PARITÄT inform - ARMUT IST KEIN KINDERSPIEL - BADEN-WÜRTTEMBERG | März 2020 - PARITÄTischer Wohlfahrtsverband ...
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Impressum INHALT PARITÄTinform 4 · KINDERARMUT Das Nachrichtenmagazin des PARITÄTISCHEN ■ Armut ist kein Kinderspiel ISSN 2198-9575 ■ Interview mit Sozialminister Manne Lucha „Starke Kinder – chancenreich“ – Strategie zur Bekämpfung von Kinderarmut Herausgeber ■ Tübinger Präventionskonzept gegen Kinderarmut Deutscher Paritätischer ■ Kindergrundsicherung – Existenzminimum für alle Kinder Wohlfahrtsverband Landesverband ■ Arm dran?! Ohne Bildung wird es schwer Baden-Württemberg e. V. ■ Fürsorge muss als Leistung bei der Rente honoriert werden Hauptstraße 28 · 70563 Stuttgart ■ „Flexible Hilfen“ als Maßnahme gegen Kinderarmut Tel. 0711 2155-0 · info@paritaet-bw.de ■ Projekt reGINA: Aktiv gegen Kinderarmut www.paritaet-bw.de ■ Im zweiten Wohnzimmer: In den Offenen Treffs werden Verantwortlich Selbstwirksamkeit erfahrbar und Stärken gestärkt Ursel Wolfgramm, ■ Wenn die Familie zum Wohnungsnotfall wird Vorstandsvorsitzende ■ Chancengleichheit für geflüchtete Kinder und Jugendliche Redaktion ■ Social inclusion labs für kids and youngsters – Rolf Schaible (Gesamtredaktion), neues Projekt gegen Kinderarmut und soziale Ausgrenzung Deborah Castello, Dr. Hermann Frank, Svenja Hasenberg, Dr. Steffi Hunnius, 28 · FACHBEREICHE Bernd Löhle, Hina Marquart, Petra Mostbacher-Dix (MD), ■ Qualifizierung von Vereinsbegleiter*innen Ralf Nuglisch, Sabine Oswald, ■ Neues Fachkräfteeinwanderungsgesetz – Torsten Rothfuss, Christina Rüdenauer, Ein Baustein, um dem Fachkräftemangel zu begegnen Karin Seng, Ulrike Sinner, Regina Steinkemper u.v.a. 32 · NACHRICHTEN UND SCHL AGLICHTER AUS DEM VERBAND Satz, Gestaltung und Anzeigenmarketing 34 · L ANDESVERBAND Kreativ plus, Gesellschaft für Werbung ■ Aktuelles aus dem Aufsichtsrat und Kommunikation mbH, Stuttgart Tel. 0711 2155-105 ■ Akademie: Virtueller Besprechungs- und Seminarraum help@kreativplus.com 35 · PARITÄT VOR ORT Druck Druckerei Raisch GmbH + Co. KG ■ Bodenseekreis: Auftakt Regionalverbund und Reutlingen Hilfe für Vereine bei der Digitalisierung ■ Baden-Baden/Rastatt: Sozialpolitischer Dialog Erscheinungsweise vierteljährlich ■ Karlsruhe: Berufsmixer – Heute schon geshakert? ■ Nordschwarzwald: Regionalverbund nimmt seine Arbeit auf Bezugspreis ■ Konstanz: Austausch mit dem Sozialdezernenten Im Mitgliedsbeitrag enthalten. Jahresabonnement 8 Euro für Nichtmitglieder 38 · NEUE MITGLIEDSORGANISATIONEN Auflage 4.700 Exemplare Fotos Archiv, Mitgliedsorganisationen, iStockphoto, Shutterstock, AdobeStock, Pixelio, Pixabay und Unsplash Bitte beachten Sie die Beilage der Paritätischen Akademie Süd.
EDITORIAL ARMUT IST KEIN KINDERSPIEL! Fast jedes fünfte Kind in Deutschland ist von Armut betroffen, die Zahlen für Baden-Württemberg sind nahezu identisch. In anderen Bundesländern sieht es noch düsterer aus. In Bremen zum Beispiel leben 33 Prozent der Kinder unterhalb der Armutsgrenze, in Berlin sind es knapp 30 Prozent, 27 Prozent in Leipzig. Armut in einem reichen Bundesland wie unserem, da sind sich alle einig, das darf nicht sein, das ist ein Skandal. Und doch gibt es sie. Sie zeigt sich, wo Kinder sich mit kaltem Wasser waschen müssen, zu Hause kein elektrisches Licht und warme Mahlzeiten haben, weil der Strom abgestellt ist. Sie zeigt sich, wo Kinder kein eigenes Zimmer haben, sondern auf dem Klappsofa im Wohnzimmer schlafen müssen, weil das Geld der Familie nicht für eine größere Wohnung reicht. Armutsbetroffene Kinder, das belegen zahlreiche Studien, haben ein signifikant höheres Krankheitsrisiko, bekommen aber aus verschiedenen Gründen nicht die Behandlungsmög- lichkeiten, die sie bräuchten. Armutsbetroffene Kinder müssen von Anfang an lernen, mit weniger Sicherheit, mit existenzieller Angst, mit weniger Chancen und Würde auszukom- men. Einen Großteil ihrer Kraft verwenden sie darauf, sich mit diesen Problemen ausein- anderzusetzen, ihre Situation zu verheimlichen – an ein unbeschwertes Aufwachsen ist für diese Kinder nicht zu denken. Das baden-württembergische Sozialministerium hat das Jahr 2020 zum Schwerpunktjahr gegen Kinderarmut ausgerufen, das begrüßen wir sehr. Es wird – hoffentlich – den Blick der Öffentlichkeit trotz Corona-Krise auf die Schwächsten unserer Gesellschaft lenken. Was es jedoch braucht, um Kinderarmut von den Ursachen her zu bekämpfen, sind strukturelle Veränderungen auf allen politischen Ebenen. Das erfordert Mut und Pioniergeist seitens der politisch Verantwortlichen – und Solidarität von uns allen. Ursel Wolfgramm Vorstandsvorsitzende Umwelt- und ressourcenfreundlich Nachhaltigkeit ist uns wichtig. Deshalb wird PARITÄTInform ab sofort auf Recyclingpapier gedruckt. Wir wünschen eine informative, nachhaltige Lektüre! | PARITÄTinform | März 2020 | 3
ARMUT IST KEIN KINDER- SPIEL! Armut beschämt, grenzt aus, entmutigt. Gegenwärtig ist in Baden-Württemberg rund jedes fünfte Kind von Armut betroffen. Es braucht dringend Maßnahmen, um Kinderarmut zu bekämpfen, denn Teilhabe ist ein Menschenrecht. 4 | PARITÄTinform | März 2020 |
KINDERARMUT W er die Allgemeine Erklärung der Men- schenrechte der Vereinten Nationen ernst nimmt, für den dürfte außer Frage stehen: Kinderarmut, noch dazu in einem reichen (Bundes-)Land wie unserem, das darf nicht sein, das ist ein Skandal. Gleich in Artikel 1 steht: hin immer dünnhäutiger und ängstlicher wird und die Kinder spüren, in welch bedrohter Existenz sie aufwachsen. Armutsbetroffene Kinder, das belegen zahlreiche Studien, ha- ben ein signifikant höheres Krankheitsrisiko, bekommen aber aus verschiedenen Gründen nicht die Behandlungsmöglich- keiten, die sie bräuchten. Armutsbetroffene Kinder müssen „Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten von Anfang an lernen, mit weniger Sicherheit, mit existenziel- geboren. Sie sind mit Vernunft und Gewissen begabt und ler Angst, mit weniger Chancen und Würde auszukommen. sollen einander im Geiste der Brüderlichkeit begegnen.“ Einen Großteil ihrer Kraft verwenden sie darauf, sich mit Nicht minder deutlich liest sich Artikel 2, in dem es heißt: diesen Problemen auseinanderzusetzen, ihre Situation zu verheimlichen – an ein unbeschwertes Aufwachsen ist für „Jeder hat Anspruch auf alle in dieser Erklärung diese Kinder nicht zu denken. Sie fühlen sich gebrandmarkt, verkündeten Rechte und Freiheiten, ohne irgendeinen lernen, dass sie anders sind, dass sie nicht dazugehören – Unterschied, etwa nach Rasse, Hautfarbe, Geschlecht, und dass es nicht von ihnen abhängt, ob sie dazugehören Sprache, Religion, politischer oder sonstiger Anschauung, oder nicht. Sie wachsen in einem Umfeld mit Erwachsenen nationaler oder sozialer Herkunft, Vermögen, auf, die ihnen aufgrund der eigenen prekären Situation kei- Geburt oder sonstigem Stand.“ ne Zuversicht ins Leben, keine Sicherheit vermitteln können. Arme Familien leben häufig – aus Scham und mangelnden Zu diesen genannten „Rechten ohne irgendeinen Unter- Teilhabemöglichkeiten – isoliert, ihre Kinder haben ein ge- schied“ gehören unter anderem das ringes Selbstwertgefühl. Und ein Aufwachsen in Armut, auch dies ist vielfach mit Zahlen belegt, bedeutet auch meist ein „Recht auf einen Lebensstandard, der seine und Weiterleben in Armut. Anders gesagt: Armut wird vererbt. seiner Familie Gesundheit und Wohl gewährleistet, einschließlich Nahrung, Kleidung, Wohnung, ärztliche Vor allem die Armut der Schwächsten in unserer Gesell- Versorgung und notwendige soziale Leistungen“, ein schaft, die noch keine eigene Verantwortung für ihr Leben „Recht auf Bildung, die auf die volle Entfaltung der tragen, ist ein Skandal. Sie darf nicht sein. Und doch gibt menschlichen Persönlichkeit und auf die Stärkung es sie, mitten unter uns. In einem wohlhabenden Umfeld der Achtung vor den Menschenrechten und wird Armut noch einmal wesentlich deutlicher erfahren, Grundfreiheiten gerichtet sein muss“ oder auch also für die Betroffenen schlimmer spürbar als in einem das „Recht auf soziale und kulturelle Teilhabe“. durchschnittlichen Umfeld. Das heißt, dass armutsbetrof- fene Menschen in einem reichen Bundesland wie Baden- Es gibt vermutlich kaum jemanden, der dem nicht zustim- Württemberg stärker von mangelnden Teilhabemöglichkei- men würde – und dennoch: Allein im reichen Baden-Würt- ten betroffen sind als in anderen Gegenden Deutschlands. temberg ist jedes fünfte Kind armutsbetroffen, in anderen Bundesländern sehen die Zahlen noch düsterer aus. In Vielfältige Ursachen Bremen zum Beispiel leben 33 Prozent der Kinder unter- halb der Armutsgrenze, in Berlin sind es knapp 30 Prozent, Armut ist ein komplexes Problem, sie hat viele Facetten – 27 Prozent in Leipzig. und viele Ursachen. So ist Kinderarmut natürlich immer auch die Armut der Eltern. Sowohl deutschlandweit als Armut hat viele Facetten auch in Baden-Württemberg steigt die Armutsgefährdung besonders bei kinderreichen Familien. Im Zehnjahresver- Schon die bloßen Zahlen sind erschreckend, viel schlimmer gleich nahm die Zahl der von Armut betroffenen kinder- ist jedoch die Realität dahinter. Armut zeigt sich, wo Kinder reichen Familien, also jenen mit drei oder mehr Kindern, aus Scham die Einladung zum Kindergeburtstag nicht anneh- um 22,4 Prozent zu. Nach wie vor hoch sind die Zahlen für men, weil die Familie kein Geld für ein Geschenk hat. Armut Alleinerziehende, hier sind noch immer 41,5 Prozent von zeigt sich, wo Kinder nicht an Klassenfahrten und Schulaus- Armut betroffen mit leicht steigender Tendenz. Man muss flügen teilnehmen können – mit vorgeschobenen Begrün- also leider sagen, dass Kinder in Deutschland ein Armuts- dungen. Armut zeigt sich, wo Kinder sich mit kaltem Wasser risiko mit vielfältigen Ursachen sind. Zum einen sinkt die waschen müssen, zu Hause kein elektrisches Licht und war- Möglichkeit der Erwerbstätigkeit von Müttern häufig mit me Mahlzeiten haben, weil der Strom abgestellt ist. Und Ar- jedem Kind, allein wegen mangelnder oder unzureichen- mut zeigt sich auch da, wo die Mutter zum Ende des Monats der Betreuungsangebote. Zum anderen fallen Ausgaben für | PARITÄTinform | März 2020 | 5
KINDERARMUT Kinder wie Windeln, passende Bekleidung, Schulausflüge bei einkommensschwachen Familien wesentlich stärker ins Forderungen des PARITÄTISCHEN Gewicht als bei einkommensstarken Familien. Auch steigt die ohnehin schon hohe Mietbelastung mit jedem Kind Um Kinderarmut entgegenzuwirken, braucht es also bzw. mit jedem zusätzlichen Raumbedarf. ebenfalls Zweierlei: Materielle Unterstützung, aber auch strukturelle Veränderungen, die langfristig das Entstehen Niedrige Einkommen durch prekäre Arbeitsverhältnisse von Armutslagen reduzieren. sowie die besondere Situation von Alleinerziehenden sind jedoch laut Statistik die Hauptgründe für fehlendes Geld in Einige der Forderungen des PARITÄTISCHEN an die politi- Familien und damit auch die wichtigsten Auslöser für Kin- schen Entscheidungsträger sind folgende: derarmut in Deutschland. Und es ist kein bloßer Eindruck, dass die Schere „Reich-Arm“ immer weiter auseinander n Nach Berechnungen des PARITÄTISCHEN ist auf der geht, sondern Tatsache. Gründe hierfür sind zum Beispiel Grundlage der gegebenen Systematik eine sofortige die Spreizung der Löhne und Gehälter, die seit 1995 dras- Erhöhung der Regelsätze von derzeit 424 auf 582 Euro tisch zunahm sowie eine diese Ungleichheiten begünsti- angezeigt. Die Regelsatzermittlung für Kinder ist darüber gende Steuerpolitik. So haben wohlhabende Haushalte zum hinaus wissenschaftlich kaum haltbar und muss völlig Beispiel von einer Senkung des Spitzensteuersatzes und ei- neu aufgestellt werden. Die Einrichtung einer unabhän- ner Reform der Erbschaftssteuer profitiert, während ärmere gigen Expert*innenkommission zur grundsätzlichen Haushalte durch höhere indirekte Steuern weiter belastet Überprüfung der Regelsatzherleitung ist damit ange- wurden. Christoph Butterwegge, Armutsforscher und Pro- zeigt. Darüber hinaus sind weitere passgenaue Hilfen fessor an der Universität Köln, unterstellt gar, dass es keinen für Langzeitarbeitslose (Stichwort öffentlich geförderter politischen Willen zur Bekämpfung von Kinderarmut gebe: Arbeitsmarkt), aber auch eine Erhöhung des Mindest- „Würde man die Hartz-IV-Sätze anheben und die Eltern lohns notwendig. stärken, müsste man ebenfalls den Mindestlohn anheben, damit der Lohnabstand zu den Sozialleistungsbeziehern n Grundlegende, strukturelle Reformen des Bildungs- fortbesteht.“ Erschreckend ist jedoch auch, dass 32 Prozent systems wie längeres gemeinsames Lernen und die Ein- aller Erwerbstätigen in Deutschland von Armut bedroht führung der verbindlichen Ganztagsschule bis 15:00 Uhr. sind. Diese Menschen können kaum von ihrem Lohn leben, weil er zu gering ist, die Mieten zu hoch sind usw. n Die unübersichtliche Vielzahl von Leistungen für Kin- der ist, soweit wie möglich, von einer bedarfsdeckenden Chancengerechtigkeit durch Bildung und einkommensorientierten Kindergrundsicherung abzulösen. Es geht um ein existenzsicherndes Kinder- Um den Armutskreislauf langfristig zu durchbrechen, müs- geld, das mit zunehmendem Einkommen der Eltern sen jedoch über den monetären Ansatz hinaus die Ursa- abgeschmolzen wird. Der Kinderlastenausgleich würde chen in der Bildungspolitik angeschaut werden. Von der damit endlich „vom Kopf auf die Füße” gestellt: Wer Chancengleichheit der UN-Charta für Menschenrechte sind wenig hat, bekommt am meisten, wer am meisten hat, die meisten deutschen Bundesländer noch weit entfernt. nur das, was allen verfassungsrechtlich zusteht. Kein*e Um eine Chancengerechtigkeit für alle Kinder herzustellen, Erwerbstätige*r müsste mit Hartz IV aufstocken, nur weil bräuchte es verbindliche pädagogische Ganztagsangebote das Erwerbseinkommen nicht auch noch für die Kinder und – wie es sich in den skandinavischen Ländern zeigt – reicht. ein längeres gemeinsames Lernen aller Kinder und keine frühe Trennung nach Leistung. In Baden-Württemberg fehlt n Das in der Praxis nicht funktionierende Teilhabe- noch beides. Doch Kinder, denen bereits in den ersten Le- paket ist durch einen subjektiv einklagbaren Rechts- bens- und Schuljahren Chancengleichheit verwehrt wird, anspruch auf Teilhabe im Kinder- und Jugendhilfe- haben später ungleich größere Mühe, den bereits einge- gesetz zu ersetzen. Mit gesetzlichen Vorgaben im schlagenen Pfad der Bildungsferne wieder zu verlassen. Rahmen der Jugendhilfeplanung ist sicherzustellen, dass Kinder aus einkommensschwachen Fami- lien in besonderer Weise bei Jugendhilfeleis tungen und insbesondere Teilhabeleistungen » Kontakt im Zusammenspiel mit den freien Trägern der Deborah Castello, Stabsstelle Jugendhilfe Berücksichtigung finden. Grundsatzfragen und Lobbyarbeit Der PARITÄTISCHE Baden-Württemberg castello@paritaet-bw.de, www.paritaet-bw.de 6 | PARITÄTinform | März 2020 |
„STARKE KINDER – CHANCENREICH“ Strategie zur Bekämpfung von Kinderarmut Das Ministerium für Soziales und Integration hat das Jahr Unter den Sozialleistungen für Familien gibt es noch immer 2020 zum Aktionsjahr gegen Kinderarmut ausgerufen. solche, die gegeneinander angerechnet werden. Was muss PARITÄTinform sprach mit Sozialminister Manne Lucha sich aus Ihrer Sicht bei den Familienleistungen ändern? über die Maßnahmen, die das Land plant, um Kinder- armut erfolgreich zu bekämpfen. Wir müssen endlich aufhören, an einzelnen Stellschrauben in einem System zu drehen, das selbst Fachleute nicht mehr Was konkret sind die Ziele dieses Aktionsjahres? durchschauen, um dann einmal mehr festzustellen, dass die Leistungen nicht ankommen und wir immer wieder harte Manne Lucha Mit unserer Strategie „Starke Kinder – Chan- Brüche an den Schnittstellen haben. Deshalb müssen wir aus cenreich“ wollen wir für Kinder und deren Familien in allen den Schnittstellen endlich Nahtstellen machen. Um Kinder- Lebenslagen entsprechende Förderung und Unterstüt- armut wirklich zu bekämpfen, brauchen wir außerdem eine zungsangebote bereitstellen. Ziel ist es, Kinderarmut zu be- Kindergrundsicherung ohne kompliziertes Antragsverfahren. kämpfen beziehungsweise die damit verbundenen Folgen Diese Kindergrundsicherung sollte den Mindestbedarf jedes abzumildern. Bereits Ende vergangenen Jahres haben wir Kindes decken und sich daran orientieren, was Kinder und neun Projekte gegen Kinderarmut mit rund fünf Millionen Jugendliche zu einem guten Aufwachsen tatsächlich brau- Euro unterstützt. Zusätzlich planen wir, die bereits beste- chen. Die derzeitigen familienpolitischen Leistungen (Kinder- henden Präventionsnetzwerke gegen Kinderarmut weiter geld, Kinderzuschlag, SGB-II-Regelleistungen und pauschale auszubauen, die Akteure untereinander besser zu vernet- Leistungen des Bildungs- und Teilhabepaketes) müssen dann zen und auch über das Thema Kinderarmut umfassender in diese Kindergrundsicherung integriert werden. aufzuklären. Dazu wird es auch gemeinsam mit der LIGA einen Kongress im Herbst dieses Jahres geben. Denn klar Das Thema gesundheitliche Vorsorge (zum Beispiel ist: Beim Ziel, Kinderarmut zu bekämpfen, sind wir auf die regelmäßige Vorsorgeuntersuchungen bei Kinder- und Zusammenarbeit mit Kommunen, Kirchen, der freien Wohl- Zahnärzten, gesunde Ernährung) kommt häufig bei fahrtspflege und vielen weiteren Akteuren angewiesen. kinderreichen Familien bzw. auch bei Familien mit Migra- tionshintergrund noch immer nicht umfänglich an bzw. Noch immer ist in einem reichen Land wie Deutschland, fehlen diesen Familien häufig Informationen darüber, was in einem reichen Bundesland wie Baden-Württemberg das ihnen diesbezüglich zur Verfügung stünde. Wo sehen Sie Thema Armut eng mit dem Thema Chancengerechtigkeit Möglichkeiten, diese Situation für die Kinder zu verbessern? verknüpft. Was müsste sich an unserem Bildungssystem ändern, um hier frühzeitig die Weichen richtig zu stellen Die Erfahrung hat gezeigt, dass Gesundheitsprävention bzw. um kein Kind zurückzulassen? immer dann am effektivsten ist, wenn diese von einem engmaschigen Netz aus Fachkräften des Gesundheits- und Teilhabe darf keine Frage des Geldbeutels sein. Gute Bil- Bildungswesens, Lehr- und Betreuungskräften, Familienbil- dungsangebote für Kinder und Jugendliche in Kindertages- dungszentren und von Verantwortlichen aus der Kommune einrichtungen und in der Schule sind entscheidend dafür, getragen oder initiiert wird. Um die gesundheitliche Versor- dass sie sich gut integrieren und ihren Platz in der Gesell- gung für die betreffenden Familien zu verbessern, haben schaft finden können. Mit unserem Einsatz für eine gute Qua- wir deshalb finanzielle Mittel für den Auf- und Ausbau von lität in der Kinderbetreuung, den Ausbau der Ganztagsschu- Präventionsnetzwerken mit dem Schwerpunkt Gesundheit len und für eine gute Vereinbarkeit von Familie und Beruf zur Verfügung gestellt. An sechs Standorten bei uns im sind wir hier auf dem richtigen Weg. Als Integrationsminister Land gibt es bereits solche Netzwerke. Auch in unserem ist mir aber auch besonders die Sprachförderung wichtig. Schwerpunktjahr gegen Kinderarmut setzen wir diese För- Denn das Erlernen und die erfolgreiche Anwendung der derung fort. Bis zum Jahr 2030 sollen dann in allen 44 Stadt- deutschen Sprache ist die Schlüsselqualifikation, um gleich- und Landkreisen entsprechende Präventionsnetzwerke ihre berechtigte Chancen im Bildungssystem zu schaffen. Arbeit aufnehmen. | PARITÄTinform | März 2020 | 7
KINDERARMUT PRÄVENTIONSKONZEPT GEGEN KINDERARMUT Tübinger AnsprechPartner*innen (TAPs) für Kinderchancen und Tübinger Kinderfonds TÜBINGEN Der „Tübinger Weg“ der Kinderarmutsprävention zeigt, dass eine Stadt sehr viel tun kann: Durch präventive Maßnahmen, die in den Stadtteilen verankert sind, leicht erreichbar und gut vernetzt, können die Teilhabe- und Entwicklungschancen aller Kinder deutlich gestärkt werden. PARITÄTinform sprach mit der Tübin- ger Sozialbürgermeisterin Dr. Daniela Harsch und der Familienbeauftragten Elisabeth Stauber über das Tübinger Präventionskonzept gegen Kinderarmut. Warum ist der Stadt Tübingen das Thema unsere Angebote fortlaufend. Dabei verstehen wir Armut Kinderarmutsprävention so wichtig? als Mangel an Entwicklungs- und Teilhabechancen, was nicht alleine auf materielle Armut zu reduzieren ist. Daniela Harsch Auch in einer von vielen als wohlhabend wahrgenom- Welches zusätzliche Maßnahmenbündel zur Prävention menen Stadt wie Tübingen leben Kin- von Kinderarmut hat die Stadt Tübingen geschnürt? der in materieller Armut. Nur ist diese oft verdeckt. Es sind Kinder, die beispielsweise Elisabeth Stauber Wir haben ein sehr umfassendes Maß- keine Freunde einladen können oder keinen Ort für unge- nahmenpaket, um nur die wichtigsten Dinge zu nennen: störtes Lernen haben, weil die Wohnung beengt ist. 2019 die Einführung der KreisBonusCard mit rund 80 ermäßigten lebte jedes siebte Kind in der Stadt zumindest teilweise von Angeboten, um Teilhabe für alle zu ermöglichen. Vieles ist Sozialleistungen, weil das Einkommen der Eltern nicht aus- sogar kostenfrei, zum Beispiel Ferienfreizeiten, Sportange- reicht. Uns ist es wichtig, dass alle Kinder und Jugendlichen bote. Den Nahverkehr haben wir sehr stark ermäßigt, kos- an den vielfältigen Angeboten der Stadt teilhaben können tenfreie Gebrauchträder und Fahrradreparaturen eingeführt. und gute Entwicklungschancen bekommen. Stadtteilsozialarbeit und offene Familientreffs, Patenschaften und interkulturelle Lotsen, Entlastung für Alleinerziehende Welchen Ansatz kindbezogener Armutsprä- und Hilfe beim beruflichen Wiedereinstieg und schließlich vention sieht das Präventionskonzept das Projekt TAPs. der Stadt Tübingen vor? Wer waren die Mitwirkenden an der Entwicklung des Elisabeth Stauber Familien, Kinder Konzepts? und Jugendliche als Expert*innen in ei- gener Sache zu beteiligen, ist uns sehr Daniela Harsch Das Konzept und alle Maßnahmen wurden wichtig. Eine umfassende Familienbefra- gemeinsam in Workshops und Sitzungen entwickelt und ab- gung in 2014 war unser Ausgangspunkt, um gestimmt. Die Mitwirkung ist ungebrochen breit angelegt. zu erfahren, wo es „am meisten brennt“. Wir setzen auf drei Der Gemeinderat war von Anfang an beteiligt und steht Ebenen an: erstens an den wichtigsten Lebensbereichen – hinter der Agenda. Stadtverwaltung, Landkreis, engagierte Soziale Teilhabe, Existenzsicherung, Bildung und Beruf, Ge- Bürger*innen, soziale Vereine und Verbände sowie Kirchen sundheit und Stärkung der Eltern. Zweitens an den Lebens- arbeiten gleichberechtigt zusammen. Aber auch die Bereiche phasen – Hilfen von der Geburt bis zum Berufseinstieg. Und Kultur und Sport sind im Boot, Schulen, Kindertagesstätten Drittens an den Sozialräumen – gut erreichbare Angebote und Jugendeinrichtungen. Am Runden Tisch Kinderarmut in allen Stadtteilen und Quartieren. wirken über 50 Partner aus allen Bereichen der Stadt sehr engagiert mit. Ein Lenkungskreis steuert das Ganze. Auf welcher Datengrundlage bzw. Kriterien baut das Konzept auf? Sie haben das Land bei der Landesstrategie gegen Kinderarmut beraten. Was haben Sie unserem Daniela Harsch Die Kinderarmutsstudie mit über 400 Be- Sozialminister besonders ans Herz gelegt? teiligten gab uns Informationen dazu, wo wir hier in der Stadt ansetzen müssen. Die Tübinger Sozialkonzeption Daniela Harsch Das Land kann die Kommunen beim Auf- 2015 und der Sozialbericht 2019 liefern spezifische sozi- bau von Präventionsnetzwerken gegen Kinderarmut un- alräumliche Daten. Wir wissen, in welchen Stadtteilen wie terstützen. Die Förderung des Sozialministeriums war zu viele Familien, Kinder und Jugendliche armutsgefährdet Beginn auch für Tübingen sehr hilfreich. Gerne geben wir sind. Wir kennen die Altersstruktur und wissen, wo beson- unsere Erfahrungen an andere Städte weiter. Die Förderung ders viele Familien mit Problemlagen leben. Wir überprüfen von Quartiersarbeit und von Kinder- und Familienzentren 8 | PARITÄTinform | März 2020 |
Durch den Mix von städtischer Förderung und Spendenmitteln können wir vieles unkompliziert auf den Weg bringen. sind sehr sinnvolle Impulse, die das Land setzen kann. haben eine übersichtliche Broschüre mit den wichtigsten Besonders wichtig ist aber, die Integrationshilfen für die Hilfen für Familien erstellt, verschicken fast wöchentliche geflüchteten Familien, also den Integrationspakt nicht Newsletter mit Einladungen zu aktuellen Veranstaltungen einzustellen. Aber auch auf Bundesebene sind die Wei- für Familien und organisieren den Austausch unter den chen richtig zu stellen: die Schaffung einer Kindergrund- TAPs. sicherung und die Verbesserung des BuT, wie zum Beispiel Nachhilfe nicht erst bei Versetzungsgefahr. Wofür ist der Tübingern Kinderfonds und wie wird er genutzt? Wann und warum wurde das „Netzwerk TAPs“ ins Leben gerufen? Daniela Harsch Der Kinderfonds ist ein Spendentopf zur Anschubfinanzierung für Projekte gegen Kinderarmut. Er Elisabeth Stauber Wir haben in 2016 mit dem Aufbau gewährt keine Einzelfallhilfe, das machen u.a. die Caritas begonnen. Ziel ist, die vielen Hilfen und Angebote besser und Diakonie. Durch den Mix von städtischer Förderung bekannt und leichter zugänglich und damit wirksamer zu und Spendenmitteln können wir vieles unkompliziert auf machen. Denn in der Kinderarmutsstudie zeigte sich, dass den Weg bringen. Auch der Handels- und Gewerbeverein nicht nur die Familien selber, sondern auch viele Helfende unterstützt uns mit Spendenboxen in zahlreichen Tübin- oft nur unzureichendes Wissen darüber haben. Die Grund- ger Geschäften. Sehr beachtlich ist, wie viele Sponsoren idee: Tübinger AnsprechPartner*innen für Kinderarmut/ und Spendenmittel gewonnen werden konnten. Hier ist Kinderchancen an allen Orten zu gewinnen, an denen Kin- vor allem dem komplett ehrenamtlich organisierten und der, Jugendliche und Familien häufig anzutreffen sind. überwiegend spendenfinanzierten Projekt „Schwimmen für alle Kinder“ eine ganz große Anerkennung auszusprechen. Welche Maßnahmen machen das „Netzwerk TAPs“ so erfolgreich? Wie erreichen Sie die Familien? Gibt es im Netzwerk Ansprechpartner*innen in der jeweiligen Muttersprache? Elisabeth Stauber Es ist uns gelungen, über 150 ehren- und hauptamtliche TAPs zu gewinnen und einzuführen. Elisabeth Stauber Da unser Netzwerk breit aufgestellt ist, Fast alle Kindertageseinrichtungen, viele Schulen, Jugend- erreichen wir viele Familien über Schlüsselpersonen und häuser, Stadtteiltreffs, Vereine aber auch Behörden und Kir- Vermittler. Im Projekt „INET“ gibt es über 140 ehrenamtliche chengemeinden beteiligten sich. Sie haben nun eine „TAP“, und qualifizierte Multiplikator*innen mit Migrationshinter- die gut über die Hilfen und Angebote informiert ist und grund, die Sprach- und Verständigungsbarrieren überbrü- die diese im Team und an die Familien weitergeben kann, cken können und die Familien bei allen Fragen zu Schule zum Beispiel über ein schwarzes Brett, einen Elternabend und Bildung weiterhelfen. Eltern-Info-Cafés in Stadtteiltreffs oder auch Direktansprache. Die Kitas und Schulen werden vermitteln Hilfen oder geben Rat in lockerem Rahmen. auch armutssensibler und achten darauf, zum Beispiel bei Auch die KreisBonusCard erreicht mit ihren Angeboten sehr Ausflügen oder Kindergeburtstagen nicht auszugrenzen, viele Familien; die Angebote werden sehr stark genutzt, wir Tauschangebote zu organisieren und vieles mehr. Wir werten es jährlich aus. | PARITÄTinform | März 2020 | 9
KINDERARMUT N Z - I S T E Wo K inder g r und- EX IMUM d ra u f sicher ung s auc h s te h t , m u s I N M ALLE K inderg r u sicher ung nd- Ü R F D E R! drin sein K I N Fot o: M yle s Ta n· Un spl ash BERLIN Eine Kindergrundsicherung soll eine Vielzahl der kindbezoge- nen Geldleistungen bündeln, um bestehende Ungerechtigkeiten in der Kinder- und Familienförderung aufzulösen und Kinderarmut wirksam zu verringern. Denn bis heute ist die Zahl der Kinder und Jugendlichen, die in Armut aufwachsen, konstant hoch. Dabei ist entscheidend, dass eine „echte“ Kindergrundsicherung bestimmte Kriterien erfüllt. Denn nur dann kann sie Kinderarmut nachhaltig und wirkungsvoll verringern. Mit der Kindergrundsicherung soll die aktuelle Kinder- und vorgestellt. Um Familienförderung grundlegend umgestaltet werden. Da- jedoch den zen- bei werden zwei zentrale Ziele verfolgt: Da das Existenz- tralen Zielen Rechnung minimum für alle Kinder gesichert ist, soll Kinderarmut tragen zu können, müs- wirksam verhindert und eine gerechte Kinderförderung sen bestimmte Kriterien geschaffen werden. Die vielen Leistungen, die aktuell be- erfüllt sein: stehen (wie Kindergeld, Kinderzuschlag, SGB II-Leistungen, das Bildungs- und Teilhabepaket etc.), erreichen diese Ziele 1 Das Existenzminimum angesichts der anhaltend hohen Zahlen der Kinderarmut muss für alle Kinder neu nicht.1 Die Kritik kompakt zusammengefasst: Sie reichen und realistisch berechnet in der Höhe nicht aus. Die Kinderregelsätze werden regel- werden und tatsächlich an- mäßig kleingerechnet.2 Zudem erreichen sie viele Kinder kommen. Dafür braucht es einen und ihre Familien nicht. Der Kinderzuschlag (für Familien gesellschaftlichen Diskurs, der in einer mit kleinen Einkommen) hat eine Nichtinanspruchnahme mit unterschiedlichen Akteuren besetzten von bis zu 70 Prozent und bei Leistungen von sogenannten Kommission geführt und gebündelt wird. „Aufstockern“ spricht die Bundesregierung selbst von einer Dunkelziffer von bis zu 50 Prozent.3 2 Die Leistung muss sozial gerecht ausgestaltet sein. Die am stärksten von Armut betroffenen Gruppen müssen Kriterien einer echten Kindergrundsicherung deutlich bessergestellt werden, mit steigendem Ein- kommen sinkt die Leistung langsam ab. Das Bündnis Kindergrundsicherung hat ein Modell entwi- ckelt, das zentrale Kriterien für eine „echte“ Kindergrundsi- 3 Die Kindergrundsicherung muss einfach, unbürokra- cherung erfüllt. In den vergangenen zehn Jahren, seit das tisch und automatisch ausgezahlt werden, damit sie Bündnis seinen Vorschlag vorgelegt hat, haben auch ande- bei allen Kindern ankommt. re Organisationen oder politische Parteien eigene Modelle 10 | PARITÄTinform | März 2020 |
Neuberechnetes Existenzminimum Monatliches Einkommen in Euro, Ehepaar, zwei Kinder unter 6 Jahren (Berechnung 2010) Grundlage einer Kindergrundsicherung ist ein neube- rechnetes Existenzminimum, das die kindlichen Bedar- 1.500 fe berücksichtigt und auf einer verlässlichen Datenbasis 2.387 2.048* +16,5 % fußt. Neben den sogenannten sächlichen Bedarfen für 1.500 (verdeckte Armut) Nahrung, Kleidung oder Wohnen müssen auch die Kosten 2.195 1.519 +44,5 % für Bildung und Teilhabe berücksichtigt werden. Bis die- se Neuberechnung erfolgt ist, stützt sich das Bündnis auf 3.000 2.868 2.454 +16,9 % das von der Bundesregierung alle zwei Jahre neu veröf- fentlichte kindliche Existenzminimum. Eine bessere Basis 6.000 gibt es aktuell noch nicht. Für das Jahr 2020 beträgt es 637 4.589 4.260 +7,7 % Euro monatlich. Die Kindergrundsicherung wird sozial aus- 9.000 gestaltet, daher wird der Maximalbetrag mit steigendem +2,5% 6.341 6.186 Haushaltseinkommen abgeschmolzen, bis zu einem Mini- malbetrag von gut 300 Euro im Monat für diejenigen, die Brutto aktuell Vgl. Becker, Irene; Hauser, Richard (2012): den Spitzensteuersatz zahlen. Netto aktuell Kindergrundsicherung, Kindergeld, Kinderzuschlag – eine vergleichende Analyse aktueller Reformvorschläge. Kindergrundsicherung WSI-Diskussionspapier Nr. 180, Berlin, S. 111f, Kinderbezogene Leistungen * Inklusive Transfers vereinfachte Darstellung. in der Grundsicherung Alle pauschalen kindbezogenen überdurchschnittlichen Wohnkosten. Die Kindergrundsi- Leistungen sollen in der Kinder- cherung soll von einer Stelle wie der Familienkasse oder grundsicherung zusammenge- der Finanzverwaltung ausbezahlt werden, sodass Bürokra- fasst werden. Dazu gehören tie abgebaut und Informationen für Familien einfach und der Kinderregelsatz, der Kin- direkter zugänglich sind. derzuschlag, der Kinderfrei- betrag, das Kindergeld und Substanzielle Verminderung von Kinderarmut der Unterhaltsvorschuss. Ebenso wie die pauschalen Die Kindergrundsicherung kann die Kinderarmut deutlich Anteile aus dem Bildungs- reduzieren. Die Kinderarmutsquote kann mit einer Kinder- und Teilhabepaket, wie grundsicherung bis auf fünf Prozent verringert werden. Zu- der Schulbedarf von 150 dem werden besonders von Armut betroffene Haushalte Euro und der 15 Euro-Teil- besser erreicht als aktuell: Alleinerziehende, Familien mit habegutschein. Sonder- und mehreren Kindern, verdeckt arme Familien, die keine Leis- Mehrbedarfe sollen weiterhin tung beantragt haben, profitieren besonders. Viele negative über den jeweilig zuständi- Folgen, die sich aus einem Aufwachsen in Armut ergeben, gen Träger zusätzlich beantragt können verhindert werden: Viele Kinder können erreicht werden können: zum Beispiel bei und die grundlegenden Bedarfe sichergestellt werden, zusätzlichen Kosten im Krankheits- ohne zu stigmatisieren. So kann das kindliche Existenzmi- fall, im Falle einer Behinderung oder bei nimum für alle Kinder tatsächlich gesichert werden. » Kontakt Bündnis Kindergrundsicherung Jana Liebert, Referentin für soziale Sicherung und Koordinatorin des Das Bündnis Kindergrundsicherung setzt sich für Bündnisses Kindergrundsicherung eine grundlegende Reform der Kinder- und Fami- Kinderschutzbund Bundesverband e.V. lienförderung ein und fordert eine Vielzahl von liebert@dksb.de, www.dksb.de Leistungen zu einer neu berechneten Kindergrund- 1 Vgl. Paritätischer Gesamtverband (2019): 30 Jahre Mauerfall – sicherung zusammenzufassen. Dem Bündnis, das Ein viergeteiltes Deutschland. Der Paritätische Armutsbericht 2019. Berlin. 2009 gegründet wurde, gehören 15 Verbände und 2 Vgl. Paritätischer Gesamtverband (2018): Expertise Regelbedarfe 2018. 13 Wissenschaftler*innen an. Weitere Informationen Herleitung und Bestimmung der Regelbedarfe in der Grundsicherung. Berlin, S. 18f. unter: www.kinderarmut-hat-folgen.de. 3 Vgl. Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (2017): Familienreport. Berlin, S.61; vgl. BT-Drucksachen 19/2804, S. 9 f. | PARITÄTinform | März 2020 | 11
ARM DRAN?! OHNE BILDUNG WIRD Foto: Klimkin · Pixabay ES SCHWER Bildungsarmut in Deutschland und Baden-Württemberg STUTTGART Es ist nicht erst seit der letzten PISA-Studie be- kannt, dass in Deutschland die soziale Herkunft immer noch maßgeblich über den Bildungserfolg entscheidet. Im Vergleich zu anderen OECD-Ländern ist die Gruppe der „Bildungsarmen“ in Deutschland sehr hoch. Unbestritten ist, dass ein Zusammenhang zwischen Armut und Bildungserfolg besteht. Dementsprechend gehören Menschen mit unzureichenden Bildungsabschlüssen zu der Hauptrisikogruppe für Armut. 12 | PARITÄTinform | März 2020 |
KINDERARMUT M it seinem Armutsbericht hat der Paritä- tische Gesamtverband darauf hingewie- sen, dass das Bildungspaket nicht aus- reicht und arme Kinder immer weiter abgehängt werden, weil das Einkommen der ärmsten Familien in den letzten zehn Jahren um 3,2 Prozent gesunken ist. In einem wohl- Armutsvermeidung durch Bildungsinvestitionen Bildung gilt als Schlüsselressource bei der Armutsvermei- dung. Eines der größten Probleme, das es zu bekämpfen gibt, sind Bildungsdefizite, die sich von Generation zu Ge- neration sozial weitervererben. Die Mittelschicht hat schon habenden Land wie Deutschland im Allgemeinen und in längere Zeit erkannt, dass Bildung als Schlüssel zum Auf- einem der reichsten Bundesländer wie Baden-Württemberg stieg angesehen werden kann. Dementsprechend haben sie im Speziellen kommt dies einem „Armutszeugnis“ gleich. ihre privaten Investitionen in die Bildung erhöht. Die Schere geht also immer weiter auseinander. Auch der Bildungsmonitor 20191 hat sich unter anderem mit dem Zusammenhang von Armut und Bildung beschäftigt Wenn die Gesellschaft wirklich mehr Chancengerechtigkeit (in und die Bildungsarmut in Deutschland untersucht. Dabei der Bildung) erreichen will, muss klar sein, dass mehr Geld für wird die Bildungsarmut auch am Anteil der Absolvent*innen Bildung in die Hand genommen und die Bildungsausgaben gemessen, die das Berufsvorbereitungsjahr (BVJ) erfolgreich drastisch erhöht werden müssen. Nur so können sozial be- abgeschlossen haben. Ebenso wird die Größe der Risiko- nachteiligten Kindern die gleichen Bildungschancen wie Kin- gruppen für Bildungsarmut in den verschiedenen Fachbe- dern bildungsnaher Familien geboten werden. Denn es gibt reichen gemessen. Sachsen hat mit 96,3 Punkten das beste nur eines, was eine Volkswirtschaft auf Dauer teurer kommt Ergebnis. Der bundesdeutsche Durchschnitt liegt bei 55,6 als eine Investition in Bildung: Keine Investition in Bildung. Punkten. Baden-Württemberg liegt mit 51,1 Prozent sogar noch unter dem Durchschnitt. Ein unbefriedigendes Ergeb- nis für eines der reichsten Bundesländer. Reformvorschläge für die Bildungsförderung sozial benachteiligter Kinder Erwerbstätigkeit verringert das Armutsrisiko Chancengerechtigkeit wird Geld kosten – sehr viel Geld. Welche Umstände können Armut vermeiden? Hier muss Bevor diese Geldmittel fließen können, müssen einige ganz klar gesagt werden, dass Erwerbstätigkeit das Armuts- Reformen in unserem (Bildungs-)System Einzug finden: risiko massiv senkt. Menschen, die in Lohn und Brot stehen und angemessen bezahlt werden, werden wahrscheinlich ■ Erhöhung der staatlichen Ausgaben für Schulen, nie von Armut bedroht sein. Außerdem haben Erwerbstätige die einen hohen Schüleranteil aus sozial benachteiligten oft mehr Teilhabemöglichkeiten innerhalb der Gesellschaft. Familien aufweisen Diese Teilhabe kann zum einen durch die Verfügbarkeit von ■ Einführung einer Kindergrundsicherung als Erweiterung Geld erleichtert werden. Zum anderen entstehen durch die des Bildungs- und Teilhabepakets Ausübung einer Erwerbstätigkeit soziale Kontakte – ein ge- ■ Übernahme der Kita-Gebühren für Kinder aus wisser Status. Und die Menschen fühlen sich eher in eine sozial benachteiligten Familien Gesellschaft eingebunden. ■ Einführung einer Kita-Pflicht für Kinder ab vier Jahren ■ Zulagen für Lehrer*innen, die an Schulen mit einer Da ein gewisser Wohlstand und gesellschaftliche Teilhabe großen Anzahl an sozial benachteiligten Schüler*innen für alle erstrebenswert sind, muss sich die Gesellschaft fol- unterrichten gende Fragen stellen: Was können wir für Risikogruppen ■ Grundlegende Strukturreform des deutschen machen? Wie können wir beispielsweise Kinder aus sozial Schulsystems benachteiligten Familien fördern, damit sie problemlos einer ■ Schülerverteilung auf weiterführende Schulformen Erwerbstätigkeit nachgehen und der Armutsfalle entkom- (wie z.B. das Gymnasium) erst ab der sechsten Klasse men können? Darauf gibt es eine kurze und ganz einfache ■ Einführung einer verpflichtenden Ganztagsschule Antwort: Bildung. Wir müssen in ihre Bildung investieren. für alle Kinder, die bis mindestens 15:00 Uhr geht Bildung ist einer der besten Garanten, um eine Erwerbstä- ■ Anpassung des Mindestlohns tigkeit zu erhalten. Je höher der Bildungsabschluss, desto seltener ist eine Person von Arbeitslosigkeit betroffen. » Kontakt Torsten Rothfuss, Referent Bildung Bereich Jugend und Bildung DER PARITÄTISCHE Baden-Württemberg 1 Quelle: https://de.statista.com/statistik/daten/studie/593168/umfrage/ bildungsarmut-an-schulen-in-den-bundeslaendern-nach-dem-bildungsmonitor/, rothfuss@paritaet-bw.de aufgerufen am 22.2.2020. www.paritaet-bw.de | PARITÄTinform | März 2020 | 13
KINDERARMUT EIN THEMA TAUCHT IMMER AUF: Foto: Drew Hays · Unsplash DIE FINANZEN Fürsorge für Kinder wie für Senioren muss als Leistung bei der Rente honoriert werden TÜBINGEN pro familia wurde 1952 als Deutsche Gesellschaft für Familienplanung, Sexualpädagogik und Sexualberatung gegründet. Das Themenspektrum des Vereins, der über 180 Beratungsstellen in der Republik hat, ist indes breiter wie pro familia Tübingen zeigt: Neben prekären Situationen während und nach der Schwanger- schaft geht es zunehmend um Lebensplanung. S „ ie leben ein gutes Modell!“ Grit Heideker, Ge- schäftsführerin der pro familia Beratungsstellen Tübingen und Reutlingen, schildert einen Fall aus der Praxis. Ein junges Paar einigte sich auf das Wechsel modell, also Pendelmodell oder paritätische Doppelresidenz: Ihr Kind wohnt je zur Hälfte bei Mutter und Vater. „Beide stu- dierten, als sie schwanger wurde“, so Heideker. „Sie trennten sich vor der Geburt. Erst war das Kleine mehr bei der Mutter, dann klappte die 50:50-Aufteilung.“ Für die Frau sei es nach dem Abschluss schwierig gewesen, mit Kind einen Job zu 14 | PARITÄTinform | März 2020 |
KINDERARMUT finden, nun arbeite sie in Teilzeit. Der Mann könne sich als Runder Tisch Kinderarmut Freiberufler seine Zeit einteilen. Derlei zu regeln, das klappe nicht immer so gut, gerade bei hochstrittigen Eltern. Damit gehe jede Kommune anders um. Die Stadt Tübingen gründete 2014 einen Runden Tisch Kinderarmut mit der Liga Die Diplom-Lehrerin und Sozialwirtin kennt die Herausfor- der freien Wohlfahrtspflege und dem Bündnis für Familie Tü- derungen. „Meist geht die Trennung von einem Partner aus, bingen, um allen Kindern in der Stadt einen guten Start ins da gibt es Verletzungen. Das Kind wird mitunter genutzt, Leben zu ermöglichen. „Klassische Schuldnerberatung bieten um Macht auszuspielen, etwas heimzuzahlen, auch um zu andere Einrichtungen im Netzwerk an. Wir informieren über kränken. Daran müssen beide zum Wohle des Kindes arbei- Möglichkeiten finanzieller Unterstützung.“ Dazu gehöre etwa ten, das an erster Stelle steht.“ Das bedeute, die Elternrolle das Unterhaltsrecht mit Vorschuss oder Anträge bei der Lan- gut hinzukriegen, obwohl die Paarbeziehung gescheitert desstiftung „Familien in Not“. Sie wurde 1980 für Familien, sei, also Beziehungsebene und Elternebene zu trennen. Das die durch ein schwerwiegendes Ereignis in Not geraten sind, erwähnte Paar habe es auch deshalb so gut geschafft, weil gegründet. Auch das Teilhabepaket helfe, so Heideker. es nicht gewartet habe, bis sich die Probleme häuften, son- dern schnell bei den Profis Hilfe gesucht hätten. „Wir haben Bruch in Partnerschaften wird zur Armutsfalle sie nicht regelmäßig gesehen, immer wenn es kriselte oder sie Rat brauchten, kamen sie zu unseren Expertinnen.“ Seit der Nachbesserung sind auch Alleinerziehende ein- bezogen. Sie gehören zu den Hauptbetroffenen. Heideker: Multiprofessionelle Teams beraten „Auch gut ausgebildete Frauen müssen wegen der Kinder- erziehung eine Zeit raus aus dem Beruf beziehungsweise Die Teams der pro familia in Tübingen, Reutlingen und Au- können wegen mangelnder passgenauer Betreuungsange- ßenstellen wie Mössingen sind eigenständig und multipro- bote nicht Vollzeit arbeiten.“ Damit beginne der klassische fessionell aufgestellt. Sie hätten vor Ort jeweils Netzwerke Teufelskreis: weniger Gehalt, weniger Rente später, weni- geknüpft und Kooperationen, so Heideker. „Wir können uns ger Geld jetzt – für den Alltag, die Teilhabe an Kultur und auch vertreten.“ Zu den acht Teilzeitmitarbeitenden in Tü- Bildung, nicht zuletzt auch für die Miete. „Der Mangel an bingen gehören etwa Sozial- und Diplompädagoginnen, bezahlbarem Wohnraum ist gerade in Ballungsräumen wie Sozialarbeiterinnen mit Bachelorabschluss, Psychologin- Tübingen und Reutlingen ein Grund für verschuldete Fami- nen, Ärztinnen – letzteres: ein Alleinstellungsmerkmal. „pro lien.“ Ein anderer Klassiker sei, dass der Partner mit geringe- familia hat sie aus der Entstehungsgeschichte der Schwan- rem Einkommen, meist die Frau, zuhause beim Kind bleibe gerschaftskonfliktberatung heraus an Bord“, erläutert sie. oder einen Minijob ausübe. „So schnappt die Armutsfalle zu, verstärkt, wenn die Partnerschaft in die Brüche geht.“ Wiederkehrendes Thema: die Finanzen Heideker betont, es sei ein Vorurteil, dass Familien staat- liche Unterstützung nicht für ihre Kinder ausgäben. „Die Kernbereich der Einrichtung ist nach wie vor die Beratung Eltern stecken lieber selbst zurück!“ und Betreuung von Schwangeren und Eltern in allen Pha- sen. Abbrüche seien seltener, zu den Hauptanliegen gehöre Die pro familia-Geschäftsführerin wünscht sich daher ein heute etwa die Lebensplanung. „Die Frage, wie kann das Umdenken, wie es Soziologen in Studien längst propa- gehen mit Kind oder kann ich mir ein weiteres Kind leisten.“ gierten: Fürsorge – für Kinder wie Senioren – müsse als Weitere Themen sind Partnerschaft, Sexualität, Erziehungs- Leistung, damit auch für die Rente honoriert werden. „So beratung, Kinderschutz, sexuelle Gewalt und Schreibabys. haben auch Familien eine Wahl. Das ist noch weit weniger „Der Stress der Eltern geht auf die Kleinen über. Wir versu- wertgeschätzt als bezahlte berufliche Tätigkeiten, obwohl chen, Familien Ruhe zu geben, schauen nach Ressourcen es eine wichtige Leistung für unsere Gesellschaft darstellt.“ und bisher übersehenen Möglichkeiten.“ Sei es eine sub- Ganz pragmatisch wünscht sich die Expertin zudem pass- optimale Kinderbetreuung oder dass Kinder mit ständig genauere Betreuungszeiten und dass die Kosten der Ver- wechselnden Bezugspersonen nicht zurechtkämen. „Kinder hütungsmittel für Menschen mit niedrigem Einkommen sind sensibler oder resilienter, jeder Fall ist individuell.“ Die übernommen werden. „Das gehört zu einer verlässlichen pro familia-Teams betreuen meist bis ein Kind drei Jahre und guten Familienplanung.“ MD alt ist, manchmal auch länger – die Beratung ist kostenfrei. Je nach Problemlage werden die Klient*innen an andere Einrichtungen weiterverwiesen. Heidekers Erfahrung: „Ein » Kontakt Thema taucht fast in jeder Phase und in jedem Kontext Grit Heideker, Geschäftsführerin auf – die Finanzen.“ Das habe deutlich zugenommen, seit pro familia Tübingen und Reutlingen 2005 die Hartz-Gesetze in Kraft traten. Ein zunehmender grit.heideker@profamilia.de Teil der Familien lebten am Limit. www.profamilia.de | PARITÄTinform | März 2020 | 15
KINDERARMUT Karin Keller beim Wochengespräch mit Silke*. RESSOURCEN ERKENNEN, UM MÖGLICHKEITEN FÜR MAX ZU SCHAFFEN Bildungs- und Teilhabeprojekt: „Flexible Hilfen“ als Maßnahme gegen Kinderarmut WIESLOCH Die „Flexiblen Hilfen“ des Kinderschutz- Unterstützung durch aufsuchende Sozialarbeit bunds Wiesloch unterstützen Familien, die sich in einer Krise befinden, im Alltag, spüren Ressourcen auf und Letztere kam mit den „Flexiblen Hilfen“ des Kinderschutz- ermöglichen so Teilhabe. bunds Wiesloch zu ihr. Dort beantragte das Jugendamt „Hilfe zur Erziehung“ für sie. Diese richten sich an Familien, „Womöglich nehmen Sie mein Kind weg!“ Silke* schildert die sich wegen materieller, sozialer und/oder psychischer anschaulich, was in ihr vorging, als die Erzieherinnen ihres Schwierigkeiten in einer Krise befinden. „In der aufsuchen- Sohnes das Jugendamt anriefen. Sie hatte ihren Max*, da- den Sozialarbeit gehen wir zu Klientinnen und Klienten mals vier Jahre alt, wiederholt nicht in den Kindergarten ge- nach Hause, schauen, was Familien brauchen, welche Res- bracht, nicht krank gemeldet. Das hatte Gründe: Bei ihr war sourcen sie haben und begleiten sie“, sagt deren Leiterin eine chronische Krankheit entdeckt worden. Hinzu kam das Karin Keller. „Das geschieht auf freiwilliger Basis, die Fa- Handicap ihres Sohnes, der mit einem genetischen Defekt milien sind der Taktgeber!“ Nicht freiwillig ist es indes bei geboren wurde. „Es waren medizinische Notfälle. Ich fühl- Gefährdung von Kindeswohl. Anfangs können die Besuche te mich wie gelähmt, wusste nicht, wie ich alles stemmen häufiger sein, je nach Bedarf. Bei Erfolgen werden die Kon- sollte, quasi alleinerziehend“, umreißt sie die Situation. Ihr takte reduziert. Die „Flexiblen Hilfen“ berichten regelmä- Mann kämpfte mit eigenen Problemen, die Familie war just ßig ans Jugendamt – die Klienten kennen die Inhalte. „Alles umgezogen, kannte kaum jemanden, war auf Arbeitslosen- transparent“, betont Karin Keller. geld II angewiesen. „Ich hatte Angst vor den Gesprächen, das Gefühl, im Kindergarten hört mit keiner richtig zu.“ Die eigenen Ressourcen (wieder-)erkennen Über zweieinhalb Jahre später ist das anders. Eine leben- Das wöchentliche Gespräch mit Silke soll langsam auslau- dige Silke sitzt im Konferenzraum des Kinderschutzbunds fen. Dass sie dann alleine den Alltag bewältigen soll, macht Wiesloch bei ihrem Wochengespräch. Lachend zeigt sie Silke etwas Angst. Doch Keller beruhigt sie: „Sie können uns Fotos auf dem Mobiltelefon. Von kunstvollen Geburtstags- immer anrufen. Sie schaffen das, sind auf einem sehr guten muffins, die sie für ihren Sohn und seine Mitschüler*innen Weg, haben viele Ressourcen.“ Die waren vor zweieinhalb gebacken hat. Von fröhlichen Begegnungen auf dem örtli- Jahren verschüttet. In Silkes Leben, die nach dem Abitur in chen Spielplatz. Silke hat erfahren, was Selbstwirksamkeit einem Sozialverband als Gruppenleiterin arbeitete, änderte ist, dass jeder Mensch Probleme angehen kann, dass es sich alles mit der Geburt von Max und seiner Krankheits keine Schande ist, um Unterstützung zu bitten. diagnose. „Ich war über 35 Jahre, es war traumatisch, ständig 16 | PARITÄTinform | März 2020 |
im Krankenhaus, oft als Notfall. Ich fühlte mich ohnmäch- hatte ich keins, aber nun dank Handy, kann ich mich mit tig – und alleine gelassen.“ Sie rutschte in ALG II, wusste anderen Müttern verabreden.“ nicht, wo sie das Geld hernehmen sollte, etwa für die Fahrt zu Spezialisten. Sie nickt ihrem Gegenüber zu. „Hier habe Max muss auch Kind sein dürfen ich Kraft bekommen – und tolle Tipps“. Auch Keller erinnert sich daran, wie sie mit ihrer Kollegin, der pädagogischen Keller ergänzt: „Auch Max hat seinen Kreis erweitert, weil sie Leiterin Elke Jödicke, erstmals die Familie aufsuchte, dann mehr zulassen können, ihm mehr zutrauen.“ Zuvor sei der der sozialpädagogische Familienhelfer Thomas Blaich den Junge viel zuhause gewesen, Silke wegen seiner Krankheit Fall übernahm. übervorsichtig, erzählt sie. Alles sei ums Lernen, weniger um das Spielen gegangen, der Junge habe mitunter fast Ein soziales Netz gibt Halt und bietet Austausch einen Erwachsenenpart übernommen. „Er muss auch Kind sein dürfen!“, erklärt Keller. Silke gibt ihr Recht. Und schil- „Zunächst wurde Kassensturz gemacht. Wir haben geschaut, dert, wie sie und ihr Sohn ihre Rollen neu ausloten mussten, wo es fehlt, welche Ausgaben nötig sind und haben über- als Eltern und als Kind. „Das ist nun anders. Wie selbstver- legt, wie man etwa die überteuerten Raten für die Wasch- ständlich geht er jetzt mit Freunden nach der Schule raus – maschine kompensieren kann.“ Aber bei den „Flexiblen ohne mich.“ Das entlaste sie auch als Mutter. „Ich habe ge- Hilfen“ wird nicht nur informiert, was man bei Schulden tun lernt, lockerer zu sein.“ Geholfen habe eine Mutter-Kind-Kur kann, sondern auch zu Ansprüchen und Rechten, Bildungs- und Biografiearbeit. „Durch den Blick auf meine Kindheit und Teilhabepaket und Antragstellung beraten. „Diese Din- verstehe ich einige Verhaltensweisen besser.“ Wie sieht sie ge kannte ich nicht – und ich hätte mich auch nicht getraut, heute die „Flexiblen Hilfen“? „Angst ist unnötig. Ich kann sie das alles zu beantragen“, so Silke. „Die Unterstützung bei zu 100 Prozent weiterempfehlen.“ MD Ämtergängen half sehr. Sie hat auch Max Möglichkeiten verschafft, etwa an Ausflügen teilzunehmen.“ Karin Keller » Kontakt betont, es gehe auch darum, Klient*innen zu unterstützen, Karin Keller, Leiterin ein soziales Netz aufzubauen, das Halt gebe und Austausch Kinderschutzbund Ortsverband Wiesloch e.V. biete. „Das ist Ihnen in den vergangenen Jahren gut ge- geschaeftsstelle@kinderschutzbund-wiesloch.de lungen“, lobt sie. „Sie treffen sich nun öfter mit anderen Fa- www.kinderschutzbund-wiesloch.de milien auf dem Spielplatz.“ Silke lacht. Zu einigen Frauen- frühstücken sei sie eingeladen worden, bestätigt sie. „Lange *Namen von der Redaktion geändert | PARITÄTinform | März 2020 | 17
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