Reihe 1 - Mai 2021 - Die Staatstheater Stuttgart

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Reihe 1 - Mai 2021 - Die Staatstheater Stuttgart
Das Monatsmagazin der Staatstheater Stuttgart
Staatsoper Stuttgart, Stuttgarter Ballett, Schauspiel Stuttgart   Mai 2021

       Reihe 1
Reihe 1 - Mai 2021 - Die Staatstheater Stuttgart
Reihe 1   ⁄  Mai 2021                                           Editorial                 3

                                                      Titelmotiv              Liebe Leserinnen und Leser,
                                                      Himmlisches
                                                      Fresco: Sternbilder
                                                      des Malers Julius       vor knapp einem Jahr ist Reihe 1 entstanden, das Monats­
                                                      Mössel krönen den
                                                      Opernsaal. Die          magazin – so konzipiert, damit der Faden nicht abreißt und wir
                                                      Kuppel von 1912
                                                                              miteinander im Gespräch bleiben. Das nehmen wir zum Anlass
                                                      dient zugleich
                                                      als Abzugshaube         und bieten Ihnen eine Ausgabe, die aus lauter Gesprächen
                                                      für aufsteigende
                                                      Warmluft                ­besteht: Menschen, die mit und bei uns arbeiten, erzählen, was
                                                                               sie tun und was sie bewegt.

                                                                              Das Stuttgarter Ballett Jung bringt Jugend­liche in Bewegung.
                                                                              Die beiden Leiterinnen berichten, wie Tanz junge Menschen
                                                                              ver­ändert (ab Seite 24). Ein Psychiater, der Kinder behandelt,
                                                                              die auf der Flucht sind, hat ein Stück darüber geschrieben.
                                                                              Mit dem Regisseur erzählt er ab Seite 8, warum die Hauptrolle
                                                                              von ­einer Puppe gespielt werden muss. Viktor Schoner, der
                                                                              Inten­dant der Staatsoper Stuttgart, blickt im großen Interview
                                                                              (ab ­Seite 16) zurück und nach vorn: Wie hat Corona die Oper
                                                                              verändert? Wie ihn persönlich? Was kommt jetzt?

                                                                              Unsere Ersatzangebote finden Sie ab Seite 32. Auf unseren Web­
                                                                              sites erfahren Sie, ob, wann und wie wir vor Publikum spielen.

                                                                              Wir freuen uns auf Sie.
                                                                              Ihre Staatstheater Stuttgart

Titel: Manuel Wagner   Illustration: Nadine Redlich
Reihe 1 - Mai 2021 - Die Staatstheater Stuttgart
4         Reihe 1   ⁄  Mai 2021                             Umsehen   5
                                                                      Oberstübchen
                                                                      des Opernhauses:
                                                                      Unterm Dach
                                                                      herrschen
3 Editorial                                                           Techniker über
                                                                      Stützpfeiler,
                                                                      Luftschächte und
5 Umsehen:                                                            Stromkabel

Theater von innen

Was ist                           Was bleibt

8Beschützen Was Kinder            Werden Das Stuttgarter
                                  24

auf der Flucht erleiden:       Ballett Jung wird zehn.
ein Psychiater und ein         Die Leiterinnen berichten
Puppenspieler über ihr         von Jugend­lichen, die
Stück Fly Ganymed              durch Tanz bei sich selbst
                               ankommen
Was kommt                      30 Sein Der Künstler

14 Diskutieren Früher
                              Pascal Sorg erinnert sich,
­trafen sie sich im Foyer des wie er einst beim
 Schauspielhauses. Nun        Tanzprojekt Move It!
 debattieren die Teenager     sein Körpergefühl
 in digitalen Klubs           ­entwickelte
16Führen Was nun, Oper?
Viktor Schoner, Intendant         32 Spielplan
der Stuttgarter Staats-           34 Spüren

oper, erzählt, wie es             Das Ding: Der Stone
ist, ein Jahr lang auf der        34 Impressum
Bremse zu stehen
Reihe 1 - Mai 2021 - Die Staatstheater Stuttgart
6               Reihe 1   ⁄  Mai 2021                          Umsehen                                                                                                               7
                                                                                                                                                                                     Flagge zeigen:
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                                                                                                                                                                                     Britsch hisst auf
                                                                                                                                                                                     dem Opernhaus
                                                                                                                                                                                     die Fahne der
                                                                                                                                                                                     Staatstheater
                                                                                                                                                                                     Stuttgart – sichtbar
                                                                                                                                                                                     bis Killesberg und
                                                                                                                                                                                     Kräherwald

    Das Loch in                                                Das Dach des Opernhauses
    der Kuppel des                                             Es soll nach außen schützen und nach innen gefallen. Letzte-     Heizkosten. Beste Bedingungen zwar für Greifvögel: Sie nut-
    Opernhauses                                                res erfüllt das Dach des Opernhauses glänzend. Da sind der       zen die Thermik oberhalb der Kuppel, ziehen im tiefsten Winter
                                        Fotos: Manuel Wagner

    erlaubt Blicke                                             elegante Reigen der Kronleuchter und das Decken­gemälde des      ihre Kreise über der Oper. Im Innern des Dachs hingegen kün-
    vom Dachboden                                              Malers Julius Mössel. Die Sternbilder, sein Hauptwerk, krö-      den etliche Stützbalken, Stahlträger und parallel angelegte Si-
    in Saal, Orches-                                           nen seit 109 Jahren das einzigartige A­mbiente des Saals. Kli-   cherheitsstrukturen vom Dauerprovisorium. Die lang geplante
    tergraben und auf                                          matisch ist die Sache schwieriger. Fehlende Dämmung lässt        Sanierung würde den Energieverbrauch endlich dauerhaft
    die Bühne                                                  aufsteigende Warmluft durch­ziehen und sorgt für ­horrende       senken und das Haus adäquat beschirmen.
Reihe 1 - Mai 2021 - Die Staatstheater Stuttgart
8        Reihe 1   ⁄  Mai 2021        Was ist   ⁄ Beschützen                                 9

                        und
                   Traum Trauma
                                      Ein Puppenspieler und ein Psychiater. Der eine
Behutsame Partner: Regisseur und
                                      kennt das Leid von Kindern, die auf der Flucht sind.
Puppenspieler Nikolaus Habjan
(links) und der Kinder- und Jugend-
                                      Der andere bringt es auf die Bühne. Ein
psychiater Paulus Hochgatterer        Gespräch darüber, wie das Grauen fassbar wird
Reihe 1 - Mai 2021 - Die Staatstheater Stuttgart
10                                                                         Reihe 1   ⁄  Mai 2021                                                                                Was ist   ⁄  Beschützen                                                11

                                                                           Welche Erfahrungen machen Kinder                  Europa findet keine Lösung für das                 steht etwas, das man »innere Heimat« nennen
                                                                           auf der Flucht?                                   Problem. In der Coronakrise wird                   könnte – also Bilder, Gefühle und Eindrücke,
                                                                           Hochgatterer: Viele der Kinder haben keine        darüber sogar weniger gesprochen als               die dieses Kind sich von zu Hause mitnimmt.
                                                                           Eltern mehr. Und die Eltern sind oft nicht nur    zuvor. Können Sie sich das erklären?               Habjan: Ich habe eine Lieblingsszene, in
                                                                           gestorben, sondern davor noch gefoltert wor­      Habjan: Ich glaube, es liegt daran, dass wir       der das Kind den Großvater fragt, warum es
                                                                           den – was die Kinder wissen und manche so­        nur noch in Schlagzeilen denken. Wir lesen         überhaupt fortmuss. Der Großvater stellt eine
                                                                           gar mitansehen mussten. Sie haben dann sehr,      zum Beispiel etwas über ein schreckliches          Gegenfrage: »Wie viele Löcher sind in deiner
                                                                           sehr lange Fluchterfahrungen gemacht, die wir     Schicksal eines Kindes, das aus Afghanistan        Schule?« – »52«, antwortet das Kind. Dann
                                                                           uns in Westeuropa gar nicht vorstellen kön­       zu uns kommt, teilen das dann auf Facebook         fragt der Großvater: »Wie viele Löcher sind
                                                                           nen: monatelange Reisen unter schwierigsten       und denken: »Gut, jetzt habe ich etwas dazu        in der Polizei­station?« Das Kind sagt: »Das ist
                                                                           Umständen und mit vielen Repressalien.            gesagt!« Und dann schlafen wir wieder ruhig.       eine blöde Frage!« – »Warum?«, will der Groß­
                                                                           Warum fällt es Westeuropäern so schwer,           Hochgatterer: Es liegt auch an der Angst           vater wissen. »Weil es keine Polizei­    station
                                                                           sich in Geflüchtete hineinzuversetzen?            vor persönlicher Nähe. Es gibt die seltsame        mehr gibt«, sagt das Kind. Der Großvater: »Und
                                                                           Nikolaus Habjan: Ich glaube, dass meine Ge­       Erfahrung, dass Flüchtlingsfamilien anders         genau darum schicken wir dich weg!«
                                                                           neration – ich bin 1987 geboren – überhaupt       wahrgenommen werden, sobald sie in einem           Hochgatterer: Da begreift man plötzlich, wo­
                                                                           keine Ahnung von irgendeiner Krise hat. Die       Dorf oder Stadtteil gelandet sind. Dann gehö­      von gesprochen wird!
                                                                           Coronakrise ist der erste Ausnahmezustand,        ren sie plötzlich dazu. Auch die, die eigentlich   Ist Fly Ganymed auch ein Stück für
                                                                           den wir spüren. Wir haben keine Ahnung, was       fremdenfeindlich sind, sagen auf einmal: »Na       Kinder?
                                                                           die Schrecken der Flucht bedeuten. Und das        ja, das sind ja nicht die, die wir meinen, wenn    Hochgatterer: Die Frage ist immer, was man
                                                                           erzeugt eine ganz furchtbare Gleichgültigkeit     wir sagen, die gehören alle weggeschickt.« Und     Kindern zumuten kann. Sehr viel, finde ich –
                                                                           den Geflüchteten gegenüber. Viele von uns         deshalb versucht man – zumindest bei uns in        insofern ist es auch ein Theaterstück für junge
                                                                           wollen sich das einzelne Schicksal gar nicht      Österreich – zu verhindern, dass irgendjemand      Menschen.
                                                                           anschauen oder emotional verstehen.               eine persönliche Beziehung zu diesen Familien      Habjan: Ich würde sagen, dass es für alle
                                                                           Hochgatterer: Dabei könnten sie das. Es ist       aufbaut. Sie werden in Quartieren kaserniert,      ist – es gibt da gar keine Beschränkungen.
                                                                           ähnlich wie in der Generation meiner Eltern,      wo möglichst niemand mit ihnen zu tun hat.
                                                                           die den Zweiten Weltkrieg durchlebt haben.        Und wenn dann lange genug niemand eine
                                                                           Die Traumatisierungen durch diese Erfahrun­       persönliche Beziehung zu diesen Menschen
                                                                           gen haben sie ihr Leben lang mitschleppen         entwickelt hat, schiebt man sie ab.
                                                                           müssen. Kaum einer hatte die Gelegenheit,         Die wichtigste Bezugsperson des Jungen
                                                                           die Erlebnisse zu verarbeiten – kaum jemand       im Stück ist der Großvater, der im
Ohne Mimik: Das Gesicht der zentralen Puppe in Fly Ganymed wirkt                                                                                                                         Augenblicke: Im Wiener Atelier von Nikolaus Habjan warten kunst-
                                                                           hat ihnen zugehört, sich für sie interessiert.    Dorf zurückgeblieben ist. Immer geht es                     voll gefertigte Glasaugen auf ihren Einsatz
als Projektionsfläche für die Gefühle der Figur
                                                                           Das Gleiche passiert jetzt mit den Kindern, die   um das, was der Großvater erzählt hat.
                                                                           diese Fluchterfahrungen gemacht haben.            Ist Fly Ganymed ein Stück über Heimat?
                                                                           Wie entwickeln wir mehr Empathie für              Habjan: Ja. Ich habe vor Kurzem mit dem
                                                                           fremde Menschen, die Heimat suchen?               Schauspieler, der den Großvater spielen wird,
                                                                           Hochgatterer: Wenn wir Zentraleuropäer            ein wunderbares Telefonat geführt, und er hat
                                                                           unsere Privilegien im Sinne der Mitmensch­        gesagt, der Großvater sei eine Art Traumhei­
                          Herr Hochgatterer, Sie haben Fly Ganymed         lichkeit nutzen wollen, dann müssten wir ei­      mat für das Kind. Ich glaube, dass es für den
                          geschrieben. Worum geht es in dem Stück?         gentlich verhindern, dass diese Kinder und        Jungen auf der Flucht ganz wichtig ist, dass er
                          Paulus Hochgatterer: Das Stück erzählt die       ihre Familien die traumatischen Erfahrungen       diesen Ankerpunkt hat.
                          fiktive Fluchtgeschichte eines neunjährigen      in Konfrontation mit unserer Kultur wieder­       Hochgatterer: Der Großvater ist ein kluger
                          Jungen. Aber es ist natürlich aus den Eindrü­    holen müssen. Das passiert aber leider: Sie       Mann, der ganz viel weiß über Transgeneratio­
                          cken entstanden, die ich in meiner klinischen    verlieren ihre Angehörigen, werden gedemü­        nalität, also über die Dinge, die von einer Ge­
                          Arbeit als Kinder- und Jugendpsychiater mit      tigt, gefoltert und immer wieder abgewiesen.      neration in die nächste und übernächste wei­
                          Flüchtlingskindern gewonnen habe. Ich habe       Dann kommen sie dort an, wo sie eigentlich        tergegeben werden. Er macht das in ein paar
                          viele Flüchtlingsfamilien aus Afghanistan, dem   hinwollen – und hier passiert fast das Gleiche!   ganz einfachen Schritten und fordert seinen
                          Irak, Pakistan und später auch aus Syrien ken­   Auch in Deutschland erleben sie Ablehnung,        Enkel auf, sich gewisse Dinge zu merken, die zu
                          nengelernt, und die Kinder dieser Familien ha­   Erniedrigung, auch Hass. Das ist beschämend       tun haben mit der Topografie des Dorfes und
                          ben alle das Gleiche erlebt.                     und sollte so nicht sein.                         den Geschichten, die erzählt werden. So ent­
Reihe 1 - Mai 2021 - Die Staatstheater Stuttgart
12                                               Reihe 1   ⁄  Mai 2021                          Was ist   ⁄  Beschützen                                                                                                              13

Wie heißt das Kind im Stück eigentlich?          Wir übertragen unsere Gedanken und
Habjan: Das Kind hat keinen Namen.               Gefühle auf die Puppe?
Hochgatterer: Na ja! Es gibt einen offiziel­     Habjan: Ich versuche das immer mit ei­
len Namen, der einmal genannt wird.              nem Bild zu erklären. Ein Schauspieler oder
Habjan: … der im Pass steht, aber man            eine Schauspielerin hat ein Stück Draht
kann durchaus anzweifeln, dass das Kind          und muss damit versuchen, das Schloss
so heißt. Der Name spielt eigentlich kei­        zum Publikum zu knacken. Und bei der
ne Rolle, genauso wenig wie der genaue           Puppe ist es so, dass wir als Zuschauer ihr
Ort. Wichtig ist nur: Das Kind stammt aus        den Schlüssel zuwerfen!
einem fernen Ort und kommt zu uns, wo            Neben den Puppen stehen auch echte
auch immer wir gerade sind.                      Schauspieler bei Fly Ganymed auf der
Herr Habjan, Sie sind Regisseur und              Bühne. Wie inszeniert man so ein
Puppenspieler – und haben auch die               Stück, ohne dass es am Ende wirkt wie
Rolle des Jungen in dem Stück mit                die Sesamstraße?
einer Puppe besetzt. Sind Puppen die             Habjan: Die Sesamstraße setzt stark auf
besseren Schauspieler?                           Cartoon. Wenn sich die Puppen aber rea­
Habjan: Das würde ich nie sagen, sondern         listisch bewegen und es viel ernster zu­
eher überlegen: In welchem Kontext ist der       geht, dann ist das ganz leicht zu machen.
Mensch sinnvoll und in welchem Kontext           Das wiederum macht die Spielweise der
die Puppe? Ich glaube, die Puppe nützt uns       Schauspieler*innen umso klarer – ja ge­
gerade hier sehr viel, weil sie eine pure Pro­   radezu kompromissloser.
jektionsfläche ist. Gerade wenn es um das        Fly Ganymed ist das zweite Stück,
Leid von Kindern geht, sind wir ganz schnell     bei dem Sie beide zusammenarbeiten.
dabei, uns bei Kinderdarstellern darauf zu       Herr Hochgatterer, haben Sie
konzentrieren, dass es Schauspieler sind         das Werk für Herrn Habjan und seine
und dass alles nicht echt ist. Bei der Pup­      Puppen geschrieben?
pe ist es genau das Gegenteil. Die Puppe         Hochgatterer: Ja. Wenn man so ein Stück
ist ja die purste Form der Behauptung im         schreibt und gleichzeitig diese Puppen im
Theater. Wenn es gut gespielt ist, glauben       Kopf hat, kann man sich davon nur schwer
wir schon nach drei, vier Minuten diesem         lösen. Ich könnte mir derzeit keine andere
leblosen Ding, dass es ein Mensch ist.           Umsetzung als die von Nikolaus Habjan
Woher bezieht die Puppe diese                    vorstellen. Wir schaffen es gut, unsere Rol­
Glaubwürdigkeit?                                 len zu trennen. Nikolaus mischt sich beim
Habjan: Das hat damit zu tun, dass die           Schreiben überhaupt nicht ein.
Puppe viele Dinge nicht kann – sie hat           … und Sie halten sich aus der
zum Beispiel keine Mimik, sie kann auch          Inszenierung heraus?
die Augen nicht bewegen. Unser Hirn ist so       Hochgatterer: Das sagt man nicht so
gebaut, dass wir als Publikum diese Dinge        gerne als Autor, aber es gibt in Wahrheit
ersetzen. Wir machen sozusagen mit –             nichts Schöneres, als wenn jemand anders
Puppentheater ist immer eine Art unter­          kommt und aus dem Text etwas macht,
bewusstes Mitmachtheater. Der Regisseur          was besser ist als vorher.
Peter Brook hat einmal gesagt: »Der Schau­
spieler hat seinen größten Moment, wenn
er nichts tut, denn dann sehen wir seine
Gedanken.« Nach diesem Prinzip funktio­          Interview: Martin Reischke                     Erschütternd echt: Die Hauptfigur ist ein ­Flüchtlingsjunge – besetzt mit einer Puppe, die Nikolaus Habjan bauen und spielen wird.
niert auch die Puppe.                            Fotos: Lukas Beck                              Im griechischen Mythos entführt Zeus den Hirtenknaben Ganymed in die Lüfte, einer ungewissen Zukunft entgegen
Reihe 1 - Mai 2021 - Die Staatstheater Stuttgart
Was sagst                                                        14               Reihe 1   ⁄  Mai 2021                                                           Was kommt   ⁄  Diskutieren                                          15

du dazu?
                                                                                                                                                                                     Lara Rühle, 19
                                                                                                                                                                                     Ich arbeite am Jungen Ensemble Stuttgart,
                                                                                                                                                                                     dort geben wir Vorstellungen für Kinder
                                                                                                                       Manchmal ist Mode auch mit                                    und Jugendliche. Trotzdem ist es immer
                                                                                                                                                                                     eine echte Challenge, junge Menschen zu
                                                                                                                       Druck verbunden, bestimmten
                                                                                                                                                                                     gewinnen. Die meisten denken, Theater sei
Normalerweise treffen sie sich in den                                                                                  Idealvorstellungen zu entspre-                                unheimlich langweilig. Teenager achten
                                                                                                                       chen. Doch sollte sie nicht etwas
Theaterfoyers. Weil die aber geschlossen sind,                                                                         Individuelles sein und bleiben?
                                                                                                                                                                                     sehr darauf, ob sie sich irgendwo wohlfüh­
                                                                                                                                                                                     len, akzeptiert werden. An Schauspiel-
gibt’s die Jugendklubs jetzt digital                                                                                                                                                 oder Opernhäusern fühlen sich die meisten
                                                                                                                         2                                                           nicht willkommen. Weil wir aber schon
                                                                                      Mich auszuprobie­                                                                              dort sind und abfeiern, was hier passiert,
                                                                                      ren, überlegen, »was                                                                           kann sich dieser Eindruck ändern.
                                                                                      wäre wenn«. Oder           Wer zieht sich mor-        Wer hat auch das
                                                                                      wie viele Versionen        gens auch regelmä-         Gefühl, nie das
                                                                                      von mir es gibt            ßig mehrmals um,           Richtige im
  Elisa Wenzel, 19
                                                                                                                 bevor es rausgeht?         Schrank zu haben?
  Unsere Einmischen-Veranstaltungen müssen keinen direkten                               5                                                  Oder dann doch
                                                                                                                   15
  Bezug zum Schauspiel Stuttgart haben, auch wenn sie teilweise                                                                             immer dieselben
  im Haus stattfinden. Beim letzten Mal haben wir über Mode gere­                                                                           Lieblingsstücke an-              Mut statt Perfektion
  det. Wie definiert man sich über Kleidung? Was denken wir über             Ein Ausdruck mei-         Was bedeutet Mode für dich?          zuziehen?                        wünsche ich mir
  die Produktionsverhältnisse? Welche Rollenklischees gibt es? Erst          ner Stimmung und
  traut sich eine*r, etwas zuzugeben, dann öffnen sich auch die                                              1
                                                                             meiner Confidence                                                    15                             3
  anderen. Bei der Gruppe, die über Nachhaltigkeit sprach, war das
  so: Alle fanden das Thema wichtig, aber niemand wusste, was
                                                                                  1
  man konkret tun kann. Also haben wir Adressen ausgetauscht,                                                    Mode kann auch Druck oder                 Meine Stimmung
                                                                                                                                                                                               Mode ist eine Form,
  Informationen, Blogs. Alle haben etwas dazugelernt.                                                            Zwang sein – zum Beispiel wenn            ausdrücken
                                                                                      Mode =                                                                                                   sich selbst auszu-
                                                                                                                 man das Gefühl hat, bestimmten                                                drücken und sich
                                                                                      Kleidung + Zeitgeist       Idealen entsprechen zu müssen
                                                                                                                                                              1
                                                                                                                                                                                               in der eigenen Haut
                                                                                         4
                                                                                                                   1
                                                                                                                                                                                               wohlzufühlen.
                                                                                                                                                                                               Wenn man sich be-
                                                                      Mode ist eine Kunst, die man nur                                                                                         wusster kleidet, hat
                                                                                                                 Mode ist für mich                                                             das auch Vorteile
                                                                      beherrschen kann, wenn das
  Fenna Kröger, 18                                                                                               eine Möglich-                                                                 für die Umwelt und
                                                                      Selbstbewusstsein einen nicht
  Wir machen am Theater Rampe die Erfah­                                                                         keit, mich auszu­                                                             die eigene Psyche
  rung, dass junge Menschen selten allein und                         beim Kreieren aufhält, da die                                        In bürgerlich-konservativer
                                                                                                                 drücken/meine

                                                                                                                                                                                                                                         Fotos: privat
  auf eigene Faust kommen, um eine Auf­                               Regeln immer von den Pionie-                                         Umgebung zu provozieren
                                                                                                                 Persönlichkeit zu                                                                 1
  führung zu entdecken. Die Hemmschwelle                              ren oder von der eigenen Person
                                                                                                                 zeigen. Mode hilft           1
  ist einfach zu hoch. Wenn wir aber die                              niedergeschrieben werden
  Einmischen-Treffen veranstalten, tun sich                                                                      mir auch oft dabei,
  oft Gruppen zusammen und machen mit.                                  6                                        mich selbstbe­
  So finden die dann einen Zugang zur Welt                                                                       wusster oder kom-
  des Theaters. Beim Just-Fashion-Abend,                                                                         petenter zu fühlen                         Sie heißen Clubhouse, Unkonferenz oder Barcamp – Konferenzen ohne Hierar-
  der online stattfinden musste, wurde aber                                 Ich will aber auch, dass                                                        chie. Niemand ist nur Sprecher*in, niemand nur Publikum, alle sind willkommen.
  noch zu wenig gefragt. Das will ich ändern;                                                                                                               Das Schauspiel Stuttgart bietet mit der Reihe Einmischen eine solche Veranstal-
                                                                            Mode Spaß machen darf                  8
                                                                                                                                                            tung gemeinsam mit dem Jungen Ensemble Stuttgart, dem Theater Rampe und
  jetzt gucken wir, was wir beim nächsten
                                                                                                                                                            dem Theaterhaus Stuttgart an. Organisiert wird das von jungen Menschen, die
  Mal besser machen könnten.
                                                                              1                                                                             das Freiwillige Soziale Jahr Kultur absolvieren. Mehr dazu auf Instagram unter
                                                                                                                                                            @einmischen_stuttgart
Reihe 1 - Mai 2021 - Die Staatstheater Stuttgart
16              Reihe 1   ⁄  Mai 2021                        Was kommt   ⁄  Führen   17

Kommt,
Leute,
lasst uns
machen
                                                                                      Das hält ja
                                                                                     keiner aus, fünf
                                                                                     Stunden nur
Die Krise hat uns schneller, bunter, kreativer gemacht,                              still zu sitzen –
                                                                                     Viktor Schoner
sagt Viktor Schoner. Der Intendant der Staatsoper                                    über die Lust am
                                                                                     Quatschen in der
Stuttgart blickt zurück auf ein Jahr des Kontrollverlusts.                           Oper. Und die
                                                                                     Chance neuarti-
Und nach vorn: auf ein Feuerwerk der Premieren                                       ger Formate
Reihe 1 - Mai 2021 - Die Staatstheater Stuttgart
18                                   Reihe 1   ⁄  Mai 2021                                                                                 Was kommt   ⁄  Führen                                19

Herr Schoner, in einem Pilotprojekt öffnen             Oper ja Produkte, die eher im Geiste des 18./19.                                                      Mittags um Viertel nach eins gibt es Musik – die seit Jah-
                                                                                                                                                             ren regelmäßig stattfindenden und viel besuchten Lun-
gerade acht Berliner Häuser ihre Türen                 Jahrhunderts entwickelt wurden, und das hat
                                                                                                                                                             chkonzerte des Staatsorchesters Stuttgart werden seit
fürs Publikum. In Stuttgart ist noch alles             natürlich Einfluss auf die heutigen Struk­turen.                                                      einigen Wochen auch als Livestream angeboten. Das
geschlossen. Sind Sie neidisch auf die                 Nun haben wir im Kontext der Pandemie                                                                 beliebte Konzertformat kann man also bequem zwischen
Hauptstadt?                                            mit Oper trotz Corona völlig neue Produkte                                                            Sandwich und Tomatensuppe im Homeoffice genießen.
                                                                                                                                                             Gespielt werden Meisterwerke der Kammermusik, und
Ach, die sieben Todsünden haben mich noch nie          geschaffen – und plötzlich brauchen wir andere
                                                                                                                                                             auch die eine oder andere Neuheit für kleine Besetzung
so richtig inspiriert, insofern, nein, im Gegenteil:   Konstellationen, Brainstormings zwischen den                                                          gibt es zu entdecken: Ein Trio von Claude ­Debussy passt
Ich unterstütze das sehr. Als ein Zeichen dafür,       Abteilungen: Onlinemanager, Disponentin,                                                              dabei genauso gut zur musikalischen Mittagspause wie
dass etwas vorangeht. Und schaun wir mal:              Musikdirektor, Geschäftsführung, Dramaturgen,                                                         Minimal Music von Steve Reich oder ein Experiment von
                                                                                                                                                             John Cage. Die Staatsoper Stuttgart lädt Sie ein, regel-
Zwischen dem jetzigen Moment des Interviews            Printverantwortliche und Publikumsabteilung                                                           mäßig mittags mit auf Entdeckungsreise zu gehen – im-
und seiner Drucklegung wird noch viel passiert         sitzen schon bei der Konzeption an einem Tisch.    Diese sogenannten Watchpartys sind eine            mer eine halbe Stunde lang.
sein – so oder so.                                     Der Soziologe Richard Sennett spricht von          tolle Sache. In der Oper muss man andächtig
Sie selbst gelten als umtriebig, als pushy,            der neuen Gemeinsamkeit in der Arbeitswelt,        schweigen; online kann man sich                    Lunchkonzerte
                                                                                                                                                             im Monat Mai  1 im Spielplan
im positiven Sinne. Vor fast genau                     ohne die bald nichts mehr gehe. Und das            aus­tauschen, während das Stück noch läuft.
einem Jahr mussten die Staatstheater den               erleben wir gerade: Etwas Neues kommt im           Aber das Schweigen in der Oper ist neu!
analogen Publikumsbetrieb schließen.                   Opernhaus an und lässt damit die Oper im           Erst seit Richard Wagner darf ich nicht quat­
Wie geht es Ihnen?                                     21. Jahrhundert ankommen.                          schen. Vorher haben alle geplaudert – und
Es liegt ein Mehltau über der Gesellschaft. Alle       Was ist neu im Opernhaus?                          nicht nur das. Das hält ja auch keiner aus, fünf
sind müde und warten, ohne zu wissen, worauf.          Wir entwickeln unsere Projekte schneller. Die      Stunden nur still zu sitzen.
Pushy bin ich noch immer, glaube ich, in dem           Staatstheater sind ja kein Start-up, sondern       Stimmt, Theater und Opern waren früher
Sinne, dass ich den Mitarbeiterinnen und Mit­          eher ein Bluechip, deswegen fällt uns Change­      halbe Rotzbuden. Da ging es durcheinander
arbeitern, Künstlern, Künstlerinnen und Gästen         management naturgemäß nicht so leicht.             zu und hoch her. Wie ist das eigentlich,
Freiraum schaffe, in dem sie sich austoben             Aber ich finde, es kann sich sehen lassen,         wenn plötzlich dieses Zueinanderkommen zu
können. Diese allgemeine Ungeduld, die stellt          wie wir mit der aktuellen Disruption bislang       einer Gefahr wird? Die Enge, das Kul­tische,
sich bei uns allen ein. Nach jeder Schließung,         umgegangen sind. In den Neunziger- und             die Nähe, die vielen Körper in einem
jeder Planänderung waren wir für ein, zwei Tage        ­Nullerjahren galt das Programm der Staatsoper     geschlossenen Raum …
frustriert. Aber schon am dritten Tag hatten die        als organisierte Avantgarde. Dieses damals        Die Coronasituation wirkt auf uns besonders
Player im Team so viel Druck im Kessel, dass            sehr erfolgreiche Selbstverständnis haben wir     zerstörerisch. Bei der Oper geht es ja ums
wir Ideen am laufenden Band produzierten.               rechts überholt – nun würde ich unsere Arbeit     Atmen und das gemeinschaftliche Erleben von
Jeweils mit verschiedenen Schwerpunkten. Ich            eher als kreativ, bunt und bewusst unkon­         Geschichten und Musik. Es fängt damit an,
glaube, da ging und geht es jedem Einzelnen             trolliert beschreiben. Das ist sehr nahe bei­     dass diese Krankheit die Lunge angreift. Ausge­
darum, die Lähmung abzuschütteln, sich zu               einander, aber eben doch etwas anderes.           rechnet die Lunge aber steht im Zentrum von
spüren – über die Kreativität.                         Wo steckt die Oper noch fest?                      400 Jahren Operngeschichte. Sie können derzeit
Der Output der Staatsoper war                          Bei der Übersetzung unserer Form in andere         auch Gedichte und Romane lesen, Serien
beeindruckend. Es gab Eins-zu-eins-                    Medien. Seit dem Beginn unserer Intendanz          schauen, das alles ist ja Kultur, aber Oper geht
Konzerte, Operetten mit Kopfhörern am                  2018 haben wir Livestreams etabliert. Schon        nur zusammen mit anderen. Die Opernhäuser
Hafen, den Operntruck in der ganzen                    während des ersten Lockdowns haben wir ge­         haben die großen Säle, da geht es um Polis
Stadt, zuletzt den digitalen Opernball, auch           merkt: Eine abgefilmte Bühnenaktion, egal mit      und Agora, Buhrufe und Applaus. Das ist das
die New York Times schrieb über Stuttgart.             wie viel Kameras und Schnitttechnik, kommt         typische Opernfeeling.
War doch nicht alles so schlimm?                       nun mal nicht an Netflix heran. Aber wir lernen!   Diese lautstarke Wut und Begeisterung
Sie werden mich nicht mit dem Satz erwischen,          Im Februar haben wir einen Opernball veran­        eines Opernpublikums gibt es im
diese Krise sei eine Chance. Ich halte ihn für         staltet, bei dem man sich im Foyer verabreden      Sprechtheater eigentlich nie.
einen Euphemismus.                                     und plaudern konnte. Im März bei Stuttgart         In der Oper hat man drei oder vier Stunden
In welcher Situation hat die Krise Sie                 goes live gab es bereits die Verknüpfung des       miteinander und nebeneinander geatmet, und
erwischt?                                              virtuellen Foyers mit dem BIX Jazzclub, dem        das macht etwas mit einem. Hier darf dann
Die Krise hat an neuralgischen Punkten verdeut­        Pop-Büro Region Stuttgart, der Liederhalle, dem    der bürgerliche Herr im Smoking auch schon
licht, welche Strukturen am Theater etwas ver­         Literaturhaus Stuttgart sowie dem Club-Kollek­     mal die Contenance verlieren, wie herrlich!
krustet sind, und hilft in gewisser Weise sogar,       tiv aus dem Perkins Park. Das wäre analog gar      Wer springt denn nach der letzten Seite eines
diese zu sehen und aufzubrechen, das ist gut           nicht möglich. Ein Stuttgarter Kulturfoyer. Sie    Romans auf, um Hurra oder Buh zu schreien?
so. In vielen Aspekten produzieren wir an der          sehen, unsere Lernkurve steigt rasant.             Solche Reaktionen gibt es nur bei uns.
20                                                         Reihe 1   ⁄  Mai 2021                                                                                          Was kommt   ⁄  Führen                                                                              21
                                                                                                                                                                          die Musiker*innen des Staatsorchesters, für           mit Infektionskrankheiten. Ich glaube an den
                                                                                                                                                                          ausgedehnte Coachings mit dem Ensemble, für           Energieerhaltungssatz: Es gibt immer eine Ba­
                                                                                                                                                                          die langfristige Planung. Für einen Dirigenten        lance zwischen Genuss und Leid. Vielleicht
                                                                                                                                                                          beispielsweise ist die Arbeit im Homeoffice für       ist die Krankheit der Preis der schönen, zügel­
                                                           Max Herre und Roberto Di Gioia, beide gestandene Größen in i­hrem                                              Partiturstudium et cetera – parallel zur Proben­      losen Ausgelassenheit ..?
                                                           Metier, vereinen mit A Web Web Experience Spiritual, Middle, Ethio-                                            arbeit – der Normalzustand.                           Oper ist ja eine Kunst des Urbanen. Die
                                                           und Eastern Jazz mit tanzbaren, mantraartigen Grooves. Die beiden                                              Hat sich Ihr Führungsstil verändert?                  Verdichtung der Städte erzeugt
                                                           streben einen neuartigen Sound an, der sich dennoch stark auf die
                                                                                                                                                                          Da müssen Sie die anderen fragen. Soweit ich          Sehnsucht, schafft Lust und Verlangen,
                                                           späten Sechziger- und frühen Siebzigerjahre bezieht. Yusef Lateef,
                                                           Sun Ra, Mulatu Astatke oder Pharoah Sanders gelten ihnen als wich-                                             es überschauen kann, geht es ums schnelle             Liebelei und Betrug – aber
                                                           tige Bezugsgrößen. Im vergangenen Jahr hatte Max H   ­ erre als Artist                                         Umschalten. Einerseits brauchen wir gerade in         eben auch hygienische Notstände.
                                                           in Residence einen großen Auftritt an der Staatsoper Stuttgart. Wir                                            der Krise die maximal freie Diskussion und Ent­       Und der Preis der Nähe, des Ungehemmtseins,
                                                           freuen uns, dass die Kooperation mit diesem spannenden Bandprojekt
                                                           nun in eine neue, zweite Runde geht, und erwarten eine wundervolle                                             faltung von Ideen. Andererseits braucht es dann       des Sichgehenlassens ist die Seuche. Das
                                                           Traumreise entlang der meditativen Spiralen des Spiritual Jazz.                                                klare, gelegentlich radikale Entscheidungen.          19. Jahrhundert stellte ja dann ebenjene Regeln
                                                                                                                                                                          Wir haben hinter den Kulissen unglaublich viel        der Bürgerlichkeit auf, um die großen Krank­
                                                           An Orchestral Web Web Experience                                                                               nachgedacht, diskutiert, entwickelt und verwor­       heiten zu bekämpfen. Und mit Lust und
                                                           by Max Herre und Roberto Di Gioia                                                                              fen. Es haben sich so viele Dinge verändert, dass     Kreativität unterlaufen Menschen diese Regeln.
                                                           zusammen mit dem Staatsorchester Stuttgart
Und dennoch: Was genau ist es, das                                                                                                                                        manche Leute zwischendurch nicht mehr wuss­           Gleichzeitig gibt es die großen Opernfest­
                                                           im Monat Mai   2 im Spielplan
fehlt? Die Entladung?                                                                                                                                                     ten, was ihr Job ist. Da braucht es gegenseitiges     spiele im »ländlichen Raum«: Bayreuth, Salz­
Es fehlt das gemeinsame Erlebnis von Gesell­                                                                                                                              Verständnis und parallel klare Kommunikation,         burg, Aix-en-Provence, Glyndebourne …
schaft als einem Körper. Die Begegnungsräume                                                                                                                              damit der Operntanker nicht auf Grund läuft.          Haben Sie eigentlich Kinder?
fehlen mehr und mehr. Wir leben in digitalen                                                                                                                              Warum ist die Opernwelt eigentlich so                 Ja. Und es tut weh zu erleben, wie zum Beispiel
Silos. Nach einem Jahr wird klar, wie sehr uns                                                                                                                            verseucht? Der Tod in Venedig, La traviata,           ein Elfjähriger, der im Geräteturnen seine
die wertvollen Orte der gewissen Clashs fehlen.                                                                                                                           La Bohème – die Hauptfiguren sind infiziert,          Passion gefunden hat, seit zwölf Monaten keine
Das gemeinschaftliche Erleben von Geschich­          entwickelten, vertraglich fixierten Verabredun­                                                                      überall lauern ansteckende Krankheiten.               Riesenfelge mehr machen darf. Die Oper ist mir
ten, wenn sich Emotion und Vernunft mischen          gen einerseits und das Entwickeln backstage                                                                          Wie kommt das?                                        wirklich wichtig. Aber bevor man Baumärkte
und sich daraus eine Katharsis entwickelt – das      und online und Open Air andererseits – das hat                                                                       Es war die Erlebniswirklichkeit der Zeit. Claudio     öffnet oder Opernhäuser, sollte man den Ver­
alles fehlt.                                         ungemein viel Arbeit gemacht.                                                                                        Monteverdi, der erste große Opernkomponist,           einssport für Kinder ermöglichen. Ich würde mir
Ich muss sagen, ich persönlich spüre dieses          Mittlerweile stehen Sie nun seit fast zwölf                                                                          hat in Venedig die Pest erlebt, sein Sohn ist dar­    bei den Entscheidern mehr Gestaltungsfreude
Fehlen wirklich körperlich.                          Monaten auf der Bremse …                                                                                             an gestorben. Violetta aus La traviata, Aschen­       wünschen, so wie in Berlin, als man festlegte,
Am Ende sind wir Körper. Und auch die abs­           … und geben zwischendurch, sobald wir dürfen,                                                                        bach in Der Tod in Venedig – viele plagten sich       dass Bücher geistige Nahrungsmittel sind – und
trakte Definition einer Gesellschaft, was sie        immer wieder Gas – quasi aus dem Stand.                                                                                                                                    dann blieben eben die Buchläden geöffnet. Dass
ausmacht, wohin sie strebt, wer dazugehört,          Der Opernbetrieb hat ja Vorläufe von Wochen,                                                                                                                               den Kindern und Jugendlichen alles Gesellige
welche Werte sie »verkörpert« – das alles muss       Monaten, Jahren. Wir haben viel, kontinuierlich                                                                                                                            verboten wurde und weiterhin wird, halte ich für
eben nicht nur sprachlich errungen, sondern          und kreativ gearbeitet, aber mussten das                                                                                                                                   eins der größten Probleme.
körperlich erzeugt und erlebt werden. Dieses         erhoffte Ergebnis ständig modifizieren. Zuletzt                                                                                                                            Reden wir über Ihre Gestaltung. Sie sind
Kultische hat die Oper ja mit dem Fußball            wollten wir zu Ostern mit Jesus Christ Superstar                                                                                                                           seit fast drei Jahren Opernintendant,
gemein. Stuttgart hat gut 600 000 Einwohner.         ein Musical an der Staatsoper aufführen –                                                                                                                                  Ihr Haus ist beinahe so lange geschlossen,
Ins VfB-Stadion passen 60 000 Menschen. Das          entstanden ist mit den tollen Künstler*innen                                                                                                                               wie es davor geöffnet war. Was waren Ihre
heißt, am Wochenende treffen sich dort (ich          jetzt eine beeindruckende, innovative und                                                         Sie graben mir das Wasser ab, sie drücken mir die Kehle zu: Denn         Ziele? Welche haben Sie erreicht?
rechne die Fans der Gäste mal großzügig raus)        wahnsinnig sinnliche Onlineausstellung zum                                                       unsere Erde geht kaputt, ist ausgepresst! , singt die Mezzosopranistin    Ich wollte eine Öffnung der Oper zum Hier und
bis zu zehn Prozent der Stuttgarter. Und das tun     Thema Glaube, Liebe, Hoffnung – zu sehen                                                         Maria Theresa Ullrich am Tag des globalen Klimastreiks und hat damit      Jetzt, zu Familien, zum Publikum zwischen drei­
                                                                                                                                                      ihren ersten Auftritt als Frau Holle – thematisch passend zu den Inhal-
die nun seit einem Jahr nicht. Da fehlt etwas,       auf unserer Website. Aber hey, lassen Sie uns                                                                                                                              ßig und sechzig Jahren, bei den Künstler*innen
                                                                                                                                                      ten der Fridays-for-Future-Bewegung. JOiN hat die Kinder­oper von
etwas ganz Wichtiges.                                nach vorn blicken.                                                                               Sebastian Schwab (nach dem Märchen Frau Holle) mit vier Schulklas-        und beim Publikum – und gleichzeitig liebe ich,
Lassen Sie uns über den Körper Viktor                Wie hält man die Energie aufrecht, bei                                                           sen und als Pilotprojekt für analoges Publikum erarbeitet. Mithilfe von   das meine ich sehr ernst, jeden einzelnen un­
­Schoners reden. Haben Sie zugenommen?               diesem langen Stillstand?                                                                        Vorab-Schnelltests kann pro Vorstellung eine Schulklasse das JOiN         serer »betagteren Gäste«! Die Einladung eines
                                                                                                                                                      besuchen. Testungen und Vorstellungsbesuch sind gratis, die Kosten
 Sind Sie ein besserer Mensch geworden?              Mit Proben und »Fortbildung«. Wir haben hinter                                                   übernimmt ein Sponsor. Regie führt Suse Pfister, von ihr stammt auch      breiteren Publikums ist uns gelungen. Trotz
(lacht) Weder ein schlankerer Mensch noch ein        den Kulissen viel Musik gemacht, Theater                                                         das Konzept.                                                              Corona. Und ich wollte das Haus spielerischer
                                                                                                                               Foto: Florian Seidel

besserer … eher zorniger, gelegentlich frustriert,   gespielt. Auch ohne Corona verbringt ein                                                                                                                                   machen, der Welt zugewandt. Weniger Intel­
                                                                                                                                                      Holle!
denn wir stoßen ja gerade ständig an Grenzen.        Opernmensch die meiste Arbeitszeit ohnehin                                                                                                                                 lektualität, mehr Spiel. Diese Spielfreude lassen
                                                                                                                                                      Uraufführung als Pilotprojekt
Der analoge Publikumsbetrieb war blockiert,          mit Proben. Aber plötzlich hatten wir auch                                                       Für alle ab sechs Jahren                                                  wir uns auch von Corona nicht nehmen – eher
aber das Absagen von jahrelang konzipierten,         Zeit für Workshops mit Barockspezialisten für                                                    Mehr Info unter www.staatsoper-stuttgart.de/join                          im Gegenteil.
22           Reihe 1   ⁄  Mai 2021                                                                                         Was kommt   ⁄  Führen   23

War denn das Intellektuelle, Avantgardisti-         Schönes Bild. Aber ist das Haus auch fit?                               Es geht ja ums
                                                                                                                           Atmen. Viktor
sche schlecht? Ein Teil des Publikums liebt es.     Dann schon. Der Opernbetrieb ist eine                                  Schoner will die
Ach, aber der Begriff ist ja historisch – mehr      ­Maschine, und die ist im Moment nicht geölt.                          Oper öffnen, sich
denn je. Avantgarde bedeutet, vorn zu sein,          Es dauert, bis alle Gewerke und Menschen                              spielerisch dem
                                                                                                                           Hier und Jetzt
einen Schritt weiter als andere. Das passt heute     ­wieder Routine haben. Die Pause ist jetzt schon
                                                                                                                           zuwenden. Das
nicht mehr – schon gar nicht auf die Oper.            so lang, und wir haben Kurzarbeit – langsam                          ganze Haus
Wenn unser Genre es schafft, mit dem Zeitgeist        geht es an die Muskeln, an die Substanz.                             lechzt danach
Schritt zu halten, sind wir schon ganz schön gut.   Also, was kommt im Herbst? Worauf
Und? Können Sie mithalten?                          können wir uns freuen?
Unser Team hat eine wunderbare Offenheit            Jetzt realisieren wir im Juni und Juli hoffentlich
geschaffen. Ich erlebe das auf und jenseits der     erst einmal ein Open-Air-Festival mit Operetten
Bühne, auch in der Kantine. Mit zeitgenössi­        am Hafen, mit Konzerten am Killesberg, in
schen Künstlern wie der Punk-Ikone Schorsch         ­Hinterhöfen und einer Nocturne im Schlossgar­
Kamerun, dem Rapper Max Herre oder den               ten zum Abschluss der Saison. In der kommen­
Künstler*innen der Akademie Schloss Solitude         den Saison werden wir ein irrsinniges Feuer­
zu arbeiten und befreundet zu sein, ist für ein      werk an Premieren erleben – geplant, diskutiert,
Opernhaus einzigartig. Diese Künstler sind nun       geschmiedet und geprobt in Homeoffices und
Teil unserer Mischpoke – das macht die Arbeit        umgebauten Kinderzimmern, an Küchentischen
an der Staatsoper sehr interessant.                  und vor Wohnzimmerregalen.
In welchen Bereichen hat Corona Ihre                Worauf werden Sie sich freuen?
­Modernisierungspläne gebremst?                     Darauf, dass wir uns alle bald wieder treffen.
Nirgendwo. Manches blieb liegen, aber die           Mich interessiert das Kultische mehr als die
Modernisierung und die Öffnung hin zu neuen         Kultur. Ich glaube, wir alle dürsten danach, bald
Formen eben nicht. Auch die Zusammenarbeit          wieder am gemeinschaftlichen Lagerfeuer zu­
mit Freundeskreis und Förderkreis hat sich          sammenzukommen, zuzuhören und zu staunen,
eher verdichtet. Sorgen macht es mir, dass wir      wenn jemand eine gute Geschichte erzählt.
den Kontakt zu den »Opernliebhabern« verlie­
ren, 180 000 Leuten, die jedes Jahr kommen, seit    Interview: Ralf Grauel
Jahrzehnten das Stammpublikum der Stuttgar­         Fotos: Julia Sang Nguyen
ter Oper, die müssen wir wieder verführen, zu
uns zu kommen. Deswegen starten wir sinnlich
in den Herbst mit Tosca und Die Zauberflöte.
Sind das die Themen für den Herbst?
Verführung und Sinnlichkeit?
Verführerisch und sinnlich versuchen wir immer
zu sein. Wir haben den Ehrgeiz, ab Herbst
wieder ganz groß zu denken. Mit Pranke die
Pandemie zu greifen! Mit Tests Brücken zu bau­
en, bis alle geimpft sind. Wir freuen uns darauf,           Vergiss mich nicht – lautet übersetzt der Titel einer Revue
                                                            über eine vergessene Musikszene: die jiddische Operetten­
bald wieder große Oper zu geben. Das ganze
                                                            kultur der Zwanzigerjahre. Der Komponist Abraham Ellstein
Haus lechzt danach!                                         etwa, die Größe dieser Welt, war ein wichtiger Begründer der
                                                            Musicalkultur, die ab 1910 am Broadway in New York aufleb-
                                                            te. Kammersängerin Helene Schneider­man und Sopranistin
                                                            Alma Sadé führen in das jiddische Liedgut ein, am Klavier
                                                            begleitet sie Barrie Kosky. Der deutsch-australische Opern-
                                                            regisseur war Intendant der Komischen Oper Berlin und ist
                                                            eng mit der Staatsoper Stuttgart verbunden. Falls Publikum
                                                            im Mai erlaubt ist, findet das Liedkonzert am 13. Mai im
                                                            Opernhaus statt.

                                                            Farges mikh nit
                                                            Liedkonzert mit Kosky, Schneiderman, Sadé
24                   Reihe 1   ⁄  Mai 2021                          Was bleibt   ⁄  Werden                                   25

                                                                    Tanzen?
                                                                    Echt
                                                                    krass!
                                                                      Seit zehn Jahren finden Jugendliche beim
                                                                      Stuttgarter Ballett Jung eine tolle Gemein-
                                                                      schaft, die eigene Haltung und am Ende zu
                                                                      sich selbst. Ein Interview zum Jubiläum

                                                                                    Das Stuttgarter Ballett ist eine der berühmtesten
                                                                                    Compagnien der Welt, für den Nachwuchs
                                                                                    gibt es die profilierte John Cranko Schule – warum
                                                                                    obendrein noch mit Laien arbeiten?
                                                                                    Sonia Santiago: Tanzen ist gesund – für alle Menschen. Wenn
                                                                                    man tanzt, verändern sich nicht nur die Muskeln und die Fes­
                                                                                    tigkeit des Bewegungsapparats, sondern auch die Haltung.
                                                                                    Nicole Loesaus: Genau, aber eben nicht nur die Kör­
                                                                                    perhaltung, sondern auch die innere Haltung. Wir wol­
                                                                                    len mit unseren Projekten Kinder, Jugendliche und auch
                                                                                    ältere Menschen für Tanz und für das Stuttgarter Ballett
                                                                                    begeistern – und ihnen Ballett als Kunstform zugänglich
                                                                                    machen.
                                                                                    Wie verändert Tanz junge Menschen?
Engagiertes                                                                         Santiago: Viele haben kein Körpergefühl, mögen sich
Duo: Nicole
                                                                                    nicht, fühlen sich hässlich oder einfach unwohl in ihrer
­Loesaus (rechts)
 führt das Stutt-                                                                   Haut. Das kann alles abfallen, wenn man tanzt.
 garter Ballett                                                                     Loesaus: Ich erinnere mich an einen Schüler, der nach
 Jung seit seiner                                                                   Ende eines Projekts gesagt hat: Ich habe zum ersten Mal
 Gründung.
 Sonia Santiago                                                                     gemerkt, dass ich Potenzial habe.
 war Erste So-                                                                      Was macht tänzerische Bewegung mit dem Geist?

                                             Foto: Roman Novitzky
 listin, ist heute                                                                  Santiago: Ich wurde als professionelle Tänzerin oft ge­
 Tanzpädago-
                                                                                    fragt, wie ich mir so viele Schrittkombinationen merken
 gin und leitet
 Workshops wie                                                                      kann. Der Körper hat ein eigenes Gedächtnis, er speichert
 Move It!                                                                           die Kombination von Musik und Bewegung. Das koordi­
26                      Reihe 1   ⁄  Mai 2021                           Was bleibt   ⁄  Werden                                                              27

                                                                        nierte Bewegen im Raum regt Denken an. Al­            sie die Aufregung – und dann den Stolz, es
                                                                        lein wenn Kinder und Jugend­liche klassische          geschafft zu haben. Das schweißt zusammen.
                                                                        Musik hören, die ihnen fremd ist, bewegt das          Die Pubertät ist auch die Zeit der
                                                                        Teile im Gehirn, die sonst nichts zu tun haben.       Metamorphose. Wie kann Tanz diesen
                                                                        Dem Tanz wird eine befreiende Kraft                   Prozess unterstützen?
                                                                        zugeschrieben. Wie erleben Sie das?                   Santiago: Der berühmte Tanzpädagoge
                                                                        Loesaus: Beim Tanzen können wir uns in                Royston Maldoom hat in dem Film Rhythm
                                                                        ­Bewegungen fallen lassen und dadurch geis­           Is It! gesagt: Wenn du keinen Fokus hast,
Grenzenlos:                                                              tigen Ballast loslassen. Das schafft Raum für        bist du nicht bei dir. Tanzen hilft, diesen Fokus
Beim Projekt Jung                                                        neue Gedanken.                                       zu finden.
International er-
                                                                         Santiago: Viele Kinder und Jugendliche sa­           Loesaus: Tanzen kann helfen, sich in seinem
leben Jugendliche
unterschiedlicher                                                        gen erst mal: Das kann ich nicht, das trau ich       Körper wohlzufühlen. Aber auch Disziplin kann
Kulturkreise                                                             mich nicht. Schritt für Schritt vertrauen sie sich   hilfreich sein in so einer chaotischen Zeit.
Tanzen als verbin-                                                       dann – und plötzlich werden Schüchterne zu           Santiago: Mit Disziplin stößt man bei vielen
dende Kunstform
                                                                         Rampensäuen. Die meisten können das nicht            Jugendlichen zunächst auf Widerstand. Aber
                                                                         in Worte fassen, aber wir sehen den Fortschritt.     ich lasse mich nicht beirren – und stelle immer
Inklusiv:                                                                Ich habe schon erlebt, wie Zehnjährige sich          wieder fest, wie sehr sie Disziplin brauchen
­Zusammen mit der                                                        plötzlich mit geschlossenen Augen bewegen,           und schätzen. Natürlich, wir als Tanzpädago­
 Stiftung Nikolaus-
 pflege arbeitete das                                                    voller Vertrauen und Zuversicht – traumhaft,         gen sind weder Eltern noch Lehrer, wir kom­
 Stuttgarter Ballett                                                     das so beobachten zu können.                         men als extravagante Theaterpersonen daher.
 Jung mit blinden                                                       Mein achtjähriger Sohn möchte wissen:                 Vielleicht klappt es deshalb so gut.
 und sehbehinderten
                                                                        Kann man sich beim Tanzen bewegen                     Jugendliche ringen oft um ihre Sprache.
 Kindern
                                                                        wie ein Fluss und das Leben durch sich                Wie kann Tanz sie unterstützen, sich
                                                                        fließen lassen?                                       auszudrücken?
                                                                        Loesaus: Na klar!                                     Loesaus: Tanz kommt ohne Reden aus. Doch
                                                                        Santiago: Wenn ein Kind so was anregt, suche          die Sprache sortiert sich, wenn man sich auf
                                                                        ich eine Musik aus, die wie ein Fluss klingt –        den Körper besinnt.
                                                                        und dann wird geflossen.                              Santiago: Der Körper wird ihr Instrument,
                                                                        Was sind das für Kinder und Jugendliche,              um Gefühle zu zeigen. Aber natürlich reden
                                                                        die an Jung-Projekten teilnehmen?                     sie trotzdem ständig. Ich stelle mich als Tanz­
                                                                        Loesaus: Die sind sehr unterschiedlich, es gibt       pädagogin auf die Jugendsprache ein: krass,
                                                                        aufgeschlossene und zurückhaltende, Jugend­           voll fett – wenn ich solche Wörter benutze,
                                                                        liche mit Migrationshintergrund, Kinder aus In­       horchen sie oft auf. Es ist, als würden sie
                                                                        klusionsklassen mit den verschiedenartigsten          plötzlich ein stärkeres Bewusstsein dafür be­
                                                                        Fähigkeiten. Die meisten kommen aus Stutt­            kommen, wie sie sich ausdrücken. Zudem ar­
                                                                        gart und Region.                                      beiten wir viel mit Texten, wir lesen, machen
                                                                        Santiago: So unterschiedlich sie sind – alle          Schreibwerkstätten, sprechen über Bewegun­
                                                                        sind sehr neugierig.                                  gen und die Emotionen. All das bildet Sprache.
                                                                        Tanz wird oft als Individualkunst                     Jugendliche suchen ihre Rolle
                                                                        gesehen. Wie verändert Tanzen soziale                 in der Gesellschaft. Wie kann Tanz sie
                                                                        Kompetenzen?                                          dabei unterstützen?
                                                                        Santiago: Tanz schafft ein Gefühl der Ge­             Santiago: Sie merken nach ein paar Wochen,
                                                                        meinsamkeit. Alle sitzen im gemeinsamen,              dass man sich hier anders verhält als auf
                                                                        unsicheren Boot, wenn es heißt: Jetzt tanzen          dem Schulhof oder dem Bolzplatz. Nicht bes­
                                                                        wir. Tanzen hilft, Menschen genauer wahr­             ser oder elitärer, sondern anders. Das öffnet
                                                                        zunehmen. Viele erzählen mir, dass sie ihre           den Horizont.
                                                Fotos: Martin Sigmund

                                                                        Mitschüler plötzlich ganz anders einschätzen.         Loesaus: Sie lernen, genauer zu beobachten.
                                                                        Loesaus: Die Kinder entwickeln ein Gespür             Sie müssen Bewegungen beschreiben. Das
                                                                        für den Körper der anderen. Wenn sie auf eine         erfordert präzises Hinschauen – und das hilft
                                                                        gemeinsame Aufführung hinarbeiten, teilen             auch im Alltag ungemein.
28            Reihe 1   ⁄  Mai 2021                                                                 Was bleibt   ⁄  Werden                29

Wenn Sie zurückblicken:                           rührt. Und es ist großartig, wenn Kinder und
Was hat sich in Ihrer Arbeit geändert in          Jugendliche es schaffen, Stille auszuhalten.
den vergangenen zehn Jahren?                      Santiago: Das Vertrauen, das mir die
Loesaus: Wir haben einige Jugendliche, die in     Schüler*innen während der intensiven Arbeit
der letzten Zeit abbrechen mussten, weil sie es   entgegenbringen, berührt mich. Die sicht­bare
zeitlich nicht geschafft haben. Das kennen wir    Aufregung vor einer Aufführung, der Stolz
aus den ersten Jahren gar nicht.                  danach, weil sie etwas Einzigartiges erreicht
Santiago: Corona ist auch einschneidend. Wir      haben – das ist sehr schön zu erleben. Oft­
können Tanz gerade nur konsumieren, nicht         mals wurde ich am Ende mit Geschenken und
wirklich gemeinsam erleben. Ganz allgemein        Dankes­briefen überhäuft! Das sind unbezahl­
ist die Ablenkung der Jugendlichen einfach ge­    bare Momente.
stiegen. Welche immensen Anforderungen sie        Loesaus: Es ist wahnsinnig berührend, wenn
haben! Die müssen cool sein, intelligent sein,    Kinder merken, dass sie sich auskennen. Bei
schnell sein. Müssen, müssen, müssen.             einer Veranstaltung im Opernhaus rief ein
Wie verändert die Pandemie Ihre Arbeit?           ­Junge mir zu: »Ich kenn dich!« Dieses Be­
Loesaus: Vieles, was Tanz ausmacht, kann           wusstsein, sich eine fremde Welt erschlossen
gerade nicht gelebt werden. Tanz braucht           zu ­haben, und dieser Stolz, sich darin auszu­
­Berührung, Kontakt, Begegnung, Gemein­            kennen – das ist wunderschön.
 schaft. Über den Bildschirm transportiert        Würden alle Menschen regelmäßig tanzen:
 sich ein bisschen was, aber es reicht nicht.     Wie würde die Welt dann aussehen?
 Wir sind gerade weit weg von dem, was das        Santiago: Da könnte ich meine Lieblings­
 Stuttgarter Ballett Jung ausmacht. Jetzt über    postkarten zeigen! Auf einer steht ein Zitat
 diese zehn Jahre nachzudenken fühlt sich an      von Pina Bausch: »Tanzt, tanzt, sonst sind wir
 wie eine Zeitreise.                              verloren«, auf einer anderen: »Wir denken zu                               Haltung zeigen:
                                                                                                                             Bei der Familien­
 Santiago: Wir wollen für Tanz begeistern, fürs   viel und tanzen zu wenig.« Schon in der Spät­
                                                                                                                             führung mit
 Stuttgarter Ballett. Aber geht das über Bild­    antike hieß es: »Mensch, lerne tanzen, sonst                               Mini-Tanzworkshop
 schirme? Da kann ich supertolle Effekte ma­      wissen die Engel im Himmel nichts mit dir                                  bringt Sonia
 chen, aber das wird niemals den physischen       anzufangen.«                                                               Santiago Kindern
                                                                                                                             und ihren Eltern
 Kontakt ersetzen. Der Wert der Berührung         Loesaus: Durch das Tanzen nimmt man sich                                   spielerisch
 zeigt sich gerade wie nie zuvor.                 ganz anders wahr, kennt sich in seinem Körper                              erste Ballettbewe-
Was war das Schönste, das Sie bei dieser          aus, hat eine Verbindung zu ihm – und geht                                 gungen bei
Arbeit erlebt haben?                              dadurch anders mit anderen Menschen um.
Loesaus: Einmal hat eine Klasse etwas zu          Würden alle tanzen, hätten wir ein stärkeres
                                                                                                                             Superbeliebt: das
Schwanensee gezeigt. Das weicht natürlich         Miteinander.                                                               Herbstferienpro-
stark davon ab, was Profitänzer auf der Bühne                                                                                jekt. Jugendliche
machen, aber sie haben es mit einer solchen                                                                                  zwischen elf
                                                                                                                             und vierzehn Jah-
Ernsthaftigkeit präsentiert, das hat mich be­     Interview: Jana Petersen                                                   ren entwickeln
                                                                                                                             eine Woche lang
                                                                                                                             eigene kleine
                                                                                                                             ­Choreographien

                                                    Move It!
                                                    Was bewegt Jugendliche heute? In einer Pro-
  Express Yourself

                                                                                                                                                 Fotos: Ulrich Beuttenmüller
                                                    jektwoche vom 7. bis 13. Juni lädt das Stutt-
  Kamera aufgestellt, und los geht’s! Lasst zur     garter Ballett zum Experimentieren ein. Zu-
  Musik der Boyband der Klassik, der Hanke          sammen mit Sonia Santiago und den Hanke
  Brothers, alles raus, was euch bewegt, und        Brothers werden Gedanken und Gefühle zu
  schickt uns eure Tanzvideoclips! Mehr Infos:      Tanz. Anmeldung unter stuttgarterballett.
  www.stuttgarter-ballett.de/jung                   jung@staatstheater-stuttgart.de
30   Reihe 1   ⁄  Mai 2021                                                                                                                   Was bleibt   ⁄  Sein                                     31

                                                                        Nina Janoschka                                                       »Dieses Tanzprojekt hat mein Leben gerettet. Ich war
                                                                        und Pascal Sorg
                                                                        tanzten die Haupt-                                                   vierzehn, als ich das erste Mal bei Move It! ­mitmachte,
                                                                        rollen in Move It!
                                                                                                                                             dem Jugendprojekt vom Stuttgarter Ballett Jung. Bal­
                                                                        Krabat. Fast fünfzig
                                                                        Jugendliche ent­                                                     letttänzer – das war ein Schimpfwort auf meiner Schu­
                                                                        wickelten beim
                                                                        ­Stuttgarter Ballett                                                 le, Balletttänzer galten als schwul. Das war mir egal.
                                                                         Jung eine eigene                                                          Wir waren drei Jungen und 46 Mädchen, beglei­
                                                                         ­Choreographie zu
                                                                          dem ­Roman von                                                     tet von der wunderbaren Sonia Santiago, unserer
                                                                          Otfried Preußler                                                   Tanzpädagogin. Im Ballettsaal herrschte eine völlig
                                                                                                                                             andere Atmosphäre, als ich sie sonst kannte. Es war
                                                                                                                                             schön, mit den Jungen zu tanzen. Ganz nah, ganz kör­
                                                                                                                                             perlich. Ich glaube, diese Freiheit, einander körper­
                                                                                                                                             lich nah sein zu dürfen – das fehlt vielen Jungs. Ich
                                                                                                                                             kannte zwischen meinen Klassenkameraden und mir
                                                                                                                                             nur Aggressionen. War man zu weich, wurde man ge­
                                                                                                                                             schlagen. Es gibt eine Berührungsangst unter jungen
                                                                                                                                             Männern, eine unerfüllte Sehnsucht nach Körperlich­
                                                                                                                                             keit, die sich in Gewalt entlädt. Beim Tanzen durf­
                                                                                                                                             ten wir uns nah sein. Ballett hat mir die Möglichkeit
                                                                                                                                             gegeben, mich zu fragen, wie ich Männer eigentlich
                                                                                                                                             finde. Ballett ist ein Raum der Akzeptanz. Eine Form
                                                                                                                                             der Sprache, die direkt mit der Seele verbunden ist.
                                                                                                                                             Da ist es ganz normal, den zu lieben, den man liebt.
                                                                                                                                                   Gerade lese ich mit einer Freundin The Will to
                                                                                                                                             Change der schwarzen Schriftstellerin Bell Hooks,
                                                                                                                                             ein Buch darüber, wie Männer unter dem Patriarchat
                                                                                                                                             leiden. Natürlich kann ich das erst retrospektiv so
                                                                                                                                             formulieren, aber darum ging es mir bei Move It! –

Tanzen ist
                                                                                                                                             patriarchale Strukturen zu überwinden. Ich habe dort
                                                                                                                                             andere Maßstäbe für Männlichkeit kennengelernt.
                                                                                                                                                   Bei Move It! habe ich Respekt gelernt vor mei­
                                                                                                                                             nem Gegenüber. Ich habe verstanden: Hinter jedem

wie malen
                                                                                                                                             Menschen steckt ein Universum von Gefühlen, Träu­
                                                                                                                                             men, Ängsten – und in dieser Verschiedenheit sind
                                                                Fotos: Stuttgarter Ballett (links), privat (rechts)
                                                                                                                                             wir gleich. Tanzen hat mir das Selbstbewusstsein ge­
                                                                                                                                             geben, mich auszudrücken. Ich bin Maler geworden,
                                                                                                                       Oft stelle ich mir    gerade lebe ich auf einer kleinen französischen Insel.
                                                                                                                      die Leinwand wie       Auch wenn ich nicht auf Bühnen stehe: Ich bin Tän­
                                                                                                                      einen großen, hellen
                                                                                                                                             zer geworden. Ich bewege mich tänzerisch vor der
     In der Schule prügelten sie sich – bei Move It!                                                                  Ballettsaal vor, wo
                                                                                                                      Linien und Farben      Leinwand, ich male Bewegung. Wenn ich Pinsel oder
     lernte Pascal Sorg, dass sich Jungs einander ohne Gewalt                                                         tanzen
                                                                                                                                             Grafit benutze, spüre ich körperlich, was ich da tue.
                                                                                                                      Pascal Sorg (25) ist
     nähern können. Erinnerung an den Ballettsaal                                                                     bildender Künstler     Mein Malen ist Tanz.«                Protokoll: Jana Petersen
32                                                                                 Ersatzspielplan Mai 2021                                                                       33

Liebes Publikum,                                                                          April

wir bieten Ihnen im Mai ein Ersatz-                                                       30                    Mefistofele
                                                                                                                                                    So, 9.
                                                                                                                                                    Mo, 10.
                                                                                          So             In Arrigo Boitos Oper verkörpert Faust
programm, und zugleich planen wir echte                                                                  den Wetteinsatz im Spiel zwischen
                                                                                                         Gott und Teufel. Große Choroper, insze-
                                                                                                                                                    11                  Lunchkonzert
                                                                                                                                                    Di            13.15–13.45 Uhr
Aufführungen.                                                                                            niert von Àlex Ollé (La Fura dels Baus)
                                                                                                         Stream, Watchparty (30. April),            Mi, 12.
                                                                                                         Nachgespräch (12. Mai)                     Do, 13.

Rechts finden Sie eine Übersicht des                                                                                                                14                  Boris
                                                                                                                                                    Fr             Modest Mussorgskys Oper Boris
­Programms, das derzeit virtuell und damit                                                Mai                                                                     ­Godunow wird ­verzahnt mit Sergej
                                                                                                                                                                   Newskis Komposition Secondhand-Zeit,
 sicher angeboten wird.                                                                   Aktuelle Angebote des Stuttgarter Balletts finden Sie
                                                                                                                                                                   die auf Texten der Literaturnobelpreis-
                                                                                                                                                                   trägerin Swetlana Alexijewitsch basiert
                                                                                          unter www.stuttgarter-ballett.de                                         Stream, Watchparty (14. Mai),
                                                                                                                                                                   ­Nachgespräch (26. Mai)
Sollte der Mai aber wirklich alles neu
machen, wie es so verlockend heißt, w ­ erden                                             1              Das Lyriktelefon
                                                                                                                                                                        Wer ist wir?
                                                                                                                                                                  Gesprächsreihe über gemeinsame
wir wieder live spielen dürfen. Aktuelle                                                  Sa             Schauspieler*innen rufen an und lesen
                                                                                                         Gedichte vor. Eine Kooperation mit dem
                                                                                                                                                                  Identität mit Expert*innen aus Kunst
                                                                                                                                                                  und Wissenschaft
­Informationen dazu und weitere Hinweise                                                                 Deutschen Literaturarchiv Marbach
                                                                                                         täglich ab 17 Uhr, Buchung im Onlineshop
                                                                                                                                                                  20–21.30 Uhr

 finden Sie unter                                                                                               Kein Eisberg in Sicht
                                                                                                                                                    Sa, 15.
                                                                                                                                                    So, 16.
                                                                                                         mit Texten des Ensembles unter             Mo, 17.

www.staatstheater-stuttgart.de
                                                                                                         Verwendung einzelner Passagen von
                                                                                                         Hans Magnus Enzensberger u. a.             18                  Lunchkonzert
                                                                                                         Koproduktion mit der Hochschule für        Di            13.15–13.45 Uhr
                                                                                                         Musik und Darstellende Kunst Stuttgart
                                                                                                                                                    Mi, 19.
                                                                                          So, 2.                                                    Do, 20.

                                                                                          3                     Glaube, Liebe, Hoffnung             Fr, 21.
                                                                                                                                                    Sa, 22.
                                                                                          Mo             Acht Stationen vom Himmel durch
                                                                                                         die Welt zur Hölle                         So, 23.
                                                                                                         Virtuelle Videoausstellung zum             Mo, 24.
                                             Karten & Information
                                                                                                         Anschauen und Mitmachen
                                             Telefonischer Kartenservice
                                             0711.20 20 90
                                                                                                         im Rahmen des Internationalen              25                  Lunchkonzert
                                                                                                         Trickfilmfestivals Stuttgart               Di            13.15–13.45 Uhr
                                             Montag bis Mittwoch 10 bis 14 Uhr
                                             Donnerstag 14 bis 18 Uhr
                                             Freitag 10 bis 14 Uhr                        4              Das Lyriktelefon für Kinder                Mi, 26.

                                             www.staatstheater-stuttgart.de
                                                                                          Di             Schauspieler*innen rufen an und lesen
                                                                                                         Gedichte vor. Eine Kooperation mit
                                                                                                                                                    27                  A
                                                                                                                                                                         n Orchestral Web Web
                                                                                                                                                                        Experience
                                                                                                                                                    Do
                                                                                                         dem Deutschen Literaturarchiv Marbach                    Max Herre und Web Web, die Band
                                                                                                         Di–Do, ab 16 Uhr                                         seines langjährigen Freundes Roberto
                                             Die Newsletter der Staatstheater Stuttgart   Mi, 5.                                                                  Di Gioia, laden zusammen mit dem
                                             Halten Sie sich auf dem Laufenden                                                                                    Staatsorchester Stuttgart ein zu einem
                                             und abonnieren Sie unsere Newsletter unter   6                     Lunchkonzert
                                                                                                                                                        2
                                                                                                                                                                  meditativ-groovigen Abend, inspiriert
                                                                                                                                                                  vom Spiritual Jazz der Siebzigerjahre
                                             www.staatstheater-stuttgart.de               Do             Musikalisches Überraschungsprogramm
                                                                                                                                                    S. 20         19.30 Uhr, Opernhaus
                                                                                                         mit Musiker*innen des Staatsorchesters
                                                                                              1          Stuttgart während der Mittagspause         Fr, 28.
                                                                                          S. 19          13.15–13.45 Uhr                            Sa, 29.
                                             Folgen Sie uns in den sozialen Netzwerken
                                                                                          Fr, 7.                                                    So, 30.
                                             Oper                                         Sa, 8.                                                    Mo, 31.
                                             Ballett
                                             Schauspiel                                                                                                       Onlineangebote
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