychischen abbildung 2: Suizidstatistik Gesundheit abgefragt: • Ca. 40 % der Befragten erlebten Ängstlichkeit/An- Suizidstatistik EU nach Alter und Geschlecht spannung oder weniger Freude an Tätigkeiten. Sudizide in den EU Mitgliedsstaaten in Jahr 2017 • Ca. 35 % erlebten Erschöpfung oder Niederge- Männer Frauen schlagenheit/Hoffnungslosigkeit. 8.000 • Ca. 28 % erlebten Sorgen vor Kontrollverlust, Ein- 7.373 6.899 samkeit oder Orientierungslosigkeit. 6.490 6.000 • Ca. 13 % erlebten schwere Konflikte in der Familie 5.235 4.655 oder betrieben Substanzmissbrauch. 4.000 4.142 • Ca. 7 % hatten an zumindest mehreren Tagen während der Pandemie Suizidgedanken. 2.197 2.177 2.212 2.120 2.000 1.639 1.337 625 889 Hierbei gilt es zu berücksichtigen, dass bei zwei Per- 98 72 sonengruppen häufig mehrere Symptome gleichzeitig 0-14 15-24 25-34 35-44 45-54 55-64 65-74 75+ auftraten: bei Personen, die schon vor der Pandemie Quelle: OECD - Health at a Glance 2020 keine gute psychische Gesundheit hatten, Personen mit Corona-Erkrankung bzw. Verdacht auf Corona (Vgl. 6
PSYCHISCHE GESUNDHEIT IN PANDEMIEZEITEN – EINE STANDORTBESTIMMUNG Anteil der Bevölkerung, die von März bis April 2020 unter Angstzuständen litt, im Vergleich zu vor Abb. 3: COVID19 Wie die 10 15 20 25 30 Pandemie Belgien 11 20 sich auf die Tschechien 6,88 13,51 Psyche Dänemark 22,5 25,4 schlägt Frankreich 13,5 27 Großbritannien 21,23 33 Daten für Dänemakr aus 2016, Tschechien und Frankreich 2017, Belgien 2018, Großbritannien 2019 Quelle: OECD - Health at a Glance: Europe 2020 SORA/PSD 2020). heits- und Pflegebereich arbeiten, und bei Menschen mit bestehenden psychischen Erkrankungen auf. Das Im gleichen zeitlichen Umfeld präsentierte die Sig- Gesundheits- und Pflegepersonal trifft die Pande- mund-Freud-Universität eine österreichweite repräsen- mie besonders, da diese für die Behandlung der an tative Studie zu den psychischen Folgen der Pandemie. COVID19 Erkrankten bzw. einer zentralen Risikogruppe Wesentlichste Erkenntnis war, dass auch hier 40 % der zuständig ist. Erste Evidenz zur psychischen Belastung Befragten Zukunftsängste äußerten und 27 % berich- zeigen ein düsteres Bild. Benfante et al. (2020) zeigen, teten von generalisierter Ängstlichkeit. (Vgl. SFU 2020). dass Trauma bedingter Stress mit einer Prävalenz Vor wenigen Wochen wurde über eine Studie der zwischen 7,4 und 35% während der Pandemie nach- Fakultät für Psychologie der Universität Wien berichtet gewiesen werden konnte. Insbesondere bei Frauen, (u.a. ORF 2020, Der Standard 2020), die zeigten, dass Krankenschwestern, Personal mit körperlichen Erkran- die Bevölkerung angesichts der Lage psychisch relativ kungen wurden erhöhte Werte nachgewiesen. Kramer, gut durch den ersten Lockdown gekommen sei, jedoch Papazova, Thoma, et al. (2020) zeigen in einer Umfrage bestimmte Personengruppen häufiger von der Krise unter dem deutschen Gesundheitspersonal, dass sich getroffen wurde. Hierbei erwähnen die Autor_innen sowohl die subjektive Gesundheit als auch die Zufrie- insbesondere junge Erwachsene zwischen 20 und 30. denheit am Arbeitsplatz signifikant verschlechtert hat. Claus Lamm, einer der Studienautoren, erklärt dies u.a. Xiang, Y-T. et al. (2020) zeigt, dass insbesondere die damit, dass sich die Unsicherheiten in der Ausbildung, Befürchtung, den Virus auf Familie und Bekannte zu auf dem Arbeitsmarkt und die Isolation, insbesondere übertragen, eine wesentliche psychosoziale Bürde für wenn Personen gerade von zu Hause weggezogen sind, Krankenhausmitarbeiter_innen ist. Ebenso wird darauf sich stärker auf junge Erwachsene auswirken. verwiesen, dass bei früheren Pandemien wie SARS, chinesischem Personal das in klinischen Umgebungen Einen ersten internationalen Maßstab über die psy- mit hohem Risiko wie SARS-Einheiten gearbeitet hat, chosozialen Auswirkungen der COVID19 Pandemie oder Personen, deren Familie oder Freunde mit SARS veröffentlichte die OECD vor einigen Wochen (OECD infiziert waren, wesentlich mehr posttraumatische 2020 Health at a Glance) eine Zusammenschau der Stresssymptome aufwiesen, als Personen ohne diese bisherigen Evidenz. Für die allgemeine Bevölkerung Erfahrungen. sind in allen Ländern mit aktuellen Daten nachteilige Auswirkungen auf die psychische Gesundheit zu erken- In Österreich wurde auf Bundesebene während der nen. Daten aus Belgien, der Tschechischen Republik, Pandemie drei Maßnahmen in Bezug auf die psychi- Dänemark, Frankreich und dem Vereinigten Königreich sche Gesundheit gesetzt: weisen alle auf eine erhöhte allgemeine Angst in den • Im Sommer gab die österreichische Gesundheits- Wochen seit Beginn der "ersten Welle" auf. kasse (ÖGK) bekannt, dass die Kontingente für Psycho- therapie um 20.000 Plätze aufgestockt werden Besonders ausgeprägt waren die Auswirkungen bei • Die Bundesregierung erleichterte die Telekon- Menschen mit niedrigerem sozioökonomischem Status, sultation in der Psychotherapie und ermöglichte den jungen Menschen, und sogenannten "front-line" Ar- Krankenversicherungen derartige Angebote in ihren beiter_innen. Eine besonders starke Verschlechterung Leistungen abzudecken weisen die Studien für Personen, die im Gesund- • Im Herbst wurde seitens der Bundesregierung der 7
PSYCHISCHE GESUNDHEIT IN PANDEMIEZEITEN – EINE STANDORTBESTIMMUNG "Pakt gegen Einsamkeit" angekündigt, der Maßnahmen Österreich versuchte sich an einer derartigen Regelung, zur Bekämpfung der Alterseinsamkeit beinhalten soll. jedoch wurde diese mehrmals geändert und war für Diese sollen insbesondere in Coronavirus-Zeiten, ein viele Menschen fernab der Lebensrealität (z.B. mehr- sicheres Umfeld für Pflegeheime und Krankenhäuser mals die Woche physischer Kontakt notwendig, keine schaffen. Internetbekanntschaften). Einfache Regelungen, und sei es nur als Empfehlung, sich beispielsweise in den Angesichts der gezeigten Evidenz ist jede der ge- kommenden Monaten nur mit 2-3 Personen, die nicht nannten Maßnahmen zu begrüßen, jedoch sind die im selben Haushalt leben, zu treffen und alle anderen psychischen Auswirkungen der Pandemie viel größer, Kontakte digital zu pflegen, viel sinnvoller. So würden neben älteren Personen gibt es auch andere besonders einerseits Kontakte reduziert, gleichzeitig würde der stark betroffene Gruppen und Einsamkeit ist nur eine Bevölkerung die Möglichkeit gegeben, selbst Handlun- von vielen Risikoindikatoren, die eine Auswirkung auf gen zu setzen und somit, siehe oben, die psychischen die psychische Gesundheit haben. Daher kann nur von Auswirkungen zu minimieren. Würden derartige Re- einem ersten Schritt gesprochen werden, insbeson- gelungen mit Tipps, beispielsweise wie man während dere da die langfristige Versorgungssicherheit derzeit einer Pandemie sicher gemeinsam spazieren gehen schlichtweg noch nicht gesichert ist. kann, dazu beitragen das die notwendige Reduktion der Kontakte langfristig gelingt. Doch auch in Bezug auf die COVID19 Maßnahmen gibt es schon erste Evidenz: Li, Yang et. al. (2020) zeigen für China, dass Quarantäne und "Lockdown" Regelun- HAUSGEMACHTE gen zu einem generellen Anstieg an Einsamkeit und Depressionsgefühlen geführt hat. Brooks et. al. (2020) HÜRDEN zeigen, dass Personen, die unter Quarantäne gestellt wurden, über negative psychologische Auswirkungen Die europäischen Gesundheitssysteme bieten, gemäß wie Symptome von posttraumatischem Stress, Verwir- internationalen Indikatoren (OECD 2014, OECD 2018, rung und Wut berichteten. In einigen Fällen konnten OECD2020) ein breites und inklusives Spektrum an derartige Belastungen auch Monate nach Beendigung Gesundheitsleistungen an, die bis auf wenige Ausnah- der Quarantäne nachgewiesen werden. men in EU-27 Mitgliedsstaaten eine Grundversorgung von elementaren Gesundheitsleistungen sicherstellt. Angesichts der Evidenz sehen Brooks et. al. (2020) Gleichzeitig sehen wir bei näherer Betrachtung, dass folgende Punkte als zentral an: nicht alle Gesundheitsbereiche ein identes Level an • Eine klare und schnelle Kommunikation, die den Versorgungssicherheit oder Health Literacy in der Menschen die aktuelle Situation bzw. die getroffenen Bevölkerung haben. Auch der Bereich der psychischen Maßnahmen erklärt Gesundheitsversorgung weist mehrere Schwachstel- • Eine, wenn notwendig, möglichst kurze Quarantä- len in Europas Gesundheitssysteme auf (OECD 2014). nezeit Hierzu kommen auch hausgemachte Problemstellun- • Die meisten nachteiligen Auswirkungen sind auf gen in Österreich, wie beispielsweise eine Kontingen- die Auferlegung von Zwangsmaßnahmen bzw. tierung von Leistungen. einer Einschränkung der Freiheit zurückzuführen, wes- halb freiwillige Maßnahmen bzw. Empfehlung an die Ein zentrales Thema ist der gesellschaftliche Umgang Bevölkerung mit weniger Stress und weniger Langzeit- mit psychischer Gesundheit bzw. Erkrankungen. Auch komplikationen verbunden ist. wenn (OECD 2018) in den letzten Jahren ein Fortschritt zu verzeichnen ist, sind Wissenslücken und Stigmata Anfang November machte in den (sozialen) Medien immer noch eine große Herausforderung. Psychische das Wort Knuffelcontact die Runde. "Knuffeln" ist Gesundheitsthemen können unsere Gesellschaft vor flämisch für Kuscheln und ist sowohl ein menschliches besondere Herausforderungen stellen, Grundbedürfnis nach Nähe als auch Teil einer belgi- aufgrund der Art und Weise, wie sie Gesellschaft- schen Regelung, mit der nahe Kontakte außerhalb des lich wahrgenommen werden. Zum Beispiel bleiben eigenen Wohnumfelds eingeschränkt wurden. Auch psychische Krankheiten oft verborgen, sei es, denn 8
PSYCHISCHE GESUNDHEIT IN PANDEMIEZEITEN – EINE STANDORTBESTIMMUNG Stigma und Fehlinformationen sind weiterhin weit verbreitet Anteil der Bevölkerung, die folgenden Aussagen zustimmen Es ist schwierig mit Menschen zu Menschen mit Personen mit psychischen sprechen, die ein signifikantes psychischen Gesundheitsproblemen stellen psychisches Gesundheitsproblem Problemen erholen eine Gefahr für andere dar haben sich nie Österreich 32,4 27,0 23,9 Belgien 30,9 23,8 19,1 Dänemark 44,5 21,3 16,8 Niederlande 25,4 17,0 13,3 Schweden 55,9 14,4 14,7 Großbritannien 41,7 20,8 15,8 Durchschnitt (EU-21) 38,5 20,7 17,3 Standardabweichung (11.1) (4.5) (3.8) Quelle: OECD 2012 auf Basis von Eurostat abbildung 4: Einstellungen zu psychischen Erkrankungen Menschen selbst sind sich ihrer Krankheit nicht voll ter, dass in mehreren Länderstudien repliziert werden bewusst, die Krankheit nicht bekannt gegeben wird, konnte (u.a. Lecrubier, 2007; Alonso et al., 2004). oder weil die Umgebung nicht bereit oder in der Lage ist, das Problem zur Kenntnis zu nehmen. Viele, auch Jedoch lässt sich diese Unterversorgung nicht nur auf schwere psychische Erkrankungen, sind heilbar be- Stigmata zurückführen. Die Evidenz zeigt, dass Eng- ziehungsweise führen psychische Erkrankungen nicht pässe in der psychiatrischen Versorgung dazu führen, automatisch zu einer chronischen Erkrankung. Ebenso dass einige Personen trotz Diagnose entweder keine führen psychische Erkrankungen nicht dazu, dass Men- Behandlung oder nur eine unzureichende Behand- schen gefährlicher für ihr soziales Umfeld sind. Leider lung erhalten. Damit ist die medizinischen Versor- sehen wir, beispielsweise im Rahmen von Terrorakten, gungskette unterbrochen. Studien zeigen (u.a. OECD immer wieder eine Verknüpfung von Gewalt und dem 2012), dass Behandlungslücken unterschiedlichem psychischen Gesundheitszustand, der so nicht zulässig ist. Derartige Stigmata, auch wenn wir eine Verbesse- rung beobachten können, sind leider immer noch weit abbildung 5: Behandlungsraten verbreitet (Vgl. OECD 2012). bei jungen Menschen Die Behandlungsraten bei jungen Erwachsenen Die Wahrnehmung wie wir über psychische Gesund- sind niedrig heit sprechen bzw. Personen, die eine Erkrankung Anteil der Prävalenz an Erkrankungen und Behandlungen nach Altersgruppen aufweisen hat eine große Auswirkung, nicht nur auf Prävalenz Erkrankungen Behandlungsprävalenz die Sichtbarkeit von Erkrankten. Viele Studien (einen 24 Überblick liefert u.a. OECD 2012) zeigen, dass psychi- 22 sche Gesundheitsprobleme unter anderem auf Grund 20 von Stigmata oftmals jahrelang diagnostiziert bleiben, 18 Treatment Gap das Ansprechen von psychischen Gesundheitssyste- 16 men gegenüber Ärzt_innen für viele Menschen oftmals 14 eine große Hürde ist und auch die der Weg von einer 12 Diagnose zu einer Behandlung sehr lang sein kann. 10 Letztgenanntes wird "treatment gap" genannt, und ge- 8 6 mäß OECD Berechnungen ist eine Differenz zwischen 4 der Prävalenz, also der Häufigkeit einer Erkrankung, 2 und den Behandlungsraten zu beobachten. Hierbei 0 zeigen sich altersspezifische Unterschiede, je älter die 18-24 25-34 35-44 45-54 55-64 betroffenen Personen, desto geringer ist die Unterver- Anteil der jeweiligen Bevölkerungsgruppe in % sorgung (Vgl. OECD 2012). Dies entspricht einem Mus- Quelle: OECD 2011 9
PSYCHISCHE GESUNDHEIT IN PANDEMIEZEITEN – EINE STANDORTBESTIMMUNG Ausmaß in allen OECD-Ländern vorhanden sind. Unter Personen innerhalb des ersten Diagnosejahres werden der Berücksichtigung, dass psychische Erkrankun- nur vereinzelt erhoben (Vgl. OECD 2012, OECD Health gen oftmals lange undiagnostiziert bleiben, geht die Statistics). OECD davon aus, dass zwischen einem Drittel und der Hälfte der Menschen mit psychischen Störungen keine Die Einflussfaktoren auf die psychische Gesundheit adäquate Behandlung erhalten. Hierbei sehen wir sehr sind vielfältig. Dementsprechend müssen, zur Sicher- unterschiedliche Schätzungen zur „Behandlungslücke“. stellung des Wohlbefindens, frühzeitiger Erkennung Diese reichen von 32,2% für Schizophrenie bis 57,5% von psychischen Belastungen bzw. einer zeitnahen für Angststörungen (Vgl. OECD 2014). Versorgung von Erkrankungen auch außerhalb des Gesundheitssystems Interventionen gesetzt werden. Auch in Österreich können wir eine Unterversorgung Viele Länder haben Richtlinien und Programme feststellen:(Wancata 2017, S. 165): "Durchwegs ist der zur Bekämpfung von psychischen Erkrankungen in Bedarf häufiger ungedeckt als gedeckt. Von Personen verschiedenen Altersstufen erlassen. Die OECD (OECD mit einer psychischen Erkrankung im letzten Jahr wurde 2012) zeigt, dass trotz mehr als 100 Präventions- und am häufigsten Medikation (57,2%), gefolgt von Psycho- Förderungsmaßnahmen in den 27 EU-Ländern sehr therapie (36,7%), stützenden Gesprächen bzw. Beratung unterschiedliche Verteilungen dieser Programme über (35,8%), diagnostischer Abklärung (18,3%), Case den gesamten Lebensverlauf gibt. So haben beispiels- Management, (14,4%) und Information bzw. Aufklärung weise wenige Länder Programme, die auf die psychi- (12,2%) benötigt. Bei all diesen Interventionen ist auch sche Gesundheit von Arbeitslosen abzielen, obwohl in bei psychisch Kranken der ungedeckte Bedarf deutlich der Literatur mehrfach gezeigt wurde, dass psychische höher als der gedeckte Bedarf. Besonders deutlich ist Erkrankungen die Wahrscheinlichkeit arbeitslos zu die Diskrepanz bei zwei Interventionen: Case Manage- werden, erhöhen. Ebenso ist mehrfach bewiesen, dass ment (11,8% Bedarf ungedeckt und 2,6% Bedarf ge- Arbeitslosigkeit das Risiko einer schlechten psychi- deckt) und Information bzw. Aufklärung (10,5% Bedarf schen Gesundheit signifikant erhöht. (Vgl. OECD ungedeckt und 1,7% Bedarf gedeckt)." Mental Health Factsheet, Dockery 2004, Scarpetta et al. 2010). Informationen über die Qualität und die Ergebnisse der psychiatrischen Versorgung in ganz Europa sind Im Bereich psychischer Gesundheit sind Zustände unzureichend. Angesichts der Unterversorgung ist der normal, die ansonsten für große Diskussionen sorgen erste wichtige Schritt eine Verbesserung der Datenla- würden. Es tut uns leid, aber wir haben dieses Jahr ge. Auch wenn Gesundheitssurveys wie ATHIS einen schon 5.000 Appendektomien („Blinddarmentfernun- wertvollen Beitrag liefern, unregelmäßige Erhebungen gen“) durchgeführt, wir setzen Sie auf die Warteliste oder vereinzelte Schätzungen zur Prävalenz von psy- und melden uns bei Ihnen. Diese Aussage scheint im chischen Erkrankungen, oftmals rudimentäre Daten Gesundheitssystem unvorstellbar. Tauschen Sie aber über das Wohlbefinden der Bevölkerung oder eine Appendektomien durch Psychotherapie, und wir sind kontinuierliche Erhebung des Versorgungsgrades sind im österreichischen Alltag angelangt. Psychotherapie- unerlässlich. Um eine gute und qualitätsvolle Behand- plätze sind in Österreich kontingentiert. Hierzu kommt, lung sicherzustellen, müssen jedoch auch die Daten dass die Versorgungsleistungen durch eine jahrelange über die Leistungen des Gesundheitssystems selbst Lücke verschärft wird: Im Gegensatz zu Ärzt_innen gibt verbessert werden. Auch wenn in einigen Ländern es keinen Gesamtvertrag der Sozialversicherungsträ- Indikatoren für die Qualität und Ergebnisse von psy- ger mit Psychotherapeut_innen. Dies bedeutet, dass chischen Gesundheitsleistungen verwendet werden, die Inanspruchnahme von Psychotherapie eine private beschränken sich die Indikatoren in vielen Staaten auf Leistung ist, die grundsätzlich nicht von der öster- die Krankenhausversorgung (Anzahl an Spitalsbetten) reichischen Gesundheitskasse (ÖGK) bzw. anderen oder einem einfachen "Headcount". Letzteres ist ins- Kassen übernommen wird. Eine 50-minütige Einzelsit- besondere angesichts der oben beschriebenen Unter- zung kostet durchschnittlich zwischen 70 und 150 Euro schiede in den Tätigkeitsfeldern dringend notwendig. (Stadt Wien 2020). Die Krankenkassen bieten eine Teil- Elementare Parameter, um die gesamte Versorgungs- refundierung der Kosten an, der Zuschuss schwankt kette analysieren zu können, also beispielsweise zwischen 28€ (ÖGK) und 65€ (KFG OÖ), womit ein nicht Wartezeiten für Behandlungen, Therapieabbruchquo- unerheblicher Teil der Kosten privat getragen werden ten, Rehospitalisierungsraten oder Suizidraten von müssen. 10
PSYCHISCHE GESUNDHEIT IN PANDEMIEZEITEN – EINE STANDORTBESTIMMUNG Psychische Gesundheit stärken ist auch eines der Ziele demnach sinnvoll, noch weitere Indikatoren zu entwi- der Agenda 2030, der sich auch Österreich verpflichtet ckeln“. Mindestens genauso schwerwiegend ist, dass hat. Ein zentrales Element, um dieses Ziel zu erreichen, für alle Indikatoren geeignete Zielvorgaben fehlen. findet sich in den österreichischen Gesundheitszielen. Wozu dies in der Praxis führt, zeigt der letzte Aspekt der 2011 beschloss die Österreichische Bundesregierung, österreichischen Probleme. Zielvorgaben zu definieren, um allen Menschen in Ös- terreich ein langes und Gesundes Leben zu gewährleis- Doc24.ch ist eine Schweizer Onlineplattform, die ten. 2012 wurden zehn Gesundheitsziele beschlossen, laut Selbstbeschreibung "zeigt welche Ärzte und Ziel neun lautet "Psychosoziale Gesundheit bei allen Therapeuten noch freie Plätze anbieten." (Doc24.ch). Bevölkerungsgruppen fördern". Politikfeldübergrei- Wer in der Stadt Basel, 200.000 Einwohner, medizini- fende Arbeitsgruppen haben in den Jahren 2016 und sches Fachpersonal sucht, findet (Stand 09.12.2020) 2017 Strategie- und Maßnahmenkonzepte für dieses 211 niedergelassene Psychiater und 93 Psychologen Gesundheitsziel ausgearbeitet. Demzufolge werden die, je nachdem welchen Kassenvertrag man gewählt drei Handlungsfelder als prioritär angesehen (siehe hat, ein entsprechendes Leistungsportfolio anbieten. Gesundheit Österreich 2017): Niederösterreich hat 1.684.287 Einwohner und hatte, laut regionalem Strukturplan Gesundheit 2016 22,3 • Gesundheitsförderung, Prävention und Früherken- Planstellen für niedergelassene Fachärzt_innen mit nung Kassenvertrag. Bis 2025 sollen diese auf 27,9 Planstel- • Versorgung, Rehabilitation und Ausbildung len angehoben werden. So sieht in Österreich psychi- • Gesellschaft und Entstigmatisierung sche Gesundheitsversorgung in der Praxis aus. Da es in Österreich trotz entsprechender Gesundheitskom- Folgende Wirkungsziele wurden definiert: petenzen keine Landeszielsteuerung für psychische Gesundheit gibt, findet sich im gesamten Dokument • WZ 1: Um die psychosoziale Gesundheit sowie exakt ein Ziel zu diesem Themenfeld (RSG NÖ, S. 12): das Wohlbefinden der Menschen zu fördern und zu "Stärkung der neurologischen und psychiatrischen Ver- erhalten, werden ihre Lebenswelten und ihre Lebens- sorgung". Konkrete Zielvorgaben bzw. Indikatoren wie kompetenzen durch systematische und strukturierte diese erreicht werden sollen, Sie haben es an dieser Maßnahmen gestaltet bzw. gestärkt. Stelle wahrscheinlich erahnt, sind nicht vorhanden. • WZ 2: Die Lebenswelten sowie das Gesundheits- Nicht zuletzt deshalb weist die OECD (2015) darauf und Sozialsystem stellen sicher, dass für psychoso- hin, dass die ambulante Behandlung von psychischen zial belastete Menschen, Menschen mit psychischen Erkrankungen in Österreich rar und unkoordiniert ist. Erkrankungen und deren Angehörige niederschwellige, bedarfsgerechte Unterstützungs-, Versorgungs- bzw. Rehabilitationsangebote zur Verfügung stehen. Pla- nung, Finanzierung und Realisierung eines solchen Angebots werden von den Grundsätzen der Inklusion und der integrierten Versorgung geleitet. • WZ 3: In allen Lebenswelten der Gesellschaft herrscht ein Klima des offenen und selbstverständli- chen Umgangs mit individueller Vielfalt von psycho- sozialer Gesundheit und Krankheit. Um diese Ziele zu erreichen bzw. eine Fortschrittsmes- sung zu ermöglichen, wurde auch ein Set an Indikato- ren entwickelt (ebd.). Jedoch gibt es zwei Probleme: der Bericht weist darauf hin, dass nicht für alle Indika- toren Daten zur Verfügung stehen bzw. die Indikatoren nicht in allen Fällen die Wirkungsziele abdecken. So heißt es beispielsweise für den Indikator zu Wirkungs- ziel 3 (S.13): "Der vorgeschlagene Indikator bildet nur einen Teilbereich des dritten Wirkungsziels ab. Es wäre 11
PSYCHISCHE GESUNDHEIT IN PANDEMIEZEITEN – EINE STANDORTBESTIMMUNG Lösungen und Optionen Psychische Erkrankungen haben zwar an Relevanz neben Verbesserungen im Gesundheitssystem auch für die öffentliche Gesundheit gewonnen, dennoch umfeldbedingte Faktoren berücksichtigen. Deshalb bleibt in Österreich und Europa viel zu tun. Neben sind Maßnahmen im Lebensumfeld von bestimmten gesundheitspolitischen Aspekten ist dies auch volks- Gruppen von besonderer Bedeutung. Grundsätzliches wirtschaftlich bedeutsam. Die OECD (OECD 2018) geht Ziel derartiger Maßnahmen muss sein, das Wissen über davon aus, dass die Gesamtkosten für psychische psychische Gesundheit zu erhöhen, den Abbau von Erkrankungen auf mehr als 4% des BIP - oder über 600 Vorurteilen & Stigmata voranzutreiben und möglichst Mrd. Euro - in den EU-Staaten geschätzt werden kann. früh auftretende Probleme und Herausforderungen zu erkennen und geeignete Maßnahmen einzuleiten. Diese Kosten umfassen: • 190 Mrd. EUR (1,3% des BIP) für direkte Gesund- COVID 19 SOFORTMASSNAH- heitsausgaben; MEN & GESUNDHEITSSYSTEM • 170 Mrd. EUR (1,2% des BIP) für Sozialversiche- Da die COVID19 Pandemie auf absehbare Zeit weiterhin rungsprogramme, einschließlich Krankengeld, Invalidi- wesentlich unser Leben beeinflussen wird, sind Sofort- tätsleistungen und Arbeitslosigkeit maßnahmen im Bereich der psychischen Gesundheit • 240 Mrd. EUR (1,6% des BIP) indirekte Kosten auf- unabdingbar. Darüber hinaus muss es nachhaltige In- grund niedrigerer Beschäftigung und Produktivitäts- terventionen im österreichischen Gesundheitssystem verlusten geben, um eine nachhaltige und gute Gesundheitsver- sorgung sicherzustellen. Gleichzeitig sind Maßnahmen wie Umsatzsteuersen- kungen oder Gutscheine dann kritisch zu sehen, wenn • Die Evidenz zeigt, dass bestimmte Gruppen unse- gleichzeitig das pandemische Geschehen noch für rer Gesellschaft momentan einer besonderen psychi- Unsicherheit sorgt. Die Nachfrage mit Steuergeld zu sti- schen Belastung ausgesetzt sind, beispielsweise das mulieren ist in Zeiten eines globalen Angebotsschocks jedenfalls nicht der Weisheit letzter Schluss. Die Wirt- schaft aber braucht nicht nur Planungssicherheit in der abbildung 6: Volkswirtschaftli- Steuerpolitik, sondern auch in anderen Politikberei- che Kosten chen. Geschätzte Kosten für psychische Erkrankungen in Europa Gleichzeitig zeigen mehrere Studien, dass eine Inves- Anteil des BIP tition in psychische Gesundheitsversorgung aus volks- 2,1 5,4 wirtschaftlicher Perspektive zu einer nachhaltigen Sen- kung der Gesundheitsausgaben führen. Chisholm et al. (2016) zeigen, dass in den Bereichen Depressionen und Angststörung in den Jahren 2016-2030 weltweit 147 Milliarden Doller in das Gesundheitssystem investiert werden müssten, um die benötigten Versorgungskapa- zitäten herzustellen. Dies würde zu einem Anstieg an gesunden Lebensjahren führen der einem Nettoge- genwartswert von 310 Milliarden US-Dollar entspricht. Insbesondere für hochentwickelte Volkswirtschaften ergibt sich ein Return-Of-Investment zwischen 2,5 und 5,7. Ein nachhaltiges Investment in die psychische Gesundheit ist auch aus ökonomischen Aspekten mehr als angezeigt. Ein gutes System, das Wohlbefinden sicherstellt und Direkte und indirekte Kosten auf Grund von psychischen Erkrankungen schnell und früh bei Problemlagen eingreift, muss Quelle: OECD 12
PSYCHISCHE GESUNDHEIT IN PANDEMIEZEITEN – EINE STANDORTBESTIMMUNG Gesundheits- und Pflegepersonal, oder Menschen, die mitgedacht und entsprechende Ressourcen bereitge- in ökonomisch prekären Situationen leben. Für diese stellt werden. Gruppen muss es ein Maßnahmenpaket geben, die das • Die Vernetzung und das gegenseitige Verständnis psychische Wohlbefinden sicherstellen, Symptome zwischen Ärzten und Therapeuten sollte ausgebaut einer verschlechterten psychischen Gesundheit, wie werden, zum Beispiel durch die Etablierung inter- Stress oder Angstzustände lindert und Erkrankungen disziplinärer psychosozialer Kompetenzzentren und zeitnah behandelt. multiprofessioneller Ausbildungsstätten. • Die Aufstockung der Kontingente für Psychothe- • Die erfolgreiche Behandlung psychischer Erkran- rapie und der „Pakt gegen Einsamkeit“ sind ein erster kungen scheitert zu oft am Unwissen über Behand- Schritt, jedoch müssen umfassendere Lösungen für lungsmöglichkeiten bzw. an fehlenden kostengünsti- die Gesamtbevölkerung zeitnah entwickelt werden. gen Therapieplätzen und langen Wartezeiten. Mit der Generationenaspekte sind hierbei zu berücksichtigen, Ausweitung des Angebots an Therapieplätzen, sowie beispielsweise jene Gruppen, die gerade jetzt finanziel- deren Finanzierung durch die Krankenkassen könnte le Sorgen haben, da sie am Start ihrer Berufslaufbahn diesem Problem begegnet werden. Zudem sollte eine sind bzw. ältere Menschen, insbesondere wenn sie in flächendeckende Aufklärung über Behandlungsmög- Alten- und Pflegeheimen wohnen. lichkeiten angestrebt werden. • Ebenso müssen verstärkt Empfehlungen erarbeitet • Zwei zentrale Probleme sind die Angst der Betrof- werden, die es der Bevölkerung erlauben, ihre (psy- fenen vor dem Eingestehen der Krankheit und die Sor- chosozialen) Bedürfnisse zu decken und gleichzeitig ge vor der Rückkehr in den Alltag nach der Behandlung. ihre Kontakte einzuschränken. So wäre beispielsweise Grund dafür sind Angst, Unverständnis und Fehlein- die Empfehlung, sich in den kommenden Monaten nur schätzungen in Bezug auf psychische Erkrankungen 2-3 Personen, die nicht im selben Haushalt leben, zu seitens des Umfelds. Mit Aufklärungsmaßnahmen - z. treffen und alle anderen Kontakte digital zu pflegen B. in allgemeinbildenden Schulen - und breiten Ents- viel sinnvoller als ständig abwechselnde Apelle bzw. tigmatisierungskampagnen kann diesen Problemen Mahnungen an die Bevölkerung. begegnet werden. • Die bisherigen Wirkungsziele und Maßnahmen • Während COVID-19 ist es zu einer verstärkten Nut- sind ein Schritt in die richtige Richtung. Jedoch gibt es zung von e-Health Leistungen gekommen. Dies sollte für die Wirkungsziele keine Zielvorgaben, Indikatoren zum Anlass genommen werden, um zu überprüfen, für die Wirkungsziele sind oftmals nicht ausreichend, welche Maßnahmen notwendig sind, damit länger- und die Datenqualität ist mangelhaft. Daher muss es fristig eine verstärkte Nutzung derartiger Angebote zu einem Ausbau der Indikatoren auf allen Ebenen möglich ist. Hierbei können wir uns an internationale kommen. Ebenso fehlt eine aktuelle Prävalenzerhe- Vorreiter wie die Niederlande orientieren, die seit bung für psychische Erkrankungen und eine darauf der Jahrtausendwende eine große Reihe von online aufbauende Analyse des gedeckten Bedarfs. Weitere Behandlungsmodulen für Erkrankungen (u.a. Depres- Indikatoren für das psychische Wohlbefinden sind also sionen, Angstzustände, oder Stress bei der Arbeit) ent- zu ergänzen. Dabei könnte man sich an einem Indika- wickelt haben. Da bei der Entwicklung Effektivität und torensetz orientieren, das die OECD empfiehlt. Kostenwirksamkeit zentrale Parameter waren, konnte • Für eine gute Gesamtplanung von Leistungen und ein flächendeckendes Angebot schnell entwickelt wer- Angeboten sind Indikatoren für Wirkungsketten zu den (Vgl. OECD Making Mental Health Count). entwickeln. Darauf aufbauend sind Maßnahmen und Zielvorgaben zu setzen. Hierzu müssen der österrei- Maßnahmen in den Bereichen Bildung, Kinder, Jugend chische Strukturplan Gesundheit (ÖSG) und Regionale Die Schule ist ein großartiger Ort für Interventionen im Strukturpläne Gesundheit (RSG) entsprechend ange- Bereich der psychischen Gesundheit. Nicht nur, dass passt werden. Eine Landeszielsteuerung für psychische im Unterricht mit entsprechenden Materialien die Gesundheit ist einzuführen. Gesundheitskompetenzen von Kindern- und Jugendli- • Da die Primärversorgung elementar für die chen gestärkt werden können, sie eignet sich auch sehr Gesundheitsversorgung ist, sind hier entsprechende gut, um gesundheitliche Probleme früh zu erkennen. Indikatoren zu entwickeln. Ebenso ist bei einer Wei- Dies ist wichtig, da (OECD Sick on the Job) umfangrei- terentwicklung von Primärversorgungseinheiten, wie che Literatur zeigt, dass sowohl biologische als auch beispielweise Primary HealthCare Center (PHC) darauf nachteilige Erfahrungen während der Kindheit die zu achten, dass die psychische Gesundheitsversorgung psychische Gesundheit von Kindern und Jugendlichen 13
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