Pythagoras' Rache Arturo Sangalli Ein mathematischer Thriller
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Arturo Sangalli Pythagoras’ Rache Ein mathematischer Thriller Aus dem Englischen übersetzt von Peter Wittmann Sangalli_Titelei.indd III 01.09.2010 14:56:54
Titel der Originalausgabe: Pythagoras’ Revenge – A Mathematical Mystery Aus dem Englischen übersetzt von Peter Wittmann © 2009 by Princeton University Press Wichtiger Hinweis für den Benutzer Der Verlag und der Autor haben alle Sorgfalt walten lassen, um vollständige und akkurate Informationen in diesem Buch zu publizieren. Der Verlag übernimmt weder Garantie noch die juristische Verantwortung oder irgendeine Haftung für die Nutzung dieser Informati- onen, für deren Wirtschaftlichkeit oder fehlerfreie Funktion für einen bestimmten Zweck. Der Verlag übernimmt keine Gewähr dafür, dass die beschriebenen Verfahren, Programme usw. frei von Schutzrechten Dritter sind. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handels- namen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Buch berechtigt auch ohne besondere Kenn- zeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Der Verlag hat sich bemüht, sämtliche Rechteinhaber von Abbildungen zu ermitteln. Sollte dem Verlag gegenüber dennoch der Nachweis der Rechtsinhaberschaft geführt werden, wird das branchenübliche Honorar gezahlt. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Springer ist ein Unternehmen von Springer Science+Business Media springer.de © Spektrum Akademischer Verlag Heidelberg 2010 Spektrum Akademischer Verlag ist ein Imprint von Springer 10 11 12 13 14 5 4 3 2 1 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikro- verfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Planung und Lektorat: Frank Wigger, Martina Mechler Satz: TypoStudio Tobias Schaedla, Heidelberg Umschlaggestaltung: wsp design Werbeagentur GmbH, Heidelberg ISBN 978-3-8274-2547-8 Sangalli_Titelei.indd IV 01.09.2010 14:56:54
Inhalt Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IX Danksagung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . XI Liste der Hauptpersonen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . XIII Prolog . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . XV Teil I: Eine Zeitkapsel? ................... 1 1 Das Fünfzehn-Puzzle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3 2 Das unmögliche Manuskript . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15 3 „Game over“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 29 4 Ein Abstecher nach London . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 39 5 Ein Brief aus der Vergangenheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 51 6 Gefunden und verloren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 61 7 Ein Todesfall in der Familie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 73 Sangalli_Titelei.indd V 01.09.2010 14:56:54
VI Inhalt Teil II: Ein außergewöhnlich begabter Mensch . . . . . . . . . . . . . . . . . . 79 8 Die Mission . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 81 9 Norton Thorp . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 97 10 Zufallszahlen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 107 11 Zufälligkeit überall . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 119 12 Verschwunden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 129 Teil III: Eine Sekte von Neupythagoreern . . . . . . . . . . . . . . . . 131 13 Der Auftrag . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 133 14 Der Leuchtturm. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 137 15 Das Team . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 155 16 Die Suche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 169 17 Das Schlangensymbol . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 183 18 Eine professionelle Arbeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 193 19 Mit etwas Hilfe von deiner Schwester . . . . . . . . . . . . . . 201 Sangalli_Titelei.indd VI 01.09.2010 14:56:54
Inhalt VII Teil IV: Pythagoras’ Mission . . . . . . . . . . . . . 217 20 Alle Wege führen nach Rom . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 219 21 Entführt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 241 22 Das letzte Teil des Puzzles . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 249 Epilog . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 267 Anhang 1 Jules Lösung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 269 Anhang 2 Unendlich viele Primzahlen . . . . . . . . . . . . . . . . . 271 Anhang 3 Zufallsfolgen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 273 Anhang 4 Ein einfacher Beweis des Pythagoreischen Lehrsatzes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 275 Anhang 5 Vollkommene und figurierte Zahlen . . . . . . . . . . . . 277 Anmerkungen, Nachweise und bibliographische Quellen . . . 281 Sangalli_Titelei.indd VII 01.09.2010 14:56:54
Vorwort Als ich dieses Buchprojekt erstmals dem Verlag Princeton University Press vorschlug, hatte ich eine ganz andere Idee im Kopf. Doch was ursprünglich als eine Betrachtung über die Macht der Zahlen und ihre Tyrannei in unserer modernen Gesellschaft gedacht war, wurde schließlich zu einer fiktionalen Erzählung – eine Metamorphose, die nur dank der enthusiastischen und unerschütterlichen Unterstützung von Vickie Kearn, meiner Lektorin bei PUP, möglich war. Mein Plan war, mathematische Konzepte und Erkennt- nisse – darunter einige recht anspruchsvolle und ins Phi- losophische gehende – einem größeren Publikum näher zu bringen, und dieses Ziel schien besser erreichbar, in- dem ich eine fiktive Geschichte auf unterhaltsame Weise erzählte. Als ich mit der Arbeit an der Geschichte begann, wuss- te ich lediglich, dass ich die Figur des Pythagoras und sei- ne Lehren einbauen wollte. Pythagoras war eine so schill- dernde Persönlichkeit – Philosoph und Mathematiker natürlich, aber auch religiöser Führer, Musiktheoretiker und politischer Denker, Demagoge und Wundertäter –, dass er mir als die ideale Hauptfigur für meine Erzählung erschien. Die Geschichte sollte teils auf Fakten beruhen Sangalli_Titelei.indd IX 01.09.2010 14:56:54
X Vorwort und teils fiktiv sein, sie sollte Gegenwart und Vergangen- heit, antike Vorstellungen und moderne Wissenschaft, 2500 Jahre alte Mathematik und die jüngsten Errungen- schaften auf diesem Gebiet miteinander verbinden. Pythagoras’ Rache sollte alle ansprechen, die gern über Mathematik und Mathematiker lesen, vom Schüler bis zum promovierten Akademiker. Darüber hinaus hoffte ich, durch die Verknüpfung von mathematischen Ideen mit einer spannenden Handlung auch diejenigen zu er- reichen, die der Mathematik sonst aus dem Weg gehen, und mir schwebte außerdem vor, sie auf diese Weise an die Schönheit und Kraft der „Königin und Dienerin der Wissenschaft“, wie Eric Temple Bell die Mathematik ein- mal nannte, heranführen zu können. Sangalli_Titelei.indd X 01.09.2010 14:56:54
Prolog Pythagoras von Samos, der erste Mensch, der sich selbst als Philosophen – wörtlich „Weisheitsliebender“ – be- zeichnete, war eine herausragende Figur der griechischen Antike. Als brillanter Mathematiker und mystischer Den- ker, geistiger Lehrer und politischer Denker verkörpert er den Intellektualismus, der später das Denken im klas- sischen Griechenland prägen sollte. Die größten griechi- schen Denker, von Aristoteles bis Proklos, stimmen alle darin überein, dass er es war, der die Mathematik in den Rang einer Wissenschaft erhoben hat. Andere, eher dunkle und weniger gut bekannte Seiten seiner Persönlichkeit werfen gewisse Fragen hinsichtlich seines wahren Charakters auf, etwa sein Glaube an die Seelenwanderung von Menschen zu Tieren, sein An- spruch auf Göttlichkeit oder seine angebliche Erinnerung an frühere Leben. Pythagoras wurde um 570 vor Christus auf der Ägäis- Insel Samos geboren. Als junger Mann reiste er nach Ägypten, wo er von den Priestern des menschenköpfigen Gottes Amun von Theben, dessen Heimattempel sich in Karnak befand, unterrichtet wurde. Es heißt von ihm auch, dass er die Gymnosophisten, die „nackten Philoso- phen“ Indiens getroffen habe, bevor er nach Babylonien Sangalli_Titelei.indd XV 01.09.2010 14:56:54
XVI Prolog ging, um Astronomie, Mathematik und Astrologie zu studieren und zu lehren. Im Alter von ungefähr vierzig Jahren verließ er Samos, um der Herrschaft des Tyrannen Polykrates zu entfliehen, und ging nach Magna Graecia oder Großgriechenland, wie die Gegend um einige griechische Städte an der Ostküste Süditaliens genannt wurde. Dort ließ er sich in der Stadt Kroton nieder, wo er eine asketische und ver- schwiegene Sekte gründete. Die Bruderschaft, wie deren Anhänger sie nannten, war sowohl eine religiöse Gemein- schaft als auch eine wissenschaftliche Schule, die sich der Erforschung des Rätsels der Zahl als „Quelle und Prinzip aller Dinge“ widmete. Für die Pythagoreer war „Zahl“ ein stoffliches Prinzip, dessen Natur es zu entdecken galt. Ihr Studium der Zahl war in vier Zweige gegliedert: Arithmetik, Zahl an sich; Geometrie, Zahl im Raum; Musik oder Harmonielehre, Zahl in der Zeit; und Astronomie, Zahl in Raum und Zeit. Sie glaubten, dass man ausschließlich über Zahlen zu einem Verständnis der Dinge gelangen könnte und dass die Zahl sich nicht nur in allen Erscheinungen der Natur manifestierte, sondern genauso in den Werken der Kunst und der Musik. Die Musik war von zentraler Bedeutung in der py- thagoreischen Lehre. Pythagoras’ Entdeckung, dass har- monische Klänge mit einfachen Zahlenverhältnissen korrespondieren, brachten ihn darauf, diese Beziehung auf die Ordnung des gesamten Universums auszuwei- ten und zu erklären, dass „der ganze Himmel oder das sichtbare Universum Harmonie oder Zahl ist.“ Er lin- derte die Leiden der Seele und des Körpers durch das Spiel auf der Lyra, indem er bestimmte Rhythmen Sangalli_Titelei.indd XVI 01.09.2010 14:56:55
Prolog XVII auf dem Instrument anschlug und selbst komponierte Lieder sang. Pythagoras lehrte die Unsterblichkeit der Seele und dass sie nach dem Tod in einem anderen belebten Kör- per wiedergeboren würde; aus diesem Grund sollten alle Lebewesen als einer großen Familie zugehörig betrachtet werden. Er unterrichtete außerdem, dass sich Ereig- nisse in vorherbestimmten Zeitabständen wiederholen würden, so dass nichts völlig neu sei. Und er gab seine Überzeugung weiter, dass der Mensch ein Mikrokosmos sei, der alle Bestandteile, die das Universum bestimmen, im Kleinen widerspiegelt. Er verwendete als Erster den Begriff Kosmos (wörtlich „geordnete Welt“) für das Uni- versum. Kosmos bedeutet aber auch „Schmuck“, sodass nach Pythagoras die Welt mit Ordnung geschmückt ist. Das Meiste, was wir über Pythagoras wissen, ist von einer Aura des Geheimnisvollen umgeben, eine Mi- schung aus Tatsachen und Legenden, überliefert vor allem durch die nach seiner Zeit entstandenen Wer- ke griechischer Geschichtsschreiber, denn die frühesten und verlässlichsten Berichte sind größtenteils verloren gegangen. Die verschiedenen Quellen stimmen oft nicht überein, und manchmal stehen sie sogar im offenen Widerspruch zueinander, zum Beispiel was seinen Tod betrifft: Manche sagen, er sei bei einem Feuer in Kro- ton umgekommen, andere berichten, dass er das Feuer überlebt hätte und nach Metapont geflohen sei, wo er an Altersschwäche starb; wieder einer anderen Version zufolge wurde er von einer aufgebrachten Menge ge- meuchelt. In einem Punkt jedoch stimmen alle früheren und heutigen Historiker überein: Pythagoras hinterließ keine Schriften. Sangalli_Titelei.indd XVII 01.09.2010 14:56:55
XVIII Prolog Was aber, wenn doch? Was, wenn er ein Manuskript hinterlassen hätte, so gut versteckt, dass es nie gefunden wurde? Dann würde eine Flut von Fragen auf uns he- reinstürzen: Was stand in diesem Manuskript? Warum schrieb er es? Und aus welchem Grund traf er solche außergewöhnlichen Vorkehrungen, um es über die Zeit zu bewahren? Sangalli_Titelei.indd XVIII 01.09.2010 14:56:55
Teil I Eine Zeitkapsel? Sangalli.indd 1 01.09.2010 11:07:14
1 Das Fünfzehn-Puzzle „Kennen Sie das Fünfzehn-Puzzle?, fragte der Mann, der sich nur als „Mr. Smith“ vorgestellt hatte. Jule verneinte. „Es wurde um 1870 von Sam Loyd erfunden“, fuhr der Mann fort, „einem der bekanntesten Spiele-Erfinder und Rätselspezialisten Amerikas, dessen Puzzle in der letzten Zeit wieder sehr populär geworden ist, populärer noch als der Zauberwürfel, den Rubik ein Jahrhundert später erfand.“ Jule erinnerte sich an die Faszination, die Rubiks Würfel auf ihn ausgeübt hatte, als er ein Teenager war. Stundenlang hatte er die sechsundzwanzig leuchtend bunten Würfelchen gedreht, um die knifflige Lösung zu finden, die darin bestand, dass jede der sechs Seiten des Würfels eine einheitliche Farbe zeigte. Und er erinner- te sich an sein Staunen über die große Zahl möglicher Anordnungen. Seine Zwillingsschwester Johanna glaubte damals, es gebe unendlich viele Möglichkeiten, und war deshalb überzeugt, dass es unmöglich sei, die einmal in Unordnung gebrachten Würfelchen wieder in ihre ursprüngliche Position zu bekommen. Jule wusste, dass beides nicht stimmte, konnte es allerdings damals nicht beweisen. Erst viele Jahre später, als er das Spiel und seine magische Anziehungskraft längst vergessen hatte, war er Sangalli.indd 3 01.09.2010 11:07:15
4 Pythagoras’ Rache zufällig in einem der vielen mathematischen Artikel, die sich mit Rubiks Erfindung beschäftigten, auf die Lösung gestoßen. „Es gibt nicht unendlich viele, sondern genau 43 252 003 274 489 856 000 verschiedene Konstellationen des Würfels“, ließ er Johanna mit einem Gefühl des Triumphs wissen. Seine Schwester gab sich jedoch nicht völlig geschlagen. „Mag sein“, sagte Johanna, nachdem sie einen Moment überlegt hatte, „aber eine so große Zahl ist so gut wie unendlich.“ Der Mann kramte in einer seiner Taschen und holte ein kleines hölzernes Quadrat mit Zahlen darauf hervor. Der Gegenstand kam Jule irgendwie bekannt vor, aber er konnte nicht genau sagen, was es war. Tatsächlich handelte es sich um einen Rahmen, in dem sich kleinere, gleich große Quadrate befanden, die von eins bis fünf- zehn durchnummeriert waren. Die Quadrate waren in Viererreihen angeordnet, von links oben in aufsteigender Reihenfolge, allerdings waren zwei Quadrate, die 14 und die 15, gegeneinander vertauscht, und in der rechten un- teren Ecke befand sich ein freies Feld. „Das Ziel des Spiels besteht darin, die Zahlen in eine aufsteigende Reihenfolge von eins bis fünfzehn zu bringen, indem man die klei- nen Quadrate eins nach dem anderen nach oben, unten, rechts oder links in das jeweils freie Feld bewegt“, erklärte der Mann. Jule glaubte zu wissen, was als Nächstes kommen wür- de, doch der Mann steckte das Spiel in seine Tasche zu- rück. Falls er die Absicht hatte, Jule mit dem Spiel heraus- zufordern, so wollte er damit offenbar noch warten. Wie dem auch sei, Jule war davon überzeugt, dass er früher oder später einer Art Test unterzogen würde. Das schloss er aus den Umständen, die zu seiner Anwesenheit in Sangalli.indd 4 01.09.2010 11:07:15
1 Das Fünfzehn-Puzzle 5 Mr. Smiths (oder welches immer sein richtiger Name war) stattlichem zweistöckigen Haus in Highland Park geführt hatten, einem wohlhabenden, von geschwungenen Alleen durchzogenen, locker bebauten Vorort Chicagos, rund zwanzig Meilen vom Stadtzentrum entfernt. Mit seinen vierunddreißig Jahren hatte Jule Davidson die Hoffnung so gut wie aufgegeben, jemals ein berühm- ter Mathematiker zu werden. Er war klein gewachsen, von athletischer Statur und lässigem Auftreten. Trotz sei- ner hohen Stirn und seines schütteren kastanienbraunen Haares hielt er sich für einen gut aussehenden Mann, was er mit seinen großen grünen Augen und seiner wohl- proportionierten Nase durchaus auch war. Oberflächlich betrachtet, schien er recht zufrieden mit seinem Beruf als Dozent am Mathematischen Institut der Indiana State University in Terre Haute zu sein. Doch gegenüber seinen Sangalli.indd 5 01.09.2010 11:07:15
6 Pythagoras’ Rache engsten Freunden würde er eine wachsende Unzufrieden- heit mit seinem akademischen Leben eingestanden haben, welches ihm mit seinen jährlich wiederkehrenden Vorle- sungen, Besprechungen, Prüfungen und Abschlussfeiern etwas zu bequem und vorhersagbar geworden war. Insgeheim beneidete Jule seine Zwillingsschwester. Jo- hanna arbeitete freiberuflich als Beraterin für Compu- tersicherheit und unternahm häufig kurze Reisen nach London, Athen oder Bangkok, um irgendwelchen Un- ternehmen dabei zu helfen, den nächsten elektronischen Eindringlingen zwei Schritte voraus zu sein. Und wann immer es ein Hacker schaffte, an sensible Daten heran- zukommen, oder der neueste Computervirus das System eines ihrer Kunden lahm legte, war es an Johanna, das Problem zu beheben, welches im Unterschied zu seinen Seminaren über Gruppentheorie oder nichteuklidische Geometrie niemals dasselbe war. Er wünschte sich, dass sein mathematisches Talent und sein logischer Verstand ebenfalls vor neue Herausforderungen gestellt würden. In den Tagträumen seiner Jugend hatte er sich oft als Held einer fantastischen Reise oder eines Abenteuers von der Art gesehen, wie sie Jules Verne erfand und die der be- rühmte französische Schriftsteller in seinen Romanen so lebendig schilderte und dabei viele technische Wunder- werke des zwanzigsten Jahrhunderts, vom Unterseeboot bis zum Raumschiff, prophetisch vorwegnahm. Eigentlich hieß Davidson mit Vornamen Jules, nach dem berühmten Autor – „einem literarischen Genie und wissenschaftlichen Visionär“, wie seine Mutter fand. Spä- ter jedoch tilgte er das „s“, da es, obwohl im Französischen nicht gesprochen, von den meisten doch betont wurde, mit dem Ergebnis, dass sie seinen Namen verfälschten. Sangalli.indd 6 01.09.2010 11:07:15
1 Das Fünfzehn-Puzzle 7 Eines Abends, als er canyousolveit.com, eine Inter- netseite mit mathematischen Rätseln, besuchte, weck- te eine zweiteilige Frage zur Wahrscheinlichkeit seine Aufmerksamkeit, vielleicht weil sie ihn an ein ähnliches Problem aus seiner Studentenzeit an der University of New Hampshire erinnerte: Eine Gruppe von zwölf Base- ballspielern verstaut ihre Kappen in einer Tasche. Nachdem die Kappen gut durcheinander gemischt wurden, greift jeder der Spieler eine Kappe nach dem Zufallsprinzip heraus. 1) Berechne die Wahrscheinlichkeit, dass keiner der Spieler seine eigene Kappe herausgreift. 2) Wie groß ist die Wahrschein- lichkeit, wenn die Gruppe aus unendlich vielen Spielern besteht? Nicht ohne Mühe hatte Jule die Antwort gefunden, die er für die richtige hielt.1 Für den ersten Teil der Frage war er auf einen Wert von 0,3679 oder 36,79 Prozent Wahr- scheinlichkeit gekommen, dass keiner der zwölf Spieler seine eigene Kappe herausgreifen würde. Um den zweiten Teil der Frage zu beantworten, musste er den Grenzwert der Wahrscheinlichkeit finden, wenn die Zahl der Spie- ler unendlich groß angenommen wurde. Auch wenn es merkwürdig erscheinen mag, die Wahrscheinlichkeit blieb unabhängig von der Zahl der Spieler praktisch dieselbe. (Für ganz wenige Spieler trifft das allerdings nicht zu; geht man zum Beispiel von nur zwei oder drei Spielern aus, so betragen die Wahrscheinlichkeiten 0,5 bzw. ⅓, wie eine einfache Rechnung zeigt.) Jule hatte die Wahrschein- lichkeit, dass keiner der unendlich vielen Spieler seine eigene Mütze herausgreifen würde, auf genau 1/e oder 0,367879441... berechnet. 1 Hinweise zur Lösung siehe Anhang 1 Sangalli.indd 7 01.09.2010 11:07:15
8 Pythagoras’ Rache Das e in der Antwort bezeichnet eine Zahl von zentraler Bedeutung in der Mathematik, eine Art Universalkonstan- te. Sie ist definiert als Grenzwert der Folge (1 + 1/n)n, wenn n gegen unendlich geht, ist aber besser bekannt als die Basis der natürlichen Logarithmen. Ihr Wert ist 2,7182 ... (eine unendliche Reihe von Nachkommastellen folgt). Sie erscheint in einer Vielzahl von Zusammenhängen in der reinen Mathematik wie auch ihren Anwendungen auf konkrete Alltagsfragen, von der Theorie der komplexen Zahlen und Differenzialgleichungen bis zu Modellen des Bevölkerungswachstums, der Anordnung der Samen in einer Sonnenblume oder den Wahrscheinlichkeiten im Zusammenhang mit Baseballspielern, die ihre Kappen tauschen. Ein weiteres Beispiel liefert die Zinsrechnung: Legt man einen US-Dollar zu einem Zinssatz von jährlich einhundert Prozent an, wobei die Zinsen stündlich aufge- schlagen werden, so wird der Betrag auf dem Konto nach einem Jahr annähernd auf den Wert von e – also 2,72 Dollar –, auf den Cent gerundet, angewachsen sein, und er wird exakt den Wert von e erreichen, wenn die Zinsen „kontinuierlich“ aufgeschlagen werden. Nachdem Jule auf den Antwort-Button geklickt hatte, um seine Lösungen zu überprüfen, wurde er aufgefordert, diese in eine Box einzugeben. Er war der Anweisung gefolgt, und der Bildschirm hatte mit einer Nachricht geantwortet: Sie haben den ersten Test bestanden, möchten Sie jetzt fortfahren? Der Preis ist die Gelegenheit, zur Lösung eines 2500 Jahre alten Rätsels beizutragen. Jule hatte drei Tage gebraucht, um vier weitere Proble- me zu lösen und eine Reihe von kurzen, nichtmathemati- schen Fragen zu beantworten, wie Was haben die Begriffe „live“, „record“ und „load“ gemeinsam? oder Schätze die Sangalli.indd 8 01.09.2010 11:07:15
1 Das Fünfzehn-Puzzle 9 (durchschnittliche) Zahl von Wörtern, die ein amerikani- scher Mann in seinem Leben benutzt, angenommen, er wird 78 Jahre alt. Nachdem er die letzte Aufgabe, ein teufli- sches mathematisches Rätsel, gelöst hatte, füllte die Dar- stellung eines Feuerwerks den Bildschirm und es erschien eine Nachricht: Glückwunsch! Sie könnten die Person sein, nach der wir suchen. Wenn Sie weiter interessiert sind, sen- den Sie bitte Ihren Lebenslauf an ... Jule hatte sein Curriculum vitae tags darauf per E-Mail geschickt. Obwohl er die Befürchtung hatte, dadurch zur Zielscheibe zahlloser Spam-Mails zu werden, schien ihm die Möglichkeit, dass sich in seinem Leben etwas ändern könnte, das Risiko wert zu sein. Eine Woche später, Anfang Januar 1998, traf er nach anstrengender sechsstündiger Autofahrt von Terre Haute ans Ufer des Michigan-Sees nachmittags um zwei Uhr bei der Adresse ein, die ihm zusammen mit der Einladung zu einem Gespräch zugeschickt worden war. Ein großer ha- gerer Mann Mitte fünfzig mit stechenden braunen Augen und silbrigem Haar öffnete die Tür und begrüßte ihn mit einem Lächeln. „Mister Davidson? Bitte treten Sie ein.“ Der Mann war überaus korrekt gekleidet, er trug einen klassischen blauen Blazer, weißes Hemd, graue Hosen so- wie eine Fliege, die zum Rest nicht so recht passen wollte. Ungefähr eine Stunde lang wurde Jule ausführlich nach seiner Vergangenheit, seiner Karriere, nach Freunden, Hobbys und besonders nach seinen Motiven, die ge- heimnisvolle Internetnachricht zu beantworten, befragt. Und dann, als wäre die Befragung in eine neue Phase eingetreten, hatte der Mann das Fünfzehn-Puzzle erwähnt und ihm das kleine quadratische Brett gezeigt, auf dem es gespielt wurde. Sangalli.indd 9 01.09.2010 11:07:15
10 Pythagoras’ Rache „Dieses Puzzle hat eine interessante Geschichte“, sagte der Mann und griff nach einem Buch mit abgenutztem Umschlag, das auf einem niedrigen Tisch lag. Jule beob- achtete die präzisen Bewegungen der gepflegten Hände, und ihm fiel der silberne Ring mit einem geschliffenen weißen Stein auf, den der Mann am Mittelfinger seiner linken Hand trug. Wenige Wochen später sollte Jule auf die symbolische Bedeutung dieses Rings stoßen. „Möchten Sie die Geschichte hören?“, fragte der Mann und begann, ohne die Antwort abzuwarten, mit theatra- lischem Tonfall laut vorzulesen. „In den späten 1870er Jahren tauchte das Fünfzehn-Puzzle in den Vereinigten Staaten auf; es verbreitete sich rasch, und wegen der un- zähligen Spieler, die dem Puzzle verfielen, wurde es zu einer regelrechten Plage. Dasselbe war auf der anderen Seite des Ozeans, in Europa, zu beobachten. Hier konnte man sogar Fahrgäste von Pferde-Straßenbahnen sehen, die das Spiel in ihren Händen hielten. Die Angestellten von Büros und Geschäften wurden zum großen Ärger ihrer Vorgesetzten während der Arbeits- und Öffnungs- zeiten vollständig von dem Spiel gefangen genommen. In Paris wurde das Spiel unter freiem Himmel, auf den Boulevards, gespielt, und von der Hauptstadt breitete es sich rasch in die Provinz aus. Ein zeitgenössischer franzö- sischer Autor schrieb: ‚Es gab kaum ein Bauernhaus, in dem diese Spinne nicht ihr Netz gespannt hatte und auf Opfer wartete, die sich in ihren Fäden verfingen‘.“ Der Mann machte eine kurze Pause und warf Jule einen Blick zu, als wollte er sich davon überzeugen, dass seine Geschichte die beabsichtigte Wirkung erzielte. „Im Jahr 1880“, fuhr er fort, „schien das Puzzlefieber seinen Höhepunkt erreicht zu haben. Der Erfinder des Spiels Sangalli.indd 10 01.09.2010 11:07:15
1 Das Fünfzehn-Puzzle 11 machte dem Herausgeber einer New Yorker Zeitung den Vorschlag, eine Prämie von tausend Dollar für die rich- tige Lösung auszuschreiben. Der Herausgeber zögerte, woraufhin der Erfinder anbot, das Preisgeld aus eigener Tasche zu bezahlen. Der Erfinder war Sam Loyd. Er hatte sich einen Namen als Autor unterhaltsamer Rät- sel und einer Vielzahl von Geduldspielen gemacht. Die tausend Dollar Preisgeld für die erste richtige Lösung blieben unangetastet, obwohl jedermann fleißig daran arbeitete. Man erzählte sich lustige Geschichten von La- denbesitzern, die über dem Spiel vergaßen, ihr Geschäft zu öffnen, von pflichtbewussten Beamten, die die Nacht über unter einer Straßenlaterne standen und das Problem zu lösen versuchten. Keiner wollte sich geschlagen ge- ben, denn alle waren davon überzeugt, dass sie es früher oder später schaffen würden. Es hieß, dass Seeleute ihre Schiffe auf Grund laufen ließen, Lokführer ihre Züge an Bahnhöfen nicht anhielten und Landwirte das Pflügen vernachlässigten.“ An dieser Stelle hörte der Mann auf zu lesen und klapp- te das Buch zu. „Wissen Sie, wie die Geschichte endet?“, fragte er Jule und sah ihm dabei in die Augen. „Ich habe keine Ahnung“, antwortete Jule, ohne zu zögern. „Gut“, sagte der Mann sichtlich erleichtert. „Dann können wir fortfahren. Bitte folgen Sie mir.“ Sie traten in einen großen Raum, der fast vollständig mit Büchern angefüllt war. Die meisten waren in Bücher- regalen verstaut, die drei der vier Wände verdeckten, eine Menge anderer lagen auf einem großen Tisch oder türm- ten sich auf dem Fußboden in wackligen Stapeln von unterschiedlicher Höhe. Der Mann führte Jule zu einem Computerarbeitsplatz zu ihrer Linken und bedeutete ihm Sangalli.indd 11 01.09.2010 11:07:15
12 Pythagoras’ Rache mit einer Geste, er möge sich setzen. Dann fragte er: „Wie wäre es mit einem Fünfzehner-Spielchen, Mr. Davidson?“ Jules Einverständnis voraussetzend, begann der Mann die Regeln zu erklären. „Es ist ein virtuelles Spielfeld, wie sie sicher schon erraten haben.“ Er drückte einige Tasten, und die Ausgangsposition des Puzzles erschien auf dem Bildschirm. „Die nummerierten Quadrate lassen sich mit dem Cursor bewegen, natürlich nur in den erlaubten Schritten. Sie haben genau 60 Minuten, um das Puzzle zu lösen. Überflüssig zu sagen, dass mein Interesse an Ihren Diensten ganz wesentlich vom Ergebnis des Spiels ab- hängen wird.“ Er wartete auf eine Reaktion von Jule, die jedoch ausblieb. „Wollen Sie noch etwas wissen?“, fragte er nach einigen Augenblicken. Die Aufgabe vor Augen erinnerte Jule sich daran, wie es ihm trotz aller Anstrengungen nie gelungen war, die Lö- sung von Rubiks Zauberwürfel zu finden. Doch das war in seiner Jugend, und dies hier war eine andere Geschich- te – und ein anderes Spiel. Während seine Gedanken zurück zu Rubiks dreidimensionalem Puzzle schweiften, fiel ihm ein, gelesen zu haben, dass jemand aus Vietnam den Weltrekord hielt – er brauchte weniger als dreißig Sekunden, um den in Unordnung gebrachten Würfel wieder in die korrekte Konstellation zu bringen. Er hatte nicht glauben können, dass das möglich war. Und doch wusste man von genauso unglaublichen Kunststücken sogenannter Rechenkünstler, die in der Lage sind, kom- plizierte arithmetische Operationen blitzschnell im Kopf auszuführen, obwohl sie nur durchschnittlich intelligent sind. Einer von diesen Rechenkünstlern, ein gewisser Jacques Inaudi, 1867 in Italien geboren, wurde im Alter von 25 Jahren von dem Mathematiker Gaston Darboux Sangalli.indd 12 01.09.2010 11:07:15
1 Das Fünfzehn-Puzzle 13 der Französischen Akademie der Wissenschaften präsen- tiert. Dort wurden ihm Fragen gestellt wie: Auf welchen Wochentag fiel der 4. März 1822? Wenn die dritte Potenz plus das Quadrat einer Zahl 3600 ergibt, um welche Zahl handelt es sich dann? Subtrahiere 1 248 126 138 234 128 010 von 4 123 547 238 445 523 831. Auf solche und ähnliche Fragen hatte er in weniger als 35 Sekunden die richtigen Antworten parat gehabt. Jule fragte sich, wie lange Inaudi wohl für die Lösung des Fünfzehn-Puzzles gebraucht hätte. Er wollte sich nach der schnellsten Zeit erkundigen, in der es jemand geschafft hatte. Doch der Mann war bereits gegangen und der Monitor informierte ihn, dass das Spiel in 25 Sekun- den beginnen würde, ... 24, ... 23, ... Sangalli.indd 13 01.09.2010 11:07:15
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