PSYCHISCHE GESUNDHEIT IN PANDEMIEZEITEN - EINE STANDORTBESTIMMUNG - NEOS

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PSYCHISCHE GESUNDHEIT IN PANDEMIEZEITEN - EINE STANDORTBESTIMMUNG - NEOS
POLICY BRIEF #2/20

PSYCHISCHE GESUNDHEIT
IN PANDEMIEZEITEN – EINE
STANDORTBESTIMMUNG
Dieter Feierabend | Stand: 22.12.2020

                                                         PSD in Wien hat sich bei 27% aller Wiener_innen
  HERAUSFORDERUNG                                        eine Verschlechterung ihrer psychischen Gesund-
                                                         heit eingestellt. Bei Personen, deren psychische
  • Psychische Gesundheit ist ein Zustand des Wohl-      Gesundheit schon vor der Krise angeschlagen war,
  befindens, in dem eine Person ihre Fähigkeiten aus-    ist dieser Wert mehr als doppelt so hoch (56%).
  schöpfen, die normalen Lebensbelastungen bewäl-        • Österreich weist eine Unterversorgung im Be-
  tigen, produktiv arbeiten und einen Beitrag zu ihrer   reich der psychischen Gesundheit auf: eine geringe
  Gemeinschaft leisten kann. Psychische Gesundheit ist   Anzahl an Fachpersonal, mangelhafte Kassen-
  also mehr als nur die Abwesenheit von Erkrankungen     leistungen, lange Dauer zwischen Diagnose und
  und Symptomen und ein zentraler Bestandteil eines      Behandlung, eine schwache Zusammenarbeit von
  guten und gesunden Lebens.                             Bund und Ländern sowie fehlende Prävention zur
  • Psychische Erkrankungen sind in unserer Ge-          Sicherstellung eines guten Wohlbefindens. Wenn
  sellschaft häufig und können jeden treffen. Schät-     nun, wie in einer Pandemie zu erwarten ist, mehr
  zungen zufolge erkranken jedes Jahr zwischen           Personen Leistungen in Anspruch nehmen wollen,
  17-25% der Erwachsenen an einer psychischen Er-        verschlechtert sich die Lage.
  krankung. Die Gesamtkosten für psychische Erkran-      • Langfristige Probleme im Bereich Psychische
  kungen werden auf mehr als 4% des BIP geschätzt,       Gesundheit wie Stigmata, Vorurteile bzw. geringes
  • Gleichzeitig wirkt sich COVID-19-Pandemie            Wissen über Psychische Gesundheit, sowie oftmals
  stark auf die psychische Gesundheit der österrei-      fehlende oder schlechte Daten, verschärfen die
  chischen Bevölkerung aus: ersten Erhebungen des        strukturellen Defizite.

                                                                                  lab.neos.eu
PSYCHISCHE GESUNDHEIT IN PANDEMIEZEITEN – EINE STANDORTBESTIMMUNG

Was zu tun ist
Sofortpaket Psychische Gesundheit schüren. Be-                 sich Österreich vorgenommen, die psychosoziale
stimmte Gruppen unserer Gesellschaft sind momentan             Gesundheit bei allen Bevölkerungsgruppen zu fördern.
einer besonderen psychischen Belastung ausgesetzt:             Die bisherigen Wirkungsziele und Maßnahmen sind ein
das Gesundheits- und Pflegepersonal, Menschen, die             Schritt in die richtige Richtung. Jedoch gibt es für die
in ökonomisch prekären Situationen leben. Für diese            Wirkungsziele keine Zielvorgaben, Indikatoren für die
Gruppen muss es ein Maßnahmenpaket geben, um das               Wirkungsziele sind oftmals nicht ausreichend, und die
psychische Wohlbefinden sicherzustellen, Symptome              Datenqualität ist mangelhaft. Ebenso fehlt eine aktu-
einer verschlechterten psychischen Gesundheit, wie             elle Prävalenzerhebung für psychische Erkrankungen
Stress oder Angstzustände zu lindern und Erkran-               und eine darauf aufbauende Analyse des gedeckten
kungen zeitnah zu behandeln. Die Aufstockung der               Bedarfs. Weitere Indikatoren für das psychische Wohl-
Kontingente für Psychotherapie und der „Pakt gegen             befinden sind zu ergänzen.
Einsamkeit“ sind ein erster Schritt, jedoch müssen um-
fassendere Lösungen zeitnah entwickelt werden. Eben-           Gesundheitsinfrastruktur ausbauen. Auf Bundese-
so sind Generationenaspekte zu berücksichtigen: jene           bene ist eine Kassenregelung für Psychotherapie
die gerade jetzt finanzielle Sorgen haben, da sie am           auf Krankenschein oberste Priorität. Ein Ausbau von
Start ihrer Berufslaufbahn sind bzw. ältere Menschen,          niedergelassenen Angeboten muss forciert werden,
insbesondere wenn sie in Alten- und Pflegeheimen               insbesondere in ländlichen Regionen. Ebenso sind für
wohnen, sind besonderen Belastungen ausgesetzt.                eine gute Gesamtplanung von Leistungen und Ange-
                                                               boten Indikatoren für Wirkungsketten zu entwickeln.
Psychische Gesundheit bei Maßnahmen und Kom-                   Darauf aufbauend sind Maßnahmen und Zielvorgaben
munikation verstärkt mitdenken. Starke Einschrän-              zu setzen. Hierzu müssen der österreichische Struktur-
kungen in allen Lebensbereichen "harter Lockdown"              plan Gesundheit (ÖSG) und Regionale Strukturpläne
wechseln sich mit temporären Maßnahmen (z.B. Öff-              Gesundheit (RSG) entsprechend angepasst werden.
nungen im Handel, Besuchsmöglichkeiten in Spitälern            Durch die Pandemie wurde notgedrungen E-Health,
etc.) ab. Vor jeder Verschärfung und nach deren Ende           also digitale Lösungen, verstärkt angewendet. Durch
sehen wir einen Ansturm auf jene Bereiche, in denen            eine Evaluation der durchgeführten Maßnahmen,
Einschränkungen eingeführt werden. Ebenso wech-                bessere gesetzliche Regelungen und Begleitforschung
selseitige Schuldzuweisungen (ineffektive Regierungs-          kann dieser Bereich dauerhaft gestärkt werden.
maßnahmen vs. verantwortungslose Gesellschaft).
Dieser Teufelskreis muss durchbrochen werden. Dies             Maßnahmen im Lebensumfeld setzen. Gerade wenn
erreichen wir, indem Maßnahmen und Empfehlun-                  es um Wissen über psychische Gesundheit, dem Abbau
gen klarer voneinander getrennt und kommuniziert               von Vorurteilen und Stigmata oder das Screening des
werden, sowie mit einer sachlichen Information über            Gesundheitszustandes geht, sind Maßnahmen im
Maßnahmen, aktuelle Entwicklungen und Gefahren.                Lebensumfeld von zentraler Bedeutung. Daher müssen
Ebenso müssen verstärkt Empfehlungen erarbeitet                niederschwellige Angebote und Infrastruktur, insbe-
werden, die es der Bevölkerung erlauben, ihre (psy-            sondere im Schulumfeld, an Arbeitsstätten und dem
chosozialen) Bedürfnisse zu decken und gleichzeitig            AMS ausgebaut werden. Ebenso ist die Vernetzung zu
ihre Kontakte einzuschränken. So wäre beispielsweise           sozialen Dienstleistern zu verbessen. Grundsätzliches
die Empfehlung, sich in den kommenden Monaten nur              Ziel muss sein, das Wissen über psychische Gesundheit
2-3 Personen, die nicht im selben Haushalt leben, zu           zu erhöhen, den Abbau von Vorurteilen & Stigmata vor-
treffen und alle anderen Kontakte digital zu pflegen           anzutreiben und möglichst früh auftretende Probleme
viel sinnvoller als ständig abwechselnde Apelle bzw.           und Herausforderungen zu erkennen und geeignete
Mahnungen an die Bevölkerung.                                  Maßnahmen einzuleiten.

Ziele setzen, Indikatoren entwickeln, Datenlage
verbessern. Als eines der zehn Gesundheitsziele hat

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PSYCHISCHE GESUNDHEIT IN PANDEMIEZEITEN – EINE STANDORTBESTIMMUNG

Faktenlage
Auch im Jahr 2020 reden wir, wenn wir über Gesund-             sich an entsprechendes Fachpersonal zu wenden.
heit sprechen, oft über die körperliche Verfassung.            Dies ist in der Praxis oftmals der Hausarzt, im Alltag
Wie es unserer Psyche geht, wird oft nicht mitgedacht          wird in diesem Fall jedoch oftmals an "den Psychiater"
oder in manchen Fällen sogar losgelöst von der kör-            gedacht. Doch so einfach ist es nicht. In Österreich
perlichen Verfassung betrachtet. Dies ist jedoch höchst        können wir zwischen Psychologie, Psychiatrie und Psy-
problematisch. Doch was ist psychische Gesundheit              chotherapie unterscheiden. Diese Berufsfelder haben
eigentlich? Die WHO (WHO 2019) definiert psychische            eigenständige Tätigkeitsbereiche, die sich in der Praxis
Gesundheit als einen Zustand des Wohlbefindens, in             jedoch oftmals überschneiden (vereinfachte Darstel-
dem eine Person ihre Fähigkeiten ausschöpfen, die              lung, ein genauer Überblick findet sich hier: https://
normalen Lebensbelastungen bewältigen, produktiv               www.psyonline.at/):
arbeiten und einen Beitrag zu ihrer Gemeinschaft
leisten kann. Damit ist die psychische Gesundheit              • "Psychotherapeut" bzw. "Psychotherapeutin"
eine Voraussetzung für eine lebensfähige, sozial               werden in Österreich jene Menschen genannt, die eine
verantwortliche und produktive Gesellschaft, die den           entsprechend dem Psychotherapiegesetz festgelegte
Zusammenhalt und das Sozialkapital verstärkt und die           Ausbildung absolviert haben. Um eine Psychotherapie-
Sicherheit des Lebensumfelds verbessert. Ein gutes             ausbildung zu machen, muss man nicht Psychologie
und selbstbestimmtes Leben ist ohne psychische Ge-             studiert haben.
sundheit nicht möglich, womit sie mehr ist als nur die         • "Fachärzt_innen für Psychiatrie (und Neurologie)"
Abwesenheit von Erkrankungen.                                  bzw. "Psychiatrie und Psychotherapeutische Medizin"
                                                               haben ein Medizinstudium mit entsprechender Fach-
Rund um den Begriff psychische Gesundheit ranken               ausbildung studiert
sich viel Halbwissen und Vorurteile. Beispielsweise            • "Psychologe" bzw. "Psychologin" die an einer
ist damit nicht gemeint, dass ein psychisch gesunder           postsekundären Bildungseinrichtung das Studium
Mensch immer glücklich oder produktiv ist. Vielmehr            Psychologie absolviert haben.
ist damit gemeint, dass wir es schaffen mit negativen
Gefühlen wie beispielsweise Trauer umzugehen. Es               Es gibt viele Behandlungsformen von psychischen
gibt verschiedene Faktoren, die dazu führen, dass uns          Erkrankungen. Neben einer medikamentösen Be-
gewisse Bewältigungsstrategien mit negativen Emoti-            handlung spielt die Psychotherapie eine wichtige,
onen umzugehen nicht mehr helfen. Diese Risikofak-             wenngleich umstrittene Rolle. Das österreichische Psy-
toren sind vielfältig und lassen sich in drei Gruppen          chotherapiegesetz definiert Psychotherapie wie folgt
einteilen: soziale, wirtschaftliche und umfeldbedingte         (Psychotherapiegesetz, Fassung vom 08.12.2020):
Faktoren. Hierzu gehören beispielsweise Ausgrenzung,
Isolation, Arbeitsstress, schlechte Wohnbedingungen,           "§ 1. (1) Die Ausübung der Psychotherapie im Sinne
Gewalt, geringe soziale Kontakte, Arbeitslosigkeit oder         dieses Bundesgesetzes ist die nach einer allgemeinen
Diskriminierung (vgl. Busch, M., Hapke, U., & Mensink,          und besonderen Ausbildung erlernte, umfassende, be-
G. 2011). Dies führt dazu, dass wir erkranken. Niemand          wußte und geplante Behandlung von psychosozial oder
ist davor gefeit, psychisch zu erkranken. Die WHO               auch psychosomatisch bedingten Verhaltensstörungen
(WHO 2019) definiert psychische Störungen wie folgt:            und Leidenszuständen mit wissenschaftlichpsychother-
sie stellen Störungen der psychischen Gesundheit                apeutischen Methoden in einer Interaktion zwischen
einer Person dar, die oft durch eine Kombination von            einem oder mehreren Behandelten und einem oder
belastenden Gedanken, Emotionen, Verhaltensweisen               mehreren Psychotherapeuten mit dem Ziel, bestehe-
und Beziehungen zu anderen gekennzeichnet sind.                 nde Symptome zu mildern oder zu beseitigen, gestörte
Beispiele für psychische Störungen sind Depressio-              Verhaltensweisen und Einstellungen zu ändern und die
nen, Angststörungen, Verhaltensstörungen, bipolare              Reifung, Entwicklung und Gesundheit des Behandelten
Störungen und Psychosen.                                        zu fördern".

Wie bei einer sich verschlechternden körperlichen              Wieso ist die Psychotherapie umstritten und welche
Verfassung, gilt auch bei der psychischen Gesundheit,          Auswirkungen hat dies?

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PSYCHISCHE GESUNDHEIT IN PANDEMIEZEITEN – EINE STANDORTBESTIMMUNG

Im Bereich der Psychotherapie gibt es viele verschie-            Abständen, eine repräsentative Umfrage durchgeführt,
dene Schulen und Methoden, jedoch werden nicht alle              die österreichische Gesundheitsbefragung beziehungs-
wissenschaftlich anerkannt. Manche Methoden, die                 weise Austrian Health Interview Survey (ATHIS). Der-
als Psychotherapieverfahren angegeben werden, wer-               artige Erhebungen sind international Standard in der
den kritisiert, da seriöse Wirksamkeitsstudien fehlen            Gesundheitspolitik. Im Jahr 2019 war ein sehr großer
beziehungsweise die entsprechenden Methoden als                  Teil der österreichischen Bevölkerung mit ihrem allge-
widerlegt gelten. Diese Debatte ist jedoch sehr umstrit-         meinen Gesundheitszustand zufrieden. 74,5 % beur-
ten und führt unter anderem dazu, dass bestimmte                 teilten ihren Gesundheitszustand mit „sehr gut“ oder
Berufsgruppen bzw. Behandlungsmethoden in euro-                 „gut“, 6,4 % der Personen beurteilten ihre Gesundheit
päischen Gesundheitssystemen sehr unterschiedlich                mit „schlecht“ bzw. „sehr schlecht“. Frauen gaben
geregelt werden (einen Überblick über evidenzbasierte            etwas seltener als Männer einen sehr guten oder guten
Psychologie liefert Eiling, A. et. al., 2016):                   Gesundheitszustand an: 73,3 % beziehungsweise 75,7
                                                                 % (Statistik Austria 2020a).
• In Deutschland ist die Psychotherapie streng regle-
mentiert, nur drei Verfahren werden anerkannt und               Die allgemeine Lebenszufriedenheit wird durch die
neben Ärzten dürfen nur Psychologen und Heilprakti-             Statistik Austria auf einer Skala von 0-10 erhoben,
ker psychotherapeutisch arbeiten                                wobei höhere Werte eine bessere Lebenszufriedenheit
• In der Schweiz gibt es keine grundsätzliche gesetz-           darstellen. Im Jahr 2019 war der Mittelwert dieses
liche Reglementierung der Verfahren, die Zulassung              Indikators bei 8,0 - also sehen wir im Durchschnitt eine
erfolgt durch Zusammenarbeit mehrerer Fachinstitu-              hohe Lebenszufriedenheit (Statistik Austria 2020b).
tionen. Hingegen legt die Schweiz ihren Fokus auf die           Beide Indikatoren sind in den letzten Jahren sehr stabil,
Qualifikation des Personals: zugelassen sind psycho-            wobei jeweils ein leicht positiver Trend hin zu einer
therapeutisch ausgebildete Ärzte. Diese können ihrer-           besser wahrgenommenen Lebenszufriedenheit bzw.
seits psychotherapeutisch ausgebildete Psychologen              Gesundheitszustand festzustellen ist.
anstellen.
• In Österreich gibt es 23 anerkannte Methoden,                 So wichtig diese Indikatoren sind, da Wohlbefinden ein
gleichzeitig besteht bei der Ausübung keine Beschrän-           sehr umfassendes Konzept ist, müssen neben diesen
kung auf bestimmte Berufsgruppen wie Ärzte oder                 Indikatoren auch spezifische Aspekte angesehen wer-
Psychologen. Ein umgangssprachlich "Genie-Paragraf"             den, nicht zuletzt da wir nicht wissen, ob die Befragten
genannter Absatz des Psychotherapiegesetzes ermög-              bei der Antwort sich auf die nur körperliche Verfassung
licht es dem Bundeskanzler auch andere Berufsgrup-              bezogen haben oder auch die psychische Gesundheit
pen zur Psychotherapie-Ausbildung zuzulassen.                   miteinbeziehen. In der österreichischen Gesundheits-
                                                                befragung werden unter anderem auch Informationen
Die OECD (Making Mental Health Count 2014) zeigt,               zum sozialen Umfeld erhoben. Dies ist ein wesentli-
dass es sehr große länderspezifische Unterschiede               cher Einflussfaktor auf die subjektive Gesundheit. Eine
hinsichtlich des Personals gibt, und unklare Rollenab-          gute soziale Unterstützung kann sich auf das psychi-
grenzungen sowie mangelnde Standardisierung ein                 sche Wohlbefinden auswirken und helfen, psychosozi-
Problem für die psychische Gesundheitspersonalpoli-             ale Belastungen gut zu bewältigen. Etwas mehr als die
tik darstellt.                                                  Hälfte der Bevölkerung (55,3 %) gab an, starke soziale
                                                                Unterstützung zu erfahren, wobei keine geschlechts-
                                                                spezifischen Unterschiede feststellbar sind. 7,9 %
WIE STEHT ES UM PSYCHISCHE                                      der Männer und 7,3 % der Frauen gaben an, nur eine
                                                                geringe soziale Unterstützung zu bekommen. Diese
GESUNDHEIT IN ÖSTERREICH?                                       Werte sind im internationalen Vergleich sehr gut (Vgl.
                                                                Eurostat 2018).
Die Statistik Austria erhebt hierzu jährlich zwei Indika-
toren, die es erlauben einen gesamthaften Überblick             Gleichzeitig zeigt die österreichische Gesundheitsbe-
zu geben: der subjektiv wahrgenommene Gesund-                   fragung, dass die psychische Gesundheit nicht in allen
heitszustand sowie die Lebenszufriedenheit. Neben               Fällen so gut ist, wie man angesichts dieser Daten
dieser jährlichen Erhebung wird, in unregelmäßigen              meinen könnte. Um Informationen über Depressio-

                                                            4
PSYCHISCHE GESUNDHEIT IN PANDEMIEZEITEN – EINE STANDORTBESTIMMUNG

nen zu bekommen wurde einerseits erhoben, ob die                                                                                                                                                                                                                                    Epilepsie und Kopfschmerzsyndromen berücksich-
Befragten in den letzten 12 Monaten depressiv waren                                                                                                                                                                                                                                 tigt, steigt die Gesamtzahl um mehr als 300 Millionen
(bzw. eine Diagnose von einem Arzt gestellt wurde),                                                                                                                                                                                                                                 auf 50%. Die OECD (OECD 2018 - Health at a Glan-
andererseits wurden aktuell bestehende depressive                                                                                                                                                                                                                                   ce) verwendet Schätzungen des Institute for Health
Symptome anhand eines ScreeningInstruments für                                                                                                                                                                                                                                      Metrics and Evaluation (IHME), einer internationalen
Depressionen erfasst. 5,7 % der Männer und 9,2 % der                                                                                                                                                                                                                                Fachorganisation. Diesen Daten zufolge, hat mehr als
Frauen gaben an, dass sie innerhalb der letzten zwölf                                                                                                                                                                                                                               jeder sechste Mensch in EU-Ländern ein psychisches
Monate unter Depressionen gelitten hatten. Bei drei                                                                                                                                                                                                                                 Gesundheitsproblem.
von vier betroffen Personen (77,9 %) wurde dies
anhand einer ärztlichen Diagnose festgestellt. Das im                                                                                                                                                                                                                               Angststörungen und Depressionen sind die häufigsten
ATHIS verwendete Screeinginstrument unterschei-                                                                                                                                                                                                                                     Erkrankungen, knapp jeder zehnte EU-Bürger ist ent-
det zwischen minimalen, milden und mittelgradige                                                                                                                                                                                                                                    weder an einer an einer Angststörung oder Depression
bzw. schwere depressive Symptomatiken. In Summe                                                                                                                                                                                                                                     erkrankt. Diese Daten zeigen klar, dass psychische
zeigten sich bei 16,6% der Männer (1,1% mittelgradig/                                                                                                                                                                                                                               Erkrankungen häufig sind, und alle Menschen treffen
schwer, 3,3% mild. 12,2% minimal) und 24,3% der                                                                                                                                                                                                                                     können. Auch in Österreich gibt es Studien über die
Frauen (1,9%/5,0%/17,4%) depressive Symptomatiken                                                                                                                                                                                                                                   Prävalenz von psychischen Erkrankungen. Wancata
(Vgl. Statistik Austria 2020a). Wie dieses Beispiel zeigt,                                                                                                                                                                                                                          (2017) geht von einer Ein-Jahres-Prävalenz für Männer
sind eindeutige Aussagen über den Gesundheitszu-                                                                                                                                                                                                                                    20,3% und für Frauen 25,1% aus. Wittchen und Jabobi
stand bzw. die Krankheitslast im Bereich der psychoso-                                                                                                                                                                                                                              (2005) berichteten in ihrer Studie eine Ein-Jahres-Prä-
zialen Gesundheit gar nicht so einfach.                                                                                                                                                                                                                                             valenz von 27,4% für die österreichische Gesamtbe-
                                                                                                                                                                                                                                                                                    völkerung. Wir können also davon ausgehen, dass
Dies führt zu einer einfachen Frage, die aber nur sehr                                                                                                                                                                                                                              pro Jahr in etwa jeder fünfte in Österreich psychisch
schwer zu beantworten ist: wie viele Menschen haben                                                                                                                                                                                                                                 erkrankt.
eigentlich eine psychische Erkrankung? Die soge-
nannte Prävalenz kann nur geschätzt werden. Auch                                                                                                                                                                                                                                    Wancata zeigt, dass es geschlechtsspezifische Un-
wenn es signifikante Informations- und Wissenslücken                                                                                                                                                                                                                                terschiede bei den Erkrankungen gibt. Frauen leiden
über psychische Gesundheitsprobleme gibt, zeigt                                                                                                                                                                                                                                     häufiger unter affektiven Krankheiten, wie z.B. De-
die vorhandene Evidenz, dass jedes Jahr Millionen                                                                                                                                                                                                                                   pressionen, während Männer häufiger unter Substanz-
Menschen in der EU an eine psychische Erkrankung                                                                                                                                                                                                                                    missbrauch bzw. Abhängigkeit leiden. Psychischen
erkranken. Die WHO (WHO 2019) schätzt die Prävalenz                                                                                                                                                                                                                                 Erkrankungen kommen unter anderem häufiger bei
psychischer Störungen in Europa (Kontinent, nicht                                                                                                                                                                                                                                   finanziellen Sorgen und bei der Versorgungpflichten
EU) im Jahr 2015 auf 110 Millionen, also 12% der Ge-                                                                                                                                                                                                                                für ein lang-dauernd erkranktes Familienmitglied
samtbevölkerung. Werden durch Substanzmissbrauch                                                                                                                                                                                                                                    vor. Ebenso zeigt sich, dass 86% der Personen mit
bedingte Störungen inkludiert, erhöht sich diese Zahl                                                                                                                                                                                                                               einer psychischen Erkrankung auch eine körperliche
um 27 Millionen (auf 15%). Bei einer breit gefassten                                                                                                                                                                                                                                Erkrankung, also eine sogenannte Komorbidität hatten.
Definition, die neurologische Störungen wie Demenz,                                                                                                                                                                                                                                 Diese Ergebnisse für Österreich zeigen ein Muster, dass
Jede sechste Person in der EU hat eine psychische Erkrankung
Anteil der Bevölkerung, die an psychischen Erkrankungen leidet
                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                        abbildung 1: Psychische
                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                        Erkrankungen in der EU
     Angststörungen                                             Depressive Störungen                                                   Alkohol und Drogenkonsum Störungen
     Bipolare Störungen and Schizophrenie                                                                                Andere

20
                                                     4
       4          3             4           4                    3                              3            3                                      4              4                                                                                                                                                                      3
                                                                          5                                             4          4                                           4           4      3          4        4                 3                                                                                                            4
15     1          1              1           1       2            1                 4            1            1                                                                                                                                                                                                                            1
                                                                                                                                    1               2              2                               1                          4          1         4           4          4                    4                                                               4
                  2             3           3        2                    1         1           3                       2                                                       2          1,3               2        2                                                            4                       4       4                      3          2
       4                                                                                                     5                     3                2              3                                                           1        3           1           1          1                    1                              4                               1
                                                                 6        2         2                                   2                                                       2          2,4 5             2        2        1                                                    1                       1       1                                2
10                5                                                                                                                                                                                                                                 3          3          3                    3                               1                               2
                                5           5         6                                         5                                                   5                                                                                                                              3                       3        2                     4
                                                                          4         5                                   5          5                               4           4 4,5                         4        4       4         4                                                                                      2                     4
       6                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                       4
                                                                 5                                            6                                                                                   5                                                4           4          4        3           4           3       4           3
 5
                  7             6           6         6                   6                     6                                                   6              6            6 5,4                        6        6       6          6                                                                                                7          6
       4                                                                            5                                   5          5                                                                                                               4           4          4        4           4           4       4           4                               5
                                                                 3                                           3                                                                                    3
                                                                                                                                  Großbritannien

                                                                                                                                                   Griechenland

                                                                                                                                                                               Luxemburg
                 Niederlande

                                                                                               Deutschland

                                                                                                                                                                                                                                        Dänemark

                                                                                                                                                                                                                                                                                                                               Rumänien
                                                                                    Schweden

                                                                                                                                                                                                                                                                                              Tschechien

                                                                                                                                                                                                                                                                                                                   Bulgarien

                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                          Norwegen
      Finnland

                               Frankreich

                                                                                                             Lithauen

                                                                                                                                                                                                  Lettland

                                                                                                                                                                                                                                                   Slowenien
                                                     Portugal

                                                                 Etland

                                                                          Spanien

                                                                                                                        Belgien

                                                                                                                                                                  Österreich

                                                                                                                                                                                                             Zypern

                                                                                                                                                                                                                                                                          Ungarn
                                            Irland

                                                                                                                                                                                                                      Malta

                                                                                                                                                                                                                              Italien

                                                                                                                                                                                                                                                               Kroatien

                                                                                                                                                                                                                                                                                   Slowakei

                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                     Schweiz
                                                                                                                                                                                           EU28

                                                                                                                                                                                                                                                                                                           Polen

                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                               Island

Schätzungen des Institute for Health Metrics and Evaluation (IHME), Daten der EU-Mitgliedsstaaten + UK, Island, Schweiz, Norwegen
Quelle:​ ​OECD - Health at a Glance 2018

                                                                                                                                                                                                                                                                          5
PSYCHISCHE GESUNDHEIT IN PANDEMIEZEITEN – EINE STANDORTBESTIMMUNG

sich auch international finden lässt. Ergänzend sei hier                                                    weltweit. Angesichts der normalen Zeitabläufe für Er-
angefügt, dass Studien (Überblick siehe OECD 2018)                                                          hebung und Analyse derartiger Fragen kann nicht stark
zeigen, dass psychische Störungen mit zunehmendem                                                           genug betont werden, dass alle nun verwendeten Stu-
Alter ansteigen.                                                                                            dien und Erhebungen, für wissenschaftliche Verhältnis-
                                                                                                            se quasi in Lichtgeschwindigkeit erstellt wurden.
Ohne zeitnahe Diagnose, eine wirksame Behandlung
und Unterstützung der Betroffenen können psychische                                                         In den Monaten April und Mai hat SORA im Auftrag der
Gesundheitsprobleme verheerende Auswirkungen                                                                Psychosozialen Dienste in Wien (PSD) und der MA 23
auf das Leben der Menschen haben. Hierzu gehört                                                             (Wirtschaft, Arbeit und Statistik), eine erste repräsen-
auch ein signifikant erhöhtes Risiko Suizid zu begehen.                                                     tative Erhebung zu den psycho-sozialen Folgen der
Für Österreich weist die Statistik Austria (Daten sind                                                      Corona-Pandemie in Wien erhoben. Anhand eines
altersstandardisiert, berücksichtigen also das Bevöl-                                                       standardisierten Fragebogens wurden unter anderem
kerungswachstum) im Zeitraum von 2010 bis 2018                                                              folgende Themen abgefragt: die körperliche und psy-
einen abnehmenden Trend: von 15,3 Todesfällen je                                                            chische Gesundheit vor und während der Corona-Pan-
100.000 Einwohnerinnen und Einwohner auf 13,5 Fälle                                                         demie, psychosoziale Belastungen wie Depression
(-12%). Gleichzeitig liegen diese Werte ist im europäi-                                                     oder Orientierungslosigkeit, aktuelle Sorgen oder
schen Vergleich etwas über den Durchschnitt (Quelle:                                                        Bedarf an Hilfsangeboten). Die Ergebnisse zeigen, dass
Statistik Austria 2020c - Agenda 2030 für nachhaltige                                                       sich bei mehr als einem Viertel der Befragten, die psy-
Entwicklung in Österreich – SDG Indikatorenbericht).                                                        chische Gesundheit während der Corona-Pandemie
Die OECD-Daten zeigen, dass Männer häufiger als                                                             verschlechtert hat. 27% gaben eine Verschlechterung
Frauen Suizid begehen, und insbesondere ab dem 45.                                                          ihrer psychischen Gesundheit an, 66% erlebten keine
Lebensjahr vermehrt Suizide zu verzeichnen sind.                                                            Veränderung. Von jenen Befragten, deren psychische
                                                                                                            Gesundheit schon vor der Krise angeschlagen war,
COVID 19 & PSYCHISCHE GE-                                                                                   hat sich die Situation für mehr als die Hälfte (56%)
SUNDHEIT                                                                                                    nochmals verschlechtert. Besonders starke Ver-
                                                                                                            schlechterungen wurden für Personen, die direkt vom
Seit einigen Monaten leben wir global in einer Pande-                                                       Corona-Virus betroffen waren, sowie Personen mit
miezeit, die sich auch auf die psychische Gesundheit                                                        geringen sozio-ökonomischen Ressourcen festgestellt
auswirkt. Wenngleich viele Informationen erst im                                                            (Vgl. SORA/PSD 2020).
Laufe der Zeit erhoben und analysiert werden müssen,
gibt es erste Evidenz, sowohl in Österreich als auch                                                        Im Rahmen der Befragung wurden auch mehre
                                                                                                            Symptome einer sich verschlechternden psychischen
                          abbildung 2: Suizidstatistik                                                      Gesundheit abgefragt:
                                                                                                            • Ca. 40 % der Befragten erlebten Ängstlichkeit/An-
Suizidstatistik EU nach Alter und Geschlecht                                                                spannung oder weniger Freude an Tätigkeiten.
Sudizide in den EU Mitgliedsstaaten in Jahr 2017                                                            • Ca. 35 % erlebten Erschöpfung oder Niederge-
   Männer       Frauen
                                                                                                            schlagenheit/Hoffnungslosigkeit.
8.000
                                                                                                            • Ca. 28 % erlebten Sorgen vor Kontrollverlust, Ein-
                                                            7.373
                                                                       6.899                                samkeit oder Orientierungslosigkeit.
                                                                                             6.490

6.000
                                                                                                            • Ca. 13 % erlebten schwere Konflikte in der Familie
                                                 5.235
                                                                                  4.655
                                                                                                            oder betrieben Substanzmissbrauch.
4.000
                                   4.142
                                                                                                            • Ca. 7 % hatten an zumindest mehreren Tagen
                                                                                                            während der Pandemie Suizidgedanken.
                      2.197                                    2.177      2.212                 2.120
2.000                                                                                1.639
                                                    1.337
                           625
                                           889                                                              Hierbei gilt es zu berücksichtigen, dass bei zwei Per-
           98 72                                                                                            sonengruppen häufig mehrere Symptome gleichzeitig
            0-14        15-24        25-34        35-44      45-54      55-64      65-74       75+
                                                                                                            auftraten: bei Personen, die schon vor der Pandemie
Quelle:​ ​OECD - Health at a Glance 2020
                                                                                                            keine gute psychische Gesundheit hatten, Personen
                                                                                                            mit Corona-Erkrankung bzw. Verdacht auf Corona (Vgl.

                                                                                                        6
PSYCHISCHE GESUNDHEIT IN PANDEMIEZEITEN – EINE STANDORTBESTIMMUNG

Anteil der Bevölkerung, die von März bis April 2020 ​
unter Angstzuständen litt, im Vergleich zu vor ​
                                                   Abb. 3:
COVID19                                            Wie die
                               10               15          20              25               30
                                                                                                         Pandemie
      Belgien                    11                           20                                         sich auf die
  Tschechien 6,88                            13,51                                                       Psyche
   Dänemark                                                      22,5            25,4                    schlägt
   Frankreich                         13,5                                              27
Großbritannien                                             21,23                                    33

Daten für Dänemakr aus 2016, Tschechien und Frankreich 2017, Belgien 2018, Großbritannien 2019
Quelle:​ ​OECD - Health at a Glance: Europe 2020

SORA/PSD 2020).                                                    heits- und Pflegebereich arbeiten, und bei Menschen
                                                                   mit bestehenden psychischen Erkrankungen auf. Das
Im gleichen zeitlichen Umfeld präsentierte die Sig-                Gesundheits- und Pflegepersonal trifft die Pande-
mund-Freud-Universität eine österreichweite repräsen-              mie besonders, da diese für die Behandlung der an
tative Studie zu den psychischen Folgen der Pandemie.              COVID19 Erkrankten bzw. einer zentralen Risikogruppe
Wesentlichste Erkenntnis war, dass auch hier 40 % der              zuständig ist. Erste Evidenz zur psychischen Belastung
Befragten Zukunftsängste äußerten und 27 % berich-                 zeigen ein düsteres Bild. Benfante et al. (2020) zeigen,
teten von generalisierter Ängstlichkeit. (Vgl. SFU 2020).          dass Trauma bedingter Stress mit einer Prävalenz
Vor wenigen Wochen wurde über eine Studie der                      zwischen 7,4 und 35% während der Pandemie nach-
Fakultät für Psychologie der Universität Wien berichtet            gewiesen werden konnte. Insbesondere bei Frauen,
(u.a. ORF 2020, Der Standard 2020), die zeigten, dass              Krankenschwestern, Personal mit körperlichen Erkran-
die Bevölkerung angesichts der Lage psychisch relativ              kungen wurden erhöhte Werte nachgewiesen. Kramer,
gut durch den ersten Lockdown gekommen sei, jedoch                 Papazova, Thoma, et al. (2020) zeigen in einer Umfrage
bestimmte Personengruppen häufiger von der Krise                   unter dem deutschen Gesundheitspersonal, dass sich
getroffen wurde. Hierbei erwähnen die Autor_innen                  sowohl die subjektive Gesundheit als auch die Zufrie-
insbesondere junge Erwachsene zwischen 20 und 30.                  denheit am Arbeitsplatz signifikant verschlechtert hat.
Claus Lamm, einer der Studienautoren, erklärt dies u.a.            Xiang, Y-T. et al. (2020) zeigt, dass insbesondere die
damit, dass sich die Unsicherheiten in der Ausbildung,             Befürchtung, den Virus auf Familie und Bekannte zu
auf dem Arbeitsmarkt und die Isolation, insbesondere               übertragen, eine wesentliche psychosoziale Bürde für
wenn Personen gerade von zu Hause weggezogen sind,                 Krankenhausmitarbeiter_innen ist. Ebenso wird darauf
sich stärker auf junge Erwachsene auswirken.                       verwiesen, dass bei früheren Pandemien wie SARS,
                                                                   chinesischem Personal das in klinischen Umgebungen
Einen ersten internationalen Maßstab über die psy-                 mit hohem Risiko wie SARS-Einheiten gearbeitet hat,
chosozialen Auswirkungen der COVID19 Pandemie                      oder Personen, deren Familie oder Freunde mit SARS
veröffentlichte die OECD vor einigen Wochen (OECD                  infiziert waren, wesentlich mehr posttraumatische
2020 Health at a Glance) eine Zusammenschau der                    Stresssymptome aufwiesen, als Personen ohne diese
bisherigen Evidenz. Für die allgemeine Bevölkerung                 Erfahrungen.
sind in allen Ländern mit aktuellen Daten nachteilige
Auswirkungen auf die psychische Gesundheit zu erken-               In Österreich wurde auf Bundesebene während der
nen. Daten aus Belgien, der Tschechischen Republik,                Pandemie drei Maßnahmen in Bezug auf die psychi-
Dänemark, Frankreich und dem Vereinigten Königreich                sche Gesundheit gesetzt:
weisen alle auf eine erhöhte allgemeine Angst in den               • Im Sommer gab die österreichische Gesundheits-
Wochen seit Beginn der "ersten Welle" auf.                         kasse (ÖGK) bekannt, dass die Kontingente für Psycho-
                                                                   therapie um 20.000 Plätze aufgestockt werden
Besonders ausgeprägt waren die Auswirkungen bei                    • Die Bundesregierung erleichterte die Telekon-
Menschen mit niedrigerem sozioökonomischem Status,                 sultation in der Psychotherapie und ermöglichte den
jungen Menschen, und sogenannten "front-line" Ar-                  Krankenversicherungen derartige Angebote in ihren
beiter_innen. Eine besonders starke Verschlechterung               Leistungen abzudecken
weisen die Studien für Personen, die im Gesund-                    • Im Herbst wurde seitens der Bundesregierung der

                                                             7
PSYCHISCHE GESUNDHEIT IN PANDEMIEZEITEN – EINE STANDORTBESTIMMUNG

"Pakt gegen Einsamkeit" angekündigt, der Maßnahmen               Österreich versuchte sich an einer derartigen Regelung,
 zur Bekämpfung der Alterseinsamkeit beinhalten soll.            jedoch wurde diese mehrmals geändert und war für
 Diese sollen insbesondere in Coronavirus-Zeiten, ein            viele Menschen fernab der Lebensrealität (z.B. mehr-
 sicheres Umfeld für Pflegeheime und Krankenhäuser               mals die Woche physischer Kontakt notwendig, keine
 schaffen.                                                       Internetbekanntschaften). Einfache Regelungen, und
                                                                 sei es nur als Empfehlung, sich beispielsweise in den
Angesichts der gezeigten Evidenz ist jede der ge-                kommenden Monaten nur mit 2-3 Personen, die nicht
nannten Maßnahmen zu begrüßen, jedoch sind die                   im selben Haushalt leben, zu treffen und alle anderen
psychischen Auswirkungen der Pandemie viel größer,               Kontakte digital zu pflegen, viel sinnvoller. So würden
neben älteren Personen gibt es auch andere besonders             einerseits Kontakte reduziert, gleichzeitig würde der
stark betroffene Gruppen und Einsamkeit ist nur eine             Bevölkerung die Möglichkeit gegeben, selbst Handlun-
von vielen Risikoindikatoren, die eine Auswirkung auf            gen zu setzen und somit, siehe oben, die psychischen
die psychische Gesundheit haben. Daher kann nur von              Auswirkungen zu minimieren. Würden derartige Re-
einem ersten Schritt gesprochen werden, insbeson-                gelungen mit Tipps, beispielsweise wie man während
dere da die langfristige Versorgungssicherheit derzeit           einer Pandemie sicher gemeinsam spazieren gehen
schlichtweg noch nicht gesichert ist.                            kann, dazu beitragen das die notwendige Reduktion
                                                                 der Kontakte langfristig gelingt.
Doch auch in Bezug auf die COVID19 Maßnahmen gibt
es schon erste Evidenz: Li, Yang et. al. (2020) zeigen für
China, dass Quarantäne und "Lockdown" Regelun-                   HAUSGEMACHTE
gen zu einem generellen Anstieg an Einsamkeit und
Depressionsgefühlen geführt hat. Brooks et. al. (2020)           HÜRDEN
zeigen, dass Personen, die unter Quarantäne gestellt
wurden, über negative psychologische Auswirkungen                Die europäischen Gesundheitssysteme bieten, gemäß
wie Symptome von posttraumatischem Stress, Verwir-               internationalen Indikatoren (OECD 2014, OECD 2018,
rung und Wut berichteten. In einigen Fällen konnten              OECD2020) ein breites und inklusives Spektrum an
derartige Belastungen auch Monate nach Beendigung                Gesundheitsleistungen an, die bis auf wenige Ausnah-
der Quarantäne nachgewiesen werden.                              men in EU-27 Mitgliedsstaaten eine Grundversorgung
                                                                 von elementaren Gesundheitsleistungen sicherstellt.
Angesichts der Evidenz sehen Brooks et. al. (2020)               Gleichzeitig sehen wir bei näherer Betrachtung, dass
folgende Punkte als zentral an:                                  nicht alle Gesundheitsbereiche ein identes Level an
• Eine klare und schnelle Kommunikation, die den                 Versorgungssicherheit oder Health Literacy in der
Menschen die aktuelle Situation bzw. die getroffenen             Bevölkerung haben. Auch der Bereich der psychischen
Maßnahmen erklärt                                                Gesundheitsversorgung weist mehrere Schwachstel-
• Eine, wenn notwendig, möglichst kurze Quarantä-                len in Europas Gesundheitssysteme auf (OECD 2014).
nezeit                                                           Hierzu kommen auch hausgemachte Problemstellun-
• Die meisten nachteiligen Auswirkungen sind auf                 gen in Österreich, wie beispielsweise eine Kontingen-
die Auferlegung von Zwangsmaßnahmen bzw.                         tierung von Leistungen.
einer Einschränkung der Freiheit zurückzuführen, wes-
halb freiwillige Maßnahmen bzw. Empfehlung an die                Ein zentrales Thema ist der gesellschaftliche Umgang
Bevölkerung mit weniger Stress und weniger Langzeit-             mit psychischer Gesundheit bzw. Erkrankungen. Auch
komplikationen verbunden ist.                                    wenn (OECD 2018) in den letzten Jahren ein Fortschritt
                                                                 zu verzeichnen ist, sind Wissenslücken und Stigmata
Anfang November machte in den (sozialen) Medien                  immer noch eine große Herausforderung. Psychische
das Wort Knuffelcontact die Runde. "Knuffeln" ist                Gesundheitsthemen können unsere Gesellschaft vor
flämisch für Kuscheln und ist sowohl ein menschliches            besondere Herausforderungen stellen,
Grundbedürfnis nach Nähe als auch Teil einer belgi-              aufgrund der Art und Weise, wie sie Gesellschaft-
schen Regelung, mit der nahe Kontakte außerhalb des              lich wahrgenommen werden. Zum Beispiel bleiben
eigenen Wohnumfelds eingeschränkt wurden. Auch                   psychische Krankheiten oft verborgen, sei es, denn

                                                             8
PSYCHISCHE GESUNDHEIT IN PANDEMIEZEITEN – EINE STANDORTBESTIMMUNG

     Stigma und Fehlinformationen sind weiterhin weit verbreitet
     Anteil der Bevölkerung, die folgenden Aussagen zustimmen

                                                                                   Es ist schwierig mit Menschen zu ​                       Menschen mit ​
                                             Personen mit psychischen ​            sprechen, die ein signifikantes ​                        psychischen ​
                                             Gesundheitsproblemen stellen ​        psychisches Gesundheitsproblem ​                         Problemen erholen ​
                                             eine Gefahr für andere dar            haben                                                    sich nie

      Österreich                             32,4                                  27,0                                                     23,9

      Belgien                                30,9                                  23,8                                                     19,1

      Dänemark                               44,5                                  21,3                                                     16,8

      Niederlande                            25,4                                  17,0                                                     13,3

      Schweden                               55,9                                  14,4                                                     14,7

      Großbritannien                         41,7                                  20,8                                                     15,8

      Durchschnitt (EU-21)                   38,5                                  20,7                                                     17,3

      Standardabweichung                     (11.1)                                (4.5)                                                    (3.8)

     Quelle:​ ​OECD 2012 auf Basis von Eurostat

     abbildung 4: Einstellungen zu psychischen Erkrankungen

Menschen selbst sind sich ihrer Krankheit nicht voll                              ter, dass in mehreren Länderstudien repliziert werden
bewusst, die Krankheit nicht bekannt gegeben wird,                                konnte (u.a. Lecrubier, 2007; Alonso et al., 2004).
oder weil die Umgebung nicht bereit oder in der Lage
ist, das Problem zur Kenntnis zu nehmen. Viele, auch                              Jedoch lässt sich diese Unterversorgung nicht nur auf
schwere psychische Erkrankungen, sind heilbar be-                                 Stigmata zurückführen. Die Evidenz zeigt, dass Eng-
ziehungsweise führen psychische Erkrankungen nicht                                pässe in der psychiatrischen Versorgung dazu führen,
automatisch zu einer chronischen Erkrankung. Ebenso                               dass einige Personen trotz Diagnose entweder keine
führen psychische Erkrankungen nicht dazu, dass Men-                              Behandlung oder nur eine unzureichende Behand-
schen gefährlicher für ihr soziales Umfeld sind. Leider                           lung erhalten. Damit ist die medizinischen Versor-
sehen wir, beispielsweise im Rahmen von Terrorakten,                              gungskette unterbrochen. Studien zeigen (u.a. OECD
immer wieder eine Verknüpfung von Gewalt und dem                                  2012), dass Behandlungslücken unterschiedlichem
psychischen Gesundheitszustand, der so nicht zulässig
ist. Derartige Stigmata, auch wenn wir eine Verbesse-
rung beobachten können, sind leider immer noch weit                               abbildung 5: Behandlungsraten
verbreitet (Vgl. OECD 2012).                                                      bei jungen Menschen
                                                                                  Die Behandlungsraten bei jungen Erwachsenen ​
Die Wahrnehmung wie wir über psychische Gesund-                                   sind niedrig
heit sprechen bzw. Personen, die eine Erkrankung                                  Anteil der Prävalenz an Erkrankungen und Behandlungen nach Altersgruppen
aufweisen hat eine große Auswirkung, nicht nur auf                                      Prävalenz Erkrankungen       Behandlungsprävalenz

die Sichtbarkeit von Erkrankten. Viele Studien (einen                             24

Überblick liefert u.a. OECD 2012) zeigen, dass psychi-                            22

sche Gesundheitsprobleme unter anderem auf Grund                                  20

von Stigmata oftmals jahrelang diagnostiziert bleiben,                            18
                                                                                               Treatment Gap ​
das Ansprechen von psychischen Gesundheitssyste-                                   16

men gegenüber Ärzt_innen für viele Menschen oftmals                               14

eine große Hürde ist und auch die der Weg von einer                                12

Diagnose zu einer Behandlung sehr lang sein kann.                                 10

Letztgenanntes wird "treatment gap" genannt, und ge-                               8

                                                                                   6
mäß OECD Berechnungen ist eine Differenz zwischen
                                                                                   4
der Prävalenz, also der Häufigkeit einer Erkrankung,
                                                                                   2
und den Behandlungsraten zu beobachten. Hierbei
                                                                                   0
zeigen sich altersspezifische Unterschiede, je älter die                            18-24                    25-34                35-44             45-54         55-64

betroffenen Personen, desto geringer ist die Unterver-                            Anteil der jeweiligen Bevölkerungsgruppe in %

sorgung (Vgl. OECD 2012). Dies entspricht einem Mus-                              Quelle:​ ​OECD 2011

                                                                              9
PSYCHISCHE GESUNDHEIT IN PANDEMIEZEITEN – EINE STANDORTBESTIMMUNG

Ausmaß in allen OECD-Ländern vorhanden sind. Unter              Personen innerhalb des ersten Diagnosejahres werden
der Berücksichtigung, dass psychische Erkrankun-                nur vereinzelt erhoben (Vgl. OECD 2012, OECD Health
gen oftmals lange undiagnostiziert bleiben, geht die            Statistics).
OECD davon aus, dass zwischen einem Drittel und der
Hälfte der Menschen mit psychischen Störungen keine             Die Einflussfaktoren auf die psychische Gesundheit
adäquate Behandlung erhalten. Hierbei sehen wir sehr            sind vielfältig. Dementsprechend müssen, zur Sicher-
unterschiedliche Schätzungen zur „Behandlungslücke“.            stellung des Wohlbefindens, frühzeitiger Erkennung
Diese reichen von 32,2% für Schizophrenie bis 57,5%             von psychischen Belastungen bzw. einer zeitnahen
für Angststörungen (Vgl. OECD 2014).                            Versorgung von Erkrankungen auch außerhalb des
                                                                Gesundheitssystems Interventionen gesetzt werden.
Auch in Österreich können wir eine Unterversorgung              Viele Länder haben Richtlinien und Programme
feststellen:(Wancata 2017, S. 165): "Durchwegs ist der          zur Bekämpfung von psychischen Erkrankungen in
Bedarf häufiger ungedeckt als gedeckt. Von Personen             verschiedenen Altersstufen erlassen. Die OECD (OECD
mit einer psychischen Erkrankung im letzten Jahr wurde          2012) zeigt, dass trotz mehr als 100 Präventions- und
am häufigsten Medikation (57,2%), gefolgt von Psycho-           Förderungsmaßnahmen in den 27 EU-Ländern sehr
therapie (36,7%), stützenden Gesprächen bzw. Beratung           unterschiedliche Verteilungen dieser Programme über
(35,8%), diagnostischer Abklärung (18,3%), Case                 den gesamten Lebensverlauf gibt. So haben beispiels-
Management, (14,4%) und Information bzw. Aufklärung             weise wenige Länder Programme, die auf die psychi-
(12,2%) benötigt. Bei all diesen Interventionen ist auch        sche Gesundheit von Arbeitslosen abzielen, obwohl in
bei psychisch Kranken der ungedeckte Bedarf deutlich            der Literatur mehrfach gezeigt wurde, dass psychische
höher als der gedeckte Bedarf. Besonders deutlich ist           Erkrankungen die Wahrscheinlichkeit arbeitslos zu
die Diskrepanz bei zwei Interventionen: Case Manage-            werden, erhöhen. Ebenso ist mehrfach bewiesen, dass
ment (11,8% Bedarf ungedeckt und 2,6% Bedarf ge-                Arbeitslosigkeit das Risiko einer schlechten psychi-
deckt) und Information bzw. Aufklärung (10,5% Bedarf            schen Gesundheit signifikant erhöht. (Vgl. OECD
ungedeckt und 1,7% Bedarf gedeckt)."                            Mental Health Factsheet, Dockery 2004, Scarpetta et al.
                                                                2010).
Informationen über die Qualität und die Ergebnisse
der psychiatrischen Versorgung in ganz Europa sind              Im Bereich psychischer Gesundheit sind Zustände
unzureichend. Angesichts der Unterversorgung ist der            normal, die ansonsten für große Diskussionen sorgen
erste wichtige Schritt eine Verbesserung der Datenla-           würden. Es tut uns leid, aber wir haben dieses Jahr
ge. Auch wenn Gesundheitssurveys wie ATHIS einen                schon 5.000 Appendektomien („Blinddarmentfernun-
wertvollen Beitrag liefern, unregelmäßige Erhebungen            gen“) durchgeführt, wir setzen Sie auf die Warteliste
oder vereinzelte Schätzungen zur Prävalenz von psy-             und melden uns bei Ihnen. Diese Aussage scheint im
chischen Erkrankungen, oftmals rudimentäre Daten                Gesundheitssystem unvorstellbar. Tauschen Sie aber
über das Wohlbefinden der Bevölkerung oder eine                 Appendektomien durch Psychotherapie, und wir sind
kontinuierliche Erhebung des Versorgungsgrades sind             im österreichischen Alltag angelangt. Psychotherapie-
unerlässlich. Um eine gute und qualitätsvolle Behand-           plätze sind in Österreich kontingentiert. Hierzu kommt,
lung sicherzustellen, müssen jedoch auch die Daten              dass die Versorgungsleistungen durch eine jahrelange
über die Leistungen des Gesundheitssystems selbst               Lücke verschärft wird: Im Gegensatz zu Ärzt_innen gibt
verbessert werden. Auch wenn in einigen Ländern                 es keinen Gesamtvertrag der Sozialversicherungsträ-
Indikatoren für die Qualität und Ergebnisse von psy-            ger mit Psychotherapeut_innen. Dies bedeutet, dass
chischen Gesundheitsleistungen verwendet werden,                die Inanspruchnahme von Psychotherapie eine private
beschränken sich die Indikatoren in vielen Staaten auf          Leistung ist, die grundsätzlich nicht von der öster-
die Krankenhausversorgung (Anzahl an Spitalsbetten)             reichischen Gesundheitskasse (ÖGK) bzw. anderen
oder einem einfachen "Headcount". Letzteres ist ins-            Kassen übernommen wird. Eine 50-minütige Einzelsit-
besondere angesichts der oben beschriebenen Unter-              zung kostet durchschnittlich zwischen 70 und 150 Euro
schiede in den Tätigkeitsfeldern dringend notwendig.            (Stadt Wien 2020). Die Krankenkassen bieten eine Teil-
Elementare Parameter, um die gesamte Versorgungs-               refundierung der Kosten an, der Zuschuss schwankt
kette analysieren zu können, also beispielsweise                zwischen 28€ (ÖGK) und 65€ (KFG OÖ), womit ein nicht
Wartezeiten für Behandlungen, Therapieabbruchquo-               unerheblicher Teil der Kosten privat getragen werden
ten, Rehospitalisierungsraten oder Suizidraten von              müssen.

                                                           10
PSYCHISCHE GESUNDHEIT IN PANDEMIEZEITEN – EINE STANDORTBESTIMMUNG

 Psychische Gesundheit stärken ist auch eines der Ziele          demnach sinnvoll, noch weitere Indikatoren zu entwi-
der Agenda 2030, der sich auch Österreich verpflichtet           ckeln“. Mindestens genauso schwerwiegend ist, dass
hat. Ein zentrales Element, um dieses Ziel zu erreichen,         für alle Indikatoren geeignete Zielvorgaben fehlen.
findet sich in den österreichischen Gesundheitszielen.           Wozu dies in der Praxis führt, zeigt der letzte Aspekt der
2011 beschloss die Österreichische Bundesregierung,              österreichischen Probleme.
Zielvorgaben zu definieren, um allen Menschen in Ös-
terreich ein langes und Gesundes Leben zu gewährleis-             Doc24.ch ist eine Schweizer Onlineplattform, die
ten. 2012 wurden zehn Gesundheitsziele beschlossen,               laut Selbstbeschreibung "zeigt welche Ärzte und
Ziel neun lautet "Psychosoziale Gesundheit bei allen              Therapeuten noch freie Plätze anbieten." (Doc24.ch).
Bevölkerungsgruppen fördern". Politikfeldübergrei-                Wer in der Stadt Basel, 200.000 Einwohner, medizini-
fende Arbeitsgruppen haben in den Jahren 2016 und                 sches Fachpersonal sucht, findet (Stand 09.12.2020)
2017 Strategie- und Maßnahmenkonzepte für dieses                  211 niedergelassene Psychiater und 93 Psychologen
Gesundheitsziel ausgearbeitet. Demzufolge werden                  die, je nachdem welchen Kassenvertrag man gewählt
drei Handlungsfelder als prioritär angesehen (siehe               hat, ein entsprechendes Leistungsportfolio anbieten.
Gesundheit Österreich 2017):                                      Niederösterreich hat 1.684.287 Einwohner und hatte,
                                                                  laut regionalem Strukturplan Gesundheit 2016 22,3
• Gesundheitsförderung, Prävention und Früherken-                 Planstellen für niedergelassene Fachärzt_innen mit
nung                                                              Kassenvertrag. Bis 2025 sollen diese auf 27,9 Planstel-
• Versorgung, Rehabilitation und Ausbildung                       len angehoben werden. So sieht in Österreich psychi-
• Gesellschaft und Entstigmatisierung                             sche Gesundheitsversorgung in der Praxis aus. Da es
                                                                  in Österreich trotz entsprechender Gesundheitskom-
Folgende Wirkungsziele wurden definiert:                          petenzen keine Landeszielsteuerung für psychische
                                                                  Gesundheit gibt, findet sich im gesamten Dokument
• WZ 1: Um die psychosoziale Gesundheit sowie                     exakt ein Ziel zu diesem Themenfeld (RSG NÖ, S. 12):
das Wohlbefinden der Menschen zu fördern und zu                  "Stärkung der neurologischen und psychiatrischen Ver-
erhalten, werden ihre Lebenswelten und ihre Lebens-               sorgung". Konkrete Zielvorgaben bzw. Indikatoren wie
kompetenzen durch systematische und strukturierte                 diese erreicht werden sollen, Sie haben es an dieser
Maßnahmen gestaltet bzw. gestärkt.                                Stelle wahrscheinlich erahnt, sind nicht vorhanden.
• WZ 2: Die Lebenswelten sowie das Gesundheits-                   Nicht zuletzt deshalb weist die OECD (2015) darauf
und Sozialsystem stellen sicher, dass für psychoso-               hin, dass die ambulante Behandlung von psychischen
zial belastete Menschen, Menschen mit psychischen                 Erkrankungen in Österreich rar und unkoordiniert ist.
Erkrankungen und deren Angehörige niederschwellige,
bedarfsgerechte Unterstützungs-, Versorgungs- bzw.
Rehabilitationsangebote zur Verfügung stehen. Pla-
nung, Finanzierung und Realisierung eines solchen
Angebots werden von den Grundsätzen der Inklusion
und der integrierten Versorgung geleitet.
• WZ 3: In allen Lebenswelten der Gesellschaft
herrscht ein Klima des offenen und selbstverständli-
chen Umgangs mit individueller Vielfalt von psycho-
sozialer Gesundheit und Krankheit.

Um diese Ziele zu erreichen bzw. eine Fortschrittsmes-
sung zu ermöglichen, wurde auch ein Set an Indikato-
ren entwickelt (ebd.). Jedoch gibt es zwei Probleme:
der Bericht weist darauf hin, dass nicht für alle Indika-
toren Daten zur Verfügung stehen bzw. die Indikatoren
nicht in allen Fällen die Wirkungsziele abdecken. So
heißt es beispielsweise für den Indikator zu Wirkungs-
ziel 3 (S.13): "Der vorgeschlagene Indikator bildet nur
einen Teilbereich des dritten Wirkungsziels ab. Es wäre

                                                            11
PSYCHISCHE GESUNDHEIT IN PANDEMIEZEITEN – EINE STANDORTBESTIMMUNG

Lösungen und Optionen
Psychische Erkrankungen haben zwar an Relevanz                  neben Verbesserungen im Gesundheitssystem auch
für die öffentliche Gesundheit gewonnen, dennoch                umfeldbedingte Faktoren berücksichtigen. Deshalb
bleibt in Österreich und Europa viel zu tun. Neben              sind Maßnahmen im Lebensumfeld von bestimmten
gesundheitspolitischen Aspekten ist dies auch volks-            Gruppen von besonderer Bedeutung. Grundsätzliches
wirtschaftlich bedeutsam. Die OECD (OECD 2018) geht             Ziel derartiger Maßnahmen muss sein, das Wissen über
davon aus, dass die Gesamtkosten für psychische                 psychische Gesundheit zu erhöhen, den Abbau von
Erkrankungen auf mehr als 4% des BIP - oder über 600            Vorurteilen & Stigmata voranzutreiben und möglichst
Mrd. Euro - in den EU-Staaten geschätzt werden kann.            früh auftretende Probleme und Herausforderungen zu
                                                                erkennen und geeignete Maßnahmen einzuleiten.
Diese Kosten umfassen:
• 190 Mrd. EUR (1,3% des BIP) für direkte Gesund-               COVID 19 SOFORTMASSNAH-
heitsausgaben;                                                  MEN & GESUNDHEITSSYSTEM
• 170 Mrd. EUR (1,2% des BIP) für Sozialversiche-               Da die COVID19 Pandemie auf absehbare Zeit weiterhin
rungsprogramme, einschließlich Krankengeld, Invalidi-           wesentlich unser Leben beeinflussen wird, sind Sofort-
tätsleistungen und Arbeitslosigkeit                             maßnahmen im Bereich der psychischen Gesundheit
• 240 Mrd. EUR (1,6% des BIP) indirekte Kosten auf-             unabdingbar. Darüber hinaus muss es nachhaltige In-
grund niedrigerer Beschäftigung und Produktivitäts-             terventionen im österreichischen Gesundheitssystem
verlusten                                                       geben, um eine nachhaltige und gute Gesundheitsver-
                                                                sorgung sicherzustellen.
Gleichzeitig sind Maßnahmen wie Umsatzsteuersen-
kungen oder Gutscheine dann kritisch zu sehen, wenn             • Die Evidenz zeigt, dass bestimmte Gruppen unse-
gleichzeitig das pandemische Geschehen noch für                 rer Gesellschaft momentan einer besonderen psychi-
Unsicherheit sorgt. Die Nachfrage mit Steuergeld zu sti-        schen Belastung ausgesetzt sind, beispielsweise das
mulieren ist in Zeiten eines globalen Angebotsschocks
jedenfalls nicht der Weisheit letzter Schluss. Die Wirt-
schaft aber braucht nicht nur Planungssicherheit in der         abbildung 6: Volkswirtschaftli-
Steuerpolitik, sondern auch in anderen Politikberei-            che Kosten
chen.
                                                                Geschätzte Kosten für psychische Erkrankungen ​
                                                                in Europa
Gleichzeitig zeigen mehrere Studien, dass eine Inves-           Anteil des BIP
tition in psychische Gesundheitsversorgung aus volks-           2,1                       5,4
wirtschaftlicher Perspektive zu einer nachhaltigen Sen-
kung der Gesundheitsausgaben führen. Chisholm et al.
(2016) zeigen, dass in den Bereichen Depressionen und
Angststörung in den Jahren 2016-2030 weltweit 147
Milliarden Doller in das Gesundheitssystem investiert
werden müssten, um die benötigten Versorgungskapa-
zitäten herzustellen. Dies würde zu einem Anstieg an
gesunden Lebensjahren führen der einem Nettoge-
genwartswert von 310 Milliarden US-Dollar entspricht.
Insbesondere für hochentwickelte Volkswirtschaften
ergibt sich ein Return-Of-Investment zwischen 2,5 und
5,7. Ein nachhaltiges Investment in die psychische
Gesundheit ist auch aus ökonomischen Aspekten mehr
als angezeigt.

Ein gutes System, das Wohlbefinden sicherstellt und
                                                                Direkte und indirekte Kosten auf Grund von psychischen Erkrankungen
schnell und früh bei Problemlagen eingreift, muss               Quelle:​ ​OECD

                                                           12
PSYCHISCHE GESUNDHEIT IN PANDEMIEZEITEN – EINE STANDORTBESTIMMUNG

Gesundheits- und Pflegepersonal, oder Menschen, die              mitgedacht und entsprechende Ressourcen bereitge-
in ökonomisch prekären Situationen leben. Für diese              stellt werden.
Gruppen muss es ein Maßnahmenpaket geben, die das                • Die Vernetzung und das gegenseitige Verständnis
psychische Wohlbefinden sicherstellen, Symptome                  zwischen Ärzten und Therapeuten sollte ausgebaut
einer verschlechterten psychischen Gesundheit, wie               werden, zum Beispiel durch die Etablierung inter-
Stress oder Angstzustände lindert und Erkrankungen               disziplinärer psychosozialer Kompetenzzentren und
zeitnah behandelt.                                               multiprofessioneller Ausbildungsstätten.
• Die Aufstockung der Kontingente für Psychothe-                 • Die erfolgreiche Behandlung psychischer Erkran-
rapie und der „Pakt gegen Einsamkeit“ sind ein erster            kungen scheitert zu oft am Unwissen über Behand-
Schritt, jedoch müssen umfassendere Lösungen für                 lungsmöglichkeiten bzw. an fehlenden kostengünsti-
die Gesamtbevölkerung zeitnah entwickelt werden.                 gen Therapieplätzen und langen Wartezeiten. Mit der
Generationenaspekte sind hierbei zu berücksichtigen,             Ausweitung des Angebots an Therapieplätzen, sowie
beispielsweise jene Gruppen, die gerade jetzt finanziel-         deren Finanzierung durch die Krankenkassen könnte
le Sorgen haben, da sie am Start ihrer Berufslaufbahn            diesem Problem begegnet werden. Zudem sollte eine
sind bzw. ältere Menschen, insbesondere wenn sie in              flächendeckende Aufklärung über Behandlungsmög-
Alten- und Pflegeheimen wohnen.                                  lichkeiten angestrebt werden.
• Ebenso müssen verstärkt Empfehlungen erarbeitet                • Zwei zentrale Probleme sind die Angst der Betrof-
werden, die es der Bevölkerung erlauben, ihre (psy-              fenen vor dem Eingestehen der Krankheit und die Sor-
chosozialen) Bedürfnisse zu decken und gleichzeitig              ge vor der Rückkehr in den Alltag nach der Behandlung.
ihre Kontakte einzuschränken. So wäre beispielsweise             Grund dafür sind Angst, Unverständnis und Fehlein-
die Empfehlung, sich in den kommenden Monaten nur                schätzungen in Bezug auf psychische Erkrankungen
2-3 Personen, die nicht im selben Haushalt leben, zu             seitens des Umfelds. Mit Aufklärungsmaßnahmen - z.
treffen und alle anderen Kontakte digital zu pflegen             B. in allgemeinbildenden Schulen - und breiten Ents-
viel sinnvoller als ständig abwechselnde Apelle bzw.             tigmatisierungskampagnen kann diesen Problemen
Mahnungen an die Bevölkerung.                                    begegnet werden.
• Die bisherigen Wirkungsziele und Maßnahmen                     • Während COVID-19 ist es zu einer verstärkten Nut-
sind ein Schritt in die richtige Richtung. Jedoch gibt es        zung von e-Health Leistungen gekommen. Dies sollte
für die Wirkungsziele keine Zielvorgaben, Indikatoren            zum Anlass genommen werden, um zu überprüfen,
für die Wirkungsziele sind oftmals nicht ausreichend,            welche Maßnahmen notwendig sind, damit länger-
und die Datenqualität ist mangelhaft. Daher muss es              fristig eine verstärkte Nutzung derartiger Angebote
zu einem Ausbau der Indikatoren auf allen Ebenen                 möglich ist. Hierbei können wir uns an internationale
kommen. Ebenso fehlt eine aktuelle Prävalenzerhe-                Vorreiter wie die Niederlande orientieren, die seit
bung für psychische Erkrankungen und eine darauf                 der Jahrtausendwende eine große Reihe von online
aufbauende Analyse des gedeckten Bedarfs. Weitere                Behandlungsmodulen für Erkrankungen (u.a. Depres-
Indikatoren für das psychische Wohlbefinden sind also            sionen, Angstzustände, oder Stress bei der Arbeit) ent-
zu ergänzen. Dabei könnte man sich an einem Indika-              wickelt haben. Da bei der Entwicklung Effektivität und
torensetz orientieren, das die OECD empfiehlt.                   Kostenwirksamkeit zentrale Parameter waren, konnte
• Für eine gute Gesamtplanung von Leistungen und                 ein flächendeckendes Angebot schnell entwickelt wer-
Angeboten sind Indikatoren für Wirkungsketten zu                 den (Vgl. OECD Making Mental Health Count).
entwickeln. Darauf aufbauend sind Maßnahmen und
Zielvorgaben zu setzen. Hierzu müssen der österrei-              Maßnahmen in den Bereichen Bildung, Kinder, Jugend
chische Strukturplan Gesundheit (ÖSG) und Regionale              Die Schule ist ein großartiger Ort für Interventionen im
Strukturpläne Gesundheit (RSG) entsprechend ange-                Bereich der psychischen Gesundheit. Nicht nur, dass
passt werden. Eine Landeszielsteuerung für psychische            im Unterricht mit entsprechenden Materialien die
Gesundheit ist einzuführen.                                      Gesundheitskompetenzen von Kindern- und Jugendli-
• Da die Primärversorgung elementar für die                      chen gestärkt werden können, sie eignet sich auch sehr
Gesundheitsversorgung ist, sind hier entsprechende               gut, um gesundheitliche Probleme früh zu erkennen.
Indikatoren zu entwickeln. Ebenso ist bei einer Wei-             Dies ist wichtig, da (OECD Sick on the Job) umfangrei-
terentwicklung von Primärversorgungseinheiten, wie               che Literatur zeigt, dass sowohl biologische als auch
beispielweise Primary HealthCare Center (PHC) darauf             nachteilige Erfahrungen während der Kindheit die
zu achten, dass die psychische Gesundheitsversorgung             psychische Gesundheit von Kindern und Jugendlichen

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