PARITÄT inform - ARMUT IST KEIN KINDERSPIEL - BADEN-WÜRTTEMBERG | März 2020 - PARITÄTischer Wohlfahrtsverband ...

 
WEITER LESEN
PARITÄT inform - ARMUT IST KEIN KINDERSPIEL - BADEN-WÜRTTEMBERG | März 2020 - PARITÄTischer Wohlfahrtsverband ...
PARITÄTinform
          BADEN-WÜ RT T E MB E RG | März 2020

     ARMUT IST KEIN KINDERSPIEL
E 13795                                     ISSN 2198-9575
PARITÄT inform - ARMUT IST KEIN KINDERSPIEL - BADEN-WÜRTTEMBERG | März 2020 - PARITÄTischer Wohlfahrtsverband ...
Impressum                                  INHALT
PARITÄTinform
                                           4 · KINDERARMUT
  Das Nachrichtenmagazin des
  PARITÄTISCHEN
                                              ■   Armut ist kein Kinderspiel
  ISSN 2198-9575                              ■   Interview mit Sozialminister Manne Lucha
                                                  „Starke Kinder – chancenreich“ – Strategie zur Bekämpfung von Kinderarmut
Herausgeber                                   ■   Tübinger Präventionskonzept gegen Kinderarmut
  Deutscher Paritätischer
                                              ■   Kindergrundsicherung – Existenzminimum für alle Kinder
  Wohlfahrtsverband
  Landesverband
                                              ■   Arm dran?! Ohne Bildung wird es schwer
  Baden-Württemberg e. V.                     ■   Fürsorge muss als Leistung bei der Rente honoriert werden
  Hauptstraße 28 · 70563 Stuttgart            ■   „Flexible Hilfen“ als Maßnahme gegen Kinderarmut
  Tel. 0711 2155-0 · info@paritaet-bw.de
                                              ■   Projekt reGINA: Aktiv gegen Kinderarmut
  www.paritaet-bw.de
                                              ■   Im zweiten Wohnzimmer: In den Offenen Treffs werden
Verantwortlich                                    Selbstwirksamkeit erfahrbar und Stärken gestärkt
  Ursel Wolfgramm,                            ■   Wenn die Familie zum Wohnungsnotfall wird
  Vorstandsvorsitzende                        ■   Chancengleichheit für geflüchtete Kinder und Jugendliche
Redaktion
                                              ■   Social inclusion labs für kids and youngsters –
  Rolf Schaible (Gesamtredaktion),                neues Projekt gegen Kinderarmut und soziale Ausgrenzung
  Deborah Castello, Dr. Hermann Frank,
  Svenja Hasenberg, Dr. Steffi Hunnius,
                                           28 · FACHBEREICHE
  Bernd Löhle, Hina Marquart,
  Petra Mostbacher-Dix (MD),
                                              ■   Qualifizierung von Vereinsbegleiter*innen
  Ralf Nuglisch, Sabine Oswald,               ■   Neues Fachkräfteeinwanderungsgesetz –
  Torsten Rothfuss, Christina Rüdenauer,          Ein Baustein, um dem Fachkräftemangel zu begegnen
  Karin Seng, Ulrike Sinner,
  Regina Steinkemper u.v.a.
                                           32 · NACHRICHTEN UND SCHL AGLICHTER AUS DEM VERBAND
Satz, Gestaltung
und Anzeigenmarketing                      34 · L ANDESVERBAND
  Kreativ plus, Gesellschaft für Werbung
                                              ■   Aktuelles aus dem Aufsichtsrat
  und Kommunikation mbH, Stuttgart
  Tel. 0711 2155-105                          ■   Akademie: Virtueller Besprechungs- und Seminarraum
  help@kreativplus.com
                                           35 · PARITÄT VOR ORT
Druck
  Druckerei Raisch GmbH + Co. KG
                                              ■   Bodenseekreis: Auftakt Regionalverbund und
  Reutlingen                                      Hilfe für Vereine bei der Digitalisierung
                                              ■   Baden-Baden/Rastatt: Sozialpolitischer Dialog
Erscheinungsweise
  vierteljährlich
                                              ■   Karlsruhe: Berufsmixer – Heute schon geshakert?
                                              ■   Nordschwarzwald: Regionalverbund nimmt seine Arbeit auf
Bezugspreis                                   ■   Konstanz: Austausch mit dem Sozialdezernenten
  Im Mitgliedsbeitrag enthalten.
  Jahres­abonnement 8 Euro für
  Nichtmitglieder                          38 · NEUE MITGLIEDSORGANISATIONEN

Auflage
  4.700 Exemplare

Fotos
  Archiv, Mitgliedsorganisationen,
  iStockphoto, Shutterstock, AdobeStock,
  Pixelio, Pixabay und Unsplash

  Bitte beachten Sie die Beilage der
  Paritätischen Akademie Süd.
PARITÄT inform - ARMUT IST KEIN KINDERSPIEL - BADEN-WÜRTTEMBERG | März 2020 - PARITÄTischer Wohlfahrtsverband ...
EDITORIAL

ARMUT IST KEIN KINDERSPIEL!
Fast jedes fünfte Kind in Deutschland ist von Armut betroffen, die Zahlen
für Baden-Württemberg sind nahezu identisch. In anderen Bundesländern
sieht es noch düsterer aus. In Bremen zum Beispiel leben 33 Prozent der
Kinder unterhalb der Armutsgrenze, in Berlin sind es knapp 30 Prozent,
27 Prozent in Leipzig.

Armut in einem reichen Bundesland wie unserem, da sind sich alle einig, das darf nicht
sein, das ist ein Skandal. Und doch gibt es sie. Sie zeigt sich, wo Kinder sich mit kaltem
Wasser waschen müssen, zu Hause kein elektrisches Licht und warme Mahlzeiten haben,
weil der Strom abgestellt ist. Sie zeigt sich, wo Kinder kein eigenes Zimmer haben, sondern
auf dem Klappsofa im Wohnzimmer schlafen müssen, weil das Geld der Familie nicht für
eine größere Wohnung reicht.

Armutsbetroffene Kinder, das belegen zahlreiche Studien, haben ein signifikant höheres
Krankheitsrisiko, bekommen aber aus verschiedenen Gründen nicht die Behandlungsmög-
lichkeiten, die sie bräuchten. Armutsbetroffene Kinder müssen von Anfang an lernen, mit
weniger Sicherheit, mit existenzieller Angst, mit weniger Chancen und Würde auszukom-
men. Einen Großteil ihrer Kraft verwenden sie darauf, sich mit diesen Problemen ausein-
anderzusetzen, ihre Situation zu verheimlichen – an ein unbeschwertes Aufwachsen ist
für diese Kinder nicht zu denken.

Das baden-württembergische Sozialministerium hat das Jahr 2020 zum Schwerpunktjahr
gegen Kinderarmut ausgerufen, das begrüßen wir sehr. Es wird – hoffentlich – den Blick
der Öffentlichkeit trotz Corona-Krise auf die Schwächsten unserer Gesellschaft lenken. Was
es jedoch braucht, um Kinderarmut von den Ursachen her zu bekämpfen, sind strukturelle
Veränderungen auf allen politischen Ebenen. Das erfordert Mut und Pioniergeist seitens
der politisch Verantwortlichen – und Solidarität von uns allen.

Ursel Wolfgramm
Vorstandsvorsitzende

                                                                                  Umwelt- und ressourcenfreundlich
                                                                                  Nachhaltigkeit ist uns wichtig.
                                                                                  Deshalb wird PARITÄTInform ab sofort
                                                                                  auf Recyclingpapier gedruckt.
                                                                                  Wir wünschen eine informative,
                                                                                  nachhaltige Lektüre!

                                                                                        |   PARITÄTinform   | März 2020 |   3
PARITÄT inform - ARMUT IST KEIN KINDERSPIEL - BADEN-WÜRTTEMBERG | März 2020 - PARITÄTischer Wohlfahrtsverband ...
ARMUT
                                        IST KEIN
                                        KINDER-
                                         SPIEL!

                                        Armut beschämt, grenzt aus, entmutigt.
                                    Gegenwärtig ist in Baden-Württemberg rund jedes
                                      fünfte Kind von Armut betroffen. Es braucht
                                       dringend Maßnahmen, um Kinderarmut zu
                                    bekämpfen, denn Teilhabe ist ein Menschenrecht.

4   |   PARITÄTinform   | März 2020 |
PARITÄT inform - ARMUT IST KEIN KINDERSPIEL - BADEN-WÜRTTEMBERG | März 2020 - PARITÄTischer Wohlfahrtsverband ...
KINDERARMUT

W                   er die Allgemeine Erklärung der Men-
                    schenrechte der Vereinten Nationen
                    ernst nimmt, für den dürfte außer
Frage stehen: Kinderarmut, noch dazu in einem reichen
(Bundes-)Land wie unserem, das darf nicht sein, das ist ein
Skandal. Gleich in Artikel 1 steht:
                                                                hin immer dünnhäutiger und ängstlicher wird und die Kinder
                                                                spüren, in welch bedrohter Existenz sie aufwachsen.

                                                                Armutsbetroffene Kinder, das belegen zahlreiche Studien, ha-
                                                                ben ein signifikant höheres Krankheitsrisiko, bekommen aber
                                                                aus verschiedenen Gründen nicht die Behandlungsmöglich-
                                                                keiten, die sie bräuchten. Armutsbetroffene Kinder müssen
„Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten        von Anfang an lernen, mit weniger Sicherheit, mit existenziel-
 geboren. Sie sind mit Vernunft und Gewissen begabt und         ler Angst, mit weniger Chancen und Würde auszukommen.
  sollen einander im Geiste der Brüderlichkeit begegnen.“
                                                                Einen Großteil ihrer Kraft verwenden sie darauf, sich mit
Nicht minder deutlich liest sich Artikel 2, in dem es heißt:    diesen Problemen auseinanderzusetzen, ihre Situation zu
                                                                verheimlichen – an ein unbeschwertes Aufwachsen ist für
     „Jeder hat Anspruch auf alle in dieser Erklärung           diese Kinder nicht zu denken. Sie fühlen sich gebrandmarkt,
  verkündeten Rechte und Freiheiten, ohne irgendeinen           lernen, dass sie anders sind, dass sie nicht dazugehören –
  Unterschied, etwa nach Rasse, Hautfarbe, Geschlecht,          und dass es nicht von ihnen abhängt, ob sie dazugehören
Sprache, Religion, politischer oder sonstiger Anschauung,       oder nicht. Sie wachsen in einem Umfeld mit Erwachsenen
      nationaler oder sozialer Herkunft, Vermögen,              auf, die ihnen aufgrund der eigenen prekären Situation kei-
             Geburt oder sonstigem Stand.“                      ne Zuversicht ins Leben, keine Sicherheit vermitteln können.
                                                                Arme Familien leben häufig – aus Scham und mangelnden
Zu diesen genannten „Rechten ohne irgendeinen Unter-            Teilhabemöglichkeiten – isoliert, ihre Kinder haben ein ge-
schied“ gehören unter anderem das                               ringes Selbstwertgefühl. Und ein Aufwachsen in Armut, auch
                                                                dies ist vielfach mit Zahlen belegt, bedeutet auch meist ein
      „Recht auf einen Lebensstandard, der seine und            Weiterleben in Armut. Anders gesagt: Armut wird vererbt.
    seiner Familie Gesundheit und Wohl gewährleistet,
  einschließlich Nahrung, Kleidung, Wohnung, ärztliche          Vor allem die Armut der Schwächsten in unserer Gesell-
   Versorgung und notwendige soziale Leistungen“, ein           schaft, die noch keine eigene Verantwortung für ihr Leben
    „Recht auf Bildung, die auf die volle Entfaltung der        tragen, ist ein Skandal. Sie darf nicht sein. Und doch gibt
    menschlichen Persönlichkeit und auf die Stärkung            es sie, mitten unter uns. In einem wohlhabenden Umfeld
        der Achtung vor den Menschenrechten und                 wird Armut noch einmal wesentlich deutlicher erfahren,
      Grundfreiheiten gerichtet sein muss“ oder auch            also für die Betroffenen schlimmer spürbar als in einem
      das „Recht auf soziale und kulturelle Teilhabe“.          durchschnittlichen Umfeld. Das heißt, dass armutsbetrof-
                                                                fene Menschen in einem reichen Bundesland wie Baden-
Es gibt vermutlich kaum jemanden, der dem nicht zustim-         Württemberg stärker von mangelnden Teilhabemöglichkei-
men würde – und dennoch: Allein im reichen Baden-Würt-          ten betroffen sind als in anderen Gegenden Deutschlands.
temberg ist jedes fünfte Kind armutsbetroffen, in anderen
Bundesländern sehen die Zahlen noch düsterer aus. In            Vielfältige Ursachen
Bremen zum Beispiel leben 33 Prozent der Kinder unter-
halb der Armutsgrenze, in Berlin sind es knapp 30 Prozent,      Armut ist ein komplexes Problem, sie hat viele Facetten –
27 Prozent in Leipzig.                                          und viele Ursachen. So ist Kinderarmut natürlich immer
                                                                auch die Armut der Eltern. Sowohl deutschlandweit als
Armut hat viele Facetten                                        auch in Baden-Württemberg steigt die Armutsgefährdung
                                                                besonders bei kinderreichen Familien. Im Zehnjahresver-
Schon die bloßen Zahlen sind erschreckend, viel schlimmer       gleich nahm die Zahl der von Armut betroffenen kinder-
ist jedoch die Realität dahinter. Armut zeigt sich, wo Kinder   reichen Familien, also jenen mit drei oder mehr Kindern,
aus Scham die Einladung zum Kindergeburtstag nicht anneh-       um 22,4 Prozent zu. Nach wie vor hoch sind die Zahlen für
men, weil die Familie kein Geld für ein Geschenk hat. Armut     Alleinerziehende, hier sind noch immer 41,5 Prozent von
zeigt sich, wo Kinder nicht an Klassenfahrten und Schulaus-     Armut betroffen mit leicht steigender Tendenz. Man muss
flügen teilnehmen können – mit vorgeschobenen Begrün-           also leider sagen, dass Kinder in Deutschland ein Armuts-
dungen. Armut zeigt sich, wo Kinder sich mit kaltem Wasser      risiko mit vielfältigen Ursachen sind. Zum einen sinkt die
waschen müssen, zu Hause kein elektrisches Licht und war-       Möglichkeit der Erwerbstätigkeit von Müttern häufig mit
me Mahlzeiten haben, weil der Strom abgestellt ist. Und Ar-     jedem Kind, allein wegen mangelnder oder unzureichen-
mut zeigt sich auch da, wo die Mutter zum Ende des Monats       der Betreuungsangebote. Zum anderen fallen Ausgaben für

                                                                                         |   PARITÄTinform   | März 2020 |   5
PARITÄT inform - ARMUT IST KEIN KINDERSPIEL - BADEN-WÜRTTEMBERG | März 2020 - PARITÄTischer Wohlfahrtsverband ...
KINDERARMUT

Kinder wie Windeln, passende Bekleidung, Schulausflüge
bei einkommensschwachen Familien wesentlich stärker ins               Forderungen des PARITÄTISCHEN
Gewicht als bei einkommensstarken Familien. Auch steigt
die ohnehin schon hohe Mietbelastung mit jedem Kind               Um Kinderarmut entgegenzuwirken, braucht es also
bzw. mit jedem zusätzlichen Raumbedarf.                           ebenfalls Zweierlei: Materielle Unterstützung, aber auch
                                                                  strukturelle Veränderungen, die langfristig das Entstehen
Niedrige Einkommen durch prekäre Arbeitsverhältnisse              von Armutslagen reduzieren.
sowie die besondere Situation von Alleinerziehenden sind
jedoch laut Statistik die Hauptgründe für fehlendes Geld in       Einige der Forderungen des PARITÄTISCHEN an die politi-
Familien und damit auch die wichtigsten Auslöser für Kin-         schen Entscheidungsträger sind folgende:
derarmut in Deutschland. Und es ist kein bloßer Eindruck,
dass die Schere „Reich-Arm“ immer weiter auseinander              n   Nach Berechnungen des PARITÄTISCHEN ist auf der
geht, sondern Tatsache. Gründe hierfür sind zum Beispiel          Grundlage der gegebenen Systematik eine sofortige
die Spreizung der Löhne und Gehälter, die seit 1995 dras-         Erhöhung der Regelsätze von derzeit 424 auf 582 Euro
tisch zunahm sowie eine diese Ungleichheiten begünsti-            angezeigt. Die Regelsatzermittlung für Kinder ist darüber
gende Steuerpolitik. So haben wohlhabende Haushalte zum           hinaus wissenschaftlich kaum haltbar und muss völlig
Beispiel von einer Senkung des Spitzensteuersatzes und ei-        neu aufgestellt werden. Die Einrichtung einer unabhän-
ner Reform der Erbschaftssteuer profitiert, während ärmere        gigen Expert*innenkommission zur grundsätzlichen
Haushalte durch höhere indirekte Steuern weiter belastet          Überprüfung der Regelsatzherleitung ist damit ange-
wurden. Christoph Butterwegge, Armutsforscher und Pro-            zeigt. Darüber hinaus sind weitere passgenaue Hilfen
fessor an der Universität Köln, unterstellt gar, dass es keinen   für Langzeitarbeitslose (Stichwort öffentlich geförderter
politischen Willen zur Bekämpfung von Kinderarmut gebe:           Arbeitsmarkt), aber auch eine Erhöhung des Mindest-
„Würde man die Hartz-IV-Sätze anheben und die Eltern              lohns notwendig.
stärken, müsste man ebenfalls den Mindestlohn anheben,
damit der Lohnabstand zu den Sozialleistungsbeziehern             n   Grundlegende, strukturelle Reformen des Bildungs-
fortbesteht.“ Erschreckend ist jedoch auch, dass 32 Prozent       systems wie längeres gemeinsames Lernen und die Ein-
aller Erwerbstätigen in Deutschland von Armut bedroht             führung der verbindlichen Ganztagsschule bis 15:00 Uhr.
sind. Diese Menschen können kaum von ihrem Lohn leben,
weil er zu gering ist, die Mieten zu hoch sind usw.               n   Die unübersichtliche Vielzahl von Leistungen für Kin-
                                                                  der ist, soweit wie möglich, von einer bedarfsdeckenden
Chancengerechtigkeit durch Bildung                                und einkommensorientierten Kindergrundsicherung
                                                                  abzulösen. Es geht um ein existenzsicherndes Kinder-
Um den Armutskreislauf langfristig zu durchbrechen, müs-          geld, das mit zunehmendem Einkommen der Eltern
sen jedoch über den monetären Ansatz hinaus die Ursa-             abgeschmolzen wird. Der Kinderlastenausgleich würde
chen in der Bildungspolitik angeschaut werden. Von der            damit endlich „vom Kopf auf die Füße” gestellt: Wer
Chancengleichheit der UN-Charta für Menschenrechte sind           wenig hat, bekommt am meisten, wer am meisten hat,
die meisten deutschen Bundesländer noch weit entfernt.            nur das, was allen verfassungsrechtlich zusteht. Kein*e
Um eine Chancengerechtigkeit für alle Kinder herzustellen,        Erwerbstätige*r müsste mit Hartz IV aufstocken, nur weil
bräuchte es verbindliche pädagogische Ganztagsangebote            das Erwerbseinkommen nicht auch noch für die Kinder
und – wie es sich in den skandinavischen Ländern zeigt –          reicht.
ein längeres gemeinsames Lernen aller Kinder und keine
frühe Trennung nach Leistung. In Baden-Württemberg fehlt          n  Das in der Praxis nicht funktionierende Teilhabe-
noch beides. Doch Kinder, denen bereits in den ersten Le-         paket ist durch einen subjektiv einklagbaren Rechts-
bens- und Schuljahren Chancengleichheit verwehrt wird,            anspruch auf Teilhabe im Kinder- und Jugendhilfe-
haben später ungleich größere Mühe, den bereits einge-            gesetz zu ersetzen. Mit gesetzlichen Vorgaben im
schlagenen Pfad der Bildungsferne wieder zu verlassen.            Rahmen der Jugendhilfeplanung ist sicherzustellen,
                                                                         dass Kinder aus einkommensschwachen Fami-
                                                                         lien in besonderer Weise bei Jugendhilfeleis­
                                                                         tungen und insbesondere Teilhabeleistungen
»   Kontakt                                                              im Zusammenspiel mit den freien Trägern der
    Deborah Castello, Stabsstelle                                        Jugendhilfe Berücksichtigung finden.
    Grundsatzfragen und Lobbyarbeit
    Der PARITÄTISCHE Baden-Württemberg
    castello@paritaet-bw.de, www.paritaet-bw.de

6        |   PARITÄTinform   | März 2020 |
PARITÄT inform - ARMUT IST KEIN KINDERSPIEL - BADEN-WÜRTTEMBERG | März 2020 - PARITÄTischer Wohlfahrtsverband ...
„STARKE KINDER – CHANCENREICH“
                  Strategie zur Bekämpfung von Kinderarmut
Das Ministerium für Soziales und Integration hat das Jahr       Unter den Sozialleistungen für Familien gibt es noch immer
2020 zum Aktionsjahr gegen Kinderarmut ausgerufen.              solche, die gegeneinander angerechnet werden. Was muss
PARITÄTinform sprach mit Sozialminister Manne Lucha             sich aus Ihrer Sicht bei den Familienleistungen ändern?
über die Maßnahmen, die das Land plant, um Kinder-
armut erfolgreich zu bekämpfen.                                 Wir müssen endlich aufhören, an einzelnen Stellschrauben
                                                                in einem System zu drehen, das selbst Fachleute nicht mehr
Was konkret sind die Ziele dieses Aktionsjahres?                durchschauen, um dann einmal mehr festzustellen, dass die
                                                                Leistungen nicht ankommen und wir immer wieder harte
Manne Lucha Mit unserer Strategie „Starke Kinder – Chan-        Brüche an den Schnittstellen haben. Deshalb müssen wir aus
cenreich“ wollen wir für Kinder und deren Familien in allen     den Schnittstellen endlich Nahtstellen machen. Um Kinder-
Lebenslagen entsprechende Förderung und Unterstüt-              armut wirklich zu bekämpfen, brauchen wir außerdem eine
zungsangebote bereitstellen. Ziel ist es, Kinderarmut zu be-    Kindergrundsicherung ohne kompliziertes Antragsverfahren.
kämpfen beziehungsweise die damit verbundenen Folgen            Diese Kindergrundsicherung sollte den Mindestbedarf jedes
abzumildern. Bereits Ende vergangenen Jahres haben wir          Kindes decken und sich daran orientieren, was Kinder und
neun Projekte gegen Kinderarmut mit rund fünf Millionen         Jugendliche zu einem guten Aufwachsen tatsächlich brau-
Euro unterstützt. Zusätzlich planen wir, die bereits beste-     chen. Die derzeitigen familienpolitischen Leistungen (Kinder-
henden Präventionsnetzwerke gegen Kinderarmut weiter            geld, Kinderzuschlag, SGB-II-Regelleistungen und pauschale
auszubauen, die Akteure untereinander besser zu vernet-         Leistungen des Bildungs- und Teilhabepaketes) müssen dann
zen und auch über das Thema Kinderarmut umfassender             in diese Kindergrundsicherung integriert werden.
aufzuklären. Dazu wird es auch gemeinsam mit der LIGA
einen Kongress im Herbst dieses Jahres geben. Denn klar         Das Thema gesundheitliche Vorsorge (zum Beispiel
ist: Beim Ziel, Kinderarmut zu bekämpfen, sind wir auf die      regel­mäßige Vorsorgeuntersuchungen bei Kinder- und
Zusammenarbeit mit Kommunen, Kirchen, der freien Wohl-          Zahnärzten, gesunde Ernährung) kommt häufig bei
fahrtspflege und vielen weiteren Akteuren angewiesen.           kinder­reichen Familien bzw. auch bei Familien mit Migra-
                                                                tionshintergrund noch immer nicht umfänglich an bzw.
Noch immer ist in einem reichen Land wie Deutschland,           fehlen diesen Familien häufig Informationen darüber, was
in einem reichen Bundesland wie Baden-Württemberg das           ihnen dies­bezüglich zur Verfügung stünde. Wo sehen Sie
Thema Armut eng mit dem Thema Chancengerechtigkeit              Möglich­keiten, diese Situation für die Kinder zu verbessern?
verknüpft. Was müsste sich an unserem Bildungssystem
ändern, um hier frühzeitig die Weichen richtig zu stellen       Die Erfahrung hat gezeigt, dass Gesundheitsprävention
bzw. um kein Kind zurückzulassen?                               immer dann am effektivsten ist, wenn diese von einem
                                                                engmaschigen Netz aus Fachkräften des Gesundheits- und
Teilhabe darf keine Frage des Geldbeutels sein. Gute Bil-       Bildungswesens, Lehr- und Betreuungskräften, Familienbil-
dungsangebote für Kinder und Jugendliche in Kindertages-        dungszentren und von Verantwortlichen aus der Kommune
einrichtungen und in der Schule sind entscheidend dafür,        getragen oder initiiert wird. Um die gesundheitliche Versor-
dass sie sich gut integrieren und ihren Platz in der Gesell-    gung für die betreffenden Familien zu verbessern, haben
schaft finden können. Mit unserem Einsatz für eine gute Qua-    wir deshalb finanzielle Mittel für den Auf- und Ausbau von
lität in der Kinderbetreuung, den Ausbau der Ganztagsschu-      Präventionsnetzwerken mit dem Schwerpunkt Gesundheit
len und für eine gute Vereinbarkeit von Familie und Beruf       zur Verfügung gestellt. An sechs Standorten bei uns im
sind wir hier auf dem richtigen Weg. Als Integrationsminister   Land gibt es bereits solche Netzwerke. Auch in unserem
ist mir aber auch besonders die Sprachförderung wichtig.        Schwerpunktjahr gegen Kinderarmut setzen wir diese För-
Denn das Erlernen und die erfolgreiche Anwendung der            derung fort. Bis zum Jahr 2030 sollen dann in allen 44 Stadt-
deutschen Sprache ist die Schlüsselqualifikation, um gleich-    und Landkreisen entsprechende Präventionsnetzwerke ihre
berechtigte Chancen im Bildungssystem zu schaffen.              Arbeit aufnehmen.

                                                                                         |   PARITÄTinform   | März 2020 |   7
PARITÄT inform - ARMUT IST KEIN KINDERSPIEL - BADEN-WÜRTTEMBERG | März 2020 - PARITÄTischer Wohlfahrtsverband ...
KINDERARMUT

PRÄVENTIONSKONZEPT GEGEN KINDERARMUT
Tübinger AnsprechPartner*innen (TAPs) für Kinderchancen und Tübinger Kinderfonds

TÜBINGEN Der „Tübinger Weg“ der Kinderarmutsprävention zeigt, dass eine Stadt sehr viel tun kann: Durch
präventive Maßnahmen, die in den Stadtteilen verankert sind, leicht erreichbar und gut vernetzt, können die
Teilhabe- und Entwicklungschancen aller Kinder deutlich gestärkt werden. PARITÄTinform sprach mit der Tübin-
ger Sozialbürgermeisterin Dr. Daniela Harsch und der Familienbeauftragten Elisabeth Stauber über das Tübinger
Präventionskonzept gegen Kinderarmut.

                    Warum ist der Stadt Tübingen das Thema         unsere Angebote fortlaufend. Dabei verstehen wir Armut
                     Kinderarmuts­prävention so wichtig?           als Mangel an Entwicklungs- und Teilhabechancen, was
                                                                   nicht alleine auf materielle Armut zu reduzieren ist.
                       Daniela Harsch Auch in einer von
                       vielen als wohlhabend wahrgenom-            Welches zusätzliche Maßnahmenbündel zur Prävention
                      menen Stadt wie Tübingen leben Kin-          von Kinderarmut hat die Stadt Tübingen geschnürt?
                     der in materieller Armut. Nur ist diese oft
                  verdeckt. Es sind Kinder, die beispielsweise     Elisabeth Stauber Wir haben ein sehr umfassendes Maß-
keine Freunde einladen können oder keinen Ort für unge-            nahmenpaket, um nur die wichtigsten Dinge zu nennen:
störtes Lernen haben, weil die Wohnung beengt ist. 2019            die Einführung der KreisBonusCard mit rund 80 ermäßigten
lebte jedes siebte Kind in der Stadt zumindest teilweise von       Angeboten, um Teilhabe für alle zu ermöglichen. Vieles ist
Sozialleistungen, weil das Einkommen der Eltern nicht aus-         sogar kostenfrei, zum Beispiel Ferienfreizeiten, Sportange-
reicht. Uns ist es wichtig, dass alle Kinder und Jugendlichen      bote. Den Nahverkehr haben wir sehr stark ermäßigt, kos-
an den vielfältigen Angeboten der Stadt teilhaben können           tenfreie Gebrauchträder und Fahrradreparaturen eingeführt.
und gute Entwicklungschancen bekommen.                             Stadtteilsozialarbeit und offene Familientreffs, Patenschaften
                                                                   und interkulturelle Lotsen, Entlastung für Alleinerziehende
                Welchen Ansatz kindbezogener Armutsprä-            und Hilfe beim beruflichen Wiedereinstieg und schließlich
                   vention sieht das Präventionskonzept            das Projekt TAPs.
                     der Stadt Tübingen vor?
                                                                   Wer waren die Mitwirkenden an der Entwicklung des
                      Elisabeth Stauber Familien, Kinder           Konzepts?
                      und Jugendliche als Ex­pert*innen in ei-
                     gener Sache zu beteiligen, ist uns sehr       Daniela Harsch Das Konzept und alle Maßnahmen wurden
                   wichtig. Eine umfassende Familienbefra-         gemeinsam in Workshops und Sitzungen entwickelt und ab-
                gung in 2014 war unser Ausgangspunkt, um           gestimmt. Die Mitwirkung ist ungebrochen breit angelegt.
zu erfahren, wo es „am meisten brennt“. Wir setzen auf drei        Der Gemeinderat war von Anfang an beteiligt und steht
Ebenen an: erstens an den wichtigsten Lebensbereichen –            hinter der Agenda. Stadtverwaltung, Landkreis, engagierte
Soziale Teilhabe, Existenzsicherung, Bildung und Beruf, Ge-        Bürger*innen, soziale Vereine und Verbände sowie Kirchen
sundheit und Stärkung der Eltern. Zweitens an den Lebens-          arbeiten gleichberechtigt zusammen. Aber auch die Bereiche
phasen – Hilfen von der Geburt bis zum Berufseinstieg. Und         Kultur und Sport sind im Boot, Schulen, Kindertagesstätten
Drittens an den Sozialräumen – gut erreichbare Angebote            und Jugendeinrichtungen. Am Runden Tisch Kinderarmut
in allen Stadtteilen und Quartieren.                               wirken über 50 Partner aus allen Bereichen der Stadt sehr
                                                                   engagiert mit. Ein Lenkungskreis steuert das Ganze.
Auf welcher Datengrundlage bzw. Kriterien baut das
Konzept auf?                                                       Sie haben das Land bei der Landesstrategie gegen
                                                                   Kinderarmut beraten. Was haben Sie unserem
Daniela Harsch Die Kinderarmutsstudie mit über 400 Be-             Sozialminister besonders ans Herz gelegt?
teiligten gab uns Informationen dazu, wo wir hier in der
Stadt ansetzen müssen. Die Tübinger Sozialkonzeption               Daniela Harsch Das Land kann die Kommunen beim Auf-
2015 und der Sozialbericht 2019 liefern spezifische sozi-          bau von Präventionsnetzwerken gegen Kinderarmut un-
alräumliche Daten. Wir wissen, in welchen Stadtteilen wie          terstützen. Die Förderung des Sozialministeriums war zu
viele Familien, Kinder und Jugendliche armutsgefährdet             Beginn auch für Tübingen sehr hilfreich. Gerne geben wir
sind. Wir kennen die Altersstruktur und wissen, wo beson-          unsere Erfahrungen an andere Städte weiter. Die Förderung
ders viele Familien mit Problemlagen leben. Wir überprüfen         von Quartiersarbeit und von Kinder- und Familienzentren

8         |   PARITÄTinform   | März 2020 |
PARITÄT inform - ARMUT IST KEIN KINDERSPIEL - BADEN-WÜRTTEMBERG | März 2020 - PARITÄTischer Wohlfahrtsverband ...
Durch den Mix von städtischer
                                                                  Förderung und Spendenmitteln
                                                                  können wir vieles unkompliziert
                                                                  auf den Weg bringen.

sind sehr sinnvolle Impulse, die das Land setzen kann.         haben eine übersichtliche Broschüre mit den wichtigsten
Besonders wichtig ist aber, die Integrationshilfen für die     Hilfen für Familien erstellt, verschicken fast wöchentliche
geflüchteten Familien, also den Integrationspakt nicht         Newsletter mit Einladungen zu aktuellen Veranstaltungen
einzustellen. Aber auch auf Bundesebene sind die Wei-          für Familien und organisieren den Austausch unter den
chen richtig zu stellen: die Schaffung einer Kindergrund-      TAPs.
sicherung und die Verbesserung des BuT, wie zum Beispiel
Nachhilfe nicht erst bei Versetzungsgefahr.                    Wofür ist der Tübingern Kinderfonds und wie wird er
                                                               genutzt?
Wann und warum wurde das „Netzwerk TAPs“ ins Leben
gerufen?                                                       Daniela Harsch Der Kinderfonds ist ein Spendentopf zur
                                                               Anschubfinanzierung für Projekte gegen Kinderarmut. Er
Elisabeth Stauber Wir haben in 2016 mit dem Aufbau             gewährt keine Einzelfallhilfe, das machen u.a. die Caritas
begonnen. Ziel ist, die vielen Hilfen und Angebote besser      und Diakonie. Durch den Mix von städtischer Förderung
bekannt und leichter zugänglich und damit wirksamer zu         und Spendenmitteln können wir vieles unkompliziert auf
machen. Denn in der Kinderarmutsstudie zeigte sich, dass       den Weg bringen. Auch der Handels- und Gewerbeverein
nicht nur die Familien selber, sondern auch viele Helfende     unterstützt uns mit Spendenboxen in zahlreichen Tübin-
oft nur unzureichendes Wissen darüber haben. Die Grund-        ger Geschäften. Sehr beachtlich ist, wie viele Sponsoren
idee: Tübinger AnsprechPartner*innen für Kinderarmut/          und Spendenmittel gewonnen werden konnten. Hier ist
Kinderchancen an allen Orten zu gewinnen, an denen Kin-        vor allem dem komplett ehrenamtlich organisierten und
der, Jugendliche und Familien häufig anzutreffen sind.         überwiegend spendenfinanzierten Projekt „Schwimmen für
                                                               alle Kinder“ eine ganz große Anerkennung auszusprechen.
Welche Maßnahmen machen das „Netzwerk TAPs“ so
erfolgreich?                                                   Wie erreichen Sie die Familien? Gibt es im Netzwerk
                                                               Ansprechpartner*innen in der jeweiligen Muttersprache?
Elisabeth Stauber Es ist uns gelungen, über 150 ehren-
und hauptamtliche TAPs zu gewinnen und einzuführen.            Elisabeth Stauber Da unser Netzwerk breit aufgestellt ist,
Fast alle Kindertageseinrichtungen, viele Schulen, Jugend-     erreichen wir viele Familien über Schlüsselpersonen und
häuser, Stadtteiltreffs, Vereine aber auch Behörden und Kir-   Vermittler. Im Projekt „INET“ gibt es über 140 ehrenamtliche
chengemeinden beteiligten sich. Sie haben nun eine „TAP“,      und qualifizierte Multiplikator*innen mit Migrationshinter-
die gut über die Hilfen und Angebote informiert ist und        grund, die Sprach- und Verständigungsbarrieren überbrü-
die diese im Team und an die Familien weitergeben kann,        cken können und die Familien bei allen Fragen zu Schule
zum Beispiel über ein schwarzes Brett, einen Elternabend       und Bildung weiterhelfen. Eltern-Info-Cafés in Stadtteiltreffs
oder auch Direktansprache. Die Kitas und Schulen werden        vermitteln Hilfen oder geben Rat in lockerem Rahmen.
auch armutssensibler und achten darauf, zum Beispiel bei       Auch die KreisBonusCard erreicht mit ihren Angeboten sehr
Ausflügen oder Kindergeburtstagen nicht auszugrenzen,          viele Familien; die Angebote werden sehr stark genutzt, wir
Tauschangebote zu organisieren und vieles mehr. Wir            werten es jährlich aus.

                                                                                        |   PARITÄTinform   | März 2020 |   9
PARITÄT inform - ARMUT IST KEIN KINDERSPIEL - BADEN-WÜRTTEMBERG | März 2020 - PARITÄTischer Wohlfahrtsverband ...
KINDERARMUT

                               N Z -
                       I S T E                                                       Wo K inder
                                                                                                    g r und-

                     EX IMUM
                                                                                                       d ra u f
                                                                                      sicher ung
                                                                                                       s auc h
                                                                                      s te h t , m u s

                        I N
                      M ALLE
                                                                                         K inderg r u
                                                                                            sicher ung
                                                                                                         nd-

                          Ü R
                       F D E R!
                                                                                              drin sein

                          K  I N
                                                                             Fot
                                                                              o: M
                                                                               yle
                                                                                   s Ta
                                                                                     n·
                                                                                     Un
                                                                                          spl
                                                                                          ash
BERLIN Eine Kindergrundsicherung soll eine Vielzahl der kindbezoge-
nen Geldleistungen bündeln, um bestehende Ungerechtigkeiten in der
Kinder- und Familienförderung aufzulösen und Kinderarmut wirksam zu
verringern. Denn bis heute ist die Zahl der Kinder und Jugendlichen, die
in Armut aufwachsen, konstant hoch. Dabei ist entscheidend, dass eine
„echte“ Kindergrundsicherung bestimmte Kriterien erfüllt. Denn nur dann
kann sie Kinderarmut nachhaltig und wirkungsvoll verringern.

Mit der Kindergrundsicherung soll die aktuelle Kinder- und      vor­ge­stellt. Um
Familienförderung grundlegend umgestaltet werden. Da-           jedoch den zen-
bei werden zwei zentrale Ziele verfolgt: Da das Existenz-       tralen Zielen Rechnung
minimum für alle Kinder gesichert ist, soll Kinderarmut         tragen zu können, müs-
wirksam verhindert und eine gerechte Kinderförderung            sen bestimmte Kriterien
geschaffen werden. Die vielen Leistungen, die aktuell be-       erfüllt sein:
stehen (wie Kindergeld, Kinderzuschlag, SGB II-Leistungen,
das Bildungs- und Teilhabepaket etc.), erreichen diese Ziele     1   Das Existenzminimum
angesichts der anhaltend hohen Zahlen der Kinderarmut                muss für alle Kinder neu
nicht.1 Die Kritik kompakt zusammengefasst: Sie reichen              und realistisch berechnet
in der Höhe nicht aus. Die Kinderregelsätze werden regel-            werden und tatsächlich an-
mäßig kleingerechnet.2 Zudem erreichen sie viele Kinder              kommen. Dafür braucht es einen
und ihre Familien nicht. Der Kinderzuschlag (für Familien            gesellschaftlichen Diskurs, der in einer
mit kleinen Einkommen) hat eine Nichtinanspruchnahme                 mit unterschiedlichen Akteuren besetzten
von bis zu 70 Prozent und bei Leistungen von sogenannten             Kommission geführt und gebündelt wird.
„Aufstockern“ spricht die Bundesregierung selbst von einer
Dunkelziffer von bis zu 50 Prozent.3                             2   Die Leistung muss sozial gerecht ausgestaltet sein. Die
                                                                     am stärksten von Armut betroffenen Gruppen müssen
Kriterien einer echten Kindergrundsicherung                          deutlich bessergestellt werden, mit steigendem Ein-
                                                                     kommen sinkt die Leistung langsam ab.
Das Bündnis Kindergrundsicherung hat ein Modell entwi-
ckelt, das zentrale Kriterien für eine „echte“ Kindergrundsi-    3   Die Kindergrundsicherung muss einfach, unbürokra-
cherung erfüllt. In den vergangenen zehn Jahren, seit das            tisch und automatisch ausgezahlt werden, damit sie
Bündnis seinen Vorschlag vorgelegt hat, haben auch ande-             bei allen Kindern ankommt.
re Or­ganisationen oder poli­tische Par­teien eigene Modelle

10         |   PARITÄTinform   | März 2020 |
Neuberechnetes Existenzminimum                                  Monatliches Einkommen in Euro,
                                                                Ehepaar, zwei Kinder unter 6 Jahren (Berechnung 2010)
Grundlage einer Kindergrundsicherung ist ein neube-
rechnetes Existenzminimum, das die kindlichen Bedar-                                   1.500
fe berücksichtigt und auf einer verlässlichen Datenbasis                               2.387           2.048*      +16,5 %
fußt. Neben den sogenannten sächlichen Bedarfen für                1.500 (verdeckte Armut)
Nahrung, Kleidung oder Wohnen müssen auch die Kosten                               2.195         1.519            +44,5 %
für Bildung und Teilhabe berücksichtigt werden. Bis die-
se Neuberechnung erfolgt ist, stützt sich das Bündnis auf                              3.000
                                                                                       2.868              2.454        +16,9 %
das von der Bundesregierung alle zwei Jahre neu veröf-
fentlichte kindliche Existenzminimum. Eine bessere Basis                               6.000
gibt es aktuell noch nicht. Für das Jahr 2020 beträgt es 637                           4.589                             4.260       +7,7 %
Euro monatlich. Die Kindergrundsicherung wird sozial aus-
                                                                                       9.000
gestaltet, daher wird der Maximalbetrag mit steigendem                                                                                              +2,5%
                                                                                       6.341                                              6.186
Haushaltseinkommen abgeschmolzen, bis zu einem Mini-
malbetrag von gut 300 Euro im Monat für diejenigen, die               Brutto aktuell                      Vgl. Becker, Irene; Hauser, Richard (2012):
 den Spitzensteuersatz zahlen.                                        Netto aktuell
                                                                                                          Kindergrundsicherung, Kindergeld, Kinderzuschlag –
                                                                                                          eine vergleichende Analyse aktueller Reformvorschläge.
                                                                      Kindergrundsicherung                WSI-Diskussionspapier Nr. 180, Berlin, S. 111f,
            Kinderbezogene Leistungen                                 * Inklusive Transfers               vereinfachte Darstellung.
               in der Grundsicherung
                        Alle pauschalen kindbezogenen          überdurchschnittlichen Wohnkosten. Die Kindergrundsi-
                          Leis­tungen sollen in der Kinder-    cherung soll von einer Stelle wie der Familienkasse oder
                            grundsicherung zusammenge-         der Finanzverwaltung ausbezahlt werden, sodass Bürokra-
                              fasst werden. Dazu gehören       tie abgebaut und Informationen für Familien einfach und
                               der Kinderregelsatz, der Kin-   direkter zugänglich sind.
                                derzuschlag, der Kinderfrei-
                                 betrag, das Kindergeld und    Substanzielle Verminderung von Kinderarmut
                                  der Unterhaltsvorschuss.
                                  Ebenso wie die pauschalen    Die Kindergrundsicherung kann die Kinderarmut deutlich
                                  Anteile aus dem Bildungs-    reduzieren. Die Kinderarmutsquote kann mit einer Kinder-
                                  und Teilhabepaket, wie       grundsicherung bis auf fünf Prozent verringert werden. Zu-
                                 der Schulbedarf von 150       dem werden besonders von Armut betroffene Haushalte
                                 Euro und der 15 Euro-Teil-    besser erreicht als aktuell: Alleinerziehende, Familien mit
                                habegutschein. Sonder- und     mehreren Kindern, verdeckt arme Familien, die keine Leis-
                               Mehrbedarfe sollen weiterhin    tung beantragt haben, profitieren besonders. Viele negative
                             über den jeweilig zuständi-       Folgen, die sich aus einem Aufwachsen in Armut ergeben,
                           gen Träger zusätzlich beantragt     können verhindert werden: Viele Kinder können erreicht
                         werden können: zum Beispiel bei       und die grundlegenden Bedarfe sichergestellt werden,
                      zusätzlichen Kosten im Krankheits-       ohne zu stigmatisieren. So kann das kindliche Existenzmi-
                  fall, im Falle einer Behinderung oder bei    nimum für alle Kinder tatsächlich gesichert werden.

                                                               »    Kontakt
   Bündnis Kindergrundsicherung                                     Jana Liebert, Referentin für
                                                                    soziale Sicherung und Koordinatorin des
   Das Bündnis Kindergrundsicherung setzt sich für                  Bündnisses Kindergrundsicherung
   eine grundlegende Reform der Kinder- und Fami-                   Kinderschutzbund Bundesverband e.V.
   lienförderung ein und fordert eine Vielzahl von                  liebert@dksb.de, www.dksb.de
   Leistungen zu einer neu berechneten Kindergrund-
                                                               1 Vgl. Paritätischer Gesamtverband (2019): 30 Jahre Mauerfall –
   sicherung zusammenzufassen. Dem Bündnis, das                  Ein viergeteiltes Deutschland. Der Paritätische Armutsbericht 2019. Berlin.
   2009 gegründet wurde, gehören 15 Verbände und
                                                               2 Vgl. Paritätischer Gesamtverband (2018): Expertise Regelbedarfe 2018.
   13 Wissenschaftler*innen an. Weitere Informationen            Herleitung und Bestimmung der Regelbedarfe in der Grundsicherung. Berlin, S. 18f.
   unter: www.kinderarmut-hat-folgen.de.                       3 Vgl. Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (2017):
                                                                 Familienreport. Berlin, S.61; vgl. BT-Drucksachen 19/2804, S. 9 f.

                                                                                                   |   PARITÄTinform      | März 2020 |                11
ARM DRAN?!
                               OHNE BILDUNG WIRD
Foto: Klimkin · Pixabay

                                  ES SCHWER
                                                          Bildungsarmut in Deutschland
                                                             und Baden-Württemberg
                                                      STUTTGART Es ist nicht erst seit der letzten PISA-Studie be-
                                                      kannt, dass in Deutschland die soziale Herkunft immer noch
                                                      maßgeblich über den Bildungserfolg entscheidet. Im Vergleich
                                                      zu anderen OECD-Ländern ist die Gruppe der „Bildungsarmen“ in
                                                      Deutschland sehr hoch. Unbestritten ist, dass ein Zusammenhang
                                                      zwischen Armut und Bildungserfolg besteht. Dementsprechend
                                                      gehören Menschen mit unzureichenden Bildungsabschlüssen
                                                      zu der Hauptrisikogruppe für Armut.

                          12   |   PARITÄTinform   | März 2020 |
KINDERARMUT

M                 it seinem Armutsbericht hat der Paritä-
                  tische Gesamtverband darauf hingewie-
                  sen, dass das Bildungspaket nicht aus-
reicht und arme Kinder immer weiter abgehängt werden,
weil das Einkommen der ärmsten Familien in den letzten
zehn Jahren um 3,2 Prozent gesunken ist. In einem wohl-
                                                                              Armutsvermeidung durch Bildungsinvestitionen
                                                                              Bildung gilt als Schlüsselressource bei der Armutsvermei-
                                                                              dung. Eines der größten Probleme, das es zu bekämpfen
                                                                              gibt, sind Bildungsdefizite, die sich von Generation zu Ge-
                                                                              neration sozial weitervererben. Die Mittelschicht hat schon
habenden Land wie Deutschland im Allgemeinen und in                           längere Zeit erkannt, dass Bildung als Schlüssel zum Auf-
einem der reichsten Bundesländer wie Baden-Württemberg                        stieg angesehen werden kann. Dementsprechend haben sie
im Speziellen kommt dies einem „Armutszeugnis“ gleich.                        ihre privaten Investitionen in die Bildung erhöht. Die Schere
                                                                              geht also immer weiter auseinander.
Auch der Bildungsmonitor 20191 hat sich unter anderem mit
dem Zusammenhang von Armut und Bildung beschäftigt                            Wenn die Gesellschaft wirklich mehr Chancengerechtigkeit (in
und die Bildungsarmut in Deutschland untersucht. Dabei                        der Bildung) erreichen will, muss klar sein, dass mehr Geld für
wird die Bildungsarmut auch am Anteil der Absolvent*innen                     Bildung in die Hand genommen und die Bildungsausgaben
gemessen, die das Berufsvorbereitungsjahr (BVJ) erfolgreich                   drastisch erhöht werden müssen. Nur so können sozial be-
abgeschlossen haben. Ebenso wird die Größe der Risiko-                        nachteiligten Kindern die gleichen Bildungschancen wie Kin-
gruppen für Bildungsarmut in den verschiedenen Fachbe-                        dern bildungsnaher Familien geboten werden. Denn es gibt
reichen gemessen. Sachsen hat mit 96,3 Punkten das beste                      nur eines, was eine Volkswirtschaft auf Dauer teurer kommt
Ergebnis. Der bundesdeutsche Durchschnitt liegt bei 55,6                      als eine Investition in Bildung: Keine Investition in Bildung.
Punkten. Baden-Württemberg liegt mit 51,1 Prozent sogar
noch unter dem Durchschnitt. Ein unbefriedigendes Ergeb-
nis für eines der reichsten Bundesländer.                                         Reformvorschläge für die Bildungsförderung
                                                                                  sozial benachteiligter Kinder
Erwerbstätigkeit verringert das Armutsrisiko
                                                                                  Chancengerechtigkeit wird Geld kosten – sehr viel Geld.
Welche Umstände können Armut vermeiden? Hier muss                                 Bevor diese Geldmittel fließen können, müssen einige
ganz klar gesagt werden, dass Erwerbstätigkeit das Armuts-                        Reformen in unserem (Bildungs-)System Einzug finden:
risiko massiv senkt. Menschen, die in Lohn und Brot stehen
und angemessen bezahlt werden, werden wahrscheinlich                                ■   Erhöhung der staatlichen Ausgaben für Schulen,
nie von Armut bedroht sein. Außerdem haben Erwerbstätige                                die einen hohen Schüleranteil aus sozial benachteiligten
oft mehr Teilhabemöglichkeiten innerhalb der Gesellschaft.                              Familien aufweisen
Diese Teilhabe kann zum einen durch die Verfügbarkeit von                           ■   Einführung einer Kindergrundsicherung als Erweiterung
Geld erleichtert werden. Zum anderen entstehen durch die                                des Bildungs- und Teilhabepakets
Ausübung einer Erwerbstätigkeit soziale Kontakte – ein ge-                          ■   Übernahme der Kita-Gebühren für Kinder aus
wisser Status. Und die Menschen fühlen sich eher in eine                                sozial benachteiligten Familien
Gesellschaft eingebunden.                                                           ■   Einführung einer Kita-Pflicht für Kinder ab vier Jahren
                                                                                    ■   Zulagen für Lehrer*innen, die an Schulen mit einer
Da ein gewisser Wohlstand und gesellschaftliche Teilhabe                                großen Anzahl an sozial benachteiligten Schüler*innen
für alle erstrebenswert sind, muss sich die Gesellschaft fol-                           unterrichten
gende Fragen stellen: Was können wir für Risikogruppen                              ■   Grundlegende Strukturreform des deutschen
machen? Wie können wir beispielsweise Kinder aus sozial                                 Schulsystems
benachteiligten Familien fördern, damit sie problemlos einer                        ■   Schülerverteilung auf weiterführende Schulformen
Erwerbstätigkeit nachgehen und der Armutsfalle entkom-                                  (wie z.B. das Gymnasium) erst ab der sechsten Klasse
men können? Darauf gibt es eine kurze und ganz einfache                             ■   Einführung einer verpflichtenden Ganztagsschule
Antwort: Bildung. Wir müssen in ihre Bildung investieren.                               für alle Kinder, die bis mindestens 15:00 Uhr geht
Bildung ist einer der besten Garanten, um eine Erwerbstä-                           ■   Anpassung des Mindestlohns
tigkeit zu erhalten. Je höher der Bildungsabschluss, desto
seltener ist eine Person von Arbeitslosigkeit betroffen.
                                                                              »   Kontakt
                                                                                  Torsten Rothfuss, Referent Bildung
                                                                                  Bereich Jugend und Bildung
                                                                                  DER PARITÄTISCHE Baden-Württemberg
1 Quelle: https://de.statista.com/statistik/daten/studie/593168/umfrage/
  bildungsarmut-an-schulen-in-den-bundeslaendern-nach-dem-bildungsmonitor/,
                                                                                  rothfuss@paritaet-bw.de
  aufgerufen am 22.2.2020.                                                        www.paritaet-bw.de

                                                                                                        |   PARITÄTinform   | März 2020 |   13
KINDERARMUT

                                         EIN THEMA TAUCHT IMMER AUF:
Foto: Drew Hays · Unsplash

                                                                 DIE FINANZEN
                                                      Fürsorge für Kinder wie für Senioren muss als Leistung
                                                                 bei der Rente honoriert werden

                                 TÜBINGEN pro familia wurde 1952 als Deutsche Gesellschaft für Familienplanung, Sexualpädagogik und
                                 Sexualberatung gegründet. Das Themenspektrum des Vereins, der über 180 Beratungsstellen in der Republik hat,
                                 ist indes breiter wie pro familia Tübingen zeigt: Neben prekären Situationen während und nach der Schwanger-
                                 schaft geht es zunehmend um Lebensplanung.

                             S
                             „
                                             ie leben ein gutes Modell!“ Grit Heideker, Ge-
                                             schäftsführerin der pro familia Beratungsstellen
                                             Tübingen und Reutlingen, schildert einen Fall
                                 aus der Praxis. Ein junges Paar einigte sich auf das Wechsel­
                                 modell, also Pendelmodell oder paritätische Doppelresidenz:
                                                                                                 Ihr Kind wohnt je zur Hälfte bei Mutter und Vater. „Beide stu-
                                                                                                 dierten, als sie schwanger wurde“, so Heideker. „Sie trennten
                                                                                                 sich vor der Geburt. Erst war das Kleine mehr bei der Mutter,
                                                                                                 dann klappte die 50:50-Aufteilung.“ Für die Frau sei es nach
                                                                                                 dem Abschluss schwierig gewesen, mit Kind einen Job zu

                                 14         |   PARITÄTinform   | März 2020 |
KINDERARMUT

finden, nun arbeite sie in Teilzeit. Der Mann könne sich als        Runder Tisch Kinderarmut
Freiberufler seine Zeit einteilen. Derlei zu regeln, das klappe
nicht immer so gut, gerade bei hochstrittigen Eltern.               Damit gehe jede Kommune anders um. Die Stadt Tübingen
                                                                    gründete 2014 einen Runden Tisch Kinderarmut mit der Liga
Die Diplom-Lehrerin und Sozialwirtin kennt die Herausfor-           der freien Wohlfahrtspflege und dem Bündnis für Familie Tü-
derungen. „Meist geht die Trennung von einem Partner aus,           bingen, um allen Kindern in der Stadt einen guten Start ins
da gibt es Verletzungen. Das Kind wird mitunter genutzt,            Leben zu ermöglichen. „Klassische Schuldnerberatung bieten
um Macht auszuspielen, etwas heimzuzahlen, auch um zu               andere Einrichtungen im Netzwerk an. Wir informieren über
kränken. Daran müssen beide zum Wohle des Kindes arbei-             Möglichkeiten finanzieller Unterstützung.“ Dazu gehöre etwa
ten, das an erster Stelle steht.“ Das bedeute, die Elternrolle      das Unterhaltsrecht mit Vorschuss oder Anträge bei der Lan-
gut hinzukriegen, obwohl die Paarbeziehung gescheitert              desstiftung „Familien in Not“. Sie wurde 1980 für Familien,
sei, also Beziehungsebene und Elternebene zu trennen. Das           die durch ein schwerwiegendes Ereignis in Not geraten sind,
erwähnte Paar habe es auch deshalb so gut geschafft, weil           gegründet. Auch das Teilhabepaket helfe, so Heideker.
es nicht gewartet habe, bis sich die Probleme häuften, son-
dern schnell bei den Profis Hilfe gesucht hätten. „Wir haben        Bruch in Partnerschaften wird zur Armutsfalle
sie nicht regelmäßig gesehen, immer wenn es kriselte oder
sie Rat brauchten, kamen sie zu unseren Expertinnen.“               Seit der Nachbesserung sind auch Alleinerziehende ein-
                                                                    bezogen. Sie gehören zu den Hauptbetroffenen. Heideker:
Multiprofessionelle Teams beraten                                   „Auch gut ausgebildete Frauen müssen wegen der Kinder-
                                                                    erziehung eine Zeit raus aus dem Beruf beziehungsweise
Die Teams der pro familia in Tübingen, Reutlingen und Au-           können wegen mangelnder passgenauer Betreuungsange-
ßenstellen wie Mössingen sind eigenständig und multipro-            bote nicht Vollzeit arbeiten.“ Damit beginne der klassische
fessionell aufgestellt. Sie hätten vor Ort jeweils Netzwerke        Teufelskreis: weniger Gehalt, weniger Rente später, weni-
geknüpft und Kooperationen, so Heideker. „Wir können uns            ger Geld jetzt – für den Alltag, die Teilhabe an Kultur und
auch vertreten.“ Zu den acht Teilzeitmitarbeitenden in Tü-          Bildung, nicht zuletzt auch für die Miete. „Der Mangel an
bingen gehören etwa Sozial- und Diplompädagoginnen,                 bezahlbarem Wohnraum ist gerade in Ballungsräumen wie
Sozialarbeiterinnen mit Bachelorabschluss, Psychologin-             Tübingen und Reutlingen ein Grund für verschuldete Fami-
nen, Ärztinnen – letzteres: ein Alleinstellungsmerkmal. „pro        lien.“ Ein anderer Klassiker sei, dass der Partner mit geringe-
familia hat sie aus der Entstehungsgeschichte der Schwan-           rem Einkommen, meist die Frau, zuhause beim Kind bleibe
gerschaftskonfliktberatung heraus an Bord“, erläutert sie.          oder einen Minijob ausübe. „So schnappt die Armutsfalle
                                                                    zu, verstärkt, wenn die Partnerschaft in die Brüche geht.“
Wiederkehrendes Thema: die Finanzen                                 Heideker betont, es sei ein Vorurteil, dass Familien staat-
                                                                    liche Unterstützung nicht für ihre Kinder ausgäben. „Die
Kernbereich der Einrichtung ist nach wie vor die Beratung           Eltern stecken lieber selbst zurück!“
und Betreuung von Schwangeren und Eltern in allen Pha-
sen. Abbrüche seien seltener, zu den Hauptanliegen gehöre           Die pro familia-Geschäftsführerin wünscht sich daher ein
heute etwa die Lebensplanung. „Die Frage, wie kann das              Umdenken, wie es Soziologen in Studien längst propa-
gehen mit Kind oder kann ich mir ein weiteres Kind leisten.“        gierten: Fürsorge – für Kinder wie Senioren – müsse als
Weitere Themen sind Partnerschaft, Sexualität, Erziehungs-          Leistung, damit auch für die Rente honoriert werden. „So
beratung, Kinderschutz, sexuelle Gewalt und Schreibabys.            haben auch Familien eine Wahl. Das ist noch weit weniger
„Der Stress der Eltern geht auf die Kleinen über. Wir versu-        wertgeschätzt als bezahlte berufliche Tätigkeiten, obwohl
chen, Familien Ruhe zu geben, schauen nach Ressourcen               es eine wichtige Leistung für unsere Gesellschaft darstellt.“
und bisher übersehenen Möglichkeiten.“ Sei es eine sub-             Ganz pragmatisch wünscht sich die Expertin zudem pass-
optimale Kinderbetreuung oder dass Kinder mit ständig               genauere Betreuungszeiten und dass die Kosten der Ver-
wechselnden Bezugspersonen nicht zurechtkämen. „Kinder              hütungsmittel für Menschen mit niedrigem Einkommen
sind sensibler oder resilienter, jeder Fall ist individuell.“ Die   übernommen werden. „Das gehört zu einer verlässlichen
pro familia-Teams betreuen meist bis ein Kind drei Jahre            und guten Familienplanung.“                            MD
alt ist, manchmal auch länger – die Beratung ist kostenfrei.
Je nach Problemlage werden die Klient*innen an andere
Einrichtungen weiterverwiesen. Heidekers Erfahrung: „Ein            »   Kontakt
Thema taucht fast in jeder Phase und in jedem Kontext                   Grit Heideker, Geschäftsführerin
auf – die Finanzen.“ Das habe deutlich zugenommen, seit                 pro familia Tübingen und Reutlingen
2005 die Hartz-Gesetze in Kraft traten. Ein zunehmender                 grit.heideker@profamilia.de
Teil der Familien lebten am Limit.                                      www.profamilia.de

                                                                                            |   PARITÄTinform   | März 2020 |   15
KINDERARMUT

                                             Karin Keller beim
                                     Wochengespräch mit Silke*.

RESSOURCEN ERKENNEN, UM
MÖGLICHKEITEN FÜR MAX ZU SCHAFFEN
Bildungs- und Teilhabeprojekt: „Flexible Hilfen“ als Maßnahme gegen Kinderarmut

WIESLOCH Die „Flexiblen Hilfen“ des Kinderschutz-                 Unterstützung durch aufsuchende Sozialarbeit
bunds Wiesloch unterstützen Familien, die sich in einer
Krise befinden, im Alltag, spüren Ressourcen auf und              Letztere kam mit den „Flexiblen Hilfen“ des Kinderschutz-
ermöglichen so Teilhabe.                                          bunds Wiesloch zu ihr. Dort beantragte das Jugendamt
                                                                  „Hilfe zur Erziehung“ für sie. Diese richten sich an Familien,
„Womöglich nehmen Sie mein Kind weg!“ Silke* schildert            die sich wegen materieller, sozialer und/oder psychischer
anschaulich, was in ihr vorging, als die Erzieherinnen ihres      Schwierigkeiten in einer Krise befinden. „In der aufsuchen-
Sohnes das Jugendamt anriefen. Sie hatte ihren Max*, da-          den Sozialarbeit gehen wir zu Klientinnen und Klienten
mals vier Jahre alt, wiederholt nicht in den Kindergarten ge-     nach Hause, schauen, was Familien brauchen, welche Res-
bracht, nicht krank gemeldet. Das hatte Gründe: Bei ihr war       sourcen sie haben und begleiten sie“, sagt deren Leiterin
eine chronische Krankheit entdeckt worden. Hinzu kam das          Karin Keller. „Das geschieht auf freiwilliger Basis, die Fa-
Handicap ihres Sohnes, der mit einem genetischen Defekt           milien sind der Taktgeber!“ Nicht freiwillig ist es indes bei
geboren wurde. „Es waren medizinische Notfälle. Ich fühl-         Gefährdung von Kindeswohl. Anfangs können die Besuche
te mich wie gelähmt, wusste nicht, wie ich alles stemmen          häufiger sein, je nach Bedarf. Bei Erfolgen werden die Kon-
sollte, quasi alleinerziehend“, umreißt sie die Situation. Ihr    takte reduziert. Die „Flexiblen Hilfen“ berichten regelmä-
Mann kämpfte mit eigenen Problemen, die Familie war just          ßig ans Jugendamt – die Klienten kennen die Inhalte. „Alles
umgezogen, kannte kaum jemanden, war auf Arbeitslosen-            transparent“, betont Karin Keller.
geld II angewiesen. „Ich hatte Angst vor den Gesprächen,
das Gefühl, im Kindergarten hört mit keiner richtig zu.“          Die eigenen Ressourcen (wieder-)erkennen
Über zweieinhalb Jahre später ist das anders. Eine leben-         Das wöchentliche Gespräch mit Silke soll langsam auslau-
dige Silke sitzt im Konferenzraum des Kinderschutzbunds           fen. Dass sie dann alleine den Alltag bewältigen soll, macht
Wiesloch bei ihrem Wochengespräch. Lachend zeigt sie              Silke etwas Angst. Doch Keller beruhigt sie: „Sie können uns
Fotos auf dem Mobiltelefon. Von kunstvollen Geburtstags-          immer anrufen. Sie schaffen das, sind auf einem sehr guten
muffins, die sie für ihren Sohn und seine Mitschüler*innen        Weg, haben viele Ressourcen.“ Die waren vor zweieinhalb
gebacken hat. Von fröhlichen Begegnungen auf dem örtli-           Jahren verschüttet. In Silkes Leben, die nach dem Abitur in
chen Spielplatz. Silke hat erfahren, was Selbstwirksamkeit        einem Sozialverband als Gruppenleiterin arbeitete, änderte
ist, dass jeder Mensch Probleme angehen kann, dass es             sich alles mit der Geburt von Max und seiner Krankheits­
keine Schande ist, um Unterstützung zu bitten.                    diagnose. „Ich war über 35 Jahre, es war traumatisch, ständig

16         |   PARITÄTinform   | März 2020 |
im Krankenhaus, oft als Notfall. Ich fühlte mich ohnmäch-        hatte ich keins, aber nun dank Handy, kann ich mich mit
tig – und alleine gelassen.“ Sie rutschte in ALG II, wusste      anderen Müttern verabreden.“
nicht, wo sie das Geld hernehmen sollte, etwa für die Fahrt
zu Spezialisten. Sie nickt ihrem Gegenüber zu. „Hier habe        Max muss auch Kind sein dürfen
ich Kraft bekommen – und tolle Tipps“. Auch Keller erinnert
sich daran, wie sie mit ihrer Kollegin, der pädagogischen        Keller ergänzt: „Auch Max hat seinen Kreis erweitert, weil sie
Leiterin Elke Jödicke, erstmals die Familie aufsuchte, dann      mehr zulassen können, ihm mehr zutrauen.“ Zuvor sei der
der sozialpädagogische Familienhelfer Thomas Blaich den          Junge viel zuhause gewesen, Silke wegen seiner Krankheit
Fall übernahm.                                                   übervorsichtig, erzählt sie. Alles sei ums Lernen, weniger
                                                                 um das Spielen gegangen, der Junge habe mitunter fast
Ein soziales Netz gibt Halt und bietet Austausch                 einen Erwachsenenpart übernommen. „Er muss auch Kind
                                                                 sein dürfen!“, erklärt Keller. Silke gibt ihr Recht. Und schil-
„Zunächst wurde Kassensturz gemacht. Wir haben geschaut,         dert, wie sie und ihr Sohn ihre Rollen neu ausloten mussten,
wo es fehlt, welche Ausgaben nötig sind und haben über-          als Eltern und als Kind. „Das ist nun anders. Wie selbstver-
legt, wie man etwa die überteuerten Raten für die Wasch-         ständlich geht er jetzt mit Freunden nach der Schule raus –
maschine kompensieren kann.“ Aber bei den „Flexiblen             ohne mich.“ Das entlaste sie auch als Mutter. „Ich habe ge-
Hilfen“ wird nicht nur informiert, was man bei Schulden tun      lernt, lockerer zu sein.“ Geholfen habe eine Mutter-Kind-Kur
kann, sondern auch zu Ansprüchen und Rechten, Bildungs-          und Biografiearbeit. „Durch den Blick auf meine Kindheit
und Teilhabepaket und Antragstellung beraten. „Diese Din-        verstehe ich einige Verhaltensweisen besser.“ Wie sieht sie
ge kannte ich nicht – und ich hätte mich auch nicht getraut,     heute die „Flexiblen Hilfen“? „Angst ist unnötig. Ich kann sie
das alles zu beantragen“, so Silke. „Die Unterstützung bei       zu 100 Prozent weiterempfehlen.“                          MD
Ämtergängen half sehr. Sie hat auch Max Möglichkeiten
verschafft, etwa an Ausflügen teilzunehmen.“ Karin Keller        »   Kontakt
betont, es gehe auch darum, Klient*innen zu unterstützen,            Karin Keller, Leiterin
ein soziales Netz aufzubauen, das Halt gebe und Austausch            Kinderschutzbund Ortsverband Wiesloch e.V.
biete. „Das ist Ihnen in den vergangenen Jahren gut ge-              geschaeftsstelle@kinderschutzbund-wiesloch.de
lungen“, lobt sie. „Sie treffen sich nun öfter mit anderen Fa-       www.kinderschutzbund-wiesloch.de
milien auf dem Spielplatz.“ Silke lacht. Zu einigen Frauen-
frühstücken sei sie eingeladen worden, bestätigt sie. „Lange         *Namen von der Redaktion geändert

                                                                                          |   PARITÄTinform   | März 2020 |   17
Sie können auch lesen