Reisende Frauen im Mittelalter. Literarische Reflexionen europaweit, historisch belegte Reisende (Margery Kempe) und Reiseberichte für Frauen ...

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Mediaevistik 34 . 2021                                                          213

                                               Albrecht Classen
                                             University of Arizona

              Reisende Frauen im Mittelalter.
      Literarische Reflexionen europaweit, historisch
          belegte Reisende (Margery Kempe) und
           Reiseberichte für Frauen (Felix Fabri)

Abstract: This study examines what we know about traveling women primarily in the Middle
Ages. As we know already, many female aristocrats were forced to travel extensively for the
purpose of marriage; other women went on long or short pilgrimages; women were certainly
involved in wars as support staff and as the warriors’ wives. But we do not have many actual tra-
velogues by women, except by the late medieval mystic Margery Kemp. Her Book thus becomes
an important document of a traveling woman. The analysis of her work is then accompanied
by a close reading of Felix Fabri’s Sionpilger in which the author creates a mental pilgrimage
account for nuns who could not travel but wanted to visit the pilgrimage sites in their minds.
There is, in addition, much evidence of traveling women throughout all of medieval literature,
whether they journey voluntarily or are forced to do so.

Keywords: Margery Kempe; Felix Fabri; traveling women in the Middle Ages; literary motif
of traveling women

                                                        Fragestellung

Die hoch- und spätmittelalterliche Reiseliteratur ist fast gänzlich von Männern domi-
niert, was angesichts der ganz praktischen Gefahr für Frauen auf Reisen verständlich
oder nachvollziehbar sein dürfte, weil diese ja leicht sexuell belästigt, ausgeraubt oder
misshandelt werden konnten, ein soziales und kriminelles Phänomen, das es leider für
Frauen bis heute gefährlich macht, alleine zu reisen. Die Mühen und Strapazen einer
Pilgerschaft müssen erheblich gewesen sein, und wer gesund wieder nach Hause kam,
durfte sich dann für sein oder ihr Wohlbefinden glücklich schätzen. Sollten wir also
davon ausgehen, dass wir fast nichts über reisende Frauen in der Vormoderne wissen?
Bereits eine solche globale Vermutung erweist sich jedoch als zweifelhaft, denn die
meisten Reisenden bewegten sich in Gruppen, und wenn eine Frau über die nötigen
finanziellen Mittel und ein adäquates Personal verfügte, das sie in ihrem Unterfangen
unterstützte, stand ihr eigentlich auch damals gar nicht so viel im Wege, aus vielerlei
Gründen von zu Hause aufzubrechen, Pilgerorte in der näheren Umgebung oder in
anderen Ländern aufzusuchen, Geschäfte in der Ferne zu betreiben oder sich zu ihrem

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                            © 2021 Nurit Golan    https://doi.org/10.3726/med.2021.01.12
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zukünftigen Ehemann zu begeben, wenn sie ihn nicht auf einem Heereszug oder auf
einer Staatsreise begleitete. Rein touristische Reisemotivation, wie wir sie wohl am
frühesten im anonymen Roman Fortunatus (gedruckt 1509 in Augsburg) oder in der
Historia D. Johann Fausten (gedruckt 1587 in Frankfurt a. M.) greifen, war hingegen
für das Mittelalter praktisch unvorstellbar.1 Zentrale Bedeutung besaß auf jeden Fall
die religiöse Motivation, Pilgerstätten aufzusuchen, Reliquien anzufassen und somit
am göttlichen Heil mittels der materiellen Spuren teilzuhaben, denen man meist nur
durch Reisen nachfolgen konnte. Bis heute wird ja der lange Pilgerweg nach Santiago
de Compostela sowohl von Männern als auch Frauen gemeistert.
   Bereits im 4. Jahrhundert begab sich aber eine Egeria entweder aus Spanien oder
Frankreich auf eine Reise ins Heilige Land, und ihr Bericht darüber, Itinerarium
Egeriae, Peregrinatio Aetheriae oder Peregrinatio ad Loca Sancta, zuerst im 11. Jahr-
hundert in einer handschriftlichen Kopie fassbar (Codex Aretinus), war an ein weibli-
ches Publikum gerichtet, das dadurch ermuntert wurde, ihrem Beispiel zu folgen und
ebenfalls die heiligen Orte aufzusuchen.2 In Anbetracht des sehr hohen Interesses auch
der weltlichen Bevölkerung an religiöser Praxis, was eben Pilgerreisen einschloss,
dürfte Egerias Modell nicht einzigartig geblieben sein, denn berühmte Pilgerorte weit
und fern lockten stets noch große Scharen von Menschen beiderlei Geschlechts an.
Blickt man sich aber in der einschlägigen Forschung um, erfährt man fast gar nichts
Diesbezügliches.3 Zu bedenken wären auch die recht zahlreichen Benediktinerinnen,
die dem Ruf von Bonifatius folgten und sich von England nach Deutschland (moderne
Begriffe natürlich) begaben, um dort Klöster zu gründen und zu missionieren.4
   Trotzdem verblüfft die hier aufgeworfene Fragestellung nach reisenden Frauen in
der Vormoderne, denn das Thema ist bisher kaum in der Weise konkret angeschnit-
ten worden, es sei denn im Zusammenhang mit den Bewegungen eines Königs mit-
samt seines Hofstaates oder mit dem Bestreben einer alleinstehenden Frau, sich einem
bestimmten Kloster oder einem Beginenhof anzuschließen und daher reisen musste
(z.B. Mechthild von Magdeburg [ca. 1207–ca. 1272], die sich erst im hohen Alter dem
Kloster von Helfta bei Eisleben anschloss). Hinzuweisen wäre auch auf die Heilige
Bona von Pisa (ca. 1156–1207, heiliggesprochen erst 1962), die nicht nur mystische
Visionen hatte, sondern sich auch auf viele Pilgerreisen begab.5
   Ob sich adlige Damen während des Mittelalters oder der Frühneuzeit auch auf so
weite Reisen begaben wie von Nordeuropa nach Spanien, lässt sich beim gegenwärtigen
Forschungsstand nicht konkret eruieren, obwohl natürlich Santiago de Compostela der
drittheiligste Pilgerort der Christenheit war (siehe dazu Margery Kempe, unten). Die
nachfolgenden Prolegomina dienen daher als erste Erkundungen auf einem weiten Feld,
das bisher noch keine klaren Belege aufzuweisen scheint, denn wir müssen zunächst
überhaupt der Frage nachgehen, was die historischen und literarischen Quellen an In-
dizien bezogen auf die Mobilität von Frauen insgesamt vor der Moderne bereitstellen.6

           Reisen im Mittelalter: Argumente gegen einen falschen Mythos

Pilgerreisen sind noch niemals bloß eine Angelegenheit für Männer gewesen, wie
überhaupt der heute oftmals vermittelte Eindruck von den Reiseverhältnissen im Mit-
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telalter stark trügt, so als ob die feudale Gesellschaft weitgehend statisch gewesen
wäre. In der Tat, die mittelalterlichen Straßen waren gefüllt mit Reisenden, die ganz
unterschiedliche Ziele verfolgten und mit den diversesten Transportmitteln unterwegs
waren, einschließlich natürlich per pedes. Zu diesem Zwecke gab es überall die not-
wendigen Unterkünfte, und wir können nach den neuesten Erkenntnissen zweifellos
von einem umfassenden Reisebetrieb ausgehen (Unterhaltung von Straßen, Brücken
und Bergpässen, Gasthäuser und Raststätten, Reisebegleiter etc.,7 ob dieser Pilger oder
Kaufleute, Diplomaten oder Handwerker, Studenten und Professoren oder Künstler
einschloss. Natürlich war die ländliche Bevölkerung weitgehend an die eigene Scholle
gebunden, aber Ritter, Politiker, Musiker, Baumeister, Händler etc. befanden sich stän-
dig auf Reise, die viele in extrem entfernte Gebiete führen konnte. Ja, selbst der Ferne
Orient war nicht verschlossen, wie wir von so berühmten Reisenden wie Marco Polo
(1254–1324) oder Odorico da Pordenone (1286–1331) wissen.8
   Ob aber Frauen an solchen globalen Operationen politischer, ökonomischer und reli-
giöser Art teilnahmen, dürfte zunächst einmal bezweifelt werden, gibt es ja kaum nen-
nenswerte Reiseberichte aus der Vormoderne, die auch Frauen einschlossen, entweder
als aktiv Reisende oder als Figuren in den jeweiligen Narrativen, und Norbert Ohler
und andere haben sich wohl noch nicht um dieses Thema gekümmert.9 Die analytische
Bibliographie deutscher Reiseberichte des späten Mittelalters, bearbeitet von Christian
Halm, listet jedenfalls keine Frau auf, so als ob solche großräumigen Unternehmungen
meistens ein rein männliches Privileg gewesen wären.10 Die Frage stellt sich daher,
ob sich wirklich keine Frauen der Vormoderne auf größere Geschäfts- oder Pilgerrei-
sen begaben, während seit der Moderne anscheinend ganz andere Verhältnisse vorge-
herrscht zu haben scheinen.11 Doch wieso sollte die Situation im 19. und 20. Jahrhundert
für sie so grundverschieden gewesen sein12, denn wenn es um Religion oder Geld geht,
was Reisen einschließt, spielen eigentlich Gender-Aspekte keine entscheidende Rollen,
auch nicht im Mittelalter?13 Zugestanden sei natürlich, dass sich die Reisebedingungen
und die persönliche Sicherheit insgesamt seit der Neuzeit erheblich verbessert haben,
was auch zunehmend Frauen die Chance einräumte, sogar selbständig und allein die
Welt für sich zu erkunden, sei es aus persönlicher Neugier, sei es aus Bildungsbeflissen-
heit, sei es aus religiöser Motivation heraus.14 Aber der Durchbruch für weibliche Rei-
sende geschah doch wohl erst im 20. Jahrhundert, als die ökonomische und technische
Organisation von Reisen global so weit vorangeschritten war, dass sogar alleinstehende
Personen gleich welchen Geschlechts die Welt selbständig durchwandern konnten.
   Wir wir jetzt u.a. wissen, begleiteten viele Fürstinnen ihre Ehemänner auf den
Kreuzzügen, wenn sie wohl auch meistens den Kampfhandlungen fernblieben. Dazu
müssen zahllose Frauen niederen Standes den Heeren gefolgt sein, denn irgendjemand
musste ja Kleidungen waschen, Essen zubereiten oder, ganz banal gesagt, Sexual-
dienste anbieten. Außerdem etablierten sich ja nach dem Fall von Jerusalem am Ende
des ersten Kreuzzugs 1099 eine Reihe von lateinischen Königreichen, wo Frauen in
jeglicher Hinsicht ihren ‘Mann’ standen, sei es als Ehefrauen, sei es als Betreuerinnen,
sei es als Ärztinnen etc.15
   Bedenken wir speziell die Situation gerade von adligen Damen während des gesamten
Mittelalters, entdecken wir u.a. das sehr geläufige Phänomen, dass sie in jungen Jahren
an Fürsten verheiratet wurden, die über weit entfernte Länder herrschten. Somit waren sie
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gezwungen, sich unter großem Aufwand auf die Reise zu begeben und ihre Zelte in einer
fremden Welt aufschlagen, was oftmals bedeutete, dass sie als erstes die fremde Sprache
lernen mussten, auch wenn sie meist zugleich einen ganzen Stab ihrer eigenen Höflinge
und Kammerzofen mitgebracht hatten, worunter auch Sprachlehrer gewesen sein dürften.
Kaiserin Theophanu (959/60–972), eine byzantinische Prinzessin, kam aus Konstantino-
pel nach Norddeutschland, wo sie Kaiser Otto II. heiratete, wodurch erste Kenntnisse der
griechischen Kultur dorthin gelangten. Eleonore von Aquitanien (1122–1204) war zuerst
mit dem französischen König Ludwig VII. verheiratet, ließ sich dann aber 1152 mittels
eines päpstlichen Dispens von ihm scheiden und heiratete kurz darauf König Richard II.
von England. Sie war also auch aus politischen Gründen häufig auf Reisen.16 Sehr bekannt
in der Hinsicht ist auch die Tochter Karls IV., Anna von Böhmen (1366–1394), die 1382
den englischen König Richard II. heiratete und deswegen ihren eigenen Hofstaat mit nach
London brachte und somit auf diesem Wege erheblich zur Kulturvermittlung in England
beitrug.17 Erst jüngst ist Margarethe von Savoyen (1420‒1479) auch in dieser Hinsicht
genauer in den Blick der Forschung geraten, heiratete sie ja zuerst im Alter von vierzehn
Jahren Ludwig III. Herzog von Anjou und Titularkönig von Jerusalem und musste sich
dafür auf die lange Reise von Savoy bis nach Cosenza in Süditalien/Kalabrien begeben,
doch kurz danach verstarb ihr Mann, so dass die Witwe wieder in die Heimat reisen
musste. 1445 heiratete sie den Kurfürsten Ludwig IV. von der Pfalz, doch starb dieser
bereits 1449. Schließlich heiratete sie 1453 Graf Ulrich V. von Württemberg-Stuttgart
und konnte eine recht lange Ehe mit ihm führen. Sie selbst starb erst 1479, gefolgt im
nächsten Jahr von ihrem Mann. Neben diesen großräumigen Bewegungen dieser Fürstin
zu Heiratszwecken gehören auch noch umfangreiche Pilgerfahrten, 1466 nach Santiago
de Compostela, mehrfach nach Kloster Einsiedeln (1465, 1470, 1474) und nicht zuletzt
eine Reihe von Badereisen nach Bad Liebenzell (1474) und Wildbad (1476) sowie kleinere
Reisen aus politischen, ökonomischen oder familiären Gründen.18
   Reisende, die mehr als nur rein touristische Ziele verfolgten, was gerade bei Pilgern
auf Grund ihrer religiösen Intentionen praktisch immer der Fall gewesen ist, tendierten
überhaupt dazu, am transkulturellen Austausch mitzuwirken, vor allem wenn diese
Reise einen kompletten Umzug zu Heiratszwecken darstellte, wie wir es u.a. von den
Prinzessinnen Elisabeth von Nassau-Saarbrücken (ca. 1394–1456) und Eleonore von
Österreich (ca. 1433–1480) wissen.19 Dieses Phänomen ist seit der Frühneuzeit noch
viel besser greifbar,20 aber Einzelheiten brauchen hier nicht weiter verfolgt zu werden.
   Wie uns jetzt Atusa Stadler vor Augen geführt hat, war die Hochzeitszeremonie ein
hochkomplexer Prozess, der viele diplomatische Aktionen verlangte und die Mitglie-
der der ganzen Familie auf beiden Seiten intensiv involvierte, vor allem weil die junge
Frau ja meist von weither angereist kam, adäquat begrüßt und willkommen geheißen
werden musste.21 Stadler konzentriert sich zwar an erster Stelle auf den öffentlichen
Ritus und die Performanz bei diesem Prozess, aber sie schließt auch das Faktum ein,
dass hierbei die Dame sich auf Reisen begeben musste, um zu ihrem zukünftigen
Ehemann zu gelangen.
   Die Besiedlung Islands seit dem 8. und 9. Jahrhundert, um auch die nordeuropäi-
sche Perspektive zu berücksichtigen, wurde u.a. nicht nur von Männern in die Wege
geleitet; vielmehr brachten sie meist ihre ganze Familie mit sich, womit wir einen
klaren Hinweis darauf haben, dass der Norden Europas, von Island nach Norwegen
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und Schweden, von zahllosen Seefahrten bestimmt war, bei denen selbstverständlich
Frauen oftmals ebenfalls anwesend waren, wenn es sich nicht um Kriegs- oder Raub-
züge der Wikinger handelte.22 Genau das gleiche Phänomen ließe sich auch in anderen
Teilen der Welt wie Hawai’i, Grönland oder Nordamerika konstatieren, wobei meist
anzunehmen wäre, dass eine Gruppe Männer den ersten Vorstoß machten, und sobald
sie ein siedlungsadäquates Land gefunden hatten, holten sie ihre Familien nach. In-
soweit war Reisen ein integrativer Aspekt jeglicher Siedlungsbemühungen, die stets
Mitglieder beider Geschlechter involvierten. Parallel dazu wäre die mediterrane Welt
einzuschließen, wo ja ebenfalls die meisten Kontakte, Geschäfte, Familienbande
etc. mittels Reisen durchgeführt oder etabliert wurden. Trotzdem, um es erneut zu
betonen, figurieren Frauen praktisch gar nicht in der Geschichte der mittelalterlichen
Reiseliteratur, so viele Texte auch uns aus der Zeit vorliegen.23

              Reisende Frauen in literarischen Texten des Mittelalters

Ein gut bekanntes literarisches Beispiel für das Phänomen von reisenden Frauen findet
sich im Nibelungenlied (ca. 1200), wo Gunther um die isländische Königin wirbt,
sie mit Hilfe von Siegfried besiegt und sie dadurch zwingen kann, mit ihm zurück
nach Worms zu reisen, wo die Hochzeit stattfindet (Nibelungenlied). Parallel dazu
entdecken wir den Fall der reisenden Prinzessin in Gottfrieds von Straßburg Tristan
(ca. 1210), wo aber der männliche Protagonist zunächst alleine zweimal nach Irland
reist, das erste Mal, um Heilung für seine vergiftete Wunde zu finden, das zweite
Mal, um die Prinzessin Isolde als zukünftige Ehefrau für seinen Onkel Marke zu
gewinnen. Auf der Rückreise trinken die beiden versehentlich den von ihrer Mutter
gebrauten Liebestrank, was dann die gesamte politische Planung fast über den Haufen
wirft, weil Tristan und Isolde niemals mehr sich aus dieser Liebesbeziehung befreien
können, obwohl die Prinzessin zu ihrem großen Kummer König Marke heiraten muss
(Gottfried von Straßburg).
   Der Dichter betont bereits zu Beginn der Überfahrt von Irland nach Cornwall, dass
den Frauen die See schwer zu schaffen machte, weil sie anscheinend bis dahin keine
Erfahrung damit gemacht hatten: “nu was diu vrouwîne schar, / Îsot und ir gesinde, /
in wazzer unde in winde / des ungevertes ungewon” (V. 11648–51). Es ist also für die
Reisegruppe notwendig, zwischendurch einen Hafen ansteuern und eine Ruhepause
einzulegen, was dann dazu führt, dass Tristan und Isolde alleine auf dem Schiff zu-
rückbleiben und so zufällig den Liebestrank zu sich nehmen. Darüber hinaus erfahren
wir leider fast gar nichts von weiteren Reisen Isoldes, mit der Ausnahme ihrer Fahrt
von Cornwall nach Caerleon, wo sie die Probe des Ordals über sich ergehen lassen
muss. Abgesehen davon, dass sie dort im Hafen von keinem Ritter vom Schiff zum
Ufer getragen werden will und statt dessen den ‘zufällig’ auftretenden Pilger, um den
es sich ja wie geplant um den verkleideten Tristan handelt, um dieses Bemühen bit-
tet (V. 15560–606), wird nichts mehr über jegliche Reisen von Isolde berichtet. Nur
Tristan entfernt sich am Ende, weil Marke sie beide in flagrante erwischt hatte, mit
seinem Schiff, und Isolde bejammert ihre tragische Situation, weil sie in Cornwall
ohne ihren Geliebten zurückbleiben muss.24
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   Sobald wir unsere Aufmerksamkeit genauer auf dieses Thema richten, also auf
reisende Frauen, entdecken wir eine ganze Fülle an relevanten weiteren literarischen
Texten, die dieses Motiv einschließen. und dies sowohl in der deutschen als auch der
gesamten europäischen Literatur des Mittelalters. Einige wenige zusätzliche Beispiele
mögen dies illustrieren. In den lais der Marie de France (ca. 1190) reisen die weiblichen
Figuren recht häufig, ob in “Guigemar” oder in “Eliduc”, mal alleine, mal in Begleitung
des männlichen Helden. Dabei kommt es nicht so sehr darauf an, ob sie ein bestimmtes
Ziel haben, denn sie benutzen die Seefahrt oder die Reise über Land im Wesentlichen,
um von einem alten eifersüchtigen Ehemann zu entfliehen oder mit dem neuen Gelieb-
ten aus der Sphäre des Vaters zu entkommen. In “Chevrefoil” treffen sich Tristan und
Yseut, als sie zusammen mit König Marke nach Tintagel reitet. Als der königliche Zug
einen Wald durchquert, bietet dies Yseut die Möglichkeit, sich von ihren Zofen und
Dienern zu trennen und dort an einem versteckten Ort ihren Geliebten aufzusuchen:
“Del chemin un poi s’esluina; / Dedenz le bois celui trova / Que plus l’amot que rien vi-
vant” (Marie de France 2018: V. 91–93; Sie entfernte sich ein wenig vom Weg und fand
im Wald denjenigen, den sie mehr als alle anderen in der Welt liebte).25
   Hierbei könnte man gleich auch die verschiedenen “Spielmannsepen” des späten
12. Jahrhunderts wie König Rother oder Orendel hinzufügen, die auf dem Thema der
Brautwerbung aufgebaut sind. Im Herzog Ernst (Hs. A ca. 1180, Hs. B ca. 1220) reist
zwar nur der männliche Protagonist in den exotischen Orient, aber auf seiner ersten
wichtigen Station im Land der Kranichmenschen stößt er auf die entführte indische
Prinzessin, deren Eltern von den Grippianern erschlagen worden sind, weil der König
von Grippia die junge Frau für sich als Braut gewinnen wollte. Diese Prinzessin reis-
te also überhaupt nicht freiwillig, aber sie tritt trotzdem als eine Person auf, die aus
ihrem bisherigen Kulturraum herausgerissen und nach Grippia entführt worden ist.26
   In dem paneuropäischen Roman Apollonius von Tyrus, der seit dem 2. oder 3. Jahr-
hundert global ungemeine Beliebtheit genoss, erfahren wir sehr viel über die Seereisen
des Helden, aber daneben auch einiges über Schiffsreisen erst seiner Frau und später
seiner Tochter, Tarsia.27 Mit der ersteren begibt er sich nach der Hochzeit, als sie schon
hochschwanger ist, auf die Reise, um die Herrschaft vom verstorbenen (inzestuösen)
König Antiochus zu übernehmen. Als seine Frau schließlich das Kind gebiert, fällt sie
wegen der Nachgeburt (Placenta) in ein Koma und wird für tot angesehen. Apollonius
ist daher gezwungen, die ‘Leiche’ in einem Holzsarg dem Meer anzuvertrauen, und
reist dann weiter. Dann aber geschieht das Unerwartete, der Sarg gelangt unversehrt
nach Ephesos, wo er ans Land gespült wird und wo ein junger Arzt die ‘Tote’ wieder-
zubeleben vermag. Seitdem dient sie dort als Dienerin der Göttin Diana, ohne sich
selbst auf Reise zu begeben, um etwa wieder nach Hause zu gelangen.
   Ihre Tochter Tarsia wächst später bei Pflegeltern auf, während ihr Vater ruhelos das
östliche Mittelmeer bereist. Ihr Pflegemutter empfindet aber, als jene als bildhübsche
junge Frau aufgewachsen ist (Märchenmotiv archetypischer Art), zutiefst Eifersucht
auf sie und befiehlt einem Diener, sie zu ermorden. Dieser lässt sich jedoch von Tarsia
bewegen, diese Tat zu unterlassen, und genau zu dem Zeitpunkt treffen Piraten ein
und entführen sie, um sie in Mytilene als Sklavin zu verkaufen. Sie endet im Besitz
eines Bordellbesitzers, aber sie vermag es trotzdem, über längere Zeit ihre Unschuld
zu bewahren, bis zufälligerweise ihr Vater dort mit seinem Schiff eintrifft. Tochter und
Vater erkennen sich schließlich, der Zuhälter wird ergriffen und öffentlich verbrannt,
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und die Familie, zusammen mit Tarsias Geliebten, dem Fürsten dieser Stadt, reist
wieder ab, um nach Hause zu kehren, was sie zunächst nach Ephesos als Zwischen-
station führt, womit dann auch die Mutter bzw. Ehefrau in den Kreis der Protago-
nisten reintegriert werden kann. Insgesamt behandelte der Dichter, und behandelten
nach ihm noch zahllos andere immer wieder die gleiche Thematik, also auch das der
Seereise von Frauen, selbst wenn sie hochschwanger sind.
   Im ebenso beliebten und weitverbreiteten sentimentalen Roman von Flore und
Blancheflur (u.ä.) spielt Reisen ebenfalls eine gewichtige Rolle, auch wenn das Haupt-
augenmerk auf dem jungen männlichen Helden ruht, der zutiefst in die junge Tochter
einer christlichen Sklavin verliebt ist. Seine Eltern wollen diese Verbindung verhin-
dern, schicken ihn fort nach Frankreich zur Ausbildung und verkaufen unterdessen die
junge Frau an Kaufleute aus Babylon, die sie wiederum an den dortigen großmächtigen
Emir verkaufen, der sie später heiraten will (Zwangsheirat). Die Einzelheiten ihrer
Seefahrt werden uns nicht mitgeteilt, während wir viel über die Bemühungen von
Floris. nachdem er über diesen Sklavenhandel informiert worden ist, erfahren, den
Weg bis in den Orient zu seiner Geliebten zu finden, wobei er viele Hindernisse über-
windet und letztlich seine Geliebte zu befreien vermag, wonach sogar der Emir seine
Gesinnung ändert und das junge Paar heiraten lässt, nachdem er Floris persönlich zum
Ritter geschlagen hat.28
   Aus dem 13. Jahrhundert ist uns dazu die recht parallele Erzählung (als Prosime-
trum) von Aucassin et Nicolette bekannt, wo die beiden Geliebten (sie als ehemalige
Sklavin aus sarazenischem Hause) von zu Hause flüchten und sich auf verschiedene
Reisen begeben, was viele Schwierigkeiten für sie impliziert, die aber nicht viel mit
der aktuellen Seefahrt zu tun haben, auch wenn die zwei Protagonisten dabei weit
herum kommen.29
   Viel eindrucksvoller wird hingegen im anonymen Mai und Beaflor (ca. 1280/1290)
die Seereise der jungen Frau Beaflor geschildert, die sich in einem kleinen Boot,
das völlig versiegelt ist, heimlich von Rom entfernt, um den sexuellen Nachstellun-
gen ihres kaiserlichen Vaters zu entkommen (Inzestmotiv). Sie gelangt damit sicher
nach Griechenland, wo der Graf Mai sie willkommen heißt, sich in sie verliebt und
sie bald darauf heiratet. Kaum ist sie schwanger geworden, muss er sich auf einen
Kreuzzug nach Spanien begeben, was eine Möglichkeit bietet für seine extrem hass­
erfüllte Mutter Eliachâ, die der Landfremden nicht traut, durch gefälschte Briefe es
zu bewerkstelligen, dass Beaflûr hingerichtet werden soll. Erneut gelingt ihr aber die
Flucht, zurück nach Rom, wo sie sich aber vor ihrem Vater solange versteckt, bis nach
vielen Abenteuern ihr Mann Mai eintrifft und sie letztlich wiedererkennt, womit der
Roman zum glücklichen Ende hinführt.30
   Beaflor verfügt über ein Schiff, das anscheinend ohne Mast, Segel oder Ruder
auskommt und gewissermaßen von Engeln gesteuert wird. Auf dem Weg nach Grie-
chenland führt die junge Frau große Schätze mit sich, die in der Fremde ihren hochad-
ligen Status demonstrieren sollen, und doch glaubt ihr die zukünftige Schwiegermutter
nicht, die sehr schnell auf Mordpläne bedacht ist, um sich der Landfremden zu entle-
digen, die sie für eine Verworfene hält, die nicht eine standesgemäße Braut für ihren
Sohn darzustellen scheint. Trotz anfänglicher Erfolge mittels gefälschter Briefe schei-
tert sie aber letztlich, denn Beaflor vermag mit Hilfe ihr loyal ergebener Hofleute erneut
zu entkommen, und diesmal wird sie sogar von ihrem neugeborenen Kind begleitet, als
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sie in See sticht. Ihre Reise verläuft auch diesmal völlig problemlos, offenkundig weil
göttliche Kräfte sie beschützen und sie genau dorthin führen, wo ihr eigentliches Ziel
zu sein scheint, nämlich zurück in Rom. Man möchte fast meinen, sie würde sich in
einer Art geschlossenem Schlauchboot oder U-Boot bewegen, denn sie ist vollkommen
darinnen eingeschlossen und taucht erst wieder heraus, als sie angekommen ist und die
Luke öffnet, ohne selbst zu wissen, um welches Land es sich handeln mag.
   Der Zimmermann hat seine größte Mühe daran verwandt, ein wirklich seefestes
Schiff zu bauen, das fast an die Arche Noah erinnert, weil es alles in sich fasst, was
Beaflôr für eine lange Reise braucht:
  In daz schief hiez man sie gan,
  daz wart nach ir zu getan,
  gar vestichlichen ez do wart
  vermachet, daz ir uf der vart
  niht mohte gewerren.
  des lobtens vnsern herren,
  Ein venster ward ir benant,
  da si wol durch stiez die hant.
  Daz was gemacht so meisterlich,
  daz diu maget tugentrich
  wol uf tet vnde zu
  beidev spate vnd vru
  so sie chiesen wolte den tac.
  Durch den gebresten sis niht pflac,
  daz si niht liechtes hate:
  Ir louhten vruo vnd spaten
  in dem scheffe die sterne [steine] (V. 1681–1697).

Es ist bezeichnend, dass der Dichter wirklich nur wenig über die baulichen Details
des Schiffes berichtet und stattdessen größte Aufmerksamkeit auf die Schätze und
die Kleidung Beaflôrs lenkt, die ja selbst keinerlei Aktivitäten unternimmt, das Schiff
zu lenken oder zu steuern. Es bewegt sich praktisch genauso automatisch wie das
schwarze Schiff in “Guigemar” von Marie de France. Aber es ist trotzdem von zen­
traler Bedeutung für diese Erzählung, dass Beaflôr riesige Entfernungen zurücklegen
muss, um einem sexuellen Verbrechen bzw. einem Mordanschlag zu entkommen. Die
Parallelen zu Geoffrey Chaucers “The Man of Law’s Tale” (ca. 1390) aber auch zum
anonymen Versroman The King of Tars (ca. 1330) sind nicht zu übersehen,31 denn
jedesmal gehört die Seefahrt zum entscheidenden Motiv, bei der die Protagonistin
überaus deutlich profiliert und in ihrer persönlichen Leiderfahrung oder in ihrem
Erfolgserlebnis intensiv beschrieben wird.32

          Frauen auf Reisen aus historischer und literarhistorischer Sicht

Sowohl in der historischen Realität als auch in der literarischen Fiktion tritt uns also
das Thema der reisenden Fürstin entgegen, was leicht noch durch viele andere damit
zusammenhängende Aspekte bereichert werden kann, denn wir erfahren häufiger,
wie schon erwähnt, auch von Ehefrauen, die ihre Männer auf Kreuzzug begleiteten,
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obwohl sie nicht direkt am Krieg beteiligt waren oder einfach auf einer sicheren Insel
zurückblieben.33 Während des gesamten Mittelalters und in der Frühneuzeit begaben
sich viele Könige unablässig auf Reisen durch ihre eigenen Reiche, um machtpolitisch
präsent zu sein (Peripatie oder Reisekönigtum).34 Dabei führten sie meistens ihren
gesamten Hofstaat mit sich, was somit auch bedeutete, dass ihre Ehefrauen und deren
Zofen sie zweifellos begleiteten.35 Reisen war also eine durchaus gewöhnliche Erfah-
rung für die Mehrheit adliger Damen bereits im Mittelalter und in der Frühneuzeit.

                                    Zwischenergebnis

Überhaupt dürfte die soziale Schichte des Adels schon im Mittelalter als erheblich
mobil eingeschätzt werden, sei es zu Heiratszwecken, sei es für Turniere, sei es wegen
politischer Allianzen oder Verwandtschaftsbesuchen.36 All dies führt somit schlicht
auf die generelle Beobachtung zurück, dass die Gesellschaft der Vormoderne wesent-
lich mehr auf Reisen gewesen ist, als wir es früher so vermutet hätten Es ist also
von vornherein anzunehmen, dass Frauen unter entsprechenden Umständen ebenfalls
reisten, freilich manchmal auch gegen ihren Willen, weil sie etwa von einem Königs-
sohn entführt wurden, der sie zur Heirat zwingen wollte, wie wir es jedenfalls oftmals
in der zeitgenössischen Literatur vernehmen (siehe z.B. Kudrun, ca. 1250).37
   Weiterhin ist zu berücksichtigen, dass Pilger oder Kaufleute oftmals nicht einfach
allein reisten; stattdessen begab man sich meist in Gruppen auf den Weg, und so war
es keineswegs eine besonders schwierige Situation für Frauen, sich ebenfalls entfern-
te Reiseziele vorzunehmen, und zwar, indem sie sich solchen Gruppen anschlossen.
Allerdings liegen uns fast keine entsprechenden Reiseberichte aus dem Mittelalter vor,
die von Frauen verfasst worden wären, und leider wissen wir auch praktisch gar nichts
über Frauen, die sich z.B. zum berühmten Pilgerort Santiago de Compostela begeben
hätten (siehe aber Margery Kempe, s.u.).
   Erneut sehen wir uns auf literarische Aussagen zurückgeworfen, um zusätzliche
Belege von reisenden Frauen zu finden, so wenn wir an die vielen Beispiele in Gio-
vanni Boccaccios Decameron von ca. 1350 denken, einer berühmten Sammlung von
einhundert Erzählungen, die sich sieben Frauen und drei Männer über zehn Tage vor-
tragen, um sich die Zeit zu vertreiben, die sie außerhalb der von der Pest verseuchten
Stadt Florenz verbringen.38 In der siebten Novelle vom zweiten Tag erfahren wir z.B.
die Leidensgeschichte der Tochter des Sultans von Kairo, Beminebab, die den König
von Garbo heiraten soll, der wohl über ein Reich auf der Iberischen Halbinsel herrscht.
Diese Alatiel durchquert also fast das ganze Mittelmeer, bis sie westlich von Sardinien
einen furchtbaren Schiffsbruch erleidet, bei nur sie selbst und einige ihrer Zofen über-
leben. Ihr Vater hatte sie zwar sorgfältig ausgestattet und sie so dem Wind und den
Wellen anvertraut, aber das Schicksal gestattet es ihr nicht, heil ans Ziel zu gelangen:
  In angemessener Begleitung von Damen und Herren und mit vornehmer und reicher Aus-
  stattung ließ er sie auf ein gut bewaffnetes und ausgerüstetes Schiff steigen, empfahl sie
  Gott und schickte sie zu ihm. Da die Winde günstig waren, setzten die Seeleute die Segel,
  verließen den Hafen von Alexandria und hatten nach mehreren Tagen glücklicher Fahr
  schon Sardinien hinter sich gelassen (S. 162).
222                             Mediaevistik 34 . 2021

Ein Edelmann namens Pericon da Visalgo rettet sie zwar vom Schiff, bringt sie zu
seinem Schloss, wo er sie als seine Geliebte behandelt, obwohl sie wegen der ver-
schiedenen Sprachen nicht miteinander kommunizieren können, aber die Tragik setzt
schnell ein, weil Pericons Bruder Marato ihn eines Nachts aus Eifersucht ermordet,
Alatiel entführt und zusammen mit ihr auf einem Schiff davoneilt, aber nur um selbst
von den zwei Schiffseignern wegen ihrer sexuellen Begierde auf die schöne Fremde ins
Meer geworfen zu werden, wo er ertrinkt. Von hier an ergeben sich immer wieder neue
Morde, und Alatiel gelangt von einem Mann zum anderen, bis sie am Ende glücklich
wieder in ihre Heimat zurückkehren kann, wo sich ihr Vater äußerst wundert, seine
Tochter so wohlbehalten wieder bei sich zu haben, die vermeintlich immer noch Jung-
frau ist. Er bietet sie aber erneut dem König Garbo an, der dieses Angebot hocherfreut
annimmt und der sich dann gründlich darum kümmert, dass sie sicher das Mittelmeer
überqueren und bei ihr eintreffen kann: “ehrenvoll ließ er sie von seinen Gesandten
abholen und empfing sie freundlich” (S. 182).39
   Auch in Geoffrey Chaucers Canterbury Tales (ca. 1400) hören wir von einer Frau
auf Reisen, und zwar einer, die sich einer Gruppe von Pilgern angeschlossen hat, die
berühmt-berüchtigte Wife of Bath, die hier freilich ‘nur’ als Reisende und als Erzäh-
lerin auftritt, ohne dass ihre Erfahrungen auf der Fahrt nach Canterbury selbst beson-
ders thematisiert werden würden.40 Als viel dramatischer erweist sich hingegen das
Schicksal der norwegischen Prinzessin Erene in Rudolfs von Ems Der guote Gêrhart
(ca. 1220/1225), die auf der Seefahrt von zu Hause nach England, wo sie den Königs-
sohn Willehalm heiraten soll, durch einen Sturm weit ab vom Kurs getrieben wird und
bis zu einem marokkanischen Hafen gelangt, wo sie der dortige Burgherr Stranmûr
zusammen mit ihren Zofen und einer Schar englischer Höflinge gefangen nimmt. Erst
als der Kölner Kaufmann Gêrhart zufällig dort auftaucht, ebenfalls von einem Sturm
von seinem Heimweg abgetrieben, ergibt sich eine Möglichkeit für alle Gefangenen,
erneut ihre Freiheit zu gewinnen.41
   Obwohl es Gêrhart einiges an Überwindung kostet – er muss sogar zunächst nachts
im Traum von einem Engel ernsthaft dazu aufgefordert werden –, stimmt er schließ-
lich dem Angebot des muslimischen Herrschers zu, seine gesamten Kaufmannswaren
gegen die Gefangenen zu tauschen, denn, wie Stranmûr überzeugend zu argumen-
tieren vermag, er könne eine so gewaltige Auslösesumme für sie alle erhalten, die
sogar den Wert all seiner Waren entsprechen oder sogar übertreffen würde. Stranmûr
ist sich nur zu bewusst, dass er keine guten Möglichkeiten besitzt, in geschäftliche
Verhandlungen mit England oder Norwegen zu treten, während sein Gast in Köln an-
gesiedelt ist und von dort aus leicht die Freilassung der Gefangenen, so sie denn darauf
in seinem ‘Besitz’ seien, gegen einen beträchtlichen Geldbetrag einzufädeln. Eigen-
artigerweise findet genau dies letztlich nicht statt, was dann aber Gêrharts noblen
Charakter umso mehr unterstreicht.
   So reist Gêrhart am Ende tatsächlich mit der Prinzessin und den Höflingen zurück
nach Europa, aber er trennt sich dann wohl kurz vor der italienischen Küste von den
englischen Adligen, ohne jegliche Forderungen an sie zu erheben, während er Erene
mit sich nach Hause bringt, wo er aber vergeblich darauf wartet, dass ihr Vater sich
bei ihm melden würde. Die Handlung setzt dann recht überraschend fort, aber sie
geht uns hier nichts mehr an, abgesehen davon, dass sich am Ende Gêrhart zusammen
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mit Erene und ihrem Geliebten Willehalm per Schiff nach England begibt, wo er ent-
scheidend die politischen Querelen, ja einen Bürgerkrieg zu überwinden vermag und
allgemeinen Frieden stiftet.
   Generell können wir also mit hohem Vertrauen die These vertreten, dass, wenn
in einem literarischen Text des Mittelalters oder der Frühneuzeit überhaupt eine
handelnde Frauenfigur auftritt, diese oftmals wichtige, ihr ganzes Leben beeinflus-
sende Reisen unternimmt, entweder aktiv ein fernes Ziel ansteuernd oder passiv auf
einem Schiff entführt, um als Sklavin verkauft oder als Braut gewaltsam heimgeholt
zu werden. Auf jeden Fall bestätigen wirklich sehr viele mittelalterliche Autoren, dass
die meisten weiblichen Protagonisten irgendwann einmal im Laufe der Handlung auf
größere Reisen gehen, was uns nun erlaubt, zumindest einen konkreten Fall genauer
zu betrachten, also einen Text, in dem sogar eine weibliche Stimme über ihre Pilger-
schaft berichtet. Zugestanden, die historischen Belege sind bisher weniger zur Geltung
gekommen, aber wir können mit Sicherheit davon ausgehen, dass gerade hochadlige
Damen während der Vormoderne vielmals größere Fahrten entweder über Land oder
auf der See unternahmen, denn sonst wäre die zeitgenössische Literatur nicht so stark
mit Berichten von reisenden Frauen angefüllt.

                                   Margery Kempe

Die Forschung hat sich bisher schon vielfach mit der englischen Mystikerin Margery
Kempe (ca. 1373–nach 1438) beschäftigt, obwohl oder gerade weil sie einen sehr
ungewöhnlichen Lebenslauf besaß und auf ihre religiösen Visionen mit heftigem und
stundenlangem Weinen reagierte bzw. diese Visionen mittels ihrer Tränen hervorzu-
locken versuchte. Ihr Book genießt, gleich wie man es heute noch aus theologischer
oder literarischer Sicht beurteilen möchte, hohe Anerkennung, weil es sich praktisch
um die erste englische Autobiographie handelt.42 Margery berichtet aber nicht nur über
ihre Familiensituation, hatte sie ja viele Kinder zur Welt gebracht und hatte sie viele
Konflikte mit ihrem Ehemann vor allem in seinem hohen Alter, sondern insbesondere
über viele Pilgerreisen, die sie zunächst an heilige Orte in der Nähe von Lynn (heute
King’s Lynn) führten, dann aber an die berühmtesten, obwohl sie für eine englische
Frau des Spätmittelalters unendlich weit entfernt zu liegen schienen. Es gelang ihr
immer wieder, trotz vieler Widrigkeiten, persönlicher Anfeindungen, finanzieller Pro-
bleme, körperlicher Schwäche und Krankheiten nach Rom, Jerusalem und Santiago de
Compostela zu gelangen, und später in ihrem Leben auch noch nach Danzig zu reisen,
wo ihre deutsche Schwiegertochter lebte. Diese letzte Reise führte sie zunächst nach
Norwegen, von dort ins östliche Deutschland, wo sie sich länger aufhielt, bis sie dann
auf dem Rückweg über Wilsnack noch einmal einen Pilgerort aufsuchte.43
   Vielmals berichtet sie von fast unglaublichen Situationen, denn sie hatte oftmals
kein Geld mehr zur Verfügung, konnte sich zunächst nicht im Ausland sprachlich
verständigen, wurde von ihrer Gruppe männlicher Pilger ausgestoßen oder zurückge-
lassen, weil sie sich ihretwegen sehr verlegen fühlten, und sah sich oftmals mit offener
Feindschaft wegen ihres skandalösen Verhaltens in der Öffentlichkeit konfrontiert,
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wenn sie sich hemmungslos dem Weinen hingab. Dennoch schaffte es Margery immer
wieder, ihren Weg zu finden und insgesamt sehr große Entfernungen zu überwinden,
und bewies damit in eindrucksvoller Weise, dass auch Frauen im Spätmittelalter auf
Reisen gingen und dieses Unternehmen erfolgreich bewerkstelligten. Man könnte
Margery gewissermaßen als eine zweite Egeria bezeichnen, obwohl sie primär von
mystischen Visionen angetrieben wurde, während die letztere sich relativ schlicht auf
Pilgerschaft begeben hatte.44
   In diesem Zusammenhang wäre auch auf die im Vergleich zu Margery nur wenig
ältere Brigitte von Schweden (1303–1373) hinzuweisen, die nach einem reichen
Familienleben mit vielen Kindern aus mystischer Motivation heraus nach Rom reiste
und dort ihr Leben beendete. Nachdem sie 1349 Schweden verlassen und sich nach
Italien begeben hatte, unternahm sie über die nächsten Jahrzehnte noch eine Reihe von
größeren Reisen, so 1352 nach Assisi, 1364 nach Avignon, 1365 nach Neapel und 1372
sogar bis zum Heiligen Land, und dies in Begleitung ihrer Kinder Karl, Birger und
Katharina.45 Margery drückte oftmals ihre tiefe Bewunderung für die heilige Brigitte
aus und folgte ihr auch in ihrem aktiven Reiseleben, indem sie unablässig neue Pilger-
ziele ansteuerte.46
   Es lohnt sich nun, die Konkreta der Reisebeschreibung Margerys ins Auge zu
fassen, um genauer nachzuvollziehen, wie die Bedingungen für Frauen gewesen sein
mögen, die sich in der Vormoderne auf ausgiebige Reisen begaben. Schließlich stellen
sich viele Fragen, so z.B. nach den realen Umstände der Fahrt an sich, der Verkösti-
gung, den Unterkünften u.a. mehr. Leider finden wir aber auch bei den zeitgenössi-
schen männlichen Pilgerberichten kaum exakte Angaben, denn die Aufmerksamkeit
ruhte verständlicherweise auf den Pilgerorten, auf den Gebetsritualen der Pilger, auf
den jeweiligen Heiligen und Reliquien etc. Eine große Ausnahme stellt aber in der
Hinsicht Felix Fabri dar, der sogar solche Einzelheiten berichtet, wie auf der Seerei-
se von Venedig nach dem Heiligen Land die Reisenden verpflegt wurden und wie
sie ihre Notdurft erledigten, was gerade bei rauer See ungemein problematisch war.47
Bei Margery werden wir nur z.T. fündig, aber sie betont dafür viel mehr, welche
spezifischen Bedingungen für Frauen auf Reisen bestanden bzw. mit welchen Heraus-
forderungen sie zu kämpfen hatten.
   Obwohl Margery uns Heutigen leicht als eine hysterische Person vorkommen
könnte, wie die vielen Weinkrämpfe illustrieren, operierte sie offensichtlich sehr prag-
matisch und realistisch, wenn es z.B. um die Reisevorbereitungen ging. So lässt sie
einen Priester öffentlich verkünden, dass, wenn jemand finanzielle Forderungen an sie
oder ihren Mann hätte, diese vor der Abreise anzumelden (S. 96). In ihrem Bericht
formuliert sie sehr konkret, wie ihre Fahrt verlief, von Ort zu Ort, obwohl sie dann
immer wieder zu erkennen gibt, wie stark sie von göttlichen Visionen bestimmt war,
die stets von Neuem zu ihr kamen, wohin sie sich auch wandte. Dies bedeutete jedoch,
dass sie ihre verschiedenen Mitreisenden immer wieder stark irritierte und dass diese
sie dann u.U. sogar im Stich ließen, um sich dieser Last zu befreien, die diese seltsame
Frau für sie darstellte (S. 97).
   Während die Gruppe auf dem Kontinent das Deutsche Reich durchquerte, scheint
sie selbst viel Kritik, ja Spott und Misshandlungen geerntet zu haben, wie sie indirekt
andeutet:
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  they caused her much shame and reproof as they went along, in various places. They cut
  her gown so short that it only came a little below her knee, and made her put on some
  white canvas in a kind of sacking apron, so that she would be taken for a fool, and people
  would not make much of her or hold her in any repute (S. 98).

Ironischerweise scheint aber, jedenfalls aus Margerys Sicht, die soziale Umwelt ihr
höhere Anerkennung gewährt zu haben als all ihren Mitreisenden, gerade weil sie mit
solcher Inbrunst ihre religiösen Visionen präsentierte und unablässig betete, wein-
te oder sich über ihre seelischen Erkenntnisse ausließ. Die Irritation der männlichen
Pilger muss daher erheblich gewesen sein, vor allem weil sie auch in Gefahrensitu-
ationen auf Grund göttlicher Einsicht ihre Sicherheit garantieren konnte, was dann
auch so eintraf, ohne dass Details uns bekannt gegeben würden (S. 98). Obwohl man
sie gerne für verrückt erklären und damit marginalisieren wollte, gelang es Margery
immer wieder, genau auf die richtigen Personen zu stoßen, die ihr volle Unterstützung
gewährten, so in Konstanz, wo sie den päpstlichen Legaten, einen englischen Mönch,
aufsuchte, der ihr jedenfalls laut ihrer eigenen Aussage freundlich zuhörte und sie als
geistig begnadete Person anerkannte (S. 99).
   Zwar bemühten sich die anderen Pilger, den Legaten dazu zu überreden, Margery
das öffentliche Weinen zu verbieten, aber er weigerte sich und anerkannte sie damit
offiziell als von Gott begnadet (S. 100). Außerdem half er ihr, englisches Geld in deut-
sches umzutauschen, unterstützte sie also in ganz konkreter Weise, ihre Reise nach
Rom weiter fortzuführen, auch wenn die sie umgebenden Männer alles daransetzten,
sie mundtot zu machen oder aus ihrer Gruppe auszustoßen. Genauso ging es ihr im-
mer wieder mit anderen Menschen, die sie freundlich aufnahmen, ihr gute Unterkunft
gewährten und ihr halfen, die Reise am nächsten Tag fortzusetzen, womit sie sogar
schneller vorankam als die männlichen Pilger.
   Ihre Angst aber, als Frau auf ihrer langen Wanderung verletzt und sexuell miss-
braucht zu werden, ist wortwörtlich in den Text eingeschrieben, was genau bestätigt,
was ich einleitend hervorgehoben hatte als Erklärung dafür, warum wir fast keine
Reisebeschreibungen von Frauen aus dem Mittelalter und der Frühneuzeit besitzen, es
sei denn, diese konnten unter sicherem Geleit die Fahrt unternehmen, was aber weni-
ger der Fall war, und dann auch zu keiner schriftlichen Schilderung führte. Margerys
Gebet sagt sehr viel aus in diesem Zusammenhang:
  ‘Lord, as you drove away her enemies, so drive away my enemies, and preserve my chas-
  tity that I vowed to you and let me never be defiled, and if I am, Lord, I vow that I will
  never return to England as long as I live.’ (S. 101, cf. auch S. 113)

Was eigentlich bei Margery auffallen sollte, ist genau das, was sie kaum anspricht,
die Alltäglichkeit der Reise, denn sie fand überall Unterkünfte, bekam Verpflegung,
erledigte regelmäßig ihr langes Tagespensum und gelangte so am Ende doch zu ihrem
Ziel, ohne dass sie sich hetzen musste oder auf echte Schwierigkeiten gestoßen wäre.
Als sie und ihre Wegbegleiter in Venedig lange Zeit, d.h. dreizehn Wochen, darauf
warten mussten, bis ihr Schiff bereit war, erwähnt sie dies ohne irgendwelche Besorg-
nis, denn offensichtlich handelte es sich dabei um eine ganz gewöhnliche Situation,
mit der jeder Pilger zurechtkommen musste. Viel wichtiger war für sie, dass die alten
Konflikte mit den Männern in ihrer Gruppe erneut aufbrachen, die es nicht ausstehen
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konnten, dass sie wieder ihren eigenen Eid beobachtete, als gute Christin kein Fleisch
zu essen, was indirekt als Kritik an den anderen verstanden wurde, die keineswegs
zu fasten bereit waren (S. 102). Weil diese Auseinandersetzung keine gute Lösung
finden konnte, trennte sich Margery von allen und nahm dann für sechs Wochen ihre
Mahlzeit alleine bei sich ein, was auch bedeutete, dass sie ihre eigene Unterkunft oder
Räumlichkeit besaß und sich als Frau zurückziehen konnte.
   Die Streitigkeiten mit der ganzen Gruppe männlicher Pilger setzten sich fort, und
dennoch scheinen diese jedenfalls heimlich hohen Respekt für sie, wenn nicht Angst
vor ihr, gefühlt zu haben, weil sie sofort ihre eigenen Pläne änderten, als diese Frau
ihnen mitteilte, dass Gott sie davor gewarnt habe, dasjenige Schiff zu benutzen, auf
dem sie sich alle einen Platz gemietet hatten: “and were very glad to come to the galley
where she was” (S. 103). Während einer der englischen Priester in ihrer Gruppe sie
sogar bestahl und fest schwor, es habe sich um sein Eigentum gehandelt, fand sie, als
sie bereits auf einem Esel reitend nach Jerusalem gelangte und plötzlich durch ihre reli-
giöse Inspiration vom Tier zu fallen drohte, Hilfe durch zwei deutsche Priester (S. 103).
   Gelegentlich erwähnt die Autorin zwar auch andere Frauen unter den Pilgerscharen
im Heiligen Land (S. 104), aber meistens spricht sie nur von Männern, von denen viele
sie verspotteten und verachteten, während andere dann doch ihr Respekt entgegen
trugen und sie anerkannten (S. 105). War sie also eine der ganz wenigen Pilgerinnen?
Wir können es aus ihrem Bericht nur erahnen, welche Ausnahme sie darstellte, aber
da sie weitgehend sich nur auf sich selbst konzentrierte und von ihren mystischen
Anwandlungen sprach, die in ihrer Umwelt Erstaunen und Abstoß hervorriefen, bleibt
die Frage weitgehend unbeantwortet. Wie auch immer, Margery erwies sich als außer-
ordentliche Figur unter den Pilgern, weil man oftmals hörte, dass Gott mit ihr gespro-
chen habe: “And one of the friars asked one of her party if that was the Englishwoman
who, they had heard tell, spoke with God” (S. 109).
   Als die ganze Gruppe sich zum Jordan Fluss begab und von dort den Berg der
Versuchung Christi (arabisch: Ǧabal al-Qurun ul; griechisch: Σ α ρ α ν τ ά ρ ι ο Ό ρ ο ς) be-
steigen wollte, versuchten die Männer, Margery zurückzuhalten, aber sie richtete sich
nicht danach und begab sich von alleine dorthin, wo sie, als es besonders schwierig
wurde wegen der Besteigung und der Hitze, von den anderen alleine gelassen wurde,
während ein Araber sich ihr plötzlich beigesellte und freiwillig seine Hilfe anbot
(S. 110). Andere Frauen waren also wohl nicht anwesend, die ähnlicher Unterstützung
bedurft hätten, was vielleicht erklären dürfte, wieso sie gerade unter der örtlichen
Bevölkerung viel Anerkennung und Respekt erfuhr: “The Saracens also made much
of her, and conveyed and escorted her about the country wherever she wanted to go.
And she found all people good and gentle to her, except her own countrymen” (S. 111).
   Natürlich könnte all dies viel mit der Tatsache zu tun haben, dass sie durch ihr Ver-
halten und ganzes Auftreten bei vielen den Ruf der Heiligkeit genoss, weswegen sie
dann auch leicht all die Pflege erhielt, die ihre Reise überhaupt erst möglich machte:
“And as it happened, she was lodged in a good man’s house, and many neighbours
came in to welcome her for her perfection and her holiness” (S. 114). Zugleich bietet
Margery auch Hinweise darauf, dass einzelne adlige Damen durchaus selbständig auf
Reisen gingen, so eine Frau namens Margaret Florentyne, die aber von einer ganzen
Truppe von Rittern von Rhodos, also Mitgliedern des Johanniterordens, begleitet und
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beschützt wurde. Margery bekam die Erlaubnis, sich dieser Gruppe anzuschließen,
was ihr die Sicherheit bot, nicht von Räubern überfallen zu werden (S. 115).
   Wir könnten von hier noch weiter ausgreifen, aber in ihrem Book doch keine
zusätzlichen Informationen über Möglichkeit von Frauen, sich auf Pilgerschaft zu be-
geben, gewinnen. Vielleicht interessant könnte jedoch sein, dass sie in Notlagen sogar
Geld von anderen erhielt, um die Rückreise nach England wieder antreten zu können
(S. 134), was auf die hohen Kosten eines solchen Unternehmens aufmerksam macht.
Da aber Pilger generell aus religiösen Gründen auf große Ehrfurcht stießen, gab es
immer wieder Privatpersonen, die sie mit Geld ausstatteten (S. 139), vor allem weil sie
hierbei eine Möglichkeit für sich erblickten, dass Margery für sie an dem jeweiligen
Pilgerort für sie beten würden (S. 143.48
   So gelang es ihr auch, trotz der enormen Transportkosten eine Pilgerschaft von
Bristol aus per Schiff nach Santiago de Compostela durchzuführen, denn sie erhielt
von überall Geld, und dies nicht nur, weil sie als Pilgerin auftrat, sondern weil sie
als Mystikerin berühmt, und für andere berüchtigt geworden war (S. 144). Sogar der
Bischof von Worcester lud sie zu sich ein, unterhielt sie, gab ihr genügend Geld für die
Seefahrt und anerkannte sie als heilige Person, was alle anderen, die sie bisher ange-
feindet hatten, zum Schweigen brachte (S. 146–147). Ob sich weitere Frauen unter der
Pilgergesellschaft befanden, erfahren wir nicht, denn Margery konzentrierte sich ja
meist sowieso fast nur auf sich selbst und ihre göttlichen Erfahrungen.
   Eine Nebenepisode, in der sie sich nach Leicester begab, wirft aber ein wichtiges
Licht auf die öffentliche Situation von Frauen, denn der Bürgermeister, der ihr stark
misstraute, wollte sie ins Gefängnis werfen, aber dort gab es keine Zellen reserviert
für Frauen, was sogar den Gefängniswärter zu Mitleid rührte, der versprach, sie unter
seiner eigenen Obhut und der seiner Frau zu behalten, damit sie sicher vor sexuellen
Übergriffen der männlichen Gefangenen (S. 149–150) sei. Insgesamt bemerken wir
also, dass für Margery die Welt weitgehend besetzt war von ihr selbst und der männli-
chen Gesellschaft, unter der sie viele Unterstützer und sogar Verehrer fand, dann aber
auch viele Feinde, die ihr jedoch letztlich nichts anhaben konnten. Für sie stellte das
Bemühen, einen Pilgerort aufzusuchen, kaum jemals ernsthaft eine Herausforderung
dar, denn sie fand einerseits stets die Hilfe Gottes durch ihre Visionen, andererseits
kamen ihr eigentlich jedesmal, wenn sie in Not geriet, fromme Menschen zur Hilfe. Ob
Margery aber als reisende Frau eine Ausnahme darstellte, oder ob sie nur eine von vie-
len Pilgerinnen des Spätmittelalters war, lässt sich bislang nicht eindeutig bestimmen.
   Bezeichnenderweise gibt es in der bedeutenden Enzyklopädie Trade, Travel, and
Exploration in the Middle Ages (2000) zwar Einträge zu reisenden Frauen in der
Mongolei und in der islamischen Welt, nicht aber zu solchen innerhalb des Christen-
tums. Margery Kempe ist separat vertreten, aber die sich uns aufdrängende Frage nach
ihrer repräsentativen Rolle wird hier auch nicht beantwortet. Wie wir aber bisher be-
obachten konnten, trat Margery stets erstaunlich selbstbewusst auf, begab sich relativ
sorglos, oftmals mit kaum Geld in der Tasche, auf den Weg und meisterte dann un-
glaublich weite Strecken.49
   Wie wir bereits eingangs konstatieren konnten, gab es schon im Frühmittelalter
zahlreiche Frauen, die weite Reisen auf sich nahmen, und dies sogar mit der Absicht,
eine Tätigkeit als Missionarin auszuüben, wie wir es oftmals bereits im 8. Jahrhun-
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dert vernehmen, als sich recht viele angelsächsische Benediktinerinnen in Nachfolge
von Bonifatius ins östliche Frankenreich begaben, um dort Klöster zu gründen und
das Christentum zu predigen.50 Wir müssen aber sorgfältig unter den verschiedenen
sozialen Gruppen differenzieren, wie das letzte Beispiel uns lehren wird.

                Felix Fabris Reisebericht für Nonnen (stabilitas loci)

Wenn Frauen nicht reisen konnten, sei es, weil ihnen das Geld, die zeitliche Möglichkeit,
die personale Unterstützung fehlte, oder sei es, weil sie wegen ihrer Mitgliedschaft in
einer klösterlichen Gemeinschaft das Gelübde auf die stabilitas loci abgelegt hatten,
standen ihnen aber viele Texte zur Verfügung, die die religiösen Erfahrungen in der
Fremde mittels des Leseaktes zu vermitteln vermochten. Einer davon soll hier noch
zum Abschluss kurz behandelt werden, die Sionpilger des Ulmer Dominikanerpredi-
gers Felix Fabri (ca. 1437/38–1502), der als Seelsorger für eine Reihe von oberschwäbi-
schen Frauenklöstern verantwortlich war. Wirkliche Bedeutung gewann er, als er 1480
zum ersten Mal in Begleitung von Georg von Stein ins Heilige Land reiste. Dieser
kurze Aufenthalt genügte ihm aber nicht, und so wiederholte er diese Pilgerschaft
wesentlich umfassender von April 1483 bis Januar 1484, worüber er einen berühm-
ten Bericht, sein Evagatorium, verfasste, in dem er mehr als eigentlich alle anderen
Palästinareisenden sorgsam darauf achtete, so viele Details über seine alltäglichen Er-
fahrungen einfließen zu lassen wie möglich.51 Kurz darauf verfasste er auch den Text
Die Sionpilger, der bis heute in fünf Handschriften überliefert ist und sich direkt an
Klosterfrauen wandte, damit diese sowohl die Reise nach Palästina als auch die nach
Santiago de Compostela jedenfalls im Geiste durchzuführen in der Lage sein sollten.52
   An sich könnte die Auswahl dieses Textes zum Abschluss unserer Untersuchung
zu reisenden Frauen in der Vormoderne unpassend erscheinen, denn Die Sionpilger
bestätigen ja genau das Gegenteil; ein männlicher Autor muss auf Reisen gehen, da-
mit die weiblichen Leser diese Reise in ihrer Imagination nachvollziehen können.53
Dennoch erweist sich diese Beschreibung Fabris als aussagekräftig für unsere gan-
ze Untersuchung, denn hier erfahren wir aus erster Hand, welche Interessen gerade
spätmittelalterliche Klosterfrauen u.a. beschäftigten und wie sie trotz ihrer eigenen
physischen Beschränkung danach drängten, jedenfalls mit ihren geistigen Augen des
Heiligen Landes ansichtig zu werden:
  So wirt er angelanget von denen closterluten vnd von andren gaistlichen personen vnd
  andechtigen kinden, Das er yna an geb die hailig bilgerfart von ainer tagraiß zuo der
  andren mit bestimmung der stett namen und ablas von tutschen landen vß vber mer in das
  hailig land gen Iherusalem vnd gen Syon vnd Synai vnd wider herumb in tutsch land bis
  in schwaben gen Vlm (S. 77; zur Vereinfachung werden hier und weiter unten nichtrele-
  vante diakritische Zeichen ausgelassen; dafür wird aber eine Interpunktion eingeführt).

Das Verlangen dieser Frauen bestand darin, wie der Autor betont, “ain form nemen
der gaistlichen bilgerfart” (S. 77), wobei die Lektüre an Stelle der aktuellen Reise
die Möglichkeit bieten soll, all die Vorteile einer solchen Pilgerschaft zu genießen
(z.B. Ablässe zu erhalten), ohne die Mühen und Gefahren der physischen Reisen auf
sich nehmen zu müssen.54
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