Psychoanalyse und Gender Studies - Referat Genderforschung
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Referat Genderforschung der Universität Wien (Hg.) Psychoanalyse und Gender Studies Mit Beiträgen von Alexander Fleischmann, David-Léon Kumrow, Christine Metzler, Theodora Oberperfler und Eva Laquièze-Waniek in Anlehnung an den Workshop mit Juliet Mitchell am 9. Juni 2010 an der Universität Wien
P s y c h o a n a ly s e u n d G e n d e r S t u d i e s 2. ergänzte Auflage, 2011 Impressum Herausgeberin und Medieninhaberin: Referat Genderforschung Spitalgasse 2-4, Campus der Universität Wien Hof 1.11 1090 Wien Redaktion: Katrin Lasthofer, Maria Katharina Wiedlack, Sushila Mesquita Layout: Gabi Damm Satz: Maria Katharina Wiedlack, Sushila Mesquita Referat Genderforschung der Universität Wien 2011
P s y c h o a n a ly s e u n d G e n d e r S t u d i e s Inhaltsverzeichnis Psychoanalyse und Gender Studies – Ein Vorwort zum Reader 4 von Eva Laquiéze-Waniek Geht’s nur um Ödipus und die Eltern? 11 Die absenten Geschwister der klassischen Psychoanalyse von Christine Metzler Ödipus – too big to fall? 16 Anmerkungen zu Freuds Antikerezeption von Theodora Oberperfler “Wo Es war soll Ich werden”: Die Aufgabe des Subjekts 21 von Alexander Fleischmann Subjekte vor dem “permanenten ökonomischen Tribunal“: 28 Psychoanalytische Überlegungen zur Subjektformierung im neoliberalen Kapitalismus von David-Léon Kumrow Referat Genderforschung der Universität Wien 2011
P s y c h o a n a ly s e u n d G e n d e r S t u d i e s “Psychoanalyse und Gender Studies“ – Ein Vorwort zum Reader von Eva Laquièze-Waniek Das Verhältnis von „Psychoanalyse und Gender Diese Unterscheidung wurde in den frühen 1970er- Studies“ bildet seit den Anfängen der modernen und 1980er-Jahren von den Sozialwissenschaften feministischen Theorie und Geschlechterforschung und der Frauenforschung im angloamerikanischen einen wichtigen Themenbereich, dem Juliet Mit- Raum übernommen, um nun auf einer kulturwis- chell mit ihrem Buch „Psychoanalyse und Feminis- senschaftlichen Ebene mit Gender die gesell- mus“ in den 1970er-Jahren einen produktiven Mei- schaftlichen und sich historisch oder kulturell wan- lenstein setzte. Mitchell nützt hier die Psychoana- delnden Machtverhältnisse, die die Bedeu-tungen lyse, um die Frage der menschlichen Sexuierung der beiden Geschlechter bestimmen – unabhän- im feministischen Kontext weiterzubringen, wo-bei gig von Sex, seinen biologischen Deter-minanten ihr die Erkenntnisse der Psychoanalyse entgegen- oder Konstanten –, besser analysieren zu können. kamen, insofern sie wie keine andere zeitgenössi- So weist beispielsweise die Historikerin Joan W. sche Wissenschaft dazu fähig ist, die vielschich- Scott 1986 auf die relationale und diskursive Ei- tigen und auch widersprüchlichen Motive und vor genschaft des Geschlechterbegriffs hin, als sie für allem unbewussten Momente der geschlechtlichen die Geschlechterforschung vorschlägt, Geschlecht Subjektkonstitution zu begreifen. Ihr Wissen über (Gender) als eine analytische Kategorie weiterzu- Prozesse, die die Annahme des sexuellen Kör- entwickeln und dabei sowohl die Relation zwischen pers, die Entwicklung geschlechtlicher Identitäten „weiblichen“ und „männlichen“ Proponenten oder und Begehrensformen sowie die Sozialisierung Sinnzusammenhängen zu beforschen als auch die des oder der Einzelnen vor dem normativen Hin- jeweiligen Überlappungen oder Gegenüberstellun- tergrund symbolischer Ordnungen betreffen, ver- gen geschlechtlicher Identität mit anderen wichti- bindet sie auch heute unwillkürlich mit den Gender gen gesellschaftlichen Zugehörigkeiten, wie jener Studies, in deren Wissensbereich diese Begriffe zu einer sozialen Schicht oder zu einer religiösen, zentrale Analysekategorien bilden. ethnischen, nationalen, regionalen oder altersspe- zifischen Gruppe, zu berücksichtigen. In diesem Werfen wir hierzu beispielsweise einen Blick auf Kontext weist Scott schon damals auf die Notwen- die wissenschaftliche Entwicklung der Begriffe Sex digkeit hin, bei der Weiterentwicklung von Gender und Gender, so lässt sich die Sternstunde dieser als analytische Kategorie die subjektive Identität Unterscheidung auf den Psychologen John Money vermehrt zu berücksichtigen, wobei die Psycho- (1955) und den Psychiater und Psychoanalytiker analyse eine wichtige Theorie über die Reproduk- Robert J. Stoller (1968) zurückführen. Beide ver- tion des sozialen Geschlechts anbiete (vgl. Scott suchten in den 1950er- und 1960er-Jahren, mit 1986, S. 55). der Unterscheidung zwischen einem körperlichen bzw. anatomischen Geschlecht (Sex) und einem In den 1990er Jahren folgte mit der Philosophin sozialen Geschlecht im Sinne einer kulturell ver- Judith Butler eine Kritik an der bislang unhinter- mittelten Geschlechtsidentität (Gender) dem an fragten Trennung von Sex und Gender in der femi- transsexuellen Personen beobachteten Umstand nistischen Theorie und Geschlechterforschung, da begrifflich gerecht werden, dass Menschen zu un- auch Sex wie Gender zu verstehen sei, nämlich als terschiedlichsten Identifikationen fähig sind, die bis eine diskursiv erzeugte und tradierte, semantisch zur geschlechtsspezifischen Identifikation mit dem relationale und durch die täglichen kulturellen Pra- gegengeschlechtlichen Körper führen können. xen performativ hervorgebrachte Größe (vgl. Butler Referat Genderforschung der Universität Wien 2011 4
P s y c h o a n a ly s e u n d G e n d e r S t u d i e s 1990). Butlers These wurde einerseits euphorisch strukturell) bedingten prekären Verfasstheit des von feministischen KulturwissenschaftlerInnen auf- Subjekts – die auf seiner anfangs notwendigen genommen, andererseits aber auch auf Grund ihrer Abhängigkeit von den ersten Anderen beruht und Unterbestimmung oder gar Ausblendung von Fak- zur krisenhaften, aber auch chancenvollen Loslö- toren wie Sexualität, Geburtigkeit und Sterblichkeit sung und autonomieermöglichenden Hin-wendung des Körpers von Seite insbesondere deutschspra- zum Sozialen und Symbolischen führt – sowie mit chiger Feministinnen in den 1990er-Jahren heftig ihrer klinischen Erfahrung, dass die menschliche kritisiert (vgl. Feministische Studien 1993 bzw. die Sexuierung konflikthaft zwischen den Ansprüchen Darstellung dieser Debatte aus philosophischer und Bedürfnissen der Einzelnen und dem Druck Sicht bei Nagl-Docekal 1999). sozialer Normen verläuft, wichtige Erkenntnisse für die Weiterentwicklung dieser Fragestellungen Von Seiten der Psychoanalyse und der ihr verbun- bereit. Freilich ist sie selbst keineswegs ein ideo- denen kulturwissenschaftlichen Theorie diskutiert logiefreies Feld – gerade was bestimmte Thesen man heute vermehrt das Zuwenig-Berücksichtigte zur Weiblichkeit anbelangt (vgl. z. B. Turnheim bzw. Verdrängte des Sexuellen in der diskursiven 2009) –, so dass der Dialog zwischen den Gender Konzeption von Gender (vgl. z. B. Soiland 2011, Studies und der Psychoanalyse auch die kritische 2010, Laplanche 2007, Reiche 2005, 1997, Zizek Reflexion und zeitgemäße Weiterentwicklung ihres 1999, Copjec 1995), das mit dem (sexuellen) Ge- eigenen begrifflichen Archivs und Argumentierens nuss einer Person in Verbindung steht, der – sei- umfassen muss. nerseits widerständig – nicht in den ideologischen Anrufungen der Gesellschaft (vgl. Althusser 1969) Die von den Studierenden in diesem Reader vor- an das Subjekt aufgeht. Denn die damit verbunde- gelegten Beiträge können davon ein lebendiges ne und brennende Frage, warum dieselben Nor- und vielfältiges Zeugnis geben. Darüber hinaus be- men unterschiedlich von Subjekten bezüglich ge- zeugen sie die Notwendigkeit einer Intensivierung schlechtlicher Identifikation (zu Mann, Frau oder des Dialogs zwischen diesen beiden Disziplinen in Transsexuellem) und Begehren bzw. sexueller der Gegenwart – eines Dialogs, den beide Seiten Orientierung (zu Homo-, Hetero- oder Bisexuali- nur unter der Gefahr eines großen Erkenntnisver- tät) verinnerlicht werden, kann mit Butlers diskursiv lustes ausschlagen könnten.1 Mit der Frage nach performativ gedachtem Gender-Konzept nicht hin- der Verinnerlichung von Normen angesichts eines reichend beantwortet werden. fundamentalen Normenwandels in Hinblick auf die Geschlechterrollen stehen weder die Gender Stu- Die Frage, wie Normen also verinnerlicht werden, dies noch die Psychoanalyse am Rande der ge- angesichts dessen, dass Menschen sich nicht dar- genwärtigen Wissensgenerierung, sondern – und in erschöpfen, die Ideologie und die hegemonialen das ist mir wichtig hervorzuheben – vielmehr in ei- Normen der Gesellschaft wie diskursive Maschinen nem ihrer Zentren. Eine Institution wie die Universi- programmatisch (entweder nur affirmierend oder tät Wien, die diese Wissensgewinnung zur rechten nur ablehnend) umzusetzen, ist somit heute noch Zeit zu forcieren weiß, wird ihrerseits Anteil an dem offen und harrt theoretischer Klärungen – dies ins- Gewinn dieses Dialogs nehmen; eines Dialogs, der besondere, weil wir uns in einer Zeit des Normen- Konflikte und Widersprüche nicht verschweigen, ni- wandels befinden, wo sich traditionelle Geschlech- vellieren, ausschalten oder umgehen will, sondern terrollen und Familienmodelle (z. B. Patchwork-Fa- diese vielmehr zum Ausdruck bringen, bewusstma- milien, gleichgeschlechtliche Elternschaft, Lebens- chen und für neue und bessere Lösungsmöglich- abschnittspartner etc.) verändern. keiten fruchtbar machen will. Die Psychoanalyse hält mit ihrem besonderen Wis- Ganz in diesem vielfach gewinnbringenden Sin- sen vom Unbewussten und der konstitutiv (bzw. ne wünsche ich allen Leserinnen und Lesern eine Referat Genderforschung der Universität Wien 2011 5
P s y c h o a n a ly s e u n d G e n d e r S t u d i e s spannende Lektüre des vorliegenden Readers. ativen Funktion des Subjekts getrennt verstanden und anstatt dessen über Kompetenzen wie z. B. Jeder der Autorinnen und Autoren hat darin auf ak- das Übernehmen von Verantwortungen, die uns tuelle Weise das Verhältnis von Psychoanalyse und selbst sozial und autonomer machen und die wir Gender Studies zur Sprache gebracht und dabei im Umgang mit Geschwistern oder oftmals auch in argumentativ eine eigene und interessante Urteils- gleichgeschlechtlichen Freundschaften erlernen, findung entwickelt – sei es, dass diese sich mehr begriffen werden (vgl. Mitchell 2003, 2005, 2007). an den produktiven Aspekten dieses Verhältnisses Da die Mehrzahl der Studierenden im Seminar orientiert, sei es, dass sie sich mehr den kritischen nicht mit den psychoanalytischen Thesen Freuds Aspekten zuwendet, – oder beiden gleichermaßen. (vgl. Freud 1905-1923) zur geschlechtlichen Sub- Die für den Reader ausgewählten Beiträge gehen jektgenese oder deren strukturaler Deutung durch zurück auf Fragestellungen des von mir im Master- Jacques Lacan (vgl. Lacan 1938-1973) vertraut studium Gender Studies angebotenen Seminars waren, diese aber von Mitchell (vgl.1976, 1985) in „Psychoanalyse und Feministische Theorie“ und ihrer sowohl affirmativen als auch kritischen Les- des gemeinsam mit dem Referat Genderforschung art als bekannt voraussetzt werden, bildete diese veranstalteten Workshops „Discussing the Contri- einen weiteren wichtigen Themenbereich der di- butions of Psychoanalysis to Gender Theory“ mit daktischen Vermittlung. Ein dies noch ergänzen- Juliet Mitchell an der Universität im Sommerseme- der Schwerpunkt war die Bezugnahme auf andere ster 2010. Jeder Beitrag stellt die vertiefende Wei- wichtige gegenwärtige Debatten im Verhältnis Psy- terentwicklung einer dieser Fragestellung dar. choanalyse und Gender Studies, wie Judith Butlers Juliet Mitchell ist emeritierte Professorin am De- These, wonach Geschlechtsidentität (Gender) als partment of Social and Developmental Psychology unbetrauerte Einverleibung der (inzestuös verbote- der Universität Cambridge und – wie dieStandard. nen) ersten Anderen begriffen werden muss (vgl. at in ihrer Ankündigung des Workshops vom 27. Butler 1995 bzw. dazu Laquièze-Waniek 2011), so- Mai 2010 zu Recht schrieb – eine „Pionierin“ und wie die Diskussion um ein eigenes weibliches Be- „ganz Große“ der Frauen- und Geschlechterfor- gehren oder Genießen (vgl. Lacan 1972-1973 bzw. schung der Gegenwart, die nach Wien kam, um dazu Kadi 2006 oder Härtel 2004). gemeinsam mit uns wichtige und aktuelle Fragen Entsprechend dieser Schwerpunktsetzungen – wo- zu Psychoanalyse, sexueller Differenz und Gender bei Mitchells Beiträge zur feministischen Litera-tur- Studies zu diskutieren. wissenschaft (vgl. z. B. 1984) auf Grund der be- grenzten Zeit leider nur gestreift werden konnten –, So standen vor allem Juliet Mitchells Arbeiten im bereiteten die Studierenden ihre Fragestellungen Zentrum unseres Seminars, wobei ihre frühe und für den Workshop mit der englischsprachigen Ex- bahnbrechende Auseinandersetzung mit Sigmund pertin vor. Freuds Thesen zur Weiblichkeit und geschlecht- lichen Identität in gesellschaftlichen Zusammen- Der Workshop, der am 8. Juni 2010 in der Aula hängen (vgl. Mitchell 1966, 1976) einen wichtigen des Universitätscampus stattfand, war thematisch Schwer-punkt der Auseinandersetzung bildete. Ein in drei Sektionen unterteilt, wobei Panel I mit der weiterer Schwerpunkt war Mitchells gegenwärti- Frage „Where‘s your sister, Oedipus? From ‚Se- ger Weiterentwicklung des Genderbegriffs gewid- xual Difference‘ to ‚Gender‘ and ‚Beyond‘ betitelt met. Mitchell nützt hierfür eine psychoanalytische war, und dem Juliet Mitchell als Respondentin vor- und sozialwissenschaftliche Perspektive auf die stand. Panel II versammelte Fragestellungen zum Geschwisterbeziehung, mittels der sie eine neue Themenbereich „Identification, Desire and Melan- Sichtweise auf die Geschlechtsidentität (Gender) cholia: Gendered Subjectivity“, wofür ich selbst gewinnt. Demnach könne Gender von der prokre- als Respondentin zu Verfügung stand. Für Panel Referat Genderforschung der Universität Wien 2011 6
P s y c h o a n a ly s e u n d G e n d e r S t u d i e s III „Reading the Psychoanalytic Body“ konnten wir mich, dass sie als neue Leiterin des Referats Gen- die Expertin Ulrike Kadi, Assistentin an der Klinik derforschung sowie selbst als eine Vertreterin der für Psychoanalyse und Psychotherapie der medi- Biologie und der Naturwissenschaften anwesend zinischen Universität Wien, die von Ihrer Ausbil- war und den Workshop eröffnete. Gerne möchte dung her sowohl Fachärztin für Psychiatrie, Psy- ich meinen Dank insbesondere den Veranstalte- choanalytikerin in Ausbildung als auch Philosophin rinnen des Workshops aussprechen: Dieser gilt ist, gewinnen. Die jeweiligen Moderationen und zum ersten Marlen Bidwell-Steiner, die das Kon- Diskussionen wurden von Marlen Bidwell-Steiner, zept des Workshops entworfen hatte, und der ich Romanistin und langjährige Leiterin des Referats zusammen mit dem Referat Genderforschung der Genderforschung der Universität Wien, und den Universität Wien für die Einladung zur Leitung beiden Mitarbeiterinnen des Referats Genderfor- von Seminar und Workshop herzlich danke. Zum schung, Katrin Lasthofer als Soziologin und Maria zweiten gehört mein Dank Katrin Lasthofer für die Katharina Wiedlack als Literaturwissenschaftle- vielen Vorbereitungen und die so gelungene Ent- rin, geleitet. Im Anschluss zu dem Workshop hielt wicklung und Gestaltung des Workshops, in des- Juliet Mitchell den Abendvortrag „‚My Sibling, my sen Nachfolge sie nun auch die Herausgabe des Love‘ – Siblings and Gender in Psychoanalysis“ Readers vorbereitet. Weiters danke ich hier Maria im Rahmen der parallel in diesem Semester lau- Katharina Wiedlack für die Moderation sowie Ste- fenden 9. Ringvorlesung „Gendered Subjects: fanie Bielowski für die freundliche Unterstützung Obskure Differenzen: Psychoanalyse und Gender bei der Durchführung der Veranstaltung. Studies?“, die von Marlen Bidwell-Steiner im Rah- men des Masterstudiums Gender Studies und des Mein ganz besonderer Dank gilt allen Studierenden entsprechenden Erweiterungscurriculums der Uni- des Seminars „Psychoanalyse und Feminismus“, versität Wien konzipiert wurde, und deren Ergeb- die mit großem Interesse und Einsatz die Themen- nisse demnächst als Buchpublikation (vgl. Bidwell- stellung des Seminars sowie die Fragestellungen Steiner 2011) erscheinen werden. für den Workshop erarbeitet haben. Weiters danke ich den Besucherinnen und Besuchern des Work- Abschließend möchte ich noch allen danken, die shops, die mit ihren Diskussionsbeiträgen zum zum Entstehen des Readers sowie zum Gelingen Erfolg der Veranstaltung beigetragen haben. Und des interdisziplinären Workshops mit Juliet Mitchell nicht zuletzt gilt mein Dank der Universität Wien und den so lebendig geführten Diskussionen bei- für die finanzielle Förderung, durch die die Reali- getragen haben: Mein Dank gilt hier zuerst unserer sierung des Workshops möglich wurde. Gästin aus Cambridge, Juliet Mitchell, die uns ihr Wissen in Rede und Antwort zu Verfügung stellte und nicht müde wurde, auf die vielen Fragen der Studierenden und des Publikums ausführlich und mit großem Engagement und Präzision einzuge- hen. Auch unserer zweiten Gästin, Ulrike Kadi, möch- te ich herzlich dafür danken, dass sie als Expertin am Workshop teilnahm und sich den Fragen der Studierenden zum geschlechtlichen Körper mit großer Aufmerksamkeit und Genauigkeit stellte. Ich danke weiters Sigrid Schmitz, Professorin für Gender Studies an der Universität Wien, und freue Referat Genderforschung der Universität Wien 2011 7
P s y c h o a n a ly s e u n d G e n d e r S t u d i e s Verwendete Literatur: Freud - Lacan, 20. Jahrgang, Heft 64, 2006/III: S. 87-110. Althusser, Louis (1969): Ideologie und ideologische Lacan, Jacques ([1938] 1966): „Die Familie“, in: Staatsapparate, http://www.bbooks.de/texte/althus- Ders.: Schriften III. Weinheim, Berlin: Quadriga, ser (zuletzt besucht am am 1. 6. 2011) S. 39-121. Bidwell-Steiner, Marlen (Hg.) (2011): Obskure Dif- Lacan, Jacques ([1949] 1966): „Das Spiegelstadi- ferenzen: Psychoanalyse und Gender Studies. um als Bildner der Ichfunktion“, in: Ders.: Schrif- Gießen: Psychosozial Verlag (im Erscheinen). ten I. Weinheim, Berlin: Quadriga, S. 61-70. Butler, Judith (1991): Das Unbehagen der Ge- Lacan, Jacques ([1953] 1966): „Funktion und Feld schlechter. Frankfurt/M.: Suhrkamp. des Sprechens und der Sprache in der Psycho- Butler, Judith (1995): “Melancholisches Geschlecht analyse“, in: Ders.: Schriften I. Weinheim, Ber- /Verweigerte Identifizierung”, in: dieselbe (1997): lin: Quadriga, S. 71-169. Psyche der Macht. Das Subjekt der Unterwer- Lacan, Jacques ( [1958] 1966): „Die Bedeutung fung. Frankfurt/M.: Suhrkamp. des Phallus“, in: Ders.: Schriften II. Weinheim, Copjec, Joan (1995): Lies mein Begehren. Lacan Berlin: Quadriga, S. 71-169. gegen die Historisten. München: Kirchheim. Lacan, Jacques (1972-1973): “Gott und das Genie- dieStandard.at: „Eine Große der Women’s Studies ßen der Frau”, in: Encore. Das Seminar, Buch in Wien. Diskussion mit Juliet Mitchell über den XX (1972-1973). Weinheim, Berlin: Quadriga, S. Beitrag der Psychoanalyse zum Verständnis 71-84. von Sexualität, Körper und Geschlecht“ vom 27. Laplanche, Jean (2007): “Gender, Sex, and the Mai 2010, in: diestandard.at, http://diestandard. Sexual”, in: Studies in Gender and Sexuality, at/1271377503318/Workshop--Vortrag-Eine- 8/2007: S. 201-219. Grosse-der-Womens-Studies-in-Wien (zuletzt Laquièze-Waniek, Eva (2011): „Melancholie und besucht am 1. 6. 2011). Geschlecht“, in: Rosa. Die Zeitschrift für Ge- Feministische Studien (1993): Kritik der Kategorie schlechterforschung, Nr. 42, Schwerpunkt: Psy- „Geschlecht“. 11. Jg., Nr. 2/1993. choanalyse und Geschlechterforschung, Uni- Freud, Sigmund (1905): “Drei Abhandlungen zur versität Zürich. Sexualtheorie”, in: Band IV. (1904-1905) der Mitchell, Juliet (1978): Frauenbewegung – Frauen- Gesammelten Werke 1999. Frankfurt/M.: Fi- befreiung. Münster: Verl. Frauenpolitik. scher Taschenbuch Verlag. Mitchell, Juliet (1973): Psychoanalyse und Femi- Freud, Sigmund (1916): „Trauer und Melancholie“, nismus. Freud, Reich, Laing und die Frauenbe- in: Band X (1913-1917) der Gesammelten Wer- wegung. Frankfurt/M.: Suhrkamp. ke 1999. Frankfurt/M.: Fischer Taschenbuch Mitchell, Juliet (1987): Frauen – die längste Revo- Verlag. lution. Feminismus, Literatur, Psycho-analyse. Freud, Sigmund (1923): „Das Ich und das Es“, in: Frankfurt/M. : S. Fischer. Band XIII (1920-24) der Gesammelten Werke Mitchell, Juliet (2000): Mad Men and Medusas: Re- 1999. Frankfurt/M.: Fischer Taschenbuch Ver- claiming Hysteria and the Effects of Sibling Re- lag. lations on the Human Condition. London: Allen Härtel, Insa (2004): “Das ‘weibliche Genießen’ Lane, The Penguin Press. umkreisen: Ambivalente Lektüren”, in: Riss. Mitchell, Juliet (2003): Siblings. Sex and Violence. Zeitschrift für Psychoanalyse. Freud – Lacan. Cambridge: Polity Press. Schwerpunktnummer: Geschlechterdifferenz. Mitchell, Juliet (2005): „Psychologische Implikatio- 19. Jg., Band 61, 2004/III: S.75-90. nen demographischer Veränderungen: Ersetzt Kadi, Ulrike (2006): „Kein Körper, keine Frau“, in: das kinderlose ,Gender’ den mit Fortpflanzung RISS, Zeitschrift für Psychoanalyse, verbundenen Geschlechtsunterschied? Was Referat Genderforschung der Universität Wien 2011 8
P s y c h o a n a ly s e u n d G e n d e r S t u d i e s wir von Geschwistern lernen können“, in: Texte: Turnheim, Michael (2009): Mit der Vernunft Psychoanalyse. Ästhetik. Kulturkritik. Heft schlafen. Das Verhältnis Lacan – Derrida. Ber- 3/2005: S. 96-109. lin u. a.: Diaphanes. Mitchell, Juliet / Rose, Jacqueline (Hg.) (1985): Zizek, Slovoj (1999): Die Tücke des Subjekts. Feminine Sexuality. Jacques Lacan and the Frankfurt/M.: Suhrkamp. école freudienne. New York, London: W. W. Nor- ton & Company. Mitchell, Juliett (2007): “Pro-Creative mothers and Endnote: Childfree-sisters”, in: Browne, Jude (Hg.): The Future of Gender. Cambridge: Cambridge Uni- versity Press. 1 Umso mehr freue ich mich, an dieser Stelle auch Money, John (1955): „Hermaphroditism, Gender davon noch berichten zu können, dass diesen Dia- and Precocity in Hyperadrenocorticism: Psycho- log herzustellen, nicht nur zu den inhaltlichen Ziel- logical Findings“, in: Bulletin of the John Hop- setzungen des Seminars zählte, sondern ansatz- kins Medical Journal, 96: S. 254-258. weise auch auf institutioneller Ebene stattfand. So Nagl-Docekal, Herta (1999): Feministische Phi- nahmen einige Studierende des seit geraumer Zeit losophie. Ergebnisse, Probleme, Per-spektiven. bestehenden Erweiterungscurriculums Psycho- Frankfurt/M.: Fischer Taschenbuch Verlag. analyse an dem Seminar des Referats Genderfor- Reiche, Reimut (1997): “Gender ohne Sex. Ge- schung teil. Dabei soll erwähnt werden, dass die- schichte, Funktion und Funktionswandel des ses Erweiterungscurriculum den Studierenden die Begriffs ,Gender’”, in: Psyche, Zeitschrift für Möglichkeit gibt, an der Universität Wien die Grund- Psychoanalyse und ihre Anwendungen, 1997, lagen, Theorien, Methoden und die Geschichte der 51, S. 9-10. Psychoanalyse im Rahmen einer disziplinübergrei- Reiche, Reimut (2005): „Das Rätsel der Sexuali- fenden Schwerpunktbildung, die von der Fakultät sierung“, in: Quindeau, Ilka/ Sigusch, Volkmar für Bildungswissenschaften organisiert wird, zu (Hg.): Freud und das Sexuelle. Neue psycho- studieren. analytische und sozialwissenschaftliche Per- spektiven. Frankfurt, New York: Campus. Scott, Joan W. (1986): “Gender: Eine nützliche Die Autorin: Kategorie der historischen Analyse“, in: Kai- ser, Nancy (Hg.): Selbst Bewußt. Frauen in den USA. Leipzig: Reclam, S. 27-73. Eva Laquièze-Waniek, Mag.aphil., Dr.inphil, Lehrbe- Soiland, Tove (2010): Luce Irigarays Denken der auftragte am Institut für Philosophie sowie am Re- sexuellen Differenz. Eine dritte Position im Streit ferat für Genderforschung der Universitäten Wien zwischen Lacan und den Historisten. Wien: Tu- und Klagenfurt; Studium der Philosophie, deutsche ria + Kant. Philologie, Psychologie und Pädagogik an den Uni- Soiland, Tove (2011): „Lacan und das Problem der versitäten Wien, Graz und Berkeley. 2009-2011 Lei- Geschichtlichkeit. Sind die Gender Studies zu tung (mit Prof. Dr. Robert Pfaller) des WWTF-For- wenig politisch?“, in: Rosa. Die Zeitschrift für schungsprojektes: „Übertragungen: Psychoanaly- Geschlechterforschung 2011, Heft 42. S. 32- se – Kunst – Gesellschaft“, (darin verantwortlich 35., (http://www.rosa.uzh.ch/doku.php?id=start, für den Schwerpunkt Geschlecht), das gemeinsam Letzter Zugriff am 28.06.2011). mit der “Forschungsgruppe Psychoanalyse Stuzzi- Stoller, Robert J. (1968): Sex and Gender. The de- cadenti” im Rahmen des „Art(s) and Science Call velopment of masculinity and femininity. New 2008“ des Wiener Wissenschafts-, Forschungs- York: Science House. und Technologiefonds (WWTF) durchgeführt wird; Referat Genderforschung der Universität Wien 2011 9
P s y c h o a n a ly s e u n d G e n d e r S t u d i e s in diesem Rahmen: Post-Doc-Stelle am Institut für Philosophie der Universität Wien. Forschungs- schwerpunkte: Philosophische Gender Studies, Psychoanalyse, Ästhetik und Sprachphilosophie sowie Schnittstellen von Wissenschaft und Kunst. Publikationen siehe: http://waniek.philo.at Referat Genderforschung der Universität Wien 2011 10
P s y c h o a n a ly s e u n d G e n d e r S t u d i e s Geht’s nur um Ödipus und die Eltern? Die absenten Geschwister der klassischen Psychoanalyse von Christine Metzler Einleitung warum Geschwister in der Psychoanalyse wichti- ge Einflussfaktoren sind. In welcher Form finden Geschwister in der gängigen Freud'schen Theorie Sigmund Freud, der Begründer der klassischen Platz? Gibt es Andockstellen für Geschwister oder Psychoanalyse, selbst Vater von sechs Kindern, müsste die Theorie grundlegend adaptiert werden? hat Geschwister in seiner psychoanalytischen The- Im Folgenden werden Kernstücke der Ansätze von orie nicht eingehend betrachtet. Sein Modell ist Mitchell betrachtet und im Zuge dessen hinterfragt, durchzogen von Begrifflichkeiten, die sich auf eine welche Voraussetzungen gegeben sein müssten, vertikale Ebene, zwischen Vater-Mutter einerseits, damit Geschwister tatsächlich verstärkt Einzug in und Kind(ern) andererseits, beziehen. Die kenn- die Psychoanalyse nehmen könnten. zeichnenden Theoreme der Psychoanalyse – etwa der Kastrations-Komplex und der Ödipus-Komplex – folgen in spezifischer Weise der patriarchal ge- Die absenten Geschwister in der klassischen prägten westlichen Weltanschauung zu Freuds Psychoanalyse Schaffenszeit, der vorletzten Jahrhundertwende. Basierend auf den kulturellen Anschauungen wer- den die individuellen Objekt- bzw. Subjektpositio- In einem Interview mit der Zeitschrift OCTOBER nen in der Eltern-Kind-Beziehung definiert. Die seit bemängelt Mitchell, dass Geschwister in der kli- den 1960ern publizierende feministische Psycho- nischen Psychoanalyse zwar vorkommen, dies analytikerin und renommierte Universitätsprofesso- jedoch als Randphänomen oder dann, wenn sie rin Juliet Mitchell befasst sich in ihren letzten zwei seitens der AnalysandInnen manifest benannt wer- Monographien eingehend mit dem Phänomen der den, etwa wie folgt: „Oh Gott, du bist genau wie Hysterie, Mad Men and Medusas (2000), und mit meine große Schwester!“ (vgl. Mitchell 2004: 14). der Rolle von Geschwistern in der Psychoanalyse, Latente Inhalte, die Geschwister oder Geschwister- Siblings. Sex and Violence (2003). Mitchell bezieht beziehungen betreffen, bleiben hingegen so lange sich auf eine Bandbreite an Fällen aus der Praxis im Verborgenen, als es am systematisierten theo- von Freud, Melanie Klein, Jacques Lacan und wei- retischen Zugang in der Grundlagentheorie fehlt. teren. Dabei zeigt sie die Brisanz von Geschwis- Dabei gelten in der Psychoanalyse gerade die terbeziehungen, von männlicher Hysterie und von latenten Inhalte als die gehaltvollen. Als logische Gewalt in einer Weise auf, die die Frage aufwirft, Konsequenz veranschlagt Mitchell die Notwendig- wie Freud und nachgehende PsychoanalytikerIn- keit eines horizontalen Zugangs in der Theorie der nen auf diese Aspekte verzichten konnten. Mit ihrer Psychoanalyse. Dieser soll neben dem gegenwär- Kritik am vertikalen Paradigma der Psychoanalyse tigen Vater-Mutter-Kind Modell den professionel- liefert die Feministin Diskussionspunkte, die nicht len Einbezug von Geschwistern ermöglichen (vgl. zuletzt für die Weiterentwicklung der Gender The- ebd.: 10) und diese Dynamik nicht nur als eine Ver- orie interes-sant sind. (vgl. Mitchell 2000; 2003) längerung des Ödipus-Komplexes analysiert bezie- Der vorliegende Beitrag konzentriert sich auf das hungsweise vertikal-elterlichen Mustern unterge- Potenzial von Geschwisterbeziehungen in der Psy- jocht werden. Um die Relevanz von Geschwistern choanalyse. Zunächst stellt sich die Frage, ob und in der Psychoanalyse zu erkennen, musste auch Referat Genderforschung der Universität Wien 2011 11
P s y c h o a n a ly s e u n d G e n d e r S t u d i e s für Mitchell zunächst der Ödipus-Komplex aus ih- satz zur Sexual Difference keine Identifikation mit rem Betrachtungsfeld rücken: Sie analysierte die der Mutter oder dem Vater voraussetzt. Butler wür- Hysterie nach allen ödipalen Gesichtspunkten, de dies übersehen und mit ihrem Verständnis von und: „suddenly this rock moved aside to reveal the- Gender in letztlich binären und reproduktiv orien- se dancing children“ (ebd.: 14). tierten Gedankenbahnen verharren (vgl. Mitchell Besonders intensiv ist auch Mitchells Auseinander- 2007: 167). Mitchell versucht herauszuheben, dass setzung mit dem Werk Melanie Kleins, da sich Klein Gender nicht binär, sondern polymorph pervers1 or- ausführlich mit Kindern und Geschwistern befasst. ganisiert ist: Trotz der intensiven psychoanalytischen Arbeit mit Kindern bleibt Kleins theoretischer Ansatz ödipal: “I think gender has always been with us, and gender transformation has always been with „Klein’s reading of siblings as parents is us, and it is cross-culturally always with us. standard practice […] My hunch is that child Men have parthenogenic fantasies of giving patients first forced siblings on Klein’s at- birth, and they have hysterical fantasies. tention and she understood them brilliantly When siblings are sex partners, the relation- while conforming to a Freudian Oedipal the- ship is not primarily a reproductive one. It’s a ory“ (Mitchell 2003:119). sexual play“ (Mitchell 2004: 14). Beispielhaft fungiert bei Klein der Bruder eines Wenn Mitchell konstatiert, dass Gender immer da Jungen als sein Vatersubstitut, da letzterer nicht gewesen sei, hat sie ein inklusives Modell im Kopf, präsent ist und zwischen den Geschwistern qua- sie spricht damit gleichsam die sexuellen Aspekte si ein vertikales Vater-Kind Konstrukt entsteht. Für in der Beziehung zwischen Mutter und Kind, Mann Mitchell stellt sich anhand dieser Interpretation die und Frau, Frau und Frau oder Mann und Mann an Frage, ob die Liebe zu einem Bruder oder einer (ebd. 2007: 164). Schwester nicht von Grund auf anderer Natur ist als die gegenüber den Eltern (vgl. Mitchell 2003:117). Gender und Sexual Difference (Sexuelle Dif- ferenz): Nicht-reproduktive und reproduktive Mitchells Kritik am Sex-Gender-Begriff der Sexualität Postmoderne Mitchell unterscheidet in ihrer Analyse kategorial Mitchell steht in Opposition zur postmodernen Un- zwischen Gender und Sexual Difference. Im Fol- terscheidung von Sex und Gender wie sie Judith genden wird näher auf die beiden Begrifflichkeiten Butler vertritt. Butler konstatiere lediglich das, was eingegangen und betrachtet, in welcher Weise die- von vornherein offensichtlich und schon immer da- se Differenzierung zur Voraussetzung der Wahr- gewesen sei: nämlich ein Begriff von Gender, der nehmung von Geschwistern in der Psychoanalyse dem Modell der sexuellen Differenz anhafte. Mit- wird. chell verneint die Kernaussage aus Butlers Gender Trouble (1991): Während Butler davon überzeugt Mitchells Verständnis von Gender definiert sich da- ist, dass durch das Bestehen der Homosexuali- durch, dass es sich von der reproduktiven Sexu-al- tät die Dominanz der Heterosexualität (zumindest ität abgrenzt. Anhand des Konzeptes Gender kön- auf theoretischer Ebene) zerrüttet wird, begründet nen deshalb Beziehungsrealitäten wie Brüder- und Mitchell den Unterschied zwischen Gender und Schwesternschaften, in denen reproduktive Sexu- Sex(ual differenc)e darin, dass Gender im Gegen- alität normgemäß keine auschlaggebende Deter- Referat Genderforschung der Universität Wien 2011 12
P s y c h o a n a ly s e u n d G e n d e r S t u d i e s minante darstellt, beschrieben werden. So steht Freud’schen Psychoanalyse unterliegt der Ideolo- die für Mitchell äußerst bedeutsame feministische gie der sexuellen Differenz. Sexualität wird in el- Bewegung stark unter dem Akzent der Schwes- terliche und insofern heterosexuelle reproduktive ternschaft im Sinne der Gender Difference und der Bahnen gezwungen (Mitchell 2003:114; Übers.: Bedingung non-reproduktiver Sexualität (Mitchell C.M.). Brüder und Schwestern verkörpern insofern 2007:172): „Feminism highlights a propensity to kaum mehr etwas anderes als die Differenz inner- emphasise lateral gender difference over vertical halb der geschwisterlichen Gleichheit (vgl. Mitchell sexual difference“ (ebd.:174). 2007:177). In diesem Modell erhalten Geschwister keinen theoretisch fundierten Raum, sie finden sich Zwar sind die VertreterInnen der klassischen Psy- letztlich als zusätzlichen Einflussfaktor im vertika- choanalyse überzeugt, dass es sich bei den Ge- len Paradigma wieder. Für Geschwister liegt in der schlechtern um binäre Pole handelt, sie räumen Psychoanalyse nach Freud ein additives Verständ- Frauen und Männern jedoch die gleichen Voraus- nis vor, Geschwister gelten als ein Faktor, der mehr setzungen für eine männliche2 Sexualität ein und oder wenig beliebig betrachtet oder beiseite ge- gestehen ihnen insofern dieselben Phantasien zu. lassen werden kann (vgl. Mitchell 2003:114). Das In der rein psychischen Sphäre können auch bei- Konzept der ‚sexuellen Differenz‘ bezieht sich auf de Geschlechter gebären (ebd.:176). In Anlehung das biologische Faktum, dass zur sexuellen Repro- daran spricht sich Mitchell dafür aus, dass sowohl duktion (noch immer) zwei Geschlechter benötigt die ödipale, reproduktive Sexualität als auch die la- werden. Es steht somit vorrangig im Dienste der terale nicht-reproduktive Sexualität nebeneinander sexuellen Fortpflanzung. bestehen können: Lacan kommt, wie zuvor Freud, zur Ablehnung ei- “I suggest that there is both Oedipal repro- ner Theorie des Geschlechtsunterschieds als ei- ductive sexuality (and its repression of per- ner vorgegebenen Trennung sich geschlechtlich versity) and lateral non-reproductive sexua- ergänzender Wesen (ebd.:168). Nach Lacan liegt lity with its own prohibitions and permissions die Ursache der Geschlechterdifferenz im Kastra- which produces non-sexual sisterhood and tionskomplex begründet, nämlich im Phallus. So- brotherhood, or sexual but non-reproductive wohl der kleine Junge als auch das kleine Mädchen partnership, same gender or not the same haben idealtypisch die Mutter als erstes Liebesob- gender; the chastity or the ecstasy of the jekt, welches für sie den Phallus verkörpert. Dem group” (ebd.:177). nicht erlaubten Wunsch nach der Mutter folgt die Geschlechterdifferenzierung: Für den Jungen en- Aufgrund des vorherrschenden vertikalen Paradig- det der Ödipuskomplex, für das Mädchen beginnt mas – der Triangulation Vater-Mutter-Kind – in der er zu diesem Zeitpunkt. Von nun an wünscht sich Psychoanalyse, wird das horizontale Paradig-ma das Mädchen den Phallus zu besitzen, während – die Geschwisterebene – verdrängt (ebd.:177). der Junge denselben zu repräsentieren versucht Im vertikal organisierten Ödipus-Komplex begehrt (ebd.:169). Kennzeichnend für Lacans Freud- der Junge laut Freud entweder die Mutter oder Interpretation ist, dass die Kastrationsdrohung im die Schwester. Gilt das Begehren der Schwester, Kastrationskomplex keinem bereits existenten so wird dies paradoxerweise als Verschiebung auf „Mädchen-Subjekt“ oder „Jungen-Subjekt“ ange- die elterliche Ebene gesehen und nicht als Phäno- tan wird, sondern Mädchen erst zu Mädchen und men auf horizontaler, geschwisterlicher Ebene er- Burschen erst zu Burschen macht (ebd.: 170; Her- achtet (vgl. ebd.:177). Der geschwisterlichen Ebe- vorhebung durch J.M.). Die sexuelle Differenz ist ne wird damit per se ihr potenzieller spezifischer somit keine unmittelbare, von vornherein essenti- Bedeutungshorizont entzogen: Die Theorie der elle Gegebenheit, sondern entsteht erst durch den Referat Genderforschung der Universität Wien 2011 13
P s y c h o a n a ly s e u n d G e n d e r S t u d i e s Prozess (vgl. Mitchell 1987:170). Daran anknüp- tieren kann, dass es eines von vielen realen bzw. fend schlägt Mitchell anstelle des Ödipus Komple- potentiellen Geschwistern ist. Durch diesen Pro- xes einen Antigone-Komplex vor: Antigones Gesetz zess gewinnt das Kind Selbstvertrauen und wird würde lauten: „different but equal“ – Mädchen und erstmals zum sozialen Wesen (Mitchell 2007: 183). Burschen werden nicht dadurch definiert, was ih- Mitchell zieht die Metapher der Schneeflocke heran. nen fehlt, sondern in positiver Weise anhand des- Schneeflocken sind in ihrer Art alle gleich, und doch sen, was tatsächlich da ist (Mitchell 1987:128). ist eine jede – wie jedes Kind in der Geschwisterrei- he - für sich einzigartig. Zentral ist, dass das neue Baby den Platz des alten einnimmt und dieses da- „Traumatische Subjektivierung“: Der Über- durch das Glied einer Serie wird. Dem Kind geht es gang vom Einzelkind zur Geschwisterserie nicht darum, ob das Neugeborene männlich oder weiblich ist. Das neue Geschwister bricht die binä- re Logik, die der Triangulation des Ödipus-Komplex Mitchell betrachtet Geschwister in Hinblick auf den zugrunde liegt (Mitchell 2003:131). Das Konzept Todestrieb als essentiell für die Psychoanalyse. der Serialität setzt Mitchells zuvor beschriebenes Schon das durch Freud bekannt gewordene Fort/ Verständnis von Gender voraus; die Konzeption Da Spiel3 des Kindes markiert die Auseinanderset- der sexuellen Differenz ist in dieser Deutung nicht zung mit Verlust und Tod. Mitchell ist der Auffas- hilfreich. sung, dass sich die ödipale Gewalt, der Wunsch den Vater oder die Mutter zu töten, auch auf Ge- schwister überträgt. Die Gewalt gegenüber einem Fazit Bruder oder einer Schwester hat dennoch andere Wurzeln als die gegenüber einem Elternteil. Erklär- bar wird dies durch den Übergangsritus vom „Baby“ Spielen Eltern und die vertikale Ebene tatsächlich zum kleinen Mädchen bzw. kleinen Burschen. Als- immer die Hauptrolle? Mitchell würde die Frage für bald ein Geschwisterteil erwartet wird, ist das Da- die Psychoanalyse vehement verneinen. Sie macht sein als das „Baby“ in der Familie ernsthaft gefähr- mit ihren Ausführungen deutlich, dass die Sphäre det. Das Kind fürchtet um sein Dasein und sucht in der Geschwister in der therapeutischen Auseinan- der Babyposition zu verharren: „I want to be that dersetzung in vielen Fällen aufschluss-reichstes baby sister, because that’s me, so I put on nappies Material bietet. again. Or I want to be the mother and produce that Als Ergebnis ihrer Analysen liefert Mitchell ein baby” (Mitchell 2004: 11). Weder darf das Kind das verbindliches Genderverständnis und den geschwis- Baby bleiben, noch kann es selbst ein Kind gebä- terlichen Serialitätsbegriff. Hierin eröffnen sich pro- ren. Diese Situation stellt ein Trauma der Nichte- gressive Zugänge zur neuerlichen Betrachtung von xistenz dar, dessen Ausweg die Neupositionierung Geschwistern in der psychoana-lytischen Theorie. des Selbst als Junge oder als Mädchen ist (Mitchell Auch wenn Geschwisterbeziehungen ein großes 2003:183). Nach Lacan findet sich das betroffene Potenzial für die Psychoanalyse darstellen, kann Kind in einer hysterischen Reaktion, in welcher es letzteres nur genutzt werden, wenn die Bereitschaft dem Zwang unterliegt, einzigartig zu sein. Hier geht dazu vorhanden ist, Geschwistern die nötige Ba- es dem Kind nicht um die Frage, ob es männlich sis in der psychoanalytischen Grundlagentheorie oder weiblich ist, sondern in existenzieller Weise zu verschaffen. Solange die Theorie dem Potenzi- darum, ob es überhaupt ist. (vgl. Lacan in Mitchell al der Praxis nachhinkt, können Aspekte, die Ge- 2003:133) schwister betreffen, schlicht nicht in ihrer latenten Das „neue“ Baby stellt erst zu dem Zeitpunkt keine Komplexität aufgegriffen werden. massive Bedrohung mehr da, als das Kind akzep- Referat Genderforschung der Universität Wien 2011 14
P s y c h o a n a ly s e u n d G e n d e r S t u d i e s Verwendete Literatur: lung folgt in dem Sinne keinem per se definierbaren Ziel. Mauser, Wolfram; Pfeiffer, Joachim (2006): Freuds 2 Freud geht davon aus, dass der Sexualtrieb per Aktualität. [psychoanalytisch-literaturwissen- se aktiv und männlich ist; d.h. Frauen wie Männer schaftliche Arbeitstagung zum Thema Freuds haben eine männliche Sexualität (vgl. Quindeau Aktualität am 27. und 28. Januar 2006 in Frei- 2005:65). burg]. Würzburg: Königshausen & Neumann. 3 Das Fort/Da Spiel geht aus Freuds Beobachtung Mitchell, Juliet (1985): Psychoanalyse und Femi- des kindlichen Spiels mit einer Spule hervor. Das nismus. Freud, Reich, Laing und die Frauenbe- Hin- und Wegbewegen der Spule symbolisiert die wegung. Frankfurt/M: Suhrkamp. An- und Abwesenheit der Mutter und stellt eine Mitchell, Juliet (1987): Frauen, die längste Revo- Strategie dar, mit dem Verlust fertig zu werden (vgl. lution. Feminismus, Literatur, Psychoanalyse. Pabst 2004:33). Frankfurt/Main: S. Fischer. Mitchell, Juliet (2000): Mad Men and Medusa. Re- claiming Hysteria and the Sibling Relationship for the Human Condition. London: Allen Lane, Die Autorin: The Penguin Press. Mitchell, Juliet (2003): Siblings. Sex and Violence. Christine Metzler hat die Fachhochschule für Sozi- Cambridge: Polity Press. ale Arbeit am Management Center Innsbruck absol- Garb, Tamar; Nixon, Mignon (2004): A Conversation viert und studiert seit 2009 im Master Gender Stu- with Juliet Mitchell. http://mitpress.mit.edu/jour- dies an der Universität Wien. Sie ist darüber hinaus nals/pdf/octo_113_9_26_0.pdf (Zugriff: 28.09.10) in der Behindertenarbeit tätig. Ihr Forschungsinter- ZEITSCHRIFT OCTOBER. S. 9-26. esse liegt in der Konstruktion von Behinderung und Mitchell, Juliet (2007): Pro-Creative mothers and Geschlecht. Childfree-sisters. In: Brown, Jude (Hg): The Fu- ture of Gender. Cambridge: Cambridge Univer- sity Press, S. 163-188. Pabst, Manfred (2004): Bild - Sprache - Sub- jekt. Traumtexte und Diskurseffekte bei Freud, Lacan, Derrida, Beckett und Deleuze/Guattari. Würzburg: Königshausen und Neumann. Quindeau, Ilka; Sigusch, Volkmar (2005): Freud und das Sexuelle. Neue psychoanalytische und sexualwissenschaftliche Perspektiven. Frank- furt/Main: Campus. Endnoten: 1 In den Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie (1905) bezeichnet Freud die kindliche Perversion in Abgrenzung zur erwachsenen als „polymorph pervers“. Diese Ausprägung der Sexualität kann sich oral, anal und an allen Haut- und Körperstellen ereignen (Quindeau 2005:104); die sexuelle Hand- Referat Genderforschung der Universität Wien 2011 15
P s y c h o a n a ly s e u n d G e n d e r S t u d i e s Ödipus – too big to fall? Anmerkungen zu Freuds Antikerezeption von Theodora Oberperfler Einführung Mythos und Drama des Ödipus Rex „Ödipuskomplex“, „Inzest“, „Tabu“, „Narzissmus“, Ödipus ist ein unauslöschlicher Bestandteil des „Eros“ oder „Penisneid“ gehören mittlerweile zum abendländischen kollektiven Bewußtseins. Seine Grundvokabular zeitgenössischer Ratgeber-Literatur Geschichte als Vatermörder und Muttergeliebter genauso wie die gut gemeinten Verhaltensrezepte wider Willen bietet einen idealtypischen Resonanz- selbsternannter SeelendoktorInnen. Längst haben raum und eine überzeitliche Projektionsfläche für sich diese Kernbegriffe psychoanalytischer For- Kunst, Philosophie und Psychologie. Die Meisterer- schung aus ihrer narrativen und historischen Kon- zählung, wie wir sie heute kennen, wurde nachhal- textualität gelöst und die Langlebigkeit und Leben- tig durch das Drama des Sophokles (ca. 430 v.Chr.) digkeit antiker mythologischer Figuren bestätigt. bestimmt. Bei Homer ist die Geschichte in einer kur- Was interessierte aber den Wissenschaftler und zen Erwähnung im elften Gesang in der Odyssee Arzt Freud am Mythos, oder anders gefragt: War noch wenig ausgeschmückt; im Zentrum stehen der Rückgriff auf antike mythische Figuren für sei- lediglich der Vatermord und der Inzest mit der Mut- ne neue Wissenschaftstheorie des Unbewussten, ter, die sich – kinderlos – das Leben nimmt. Erst in der Psychoanalyse, notwendige Legitimationsstra- der nachhomerischen Dichtung wird der Kern des tegie, mögliche Vergleichsreferenz, methodisches Mythos mit zusätzlichen Geschichten – der Orakel- Modell oder Suche nach Konzeptualisierung, um spruch, das Rätsel der Sphinx, die Geschichte der sich gegenüber dominanten Wissenschaften zu Antigone – angereichert, die schließlich Eingang in etablieren? die wirkmächtigste Verschriftlichung durch Sopho- kles finden. Für die Jahrhunderte währende Fas- „Wenn es stimmt – wie von Seiten der psy- zination und andauernde Erfolgsgeschichte sind choanalytischen Forschung oft be-hauptet mehrere inhaltliche Aspekte verantwortlich: Einer- wurde –, dass die Kluft zwischen Psycho- seits die Frage nach der Schuld beziehungsweise analyse und den zeitgenössischen Wis- Unschuld des Ödipus. Bei Sophokles erkennt der senschaften so groß war, dass erstere ge- Held das Ausmaß und Grauen seiner Tat, sieht sich zwungen war, die Grundlagen ihrer Aussage aber nicht als Schuldiger, eher als Schuldbelade- weit weg, ja sogar im Mythos zu suchen, so ner, als Kind von Frevlern. Nach Pfeiffer wird damit stimmt es auch, dass Freud sie so weit wie das Verhältnis von Wissen und Schuld, vor allem möglich suchte“ (Traverso 2003: 18). aber die Frage nach der Möglichkeit und den Be- dingungen individuellen Handelns angesichts einer Freuds Indienstnahme der Klassik möchte ich am strukturell komplexen Objektwelt, in die das Sub- Mythos des Ödipus Rex exemplarisch und pro- jekt unentrinnbar eingebunden ist, diskutiert (Pfeif- grammatisch diskutieren; es soll danach gefragt fer 2000: 35). Anderseits werden der Drang und werden, warum Freud vorwiegend männliche My- das Bestreben des Ödipus, „Licht“ in die eigene thenfiguren für seine Theoriebildung fruchtbar Geschichte zu bringen, als zentrale Thematik des machte und welche Konsequenzen sich für einen Dramas begriffen. Mir scheint aber jene Metaebene feministischen Zugang zur Psychoanalyse dabei noch wichtiger zu sein, wo es um den Prozess der ergeben. Erforschung tief verborgener Wünsche, Ängste und Referat Genderforschung der Universität Wien 2011 16
P s y c h o a n a ly s e u n d G e n d e r S t u d i e S Abwehrmechanismen geht, und wo die latent Seelenleben de facto implizit die Äquiva- präsente Gefahr des unvermeidbaren, eigenen lenz beziehungsweise wechselseitige Aus- inzestuösen Begehrens als ein zentrales Moment tausch-barkeit der Begriffe ‘Wirklichkeit’ und individueller Subjektkonstitution über den eigentli- ‘Phantasie’ postulierte“ (Traverso 2000: 89). chen Plot hinaus führt. Laut Freud setzt dieser Ödipuskomplex im Alter von vier bis fünf Jahren ein und bezeichnet das Vom Ödipus Rex zum Ödipuskomplex „psychische Liebesdrama“ (Pechriggl 2009: 104), das jedes Individuum auf dem Wege der Subjekt- genese zu durchlaufen hat. In ihrer Arbeit über den Freuds Rückgriff auf den Mythos des Ödipus ist Eros erläutert Pechriggl Freuds positiven (norma- neben dem Verweis auf eine humanistisch-bil- len) und negativen (konträren) Ödipuskomplex; dungsbürgerliche Tradition auch als Reflexion über normal im Sinne, persönlich Erlebtes zu lesen. „dass der Knabe die Mutter liebt (also zum „Ich habe die Verliebtheit in die Mutter und Liebesobjekt macht) und mit dem Vater, mit die Eifersucht gegen den Vater auch bei mir dem er sich zugleich identifiziert, rivalisiert. gefunden und halte sie jetzt für ein allgemei- Das Mädchen nimmt den umgekehrten Ver- nes Ereignis früherer Kindheit (…) Wenn lauf, nachdem es sich vom allerersten Lie- das so ist, so versteht man die packende besobjekt, der Mutter, abzulösen beginnt: Macht des Königs Ödipus trotz aller Ein- Sie wählt dann den Vater als Liebesobjekt wendungen, die der Verstand gegen die Fa- und rivalisiert mit der Mutter“ (ebd.) tumsvoraussetzungen erhebt (…) Die grie- chische Sage greift einen Zwang auf, den Der konträre Ödipuskomplex bestehe darin, jeder anerkennt, weil er dessen Existenz in sich verspürt hat. Jeder der Hörer war ein- „dass der Bub sich auch mit der Mutter mal im Keime und in der Phantasie ein sol- (oder mit Teilen der Mutter) identifiziert, das cher Ödipus und vor der hier in die Realität heißt auch mit ihr rivalisiert, und den Vater gezogenen Traumerfüllung schaudert jeder zum Liebesobjekt macht, während umge- zurück mit dem ganzen Betrag der Verdrän- kehrt das Mädchen die Mutter als Liebesob- gung, der seinen infantilen Zustand von sei- jekt, das sie ja (in den meisten Fällen) von nem heutigen trennt“ (Freud, Brief an Fließ Anfang an war, nicht ganz aufgibt, sondern Nr.71 vom 15. Oktober 1897; zitiert nach mehr oder weniger beibehält“ (ebd.). Mitchell 1985: 85). Interessant scheinen mir die sich daraus erge- Diese sehr sorgsame Arbeit der Selbstanalyse gip- benden Folgen: Überwiegt der normale Ödipus, felt bei Freud 1910 in der Entdeckung des struktur- neigt der Eros des Buben oder des Mädchens zum bedingten Ödipuskomplexes: anderen Geschlecht, beim konträren Ödipus ten- diert der Eros des Subjektes eher zum gleichen „jenes unbewussten Projektionsmechanis- Geschlecht; ob hier der Grund dafür zu finden ist, mus, der, mit der Annahme der schuldlosen dass die Mainstream-Psychoanalyse in Theorie Schuld des Inzest-Wunsches beim Kinde und klinischer Praxis den konträren Ödipus prak- als möglicher Ursache der Neurose, nicht tisch ausgelöscht hat, um dem normalen Ödipus nur die Eltern von der realen Schuld befrei- idealtypisch – weil normgerecht und heterosexu- te, sondern gleichzeitig für das unbewusste ell – zum definitiven Durchbruch zu verhelfen? So Referat Genderforschung der Universität Wien 2011 17
P s y c h o a n a ly s e u n d G e n d e r S t u d i e s meint Pechriggl: zwischen Leben und Tod“ (2001). Ihre epistemische Variante der Ödipusgeschichte ist gleichzeitig auch „Das betrifft nicht nur die ‘heteronormative’ eine kritische Auseinandersetzung mit bisherigen Sexualpolitik psychoanalytischer Institutio- Interpretationen und Auslegungsversuchen die- nen, sondern vor allem unser eigenes Ima- ser fiktionalen, aber doch sehr starken weiblichen gi-näres, ja unsere eigene sexuelle Identifi- Persönlichkeit: Einmal in der feministischen Lesart kation. Ein Beispiel: Wenn wir, durch diesen von Irigaray, die in Antigone das Prinzip weiblichen Normierungsprozess bedingt, vorwiegend Widerstands schlechthin verkörpert sieht; „aber“, im Register konträrgeschlechtlicher Objekt- wendet Butler ein, „diese Antigone ist eine Fiktion, wahl phantasieren und (Vorstellungs-)Lust noch dazu eine, die sich nicht so leicht zum Vorbild empfinden, dann hat dies zumindest im An- machen läßt, dem man folgen könnte, ohne sel- satz homophobe Auswirkungen auf unsere ber Gefahr zu laufen, in die Irrealität abzudriften“ gleichgeschlechtliche Objektwahl, sei sie (Butler 2001: 12). Wenn Hegel behauptet, Antigo- nun bewusst oder unbewusst, implizit oder ne repräsentiere das Gesetz des Hauses, während explizit sexuell“ (Pechriggl 2010, Abstract sich ihr Onkel Kreon für das Gesetz des Staates zur Ringvorlesung „Genderes Subjects“ verantwortlich zeichne mit der Konsequenz, dass vom 12.1.2010, Universität Wien). die Verwandtschaft im Konflikt zwischen beiden, der Staatsgewalt als letzte Gerechtigkeitsinstanz weichen müsse, so hält Butler entgegen, dass Antigone, Tochter/Schwester des Ödipus Rex Antigone in ein derart inzestuöses Erbe verstrickt sei, dass sie kaum für die normativen Prinzipien der Verwandschaft stehen könne; ihr Vater Ödipus Wenn Freud aus der großen Narration des Ödipus sei zugleich ihr Bruder, und ihre Brüder seien ihre Rex von Sophokles sich ausschließlich auf die Fi- Neffen, Söhne ihres Bruder-Vaters. Das impliziere, gur des Ödipus konzentriert und dessen Tochter/ dass Verwandtschaft keine Situation, sondern ein Schwester Antigone in ihrem Bedeutungspotential Geflecht von sozialen und normativen Handlungs- derartig marginalisiert, dann ist das meines Erach- und Bezeichnungspraktiken sei (ebd.). Schließlich tens keine neutrale, ausschließlich wissenschaft- rechnet Butler noch mit der Psychoanalyse Lacans liche oder zufällige Entscheidung, sondern eine und dem Strukturalismus von Lèvi-Strauss ab, in- ideologische. Diese prototypische Vereinnahmung sofern diese das verbotene Begehren zwischen Va- männlicher Mythenfiguren möchte ich im Folgen- ter-Tochter und Mutter-Sohn als gegeben voraus- den einer kritischen Musterung unterziehen; damit setzen und das Inzesttabu zum fundamentalen, un- stellt sich die Frage nach dem Ödipus revisited. umstößlichen Prinzip der Verwandtschaft erklären. Wäre es nicht an der Zeit, eine psychoanalytische Theoriebildung mit der Frage nach der Sicht von „Wenn Verwandtschaftsbeziehungen zu ei- Weiblichkeit innerhalb der Mythenmetaphorik als ner Bedrohung für die staatliche Autorität epistemologische Variante anzudenken? Oder an- werden und der Staat sich gewaltsam gegen ders gefragt: Was wäre geschehen, wenn Freud diese Verwandtschaftsbeziehungen wendet den psychoanalytischen Diskurs im antiken Refe- – können diese beiden Begriffe dann über- renzreigen nicht mit Ödipus, sondern mit Antigone haupt noch ihre wechselseitige Unabhängig- – wie es die Chronologie bei Sophokles vorsah – keit behaupten? Dieses Problem wird zu ei- eröffnet hätte? nem textuellen Problem von einiger Wichtig- keit, denn Antigone spricht in ihrer strafbaren Der Figur der Antigone nähert sich auch Butler in Lage, in die sie sich begeben hat, im Namen ihrem Buch „Antigones Verlangen: Verwandtschaft von Politik und Gesetz: Sie eignet sich ge- Referat Genderforschung der Universität Wien 2011 18
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