Russland - erlesen Jan-Pieter Barbian - Bibliotheksportal

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Ausland

Jan-Pieter Barbian
Russland – erlesen
Ein Land der Gegensätze /
Zu Gast in den Bibliotheken
von Moskau und Perm

Russland ist ein Land der Gegensätze.
Das gilt für Klima, Natur und Besiedlung
des Riesenreiches genauso wie für die
Ausstattung von Bibliotheken. Während
sich in Moskau Besucher der Russischen
Staatsbibliothek durch mehr als 70 Mil-
                                            Monumental: Das heutige Hauptgebäude der Russischen Staatsbibliothek in Moskau, dessen
lionen Karteikarten wühlen, verfügt die
                                            Vorplatz ein Denkmal für Fjodor M. Dostojewski ziert, wurde in den 1930er-Jahren begonnen
dortige Staatliche Jugendbibliothek über    und erst 1960 fertiggestellt.                                                Foto: Barbian
eine moderne e-library und einen eigenen
Weblog. Jan-Pieter Barbian hatte im Juni
dieses Jahres Gelegenheit, auf einer Vor-

                                            E
tragsreise Moskau und die rund tausend            s gab und gibt in Deutschland zahl-      sphäre der Zeit und das völlige Ausgelie-
Kilometer entfernte Stadt Perm am Ural            reiche Journalisten, Schriftsteller      fertsein der Menschen an die Willkür des
kennenzulernen. Seine Eindrücke in den            und Wissenschaftler, die sich mit der    Teufels in Moskau auf geniale Weise nahe
unterschiedlichen Bibliotheken der beiden   wechselvollen Geschichte und spannungs-        bringt: »Der Meister und Margarita«. Das
Städte schildert er im Folgenden.           reichen Gegenwart Moskaus beschäftigt          Buch durfte erst 1967 in der Sowjetunion
                                            haben. Zwei der aktuell besten Bücher          veröffentlicht werden.
                                            zum Thema stammen von Karl Schlögel,              Die Spuren dieser Vergangenheit sind
                                            der in Berlin, Moskau und Leningrad            zwar bis heute im Stadtbild sichtbar: am
                                            Philosophie, Soziologie, Osteuropäische        deutlichsten an den sieben Wolkenkrat-
                                            Geschichte und Slawistik studiert hat und      zern, die Stalin als Wahrzeichen für die
                                            seit 1994 an der Europa-Universität Via-       800-Jahrfeier der Stadt im Jahre 1947 und
                                            drina in Frankfurt/Oder Osteuropäische         die Bedeutung Moskaus als Weltmetropo-
                                            Geschichte lehrt.                              le bauen ließ, oder am Lenin-Mausoleum
                                                                                           auf dem Roten Platz, in dem seit 1924
                                            Bücher als Schlüssel zum Verstehen             nicht nur ein Revolutionsführer, sondern
                                                                                           eine ganze Epoche konserviert wird.
                                            In »Terror und Traum«, 2008 im Carl               Doch die Geschichte wird an vielen
                                            Hanser Verlag erschienen, beschreibt           Stellen ausradiert, überschrieben, rekon-
                                            Schlögel die Ambivalenz des Jahres 1937        struiert und sogar neu gebaut. Seit 2000
                                            in Moskau. Es ist ein Schreckensjahr, der      steht die Christi-Erlöser-Kathedrale aus
                                            Höhepunkt der Massenverhaftungen,              dem Jahre 1883 originalgetreu wiederauf-
                                            Schauprozesse, Hinrichtungen und der           gebaut an dem Ort, an dem sie 1931 von
                                            Verschleppung von Tausenden Menschen           Stalin gesprengt worden war, um Platz für
                                            in die Gulags, mit denen Josef Stalin          den geplanten, aber nie realisierten gigan-
                                            (1878–1953) tatsächliche oder vermeint-        tischen »Palast der Sowjets« zu schaffen.
                                            liche politische Gegner ausschaltete und          Parallel zu solchen Retrospektiven ent-
                                            seine totalitäre Herrschaft absicherte.        steht eine Skyline für das 21. Jahrhundert:
                                            Gleichzeitig setzte der Diktator mit spek-     Nach der für 2012 erwarteten Fertigstel-
                                            takulären Wolkenkratzern architektoni-         lung des Handelszentrums Moskwa City
                                            sche Akzente, blühten die Mosfilm-Studi-       im Westen der Stadt ist der Bau von wei-
                                            os mit einer reichhaltigen Filmproduktion      teren 60 Wolkenkratzern vorgesehen.
                                            auf, avancierte Alexander Puschkin zum         »Moskaus Stadtlandschaft ändert sich mit
                                            Klassiker der russischen Literatur mit         jedem Tag, und das nun schon seit über 20
                                            einem Denkmal im Stadtzentrum, wur-            Jahren.«1
                                            de die Bevölkerung in Kinos, Theatern,            Unseren Blick auf die »aufregendste
                                            Konzertsälen und Freizeitparks unterhal-       Baustelle in Europa« und den komplizier-
                                            ten, repräsentierte der Sowjetstaat Selbst-    ten Prozess der Transformation »von der
                                            bewusstsein nach innen wie nach außen          sowjetischen Metropole in eine Metro-
                                            durch spektakuläre Flüge und Hochleis-         pole des globalen Zeitalters« schärft Karl
                                            tungen im Sport.                               Schlögel in dem Buch »Moskau lesen«.
                                               In jenen Jahren schrieb Michail Bulga-      Es ist 2011 ebenfalls im Hanser Verlag
                                            kow (1891–1940) an einem Roman, der            erschienen und bringt den ersten Dar-
                                            seinen Lesern die gespenstische Atmo-          stellungsversuch zur Hauptstadt der Sow-

BuB | 63 (2011) 11-12
Russland - erlesen Jan-Pieter Barbian - Bibliotheksportal
806      BuB
         806       | Lesesaal                                                                                                           Ausland

      jetunion aus dem Jahr 1984 mit »Noti-           ne und experimentierfreudige Museum            Etwa 80 Kilometer vom Stadtzentrum
      zen und Beobachtungen« zusammen, die            für zeitgenössische Kunst im ehemaligen        entfernt liegt ein großes GULAG-Gelän-
      der Autor zu den politischen und gesell-        Hafengebäude für die Passagierschifffahrt      de, in dem von 1943 bis 1987 Tausende
      schaftlichen Veränderungen der heutigen         an der Kama; das überaus informative und       von politischen Dissidenten unter men-
      Hauptstadt der Russischen Föderation in         schön gestaltete Heimatkundemuseum             schenunwürdigen Bedingungen inhaf-
      den Jahren 1988 bis 2010 geschrieben hat.       in der ehemaligen Villa des Reeders und        tiert und zur Zwangsarbeit gezwungen
      Beide Teile des Buches vermitteln den Zu-       Industriellen Nikolaj Wassiljewitsch Me-       wurden; seit 1994 hat dort eine private
      gang in »eine fremde Welt, die uns nur in       schkow, der als Mäzen maßgeblich an der        Nichtregierungsorganisation »Perm 36«
      dem Maße verständlich wird, wie wir sie         Gründung der Staatlichen Universität im        als Gedenkstätte erhalten und für Besu-
      verstehen, wie wir mehr wissen und mehr         Jahre 1916 beteiligt war.                      cher zugänglich gemacht.
      sehen, als der plane Anblick uns freigibt.«2       Im gleichen Jahr lebte Boris Pasternak
         Verglichen mit Moskau ist Perm eine          (1890–1960) in Perm. In den Chemischen         Zwischen Vergangenheit, Gegenwart
      bei uns weitgehend unbekannte Größe.            Werken von Utschkow leistete der auf-          und Zukunft: Die Bibliotheken Moskaus
      Während die Hauptstadt der Russischen           grund einer Beinverletzung vom Kriegs-
      Föderation rund zwölf Millionen Einwoh-         dienst zurückgestellte Schriftsteller seinen   Bücher haben die Vortragsreise vorbe-
      ner zählt, wohnen in der 1 150 Kilometer        Arbeitsdienst. In Perm war Pasternak re-       reitet, die ich im Juni dieses Jahres nach
      entfernten Stadt am Ural knapp eine Mil-        gelmäßiger Nutzer der Stadtbibliothek.         Russland unternehmen konnte. Die Ein-
      lion Menschen. Perm, lange Zeit ein Zen-        Und so wurde die Stadt zum Vorbild für         ladung war ursprünglich von Duisburgs
      trum der sowjetischen Rüstungsindustrie,        Jurjatino, wohin sich Doktor Schiwago in       Partnerstadt Perm ausgegangen. Da der
      lebt heute vor allem von der Produktion         dem gleichnamigen Roman aus dem Jah-           Flug dorthin aber in jedem Fall über Mos-
      von Flugzeugturbinen, Telefonen, Elek-          re 1957 mit seiner Familie vor den Wirren      kaus Flughafen Scheremetjewo führt, bot
      tronik, Fahrrädern, Motorsägen und              der Russischen Revolution zurückzieht.         sich ein verlängerter Zwischenstopp an.
      Chemie. Lukoil, Russlands größtes Erd-          In der Bibliothek sieht Jurij Andréitsch       Er wurde zunächst dazu genutzt, um die
      ölunternehmen, hat seinen Hauptsitz in          Schiwago Lara Antipov wieder, um sich          bedeutendsten Bibliotheken der Stadt zu
      Perm. Zudem ermöglicht die Lage an der          nun unsterblich in sie zu verlieben.           besichtigen und sich mit den Bibliothe-
      Schnittstelle zwischen Europa und Asien            Nicht die einzige literarische Begeg-       karen vor Ort über ihren Arbeitsalltag
      der Stadt den Betrieb eines bedeutenden         nung mit Perm im Werk Pasternaks. Auch         auszutauschen. Iwan Uspenskij, der Leiter
      Binnenhafens am großen Fluss Kama.              in seiner 1924 veröffentlichten Erzählung      der Bibliothek des Goethe-Instituts Mos-
         Industrie und Hafen waren die An-            »Lüvers Kindheit« spielt die Stadt an der      kau, hatte das ambitionierte Besuchspro-
      knüpfungspunkte für die Städtepartner-          Kama eine wichtige Rolle. Gegenüber der        gramm zusammengestellt und mit den
      schaft mit Duisburg, die seit 2007 besteht.     heutigen Puschkin-Bibliothek hat man           Partnern vor Ort abgesprochen. Dabei war
      Auch kulturell hat Perm viel zu bieten:         dem Literatur-Nobelpreisträger daher vor       es naheliegend, mit der Russischen Staats-
      ein repräsentatives Opernhaus mit einem         Kurzem ein Denkmal gesetzt – das einzige       bibliothek zu beginnen.
      international renommierten Ballett; die         in ganz Russland.                                  Die Bibliothek liegt im historischen
      1922 eröffnete Staatliche Kunstgalerie mit         Auch auf einem anderen Gebiet leistet       Zentrum in Sichtweite des Kreml. Ihre
      ihrer hochkarätigen Gemälde-, Ikonen-           Perm Vorbildliches in der Aufarbeitung         Geschichte geht bis in das Jahr 1862 zu-
      und Skulpturensammlung; das weltoffe-           der Geschichte für das gesamte Land:           rück, als im sogenannten Paschkow-Haus
                                                                                                     die erste gebührenfreie Öffentliche Bib-
                                                                                                     liothek Moskaus eröffnet wurde. Das
                                                                                                     repräsentative, inzwischen grundlegend
                                                                                                     restaurierte Gebäude wurde 1925 zur Na-
                                                                                                     tionalbibliothek der UdSSR und erhielt
                                                                                                     den Namen Lenin-Bibliothek. Das heu-
                                                                                                     tige Hauptgebäude der Staatsbibliothek,
                                                                                                     dessen Vorplatz ein Denkmal für Fjodor
                                                                                                     M. Dostojewski (1821–1881) ziert, wurde
                                                                                                     in den 1930er-Jahren begonnen und erst
                                                                                                     1960 fertiggestellt. Das Innenleben ist
                                                                                                     eine charakteristische Mischung aus Ver-
                                                                                                     gangenheit und Gegenwart.
                                                                                                         Mit 44,1 Millionen Medieneinheiten
                                                                                                     ist die Russische Staatsbibliothek die größ-
                                                                                                     te Bibliothek Europas und nach der Lib-
                                                                                                     rary of Congress in Washington/DC die
                                                                                                     zweitgrößte der Welt. Den Hauptanteil
                                                                                                     des Bestands machen Printmedien aus:
                                                                                                     17,6 Millionen Bücher, 13 Millionen Zeit-
                                                                                                     schriften, 2,3 Millionen wissenschaftliche
                                                                                                     und technische Spezialveröffentlichun-
                                                                                                     gen, 1,4 Millionen Serien, 1,3 Millionen
      Im sogenannten Paschkow-Haus wurde die erste gebührenfreie Öffentliche Bibliothek Moskaus      Kunsteditionen, 995 700 Dissertationen,
      eröffnet. Das repräsentative, inzwischen grundlegend restaurierte Gebäude wurde 1925 zur Na-   687 500 Zeitungen, 151 300 kartografi-
      tionalbibliothek der UdSSR und erhielt den Namen Lenin-Bibliothek.             Foto: Barbian   sche Werke. An audiovisuellen Materia-

                                                                                                                           BuB | 63 (2011) 11-12
Russland - erlesen Jan-Pieter Barbian - Bibliotheksportal
Ausland                                                                                                        Lesesaal | BuB807 807

lien sind 36 400 Exemplare verzeichnet,
an CD-ROMs 32 700. Die »virtuelle
Bibliothek« umfasst 721 800 Titel, davon
619 600 Dissertationen. Schließlich gibt
es noch 565 700 Archivalien und Hand-
schriften, die im Paschkow-Haus eingese-
hen werden können.
   Die überwiegende Mehrzahl der Be-
stände ist nur über Zettelkataloge er-
schlossen (mit 70,5 Millionen Karteikar-
ten), die mehrere Räume ausfüllen. Die
Statistik weist 577 000 Nutzer aus, die die
Bestände in insgesamt 38 Lesesälen einse-
hen können. Von den 2 246 Arbeitsplätzen
verfügen 473 über eine PC-Ausstattung
und 21 über einen Internetzugang. In den
Lesesälen und bei öffentlichen Veranstal-
tungen wurden 2010 1,1 Millionen Besu-
cher gezählt. Durch die virtuelle Biblio-
thek konnten im vergangenen Jahr 35 700
neue Nutzer gewonnen werden. Für die
Website www.rsl.ru sind 6,1 Millionen         Die Russische Staatsbibliothek für Fremdsprachige Literatur beherbergt über 4,5 Millionen Me-
Zugriffe belegt. Die Anzahl der Medien-       dien in 144 lebenden und toten Sprachen – hier ein Blick in den Innenhof mit Skulpturen bedeu-
entleihungen in den Lesesälen betrug 9,3      tender Persönlichkeiten der Weltgeschichte, unter anderen Mahatma Gandhi.        Foto: Barbian
Millionen.
   In der Russischen Staatsbibliothek
arbeiten insgesamt 2 081 Angestellte in       ort, an dem sich unterschiedliche Länder,        Erlernen von Fremdsprachen, die Kunst-
82 Abteilungen. Die Mehrzahl der Mit-         Sprachen und Kulturen selbst darstellen          Abteilung sowie das Zentrum für orien-
arbeiter sind Bibliothekare (1 291) und       und mit anderen in einen Dialog treten           talische und afrikanische Kulturen. Die
weiblich (84 Prozent). Irina Boldyreva, der   können.                                          zweite Etage bietet ein US-amerikanisches
ich die Vermittlung dieser Zahlen verdan-        Bemerkenswert ist bereits der Innenhof        Informationszentrum, das Französische
ke, arbeitet als Chefbibliothekarin in der    vor dem Haupteingang. Darin sind Skulp-          Kulturzentrum und eine Niederlande-
Abteilung für »Library and Information        turen von bedeutenden Persönlichkeiten           Abteilung, seit diesem Jahr auch eine Jü-
Services« und Internationale Kontakte.        der Weltgeschichte versammelt: Schrift-          dische Bibliothek, Abteilungen für Schöne
Im Rahmen der Führung durch die beiden        steller wie Niccolò Machiavelli, Heinrich        Literatur, Literatur- und Sprachwissen-
Gebäude der Staatsbibliothek hat sie mir      Heine, Charles Dickens, Maurice Mae-             schaften und eine Sammlung wertvoller
auch das Schrift- und Buchmuseum ge-                                                           Rarer Bücher.
zeigt, das hochkarätige Schätze aus 3 000                                                         Auf der dritten Etage erwarten den
Jahren Menschheitsgeschichte präsentiert.          Die Direktorin, Irina Borisovna             Besucher die Informationsabteilung der
   Neben der Russischen Staatsbibliothek,         Mikhnova, und ihr Team haben                 Japanischen Botschaft, ein Leseraum mit
die 12,7 Millionen Medien in fremden          viel von der Stadtbibliothek Paderborn           theologischen Schriften und Literatur
Sprachen besitzt, pflegt auch die Russi-           gelernt. Deren Grundgedanke,                russischer Emigranten, die Bibliothek des
sche Staatsbibliothek für Fremdsprachige      die Medien in unterschiedlichen Lese-            russischen Philosophen und Kirchenhis-
Literatur (LFL) die internationalen Kon-        kabinetten zu präsentieren, findet             torikers Nikolay Zernov und ein Studio
takte. 1926 als Bibliothek des Neuphilolo-             sich in Moskau wieder.                  des BBC World Service sowie ein Informa-
gischen Instituts der Moskauer Universität                                                     tionszentrum zur Rechtsliteratur.
mit 100 Büchern in Englisch, Deutsch                                                              Der Bibliothek angegliedert ist ein
und Französisch gegründet, hat die LFL,       terlinck oder James Joyce, politische Per-       spezielles Fortbildungszentrum für Pä-
die seit 1990 den Namen ihrer Gründerin       sönlichkeiten wie Abraham Lincoln, Ra-           dagogen zur Vermittlung der englischen
und jahrzehntelangen Direktorin Marga-        oul Wallenberg oder Mahatma Gandhi,              und der französischen Sprache. Schließ-
rita Rudomino trägt, heute über 4,5 Mil-      Künstler wie Michelangelo oder Leonardo          lich befindet sich auch noch ein Sonder-
lionen Medien in 144 lebenden und toten       da Vinci. Innerhalb des Gebäudes befin-          bestand im Besitz der LFL: rund 8 000
Sprachen gesammelt.                           den sich in den unterschiedlichen Lese-          Bände aus der Bibliothek des preußischen
   Die Bibliothek, die 1967 ein großzügi-     sälen weitere Porträtbüsten. Beim Rund-          Staatskanzlers Karl August von Harden-
ges, funktionales Gebäude in der Niko-        gang durch das Haus erläuterte mir Jeanna        berg (1750–1822), die 1945 von Margarita
loyamskaya Straße erhielt, erfüllt im We-     Rudenko, die als Diplom-Bibliothekarin           Rudomino, damals Oberstleutnant in der
sentlichen zwei Funktionen: Sie ist zum       für die internationalen Kontakte zustän-         Roten Armee, als »Beutegut« aus Neu-
einen Öffentliche Bibliothek für alle Men-    dig ist und fließend Deutsch spricht, den        hardenberg in die Sowjetunion verbracht
schen, die sich für Geisteswissenschaften,    Aufbau der Bibliothek.                           worden war; weitere 8 000 Bände wurden
Kunst und Literatur interessieren; zum           Auf der ersten Etage befinden sich die        zu DDR-Zeiten an die Preußische Staats-
anderen ist sie ein Informationszentrum       Kinderbibliothek, das Kanadische Bil-            bibliothek in Berlin zurückgegeben.
mit Literatur zu einer Vielzahl von Län-      dungszentrum, das Sprachenzentrum                   Neben Medien und Informationen bie-
dern der Welt, und ein Kommunikations-        mit audio-visuellen Möglichkeiten zum            tet die LFL eine Reihe von Veranstaltungs-

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Russland - erlesen Jan-Pieter Barbian - Bibliotheksportal
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      formaten an: Ausstellungen, Vorträge,         Restaurierung der Fassade ebenso wie der      Bibliothek in der Cherkizovskaya Straße
      Autorenlesungen, Podiumsdiskussionen,         Innenräume und der Verbindung der bei-        als die modernste und methodisch reflek-
      Round-Table-Gespräche, wissenschaftli-        den Gebäudeteile durch ein Café heute als     tierteste, die ich in Moskau besichtigen
      che Konferenzen und Seminare. Schließ-        Bezirksbibliothek der Stadt Moskau fun-       konnte. Die Direktorin, Irina Borisovna
      lich gibt die Bibliothek in ihrem hauseige-   giert.                                        Mikhnova, und ihr Team haben viel von
      nen Verlag auch eigene Bücher heraus, die        Der Bestand umfasst rund 126 000           der Stadtbibliothek Paderborn gelernt.
      im Bibliotheksshop und in Buchhandlun-        Medien, von denen 98 671 Bücher, 21 420       Deren Grundgedanke, die Medien in un-
      gen weltweit erhältlich sind: bibliografi-    Periodika und 6 307 audiovisuelle Medien      terschiedlichen Lesekabinetten zu präsen-
      sche Zusammenstellungen zu bestimmten         sind. Die Mehrzahl der Medien befindet        tieren, findet sich in Moskau wieder.
      Ländern und Themen, Anthologien von           sich in Magazinen und muss von den Nut-          Die insgesamt 800 000 Medien sind
      Texten zu Leben und Werk russischer Au-       zern in die Lesesäle bestellt werden. Die     in Themenbereiche gegliedert und auf
      toren ebenso wie zu deren Verbindungen        Umstellung auf eine Freihandaufstellung       individuell gestaltete Bibliotheksräume
      zu Kollegen in anderen Ländern der Welt       wird derzeit diskutiert, hängt allerdings     verteilt. Ob Kunst oder Comics, ob Spra-
      (nähere Informationen unter www.libfl.        von der Finanzierbarkeit ab.                  chen oder Länderkunde, ob Sozial-, Geis-
      ru).                                             Die Abteilung mit Schöner Literatur,       tes- oder Naturwissenschaften, ob Fantasy
         Zwei Jahre nach dem Tod von Ivan S.        Sachbüchern, Lexika, Sprachlehrgängen,        oder Science Fiction, ob Musik oder Film,
      Turgenew (1818–1883) wurde im Mos-            Zeitungen und Zeitschriften in deut-          ob historische Kinder- und Jugendbücher
      kauer Stadtzentrum auf Initiative und         scher Sprache wird vom Goethe-Institut        (mit dem ältesten Kinderbuch aus dem
      mit großzügiger mäzenatischer Förderung       unterstützt, die im gleichen Raum un-         Jahr 1594) oder moderne e-library – für
      durch die Textilfabrikantenwitwe Varvara      tergebrachte französischsprachige Lite-       jedes Interesse und jeden Geschmack fin-
      A. Morozova (1848–1917) eine Öffent-          ratur von der Botschaft Frankreichs. Ein      det sich etwas in den farbenfroh und zum
      liche Bibliothek mit Lesesaal zur Erinne-     Sprachlernzentrum für beide Sprachen          Verweilen einladenden Räumlichkeiten,
      rung an einen der bedeutendsten Dichter       gehört ebenfalls zum Angebot. Der Leite-      zu denen auch ein großer Vortragssaal
      Russlands im 19. Jahrhundert eröffnet.                                                      gehört. Der Bestand wächst jährlich um
      Das historische Gebäude der Turgenew-                                                       rund 15 000 Exemplare.
      Bibliothek wurde 1972 abgerissen. Doch             Die Gorki-Bibliothek ist für                Mehr als 130 000 Besucher hat die Bib-
      konnten in unmittelbarer Nähe zwei Ge-        den gesamten Bezirk Perm zuständig,           liothek im Jahr 2010 angezogen. Die Web-
      bäude im klassizistischen Palaisstil bezo-       der so groß wie Frankreich und             site www.rgub.ru erreichte mehr als 2,5
      gen werden, die nach einer sorgfältigen        Belgien zusammen ist, aber nur 2,5           Millionen Zugriffe. Die Bibliothek bietet
                                                          Millionen Einwohner hat.                auch eine eBook-Bibliothek (http://blog.
                                                                                                  rgub.ru/ekniga) und einen eigenen Web-
                             Dr. Jan-Pieter                                                       log an (blog.rgub.ru).
                             Barbian, 1958 in       rin dieses deutsch-französischen Lesesaals,      Neben dem attraktiven Medienbestand
                             Saarbrücken gebo-      Marina Lejbowa, verdanke ich die freund-      sorgen rund 200 Veranstaltungen und
                             ren. Studium der       liche und informative Führung durch die       14 Jugendclubs für den regen Zuspruch.
                             Geschichte, Germa-     Turgenew-Bibliothek.                          Eine eigene Comic-Serie beschäftigt sich
                             nistik und Philoso-       In den über die beiden Häuser verteil-     mit den vielfältigen Möglichkeiten zur
                             phie. 1986 Magi-
                                                    ten insgesamt sechs Lesesälen stehen den      Nutzung der Bibliothek. Doch nicht nur
                             ster Artium, 1991
                             Promotion mit einer
                                                    Nutzern 84 PCs zur Verfügung. Vier            den jungen Kunden wird eine vorbildliche
        Studie über »Literaturpolitik im ›Dritten   Mitarbeiter kümmern sich ausschließ-          Bibliothek angeboten, sondern auch den
        Reich‹. Institutionen, Kompetenzen, Be-     lich um die Museumsabteilung: Sie zeigt       150 Mitarbeitern (davon 109 Bibliothe-
        tätigungsfelder« (gebundene Ausgabe         Ausstellungen zur Lebens-, Werk- und          kare). Für sie stehen ein Fitnessraum, eine
        im Archiv für Geschichte des Buchwe-        Rezeptionsgeschichte Turgenews sowie          Tischtennisplatte, ein Duschraum und
        sens 1993, aktualisierte Taschenbuch-       zur Geschichte der nach ihm benannten         eine Küche zur Verfügung.
        ausgabe dtv 1995). Von 1987 bis 1991        Bibliothek und ihrer Gründerin. Für Au-          Die hervorragende finanzielle Aus-
        Wissenschaftlicher Mitarbeiter im Fach      torenlesungen, Vorträge und Konzerte          stattung durch die Russische Föderation
        Neuere und Neueste Geschichte an der        steht ein repräsentativer Veranstaltungs-     stellt sicher, dass die Russische Staatliche
        Universität Trier. Von 1991 bis 1998
                                                    raum zur Verfügung, der rege genutzt          Jugendbibliothek in Moskau als Methodi-
        Fachbereichsleiter für Kulturelle Bildung
        an der Volkshochschule der Stadt Duis-
                                                    wird. Einen Schwerpunkt der Veranstal-        sches Zentrum für die Jugendbibliotheken
        burg. Seit 1999 Direktor der Stadtbiblio-   tungsarbeit machen besondere Angebote         in öffentlicher Trägerschaft in ganz Russ-
        thek Duisburg. Zahlreiche Publikationen     für Kinder aus. Im Jahr 2010 zog die Bib-     land dienen kann. Mit großer Aufmerk-
        zur Literatur- und Kulturpolitik der NS-    liothek insgesamt 104 488 Besucher an.        samkeit verfolgt Irina Borisovna Mikhno-
        Zeit, zu Film und Politik in der Weimarer   192 000 Entleihungen wurden registriert.      va aber auch die Entwicklungen in ande-
        Republik, zur Geschichte des Ruhrge-        Die Zahl der Entleihungen wäre sicherlich     ren Bibliotheken der Welt. Reisen nach
        biets nach 1945, zu den deutsch-franzö-     noch wesentlich höher, wenn die Öffentli-     Skandinavien, in die Niederlande, nach
        sischen Wissenschaftsbeziehungen            chen Bibliotheken in Russland auch CDs        Singapur und China haben ihr wertvolle
        im 18. und frühen 19. Jahrhundert, zu       und DVDs ausleihen dürften. Dies ist ih-      Anregungen für die eigene Arbeit gegeben.
        den deutsch-niederländischen Bezie-
                                                    nen jedoch durch die jüngste Novellierung     Auch mein Vortrag zu »Best practice«-Bei-
        hungen in der Weimarer Republik und
        zu den deutsch-polnischen Beziehung-
                                                    des russischen Urheberrechtsgesetzes un-      spielen der kulturellen Bildungsarbeit für
        en im 20. Jahrhundert. – Kontakt:           tersagt.                                      Kinder und Jugendliche in den Öffent-
        J.Barbian@Stadt-Duisburg.de (Foto:             Mit diesem Problem hat auch die Rus-       lichen Bibliotheken Deutschlands, den
        Friedhelm Krischer)                         sische Staatliche Jugendbibliothek zu         ich zum Abschluss meines Besuchs in der
                                                    kämpfen. Allerdings präsentiert sich diese    Moskauer Jugendbibliothek hielt, stieß

                                                                                                                        BuB | 63 (2011) 11-12
Russland - erlesen Jan-Pieter Barbian - Bibliotheksportal
Ausland                                                                                                         Lesesaal | BuB809 809

daher auf großes Interesse und mündete in        Organisiert worden war das Vortrags-          großem Engagement geleiteten Deutschen
einen regen Erfahrungsaustausch mit dem       und Diskussionsforum von der Direktorin          Lesesaals, vor allem Deutschlehrer an den
gesamten Kollegium.                           der Gorki-Bibliothek in Perm, Nina Cho-          Schulen und Universitäten Perms, Studie-
                                              chrjakowa, und ihrem Team. Die Biblio-           rende und Fachleute.
Aufwind im Osten:                             thek, die in diesem Jahr ihr 175-jähriges           Während die Gorki-Bibliothek für den
Die Bibliotheken Perms                        Bestehen feiern konnte, liegt im Zentrum         gesamten Bezirk Perm zuständig ist, der
                                              der Stadt. Der Bestand umfasst 2 621 529         so groß wie Frankreich und Belgien zu-
Wer im Juni nach Perm kommt, erlebt die       Medieneinheiten, nahezu ausschließlich           sammen ist, aber nur 2,5 Millionen Ein-
»Weissen Nächte«. Die Stadt ist auch um       Printmedien. Sie müssen über einen rie-          wohner hat, betreibt der »Verein der städ-
23 Uhr noch in ein frühabendliches Son-       sigen Katalogsaal erschlossen werden und         tischen Bibliotheken« seine insgesamt 41
nenlicht eingetaucht und glänzt bis tief in   sind in Lesesälen zu unterschiedlichen           Einrichtungen ausschließlich für die Stadt
die Nacht mit einem ambitionierten Kul-       Themenzusammenhängen zugänglich.                 Perm. Darunter befinden sich auch zwölf
turfestival.                                     Im Jahr 2010 wurden mehr als 1,6 Mil-         Kinderbibliotheken. Die größte Einrich-
   Im Rahmen des Festivals fand am 22.        lionen Entleihungen erzielt. 435 302 Be-         tung mit einem Buchbestand von 174 840
Juni im Orgelsaal der Permer Philhar-         sucher wurden gezählt – sowohl für die           Exemplaren ist die Puschkin-Bibliothek.
monie ein Internationales Forum zum
Thema »Moderne Bibliotheken für eine
moderne Gesellschaft« statt. Fachleute
aus Bibliotheken, Museen und Gedenk-
stätten in Russland diskutierten mit Kol-
legen aus ganz Europa über zeitgemäße
und zukunftsgerichtete Medienangebote,
Präsentationen, Dienstleistungen und die
Gewinnung unterschiedlicher Zielgrup-
pen in einer sich schnell wandelnden Ge-
sellschaft.
   Dabei machte Ekaterina Genieva, die
Generaldirektorin der Staatsbibliothek
für Fremdsprachige Literatur aus Moskau,
in ihrem beeindruckenden Vortrag deut-
lich, dass die Öffentlichen ebenso wie die
wissenschaftlichen Bibliotheken aufgrund
ihrer großen Informationskompetenz und
ihrer hohen Akzeptanz in weiten Teilen
der Bevölkerung eine zentrale Rolle im
Prozess der kulturellen Modernisierung
spielen können und sollten.
   Bei der Einladung zur Tagung hatten
                                              Perm ist die Partnerstadt von Duisburg und liegt rund tausend Kilometer von Moskau entfernt
mich die Organisatoren gebeten, über          am Ural. Die dortige Gorki-Bibliothek hat in diesem Jahr ihr 175-jähriges Bestehen gefeiert.
»Die Bürgergesellschaft und die Zukunft                                                                                         Foto: Barbian
der Bibliotheken« zu referieren. Während
in den westeuropäischen Ländern und
vor allem in den USA das bürgerschaftli-      Bibliothek als auch für die 420 Veranstal-       Das historische Gebäude aus dem 19.
che Engagement zugunsten öffentlicher         tungen (Ausstellungen, Autorenlesungen,          Jahrhundert befindet sich in unmittelba-
Kultureinrichtungen schon seit Länge-         Buchpremieren, Literaturfeste, Podiums-          rer Nachbarschaft zur Oper und dem sie
rem praktiziert wird, hat in Russland die     diskussionen, Seminare).                         umgebenden Park.
Diskussion darüber gerade erst begonnen.         In die Gorki-Bibliothek integriert ist           Die Geschichte des Hauses ist eng mit
Insofern war es für die mehr als 600 Kon-     seit 2001 der Deutsche Lesesaal, den das         einer Reihe bedeutender Persönlichkeiten
gressteilnehmer spannend, Informationen       Goethe-Institut finanziert. Er hat 3 150
über privates Engagement in Form von          Medien im Angebot mit den Schwerpunk-
Vereinen und Bürgerstiftungen zu erhal-       ten Landeskunde, schöngeistige Literatur,               Zur Begrüßung reichte die
ten und an konkreten Beispielen aus der       Sozialwissenschaften und Literatur zur             kostümierte Laienschauspieltruppe
Praxis die großen Chancen von Bibliothe-      Partnerstadt Duisburg. Auch 17 Zeitun-              zusammen mit Kindern des Ortes
ken für die Gewinnung zusätzlicher Res-       gen und Zeitschriften aus Deutschland              Hefebrot, Salz, einen Birkenblätter-
sourcen kennen zu lernen.                     können vor Ort gelesen werden. Darüber               strauß und einen Lorbeerkranz.
   Es war übrigens ein für mich bewegen-      hinaus verfügt das Lehrmittelzentrum
des Zeichen der Versöhnung, dass ausge-       über 1 127 Medien zur Erlernung der
rechnet am 70. Jahrestag des Überfalls        deutschen Sprache. Eine Vielzahl von Ver-        des russischen Kulturlebens verbunden,
der deutschen Wehrmacht auf die Sowje-        anstaltungen für die Öffentlichkeit und          an die eine Ausstellung erinnert. Der gro-
tunion und dem Beginn eines verbreche-        regelmäßige Treffen des deutschen Dis-           ße Lesesaal sieht noch so aus, wie ihn Pas-
rischen Krieges der Vertreter einer Öffent-   kussionsclubs runden das Programm ab.            ternak in »Doktor Schiwago« beschrieben
lichen Bibliothek aus Deutschland zu den      Mehr als 2100 Menschen nutzen die An-            hat: »Der vielfenstrige Saal konnte etwa
russischen Fachkollegen sprechen durfte.      gebote des von Tatjana Makschakowa mit           hundert Personen aufnehmen. Er enthielt

BuB | 63 (2011) 11-12
810      BuB
         810       | Lesesaal                                                                                                             Ausland

      mehrere Reihen von langen, schmalen
      Tischen, die bis zu den Fenstern reich-
      ten.«3 »Die Bibliotheksangestellten«, so
      die weitere Darstellung der Einrichtung
      im Roman, »hatten die gleichen gedunse-
      nen Gesichter wie viele der Lesenden und
      die gleiche welke, erdfarbene und faltige
      Haut. Sie widmeten sich abwechselnd den
      gleichen Aufgaben. Sie setzten den neuen

         Wenn Matthias Schepp in seiner
      »Gebrauchsanweisung für Moskau«
      über die russische Metropole schreibt,
      sie habe »mindestens so viele Gesich-
        ter wie ein Apriltag Jahreszeiten«,
            so gilt dies auch für Perm.

      Lesern im Flüsterton die Bestimmungen
      für die Benutzung der Bibliothek ausein-
      ander, sie ordneten die Bestellzettel, gaben
      die entliehenen Bücher aus und bearbeite-
      ten zwischendurch die Jahresstatistik.«
                                                     In Russlands Bibliotheken scheint die Zeit aufgehoben: Gegenwart und Vergangenheit, Realität
         Diese Statistik sagt für das Jahr 2010      und Abbild verschmelzen, wie hier im Lesesaal 2 des Paschkow-Hauses der Russischen Staats-
      aus, dass 21 134 Personen die Puschkin-        bibliothek.                                                                  Foto: Barbian
      Bibliothek als aktive Leser genutzt ha-
      ben, knapp 500 000 Entleihungen erzielt,
      178 740 Besucher in der Bibliothek und         Kindern des Ortes Hefebrot, Salz, einen         russische Metropole schreibt, sie habe
      mehr als 15 000 Besucher bei den 322 an-       Birkenblätterstrauß und einen Lorbeer-          »mindestens so viele Gesichter wie ein Ap-
      gebotenen Veranstaltungen gezählt wur-         kranz.                                          riltag Jahreszeiten«,4 so gilt dies auch für
      den.                                              In der Bibliothek, die in einem histo-       Perm. In zehn Tagen konnte ich vieles se-
         Das von Pasternak gezeichnete Bild der      rischen Gebäude des Gutsverwalters der          hen und zahlreichen Menschen begegnen.
      Bibliotheksangestellten hat sich grund-        Stroganow-Familie aus dem 18. Jahr-             Das bis dahin fremde Land ist mir durch
      legend verändert. Elena Nikolaewna             hundert untergebracht ist, trafen sich am       die Reise vertrauter geworden. Dafür dan-
      Kleschnina, die Direktorin des »Vereins        23. Juni Bibliothekare aus dem gesamten         ke ich den Büchern und ihren Autoren,
      der städtischen Bibliotheken«, und ihre        Bezirk zum Erfahrungsaustausch über             die mich auf die Reise vorbereitet haben,
      Mitarbeiter repräsentieren den Übergang        aktuelle Fachfragen. Ich war mit einem          den Bibliotheken und ihren Mitarbeitern,
      zu einem modernen Bibliothekssystem.           Vortrag zum Thema »Wie begeistert man           die mich überall herzlich aufnahmen, und
      Die Räumlichkeiten sind in einem an-           Menschen für Bibliotheken?« eingeladen          nicht zuletzt auch Iwan Uspenskij und
      sprechenden Zustand, die Freihandauf-          worden. Meine Best-practice-Beispiele           Natalia Dirkonos vom Goethe-Institut
      stellung ist konsequent verwirklicht, die      stammten aus Bibliotheken in Deutsch-           in Moskau sowie Tatjana Makschakowa
      Lesesäle laden zum Verweilen ein, die          land, den USA und China und zeichneten          vom Deutschen Lesesaal in Perm, die mir
      PC-Ausstattung befindet sich auf dem           eine Art ideale Bibliothekswelt, wie wir sie    mit viel Sachverstand und liebenswer-
      aktuellsten Stand und die Einführung der       kaum an einem realen Ort antreffen.             ter Geduld geholfen haben, die russische
      RFID-Technologie wird derzeit vorberei-           Daher haben mich die Vorträge der            Sprache zu verstehen.
      tet. Nicht umsonst wurde die Bibliothek        Kolleginnen aus Permer Bibliotheken
      im Rahmen von Wettbewerben unter den           fasziniert, die mit ihren relativ beschei-
      Kultureinrichtungen der Stadt wiederholt       denen finanziellen und räumlichen Res-
      ausgezeichnet.                                 sourcen in ihrer täglichen Arbeit Großes
                                                     und Wertvolles für die Menschen vor Ort
      Vorbildliche Gastfreundschaft                  leisten. Dies gilt auch für das Heimatkun-
                                                     demuseum von Iljinski, das in einem res-
      Die russische Gastfreundschaft ist welt-       taurierten historischen Gebäude aus dem
      weit bekannt. Dass sie tatsächlich bis         19. Jahrhundert eine äußerst informative
      heute vorbildlich ist, kann ich für die        und liebevoll zusammengestellte Samm-           1 Karl Schlögel, Moskau lesen, München 2011,
      beschriebenen Orte und vor allem auch          lung präsentiert. Die Führung durch die           S. 447. Das nachfolgende Zitat ebd., S. 448
      nach einem eintägigen Abstecher zur            Geschichte(n) des 18. bis 20. Jahrhunderts      2 Ebd., S. 17
                                                                                                     3 Boris Pasternak, Doktor Schiwago. Roman,
      Siedlung Iljinskij bestätigen. Das Dorf ge-    wurde von den bereits erwähnten Laien-
                                                                                                       übersetzt aus dem Russischen von Reinhold
      hört zum Bezirk Perm und liegt etwa 50         schauspielern in historischen Kleidern be-        von Walter, S. Fischer Verlag, Frankfurt am
      Kilometer vom Stadtzentrum entfernt.           sonders lebensnah gestaltet.                      Main 1958, S. 343. Das nachfolgende Zitat
      Zur Begrüßung reichte die kostümierte             Wenn Matthias Schepp in seiner »Ge-            ebd., S. 344
      Laienschauspieltruppe zusammen mit             brauchsanweisung für Moskau« über die           4 Piper Verlag, 2. Auflage, München 2010, S. 20

                                                                                                                             BuB | 63 (2011) 11-12
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