PLUS Magazin für eine generationensensible Pastoral - Ausgabe 7/2019 - Bistum Fulda
←
→
Transkription von Seiteninhalten
Wenn Ihr Browser die Seite nicht korrekt rendert, bitte, lesen Sie den Inhalt der Seite unten
Ausgabe 7/2019 PLUS Magazin für eine generationensensible Pastoral Wenn jemand eine Reise tut … Von der Kunst Das eigene Tempo – Wenn die weite Welt des Verreisens S. 10 vier Praxistipps ab S. 15 in die Ferne rückt S. 22
EDITORIAL Foto: Matthias Ziegler Liebe Leserinnen und Leser, geht es auch um den Blick auf die Men- schen, die sich in unseren Gemeinden an was denken Sie, wenn Sie das Wort das Reisen nicht erlauben können, sei es „Seniorenreisen“ hören? An die berüch- weil die körperliche Kraft dazu fehlt oder tigten Kaffeefahrten, bei denen windige das Geld nicht reicht. Insofern will diese Verkäufer ältere Menschen übers Ohr Ausgabe Interesse für die Erfahrungen hauen? An Kreuzfahrten auf Luxusschif- und das Gespräch mit Menschen anregen, fen oder das Überwintern im warmen deren Leben durch das Reisen in der ein Süden von gut betuchten Ruheständlern? oder anderen Weise geprägt ist. Oder an Großeltern, die quer durch die Ganz besonders freuen wir uns diesmal, Republik und darüber hinaus zu ihren dass wir unseren neuen Bischof Dr. Mi- berufstätigen Kindern reisen, weil mal chael Gerber für ein Interview gewinnen wieder die Betreuung der Enkelkinder konnten, in dem er von seinen Pilgerer- gesichert werden muss? fahrungen erzählt. Beim Thema „Reisen im Alter“ schwirren Viel Freude und spannende Einsichten viele Bilder und vielleicht auch Vorurteile beim Lesen! in unseren Köpfen umher. Zugleich ist es ein ungemein spannendes und facetten- Für die Redaktion reiches Thema. Deshalb schauen wir in dieser Ausgabe etwas genauer hin, wie das so ist mit den reisenden „Silbervö- geln“ und was Reisen in seiner ganzen Vielfalt für Menschen bedeutet. Dabei geht es um mehr als um das im Zitat von Matthias Claudius Gesagte: „Wenn jemand eine Reise tut, so kann er/ sie was erzählen!“. Es geht um das ge- genseitige Interesse und Wahrnehmen. Es geht um das Glück und die Dankbarkeit, die Ferne erleben zu dürfen. Schließlich Mathias Ziegler Dr. Andreas Ruffing 2 | PLUS 7/2019
INHALT In die Welt hinaus Wohin Menschen kommen, wenn sie sich pilgernd, zwischen zwei Ländern pendelnd, zu Zauberorten aufmachen .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. 4 GroSSe Lust und Freude am Reisen Die bestimmenden Trends bei den Reisen älterer Menschen .. .. .. .. .. .. .. .. .. 7/9 Breche auf! Von der Kunst des anspruchsvollen Reisens .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. 10 „Ich bin mit Gott unterwegs, ich bin mit Menschen unterwegs.“ Bischof Dr. Michael Gerber reist leidenschaftlich gern zu Fuß. .. .. .. .. .. .. 12 Von Wolken und Feuer In der Bibel: besondere Reise, besonderer Reiseführer .. .. ... .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. 14 Unsere vier PLUS-Praxistipps zum Herausnehmen Gedächtnistraining, Spielerische Biographie-Arbeit, Achtsamkeit für das eigene Tempo, Vorbereitungen Seniorenreisen .. .. .. ... .. .. . .. .. 15 Reise in eine fremde Kultur Holger Schindlers Reise nach Kenia, Afrika .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. 19 Die weite Welt rückt fern Jetzt holt Maria Hoesch die Welt in ihr Zuhause .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. 22 Goethe, die Zitronen und das Fernweh Bildimpuls .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. . .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. 24 Netzwerkpartner im Porträt Geistliches Zentrum Schönstatt in Künzell-Dietershausen .. .. .. .. .. .. .. .. .. 26 Termine und Hinweise aus dem Seniorennetzwerk Senioren- und Pilgerreisen, Balltraining, Frauentag, Gutes Leben im Alter, Musik erleben, Film- und Buchtipp aus der Redaktion .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. 28 WerkstattTag 26. September: Darüber sprechen wir nicht! Tabus im Alltag — Infos und Austausch über Liebe, Gewalt, Armut, Schuld, Sucht und Tod .. .. .. ... .. .. . .. .. 30 Impressum .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. 31 Zum guten Schluss Wissen und gewinnen: Die wahren Abenteuer sind im Kopf . .. .. .. ... .. .. .. .. .. .. ... .. 32 PLUS 7/2019 | 3
TITEL In die Welt hinaus Wohin Menschen kommen, wenn sie sich aufmachen W enn Menschen eine Reise tun, so können sie was erzählen: Wir hätten hier ger- ne mehr Platz gehabt für all die Reisegeschichten, von denen wir bei unseren Recherchen erfuhren. Reisen, das dürfen wir mal so platt formulieren, ist intensives Leben und davon geben die hier vorgestellten Geschichten überaus beredt Auskunft. Lassen Sie sich anstiften zum Vorlesen und Zuhören, zum Träumen und Reisepläne Du schaffst es! schmieden, zu Abenteuern im Kopf oder mit den Füßen. Es wäre uns eine große Freude! Franz Xaver Brock pilgert nach Santiago de Compostella, Rom und Jerusalem Nach seiner Pensionierung im Jahr 2001 perlicher Ertüchtigung unter dem Aspekt begann Franz Xaver Brock, Pilgerwege des täglichen Wanderns mit 12 bis 14 kg zu gehen. Dies war für ihn, der früher am Gepäck ging es im Jahr 2003 endlich los. liebsten kurze Strecken mit dem Auto ge- Franz Xaver Brock startete in St. Jean fahren ist, eine neue und überraschende Pied de Port seinen Weg nach Santiago de Erfahrung. Compostela. Beweggründe, den Pilgerweg Vorausgegangen und Motivation dazu zu gehen, waren zunächst eher sportlicher war im Jahr 1993 ein Fernsehbericht über Natur und ein kulturelles Interesse. Für einen Pilger und seine Erlebnisse auf dem ihn war klar, dass er alleine gehen wollte Jakobsweg: „Wenn ich mal in Rente bin, und ohne vorher geplante Kilometerleis- könnte ich das auch tun.“ Doch wie das tung. Es wollte das „einfache Pilgerleben“ Leben so spielt, vergaß er sein Vorhaben in den Herbergen, wo er abends ankam, und als er dann endlich in Rente war, soweit ihn seine Füße an diesem Tag ge- musste ihn seine Frau an die damalige tragen hatten. Franz Xaver Brock machte Idee erinnern. Nach einer Zeit der Vorbe- es sich zur Gewohnheit, an jedem Abend reitung inklusive Spanisch-Kurs und kör- noch vor der Schlafplatz-Suche in die Kir- 4 | PLUS 7/2019
Persönlich V.l.n.r.: Wege-Hinweis im südfranzösischen Bougue, nahe Roquebrune (Frankreich), Steinweg durch galizische Moorlandschaft, Cruz de Ferro (Stein-Ablegeort, Spanien), Pilgerherberge Santiago de Compostela. Fotos: Franz Xaver Brock/Passanten che vor Ort zu gehen und als Dank für den immer in Gottes Hand geborgen und so gelungenen Weg, diesen mit einem „Vater baute sich aufgrund dieser Erlebnisse eine unser“ zu beenden. intensive Gottesbeziehung auf. Sie war Brock blieb an einem Abend mit seinem auch der Grund dafür, zwei Jahre später Schuh an einer Stelle in der Kirche kleben, genauso wie es auch die Pilger in frühe- obwohl es augenscheinlich keine Ursache ren Zeiten getan hatten von zu Hause aus dafür gab. Diese Situation führte jedoch die 2500 km nach Santiago zu laufen. Es dazu, dass er sich seinen rechten Schuh folgte noch 2008 der Pilgerweg nach Rom genauer ansah und feststellen musste, und 2011 der Weg vom Süden der Türkei dass sich die Sohle fast komplett gelöst nach Jerusalem. Er war froh die Befreiung hatte. Welch ein Segen, denn er hätte von Zwängen und Planungen erleben zu mit diesen Schuhen am nächsten Morgen dürfen und auch durch das Überwinden unmöglich weiter gehen können. Also von Schmerzen und Müdigkeit körperliche machte er sich auf, einen Schuster zu fin- Grenzerfahrungen machen zu können. Es den. Dies glückte ihm und innerhalb von war wichtig für ihn, dass er sagen konnte: zwei Stunden waren die Schuhe kostenlos „Du hast es geschafft!“ Diese Erfahrun- repariert und natürlich fand er an diesem gen führten ihn dazu, seine freie Zeit als Abend auch noch einen Schlafplatz in der Rentner in ein vielfältiges, ehrenamtliches Herberge. Es passierten Brock noch weite- Engagement zu investieren. Sein Resümee re „denkwürdige Dinge“. So fügte es sich, aus den Pilgerwegen: „Egal wie schwierig dass es auch in ausgebuchten Quartieren die Situation ist – immer zuversichtlich immer irgendwie einen Schlafplatz für ihn sein, dann kommt die Lösung!“ gab. Oder: Wenn er den Weg nicht genau kannte, war eine Person da, die ihm die Aufgezeichnet von Sabine Löhnert Richtung wies und sich alle Situationen für ihn im Guten auflösten. Dies bedeutete für Franz Xaver Brock eine tiefe religiöse Erfahrung, er fühlte sich PLUS PLUS 7/2019 | 5
TITEL In die Welt hinaus Eine deutsch-griechische Ehe-Reise Christine Kolios, geborene Bandemer, pendelt mit ihrem Mann und den drei Kindern zwischen Deutschland und Griechenland 1966 lernte Christine Bandemer ihren Ehe- Christines Schwiegervater schon die Fami- mann Jorge Kolios in Kassel kennen. Beide lie. Endlich waren sie im nordwestgriechi- arbeiteten dort in der gleichen Gaststätte. schen Epirus angekommen und verlebten Bandemer in der Küche als Lehrling und drei schöne Wochen. Kolios im Service. Am 31.12.1968 heira- Wenn Christine Kolios auch in einen an- teten die beiden in kleinem Kreis. Gleich deren Kulturkreis kam, so hatte sie nie wurde gespart für die erste Reise nach Schwierigkeiten: „Ich habe mich von vorn- Griechenland. herein voll und ganz auf die andere Kultur Fünf Jahre später 1973 war es endlich so- eingelassen. Was bedeutet: Nicht mit Vor- weit. Die Kolios‘ hatten ihr gebraucht ge- urteilen herangehen, sondern die Dinge so kauftes Auto überholen lassen und die zu nehmen wie sie sind, so zum Beispiel Koffer gepackt: viel zu viel, wie sich spä- Müll auf den Straßen. Die Griechen halten ter herausstellte, „aber mit inzwischen zwei ihre Wohnungen extrem sauber, sind aber Kindern, weiß man ja nie, was einem so nicht bereit gewesen, den Schmutz anderer passieren kann“, kennt Christine Kolios die zu entfernen. Das hat sich inzwischen er- Fallstricke, wenn eine ganze Familie ver- heblich gebessert.“ Für Jorge Kolios ist es reist. Sie starteten nachts um 3 Uhr, standen vor allem das Klima, das den Unterschied bald im Stau. Die Motorkühlung versagte zwischen der deutschen und der griechi- immer wieder. Sie versuchten, im Auto zu schen Kultur ausmacht. Das wirkt sich übernachten, fanden aber keinen Schlaf, auch auf die Mentalität aus. am frühen Morgen ging es weiter. Erst am Die anstehenden Feste, Familien- oder Na- nächsten Tag erreichten sie Brindisi und be- tionalfeiertage hat die griechisch-deutsche stiegen die Fähre nach Igoumenitsa. Familie mit Begeisterung mitgefeiert. Man Nachdem sie den Zoll passiert hatten, was darf, davon ist Christine Kolios zutiefst zu Zeiten der griechischen Junta (1967- überzeugt, das Leben in Griechenland nie 1974) sehr lange gedauert hat, erwartete mit dem Leben in Deutschland vergleichen. 6 | PLUS 7/2019
In Zahlen Große Lust und Freude am Reisen Die bestimmenden Trends bei den Reisen älterer Menschen Das Reiseverhalten der älteren Bevölkerung hat sich in den letzten Jahren durch den Generationen-Wandel, die fitten Älteren und die Kaufkraft stark verändert. Durch die in der Regel vorhandende zeitliche Flexibilität gehen auch viele Senioren länger auf Reisen. Die Reiseintensität hat am stärksten in der Generation über 55 Jahren und ganz speziell innerhalb der Gruppe der 65- bis 74-Jährigen zu- genommen. Verreiste 2017 „nur“ jeder Zweite von ihnen V.l.n.r.: Bergwelt von Epirus Richtung Albanien, Sandstrand von Igoumenitsa, typische alte Steinbrücke. Fotos: Christine Kolios (50%), waren es 2018 bereits fast zwei von drei (61%)! Das könnte zu negativen Ansichten führen Ausgaben auf Rekordniveau und einem die Urlaubszeit vermiesen. Sich Die durchschnittlichen Reiseausgaben der Senioren haben immer sagen: „Das ist halt hier so! Was im vergangenen Jahr laut Statistiken ein Rekordniveau er- solls!“ reicht. Ruheständler legen Wert darauf, das qualitativ Bes- Inzwischen sind Christine Kolios mit 72 te und quantitativ Erträglichste für die schönste Zeit im und Jorge Kolios mit 74 Jahren ein „Rent- Jahr zu erhalten. In 2018 wurde von den Ruheständlern nerpaar“ und leben sechs Monate in Grie- durchschnittlich 97 Euro und den Jungsenioren 105 Euro chenland und sechs Monate in Deutsch- pro Tag für den Urlaub ausgegeben. Für den Jahresurlaub land. Jorge Kolios erbte von seinen Eltern in 2018 haben Jungsenioren 1343 Euro und Ruheständler eine kleine Olivenplantage, deren Früchte 1253 Euro aufgewandt, was im Vergleich zu anderen Rei- sie jedes Jahr ernten. Auch haben sie sich segruppierungen überdurchschnittlich hoch ist. einen kleinen Garten angelegt, um eigenes Gemüse und Salat zu ernten und auch eine Reise vorbereiten Beschäftigung zu haben. Die Oliven-Ern- Von Bedeutung ist auch, Reisezeiten und Reisedauer frei tezeit ist im November; danach kehrt das planen zu können. Soll das Ziel der Reise oder das Rei- Paar wieder nach Deutschland zurück, wo sen an sich im Vordergrund stehen? Das gehört ebenfalls es in der Regel bis Mai lebt. zu den wichtigen Fragen. Für die vielseitigen Profile der Für die Kolios‘ ist es eine herrliche Zeit in Ruheständler und jüngeren Senioren besitzt schon die Griechenland: „Nach einer mittäglichen Vorbereitung besondere Anreize, um unvergessliche Tage Siesta fahren wir zum Strand. Sieben abseits vom Alltag zu planen. Kilometer feinster Sandstrand locken täg- lich zum Baden. Danach kaufen wir ein, kochen, essen und lassen den Tag gemüt- lich ausklingen, natürlich auf der Terras- se.“ Für Christine Kolios ist Griechenland ein herrliches Land „mit Gebirgen, Strän- den, antiken Stätten, alten Klöstern und Städten.“ Aufgezeichnet von Roswitha Barfoot und Christoph Baumanns Das Schaubild zeigt, wieviel Prozent derjenigen Personen, die im genannten Bundesland/Land Urlaub machen, 55 Jahre und älter sind (Grafik: Roswitha Barfoot) PLUS 7/2019 | 7
TITEL In die Welt hinaus Zauberorte Marion Seitz geht für ihr Leben gern auf Reisen Es ist wunderbar zu verreisen – das hat derbare Sommerfrische aus Spielen, Lesen, Marion Seitz schon als Kind erlebt. Viele das Land erkunden“. Småland ist die Heimat Jahre ging es in den Sommerferien mit den von Astrid Lindgren; mit der berühmten Eltern und den beiden Geschwistern nach Schriftstellerin und ihrem Werk empfindet Kramsach in Tirol, Österreich. Der Schüler- Marion Seitz eine tiefe Verbundenheit – Austausch ins englische Manchester kommt aber das ist eine andere Geschichte. der heute 59-jährigen ebenfalls in den Sinn, Für die leidenschaftlich Reisende, die seit wenn sie über ihre in jungen Jahren prägen- 2002 als Familienbildungsreferentin beim den Reisen nachdenkt. Mit ihrem späteren Franziskanischen Bildungswerk in Groß Mann Rainer Seitz, evangelischer Pfarrer krotzenburg arbeitet, unterscheiden sich in Langenselbold, war sie zu Studienzei- Urlaub und Reisen grundsätzlich. Urlaub ten in ganz Deutschland unterwegs: „Wir steht für Erholung, Bücher lesen, stricken, hatten wenig Geld und kannten auch von ohne Stress mit der Familie zusammensein, Deutschland nichts. Wir zelteten und lebten den Urlaubsort genießen. Reisen bedeutet von Brot und Käse. Besonders eindrücklich Erkenntnisgewinn, Horizonterweiterung, ist mir die Einfachheit dieser Art des Unter- sich in Landschaft, Kunst, Kultur, Menschen wegsseins in Erinnerung.“ einfühlen. Besonders beeindruckend findet Als junge Familie mit vier Kindern war Marion Seitz, wenn sie auf Reisen etwas natürlich das preiswerte und kindgemäße erfährt, von dem sie vorher keine Ahnung Verreisen angesagt. Etliche Jahre wurde Ur- hatte: Wie es sich zum Beispiel anfühlt, in laub in einem Ferienhaus in der Rhön ge- Kroatien von Bora-Winden, den stärksten macht. „Morgens ging es gleich mit dem Winden der Welt, durchgepustet zu werden! Frühstücksbrot vors Haus auf die Treppe. Oder wie sie angesichts des 2004 erbauten Das liebten die Kinder.“ Einer Empfehlung Parlamentsgebäudes in Edinburgh, dessen folgend fand Familie Seitz im schwedischen Dach die Form eines umgedrehten Schiffes Småland ein Ferienparadies direkt am See; hat, plötzlich versteht, was es an Lebendig- oft kamen andere Familien mit, „eine wun- keit bedeutet, wenn sich Geschichte und 8 | PLUS 7/2019
In Zahlen Große Lust und Freude am Reisen So wollen wir reisen Die Senioren gehen auf Reisen, lernen Land und Menschen kennen, schließen Freundschaften und begeben sich auf ab- gelegene Wege. Längere Reisen in mildere Klimaregionen nach Südeuropa oder gar Florida werden zur Überbrückung des Herbst- und Winterwetters und oft auch zur Erhaltung der Gesundheit immer beliebter. Städte sind ebenfalls be- liebte Reiseziele der älteren Bevölkerung. Bei Bildungs- und Kulturreisen ist die Nachfrage rasant angestiegen. Immer V.l.n.r.: In der Rhön, in Stockholm, in Edinburgh (Fotos: privat) mehr Senioren finden die zu erkundende Natur und unbe- Moderne in dieser Stadt vereinen. Oder wie kannte Landschaften attraktiv. Die entspannende Bahnfahrt sie sich auf verschiedenen Reisen, die der wird bei vielen Reisen im Inland und auch auf dem Weg zum Flötist Hans-Jürgen Hufeisen zu „beseel- Flughafen bevorzugt. ten Orten“ in Zypern, Jordanien und Irland anbot, an „Zauberorten“ wiederfindet. „In Irland gingen wir zu einem gesetzten Stein- kreis. Er war sehr alt und sehr schön. Jede Revolution auf leisen Sohlen von uns bekam einen Stein zugeordnet. Und Professor Dr. Ulrich Reinhardt, wissenschaftlicher Leiter der dann spielte Hufeisen für jede Anwesende BAT-Stiftung für Zukunftsfragen schreibt: „Eine Revolution ein eigenes Lied. Unglaublich.“ auf leisen Sohlen wird den Tourismus verändern. Reiseerfah- Ein besonderes Reise-Steckenpferd hat Ma- rene, ältere Generationen prägen schon heute das Bild vieler rion Seitz in den letzten Jahren für sich ent- Hotels, Strände und Innenstädte. Sie bilden die Mehrheit der deckt: Strickreisen. Beim ersten Mal reiste Bundesbürger, haben Zeit, Geld und wollen die Welt kennen- sie mit Frauen, die sie nicht kannte, nach lernen. Wer ohne die Senioren plant, plant an der Zukunft Wales: „Wir lebten in einem wunderbaren vorbei.“ Hotel, bildeten eine tolle Gruppe von Dau- erstrickerinnen. Wir strickten auch gemein- sam mit Waliserinnen, lernten Land und Leute kennen.“ erzählt Marion Seitz mit an- Lust am Reisen und Erzählen steckender Begeisterung. Die Freude und Lust am Reisen bleibt laut den Befragun- Wenn Marion Seitz auf ihr Leben schaut, gen auch in 2019 weiterhin bestehen! Die Ruheständler dann schaut sie immer auch auf Reisen. Wie kommen von den Reisen bereichert um viele Erfahrungen sich ihr Reisen ändert, wenn sie in den Ru- zurück, um sie in Seniorentreffen oder in den Altenpflege- hestand geht, das ist für Marion Seitz noch heimen weiterzugeben. keine echte Frage. Dafür arbeitet sie zu gern. Erst einmal wird sich ihr Mann aus dem be- Roswitha Barfoot ruflichen Leben verabschieden. Dann müs- r.barfoot@t-online.de sen sie aus dem Pfarrhaus heraus und sich Datenquelle/Zitat Reinhardt: Tourismusanalyse 2019. Herausgegeben von der Stif- in ein neues Zuhause einfinden. Das ist tung für Zukunftsfragen – Eine Initiative von British American Tobacco. Autor: Ulrich streng genommen auch eine große Reise. Reinhardt. Redaktion: Ayaan Güls. © 2019. Aufgezeichnet von Christoph Baumanns PLUS 7/2019 | 9
Breche auf! Glück Von der Kunst des anspruchsvollen Reisens – oder warum ans Ziel nur kommt, wer sich gehen lässt. „Es gibt“, heißt es in einem alten hinduistischen Lehrbuch, „kein Glück für den Menschen, der nicht reist. Gott ist ein Freund der Reisenden. Also breche auf!“ Nicht nur die alten Inder wussten solches – auch die Weisen anderer Völker lehrten und lehren die tiefe spirituelle Bedeutung, die jeder echten Reise innewohnt. „Unternimm eine Reise“, er- mutigte etwa der große Sufi-Mystiker Rumi seine Leser. Wobei er nicht verschwieg, was er unter einer echten Reise verstand: „Unternimm eine Reise vom Ich zum Selbst“; eine Reise, bei der es wirklich etwas zu erfahren gibt; eine Reise, die den Reisenden verändert und mit jedem Reisetag mehr zu sich kommen lässt. Die Fremde in Heimat verwandeln lich gemacht hat. „Fast jeder ist unterwegs, Nur: Wer reist schon so? Und wie macht aber wer ist wirklich auf Reisen?“, fragt man das? Einer, der darüber Auskunft er- Trojanow nicht ohne Grund. Denn wer teilt, ist Ilja Trojanow, jener Autor wunder- meint, die Welt im Schutz der Panorama- barer Reisebücher, bei dem in die Schule scheibe eines Reisebusses oder vom Deck gehen muss, wer die Kunst des Reisens zu eines Kreuzfahrschiffes erkunden zu kön- lernen begehrt. „Reise nicht von der Hei- nen und dabei den Staub, Schmutz und Ge- mat in die Fremde und wieder zurück“, rät stank der Fremde scheut, wird den wahren er, „sondern verwandle die Fremde in Hei- Zauber des Reisens nie entdecken. mat!“ Was der weitgereiste Bulgare damit Dafür braucht es eine andere Haltung als sagen will: Nur der weiß zu reisen, der seine die des Touristen. Vier Wegweisungen gibt Reise mit offenem Ausgang antritt; dem es Trojanow allen wahrhaft Reisewilligen: al- nicht darum geht, an ein schon gewusstes leine reisen, ohne Gepäck, zu Fuß, hinter oder gewolltes Ziel und schon gar nicht am der Fassade des Offensichtlichen. Warum? Ende wieder nach Hause zu kommen. Son- Der erfahrene Reiseautor ist um eine Ant- dern der aufbricht, um Neues zu entdecken. wort nicht verlegen: „Nur wer alleine reist, Ganz im Sinne des großen jüdischen Phi- setzt sich völlig aus: einer unbekannten losophen Martin Buber, der einst schrieb: Welt, einer unverständlichen Sprache. Al- „Alle Reisen haben eine heimliche Bestim- leine ist man ständig wach und aufmerk- mung, die der Reisende nicht ahnt“. sam, biegsam und zugleich angespannt wie eine Bogensehne.“ Alleine reisen ist so Spiritueller Zauber gesehen eine Initiation. Nicht ohne Grund Nimmt man dies zum Maßstab, wird man schickten einst die englischen Aristokraten fragen müssen, ob es überhaupt noch Rei- ihre halbwüchsigen Söhne auf die „Grand sende gibt. Oder ob der gängige Tourismus Tour“. Sie wollten Männer aus ihnen ma- nicht längst das eigentliche Reisen unmög- chen. 10 | PLUS 7/2019
In der Fremde Wadi Rum, Jordanien. Foto: Wikipedia Mit leichtem Gepäck faltigen Versuchungen der Reiseindustrie Auch dem Pilgern wohnt der Charakter der standhalten, die uns mühelos in entlege- Initiation bei. Pilgern ist mehr, als „einfach ne Kontinente bringt, um dort die großen mal weg“ sein, wer wirklich pilgert, tritt – Wunder der Natur und Kultur zu bestau- ganz in Rumis Sinne - eine Reise ins In- nen? nere an: eine Reise der Entbehrungen, des Zurücklassens, der inneren Reinigung. Ein Sich wirklich aufmachen Weg des Sterbens auch, bei dem alte Muster Über Wahrheit und Falschheit einer Reise und Gewohnheiten auf der Strecke bleiben entscheidet zuletzt allein, ob man wirklich sollen. Eben das ist auch der Grund dafür, auf-bricht, sich wirklich auf-macht, sich warum man ohne Gepäck reisen sollte: Weil wirklich dem Anspruch der Fremde auslie- an jedem mitgebrachten Gepäckstück etwas fert, um anspruchsvoll zu reisen. Oder ob von der Identität des Reisenden hängt, ein die Reise nur die Reisesendung im Fernse- Stück Zuhause, das ihn daran hindert, die hen fortsetzt, die bestenfalls interessant ist, Fremde zur Heimat werden zu lassen. aber gerade deshalb alles beim Alten blei- ben lässt. Reise in die Tiefe Es ist also eine Frage der Einstellung, ob Zu einer tiefen Erfahrung wird eine Reise eine Reise ihren Namen verdient oder nicht. aber auch bei leichtem oder gar keinem Ge- Und daran kann auch der Pauschaltourist päck nur dann, wenn das Tempo stimmt. und Kreuzfahrer arbeiten. Denn am Ende Und genau daran hapert es in unserer mo- steht es auch ihnen frei, bei Bus-Stopp oder dernen Reisekultur am meisten. Schon das Landgang eben nicht das übliche Hechel- Fahrrad ist zu schnell, wenn es darum geht, Hechel-Schnell-Programm zu durchlaufen, nicht nur von A nach B, sondern von au- sondern einfach mal am Ort zu bleiben, ßen nach innen, von der Betriebsamkeit in sich von der Gruppe abzumelden, um in die Ruhe, vom Ego in die Seele zu kommen. ein Einheimischen-Café zu gehen, einmal Für eine Reise in die Tiefe bleiben am Ende hinter die Fassade zu blicken oder einfach nur die Füße. Sie sind die besten Fortbewe- nur das Treiben der Fremde in sich aufzu- gungsmittel, weil Geist und Seele mit ihnen nehmen. Schon so ein kleines Abenteuer Schritt halten können. kann aus einem Touristen einen Reisenden Wandern, Pilgern, bedächtiges Reisen, al- machen, aus einem Zuschauer einen Be- lein und frei von Ballast, jenseits der aus- troffen, aus einem Gedankenlosen einen getretenen Wege: so reizvoll und faszinie- Geistreichen, aus einem Zerfahrenen einen rend diese Vision eines intensiven Reisens Erfahrenen, aus einem Zurückgebliebenen scheint, so ganz und gar unzeitgemäß ist sie einen Aufgebrochenen. auch. Denn wer hat schon die Muße, seinen mühsam verdienten Urlaub im Schweiße Dr. Christoph Quarch seines Angesichts – und seiner Füße – zu Philosoph, ZEIT REISEN Reiseleiter und verbringen? Wer kann schon den mannig- Bestsellerautor · www.christophquarch.de PLUS 7/2019 | 11
Im Gespräch „Ich bin mit Gott unterwegs, ich bin mit Menschen unterwegs.“ Bischof Dr. Michael Gerber reist leidenschaftlich gern zu Fuß. Seit 31. März 2019 ist Dr. Michael Gerber neuer Bischof von Fulda. Überall da, wo er seit seiner Ernennung Mitte Dezember 2018 vorgestellt wurde, war davon die Rede, wie gern Michael Gerber wandert und pilgert. Zur Vorbereitung auf seine neuens Amt hatte er am Tag vor seiner Einführung sogar zu einer zweitägigen Pilgerwanderung auf der Bonifatius-Route von Kleinheiligkreuz nach Fulda eingeladen. Das war für das PLUS- Magazin der Anlass, den neuen Bischof zu seiner Art des „Reisen“ zu befragen. PLUS: Warum sind Sie gern zu Fuß unter- Firmbewerbern. Wir hatten außer Start- wegs? und Zielpunkt nichts organisiert, kein Quartier auf dem Weg. Wenn wir gegen MICHAEL GERBER: Für mich ist das Abend an den Rand eines Dorfes kamen, Wandern ein Ausgleich für Leib und See- sprachen wir ein Gebet und teilten uns in le. Mein Körper wird gefordert und mei- Gruppen auf. Jede Gruppe ging dann auf ne Seele nimmt die Eindrücke der Natur Quartiersuche. In den Unterkünften er- auf. Beim Wandern kann ich „abschalten“ gaben sich oft sehr tiefsinnige Gespräche und zugleich ist es nicht selten so, dass sowohl unter den Pilgern als auch mit mir viele gute Einfälle – etwa Ideen für den Quartiergebern. Am Morgen trafen Predigten – beim Wandern kommen. Im wir uns in der örtlichen Kirche zum Mor- Sommer verbringe ich in der Regel meine genlob. Jede Gruppe erzählte, was sie er- Ferien in den Alpen, gerne mit Freunden. lebt hatte, dazwischen sangen wir Lieder. Bei den jungen Menschen – und auch bei PLUS: Welches Schlüssel-Erlebnis hat Sie uns – wurden viele Fragen wach: Ist alles zum Wandern und Pilgern gebracht? Zufall? Gibt es einen Gott, der für uns sorgt? Langsam wuchs das Bewusstsein, MICHAEL GERBER: Während meines dass Gott nicht nur eine Idee ist, sondern zweiten Studiensemesters startete ich mit dass er der Gott unseres Lebens ist. Für Freunden aus der Schönstattjugend ein nicht wenige der damals jungen Men- Pilgerprojekt: Eine Woche waren wir schen war das der Start zu einem inten- unterwegs mit Firmbewerberinnen und siveren geistlichen Leben. Solche Pilger- 12 | PLUS 7/2019
zu fuß wanderungen habe ich über viele Jahre hinweg begleitet. PLUS: Was bedeutet Ihnen diese Art des Unterwegs-sein: persönlich wie theolo- gisch? MICHAEL GERBER: Für mich ist dies ein Bild von Kirche. Der Pilger hat ein Ziel. Er weiß sich verbunden mit vielen, die zu diesem Ziel unterwegs sind, auch dann, wenn sich die Pilger nicht immer räum- lich nahe sind. Pilger suchen nach Weg- spuren, das Ziel fest vor Augen können sie sich flexibel auf unbekannte Wegstre- cken einlassen. Zugleich werden sie vom Weg selbst geprägt, nehmen wertvolle Dinge und vor allem Eindrücke mit, las- Im Vertrauen auf Gott sen anderen Ballast zurück. Michael Gerber, geboren am 15. Januar 1970 in Ober- kirch, studierte in Freiburg im Breisgau und in Rom PLUS: Warum pilgern Sie als Vorbereitung und wurde am 11. Mai 1997 zum Priester geweiht. Nach auf Ihr neues Amt? Was verbinden Sie mit verschiedenen pastoralen Stationen und der Promotion dieser Art der Vorbereitung? war er von 2011 bis 2014 Regens des Erzbischöflichen Priesterseminars in Freiburg. 2013 weihte ihn Erzbi- MICHAEL GERBER: Für mich ist dies eine schof Dr. Robert Zollitsch zum Bischof. geistliche Vorbereitung, die mich erfah- Gerber ist von Jugend auf in der Schönstattbewegung ren lässt, ich bin mit Gott unterwegs und beheimatet; von 2005 bis 2013 gehörte er dem Lei- ich bin mit Menschen unterwegs. Dazu tungsteam seiner Priestergemeinschaft an. Bischof Dr. gehören – bei dieser Pilgerwanderung Gerber arbeitet in der Kommission für Geistliche Berufe wie auch sonst in meinem Leben, in der und Kirchliche Dienste der Bischofskonferenz mit und Ausübung meines Amtes – Mitbrüder, ist ebenfalls Mitglied der Jugendkommission. Freunde und viele Menschen, die das Bis- Sein bischöflicher Wahlspruch lautet lateinisch „tecum tum auf ihre Weise prägen. Dazu gehören in foedere“, deutsch: „mit dir im Bund“. Ermutigend für aber auch Suchende, Menschen, die viel- den 49-jährigen und damit jüngsten Bischof Deutsch- leicht nur für eine kurze Etappe mitge- lands ist das Vertrauen auf Gott, das „uns die Kraft gibt, hen, die diese Erfahrung aber mitnehmen den nächsten Schritt zu gehen“. in ihrem Herzen. Christoph Baumanns PLUS 7/2019 | 13
Biblisch Von Wolken und Feuer In der Bibel: besondere Reisen, besonderer Reiseführer A us dem Süden der arabischen Halbin- sel, dem heutigen Jemen, kommt die Königin von Saba in die Hauptstadt Israels. lus, hochgebildet und redegewandt, hat es geschafft. Doch dann krempelt ein einschneidendes Erlebnis, von dem die Ein pompöses Gefolge – so wird in 1 Könige Apostelgeschichte in bildreicher Sprache 10 mit sichtlichem Vergnügen erzählt – hat erzählt, sein Leben um. Saulus wird zum sie mitgebracht. Kamele schleppen auf ih- Paulus. Als unermüdlicher Verkünder des ren Rücken Balsam, Gold und Edelsteine. Evangeliums bereist er Kleinasien, kommt Gekommen ist die Königin, weil sie neu- auf das europäische Festland und wird in gierig auf Salomo ist. Sein Ruf als weiser Rom als Märtyrer sterben. Ohne die Mis- Herrscher drang bis ins ferne Saba. Die Be- sionsreisen des Paulus gäbe es kein Chris- gegnung verläuft überaus harmonisch. tentum. Die Bibel erzählt viele solcher Geschich- Happyend auf biblisch ten. Selbst von Jesus hören wir, dass er als Zusammen mit ihrem Mann und ihren Wanderprediger und Wundertäter durch Söhnen wandert Noomi wegen einer Hun- das Land zog. Die vierzigjährige Wüsten- gersnot nach Moab aus. Die beiden Söhne wanderung der Israeliten ist die wohl fol- heiraten einheimische Frauen. Dann aber genreichste biblische Reisegeschichte. Auf stirbt ihr Mann, danach die beiden Söhne. dem Weg durch die Wüste erfährt sich Is- Noomi beschließt, wieder in ihre Heimat rael als Volk Gottes und seinen Gott als Betlehem zurückzukehren. Ihre Schwie- einen „mobilen“ Gott mit seinem Volk auf gertöchter wollen sie begleiten. Noomi dem Weg. „Der HERR zog vor ihnen her, hält das für keine gute Idee. Für sie liegt bei Tag in einer Wolkensäule, um ihnen die Zukunft der beiden Frauen in Moab. den Weg zu zeigen, bei Nacht in einer Feu- Eine der Schwiegertöchter befolgt den Rat, ersäule, um ihnen zu leuchten“ (Exodus die andere und geht mit. Rut – so heißt sie – 13,21). Es ist ein wunderbares Bild: Gott als findet dort einen neuen Mann. Mit ihm hat der Reiseführer seines Volkes, ganz ver- sie einen Sohn, der der Großvater Davids borgen und doch ganz präsent. Manchmal ist. Happyend auf biblisch sozusagen! reden wir vom Leben als einer Reise. Wäre es nicht ein tröstlicher und stärkender Ge- Keine Reisen, kein Christentum danke, dass Gott auch Reiseführer auf un- Durch sein römisches Bürgerrecht genießt serer Lebensreise ist, ganz verborgen und er besondere Privilegien. Bei einem der doch ganz präsent? berühmtesten pharisäischen Lehrer der Zeit ist er in die Schule gegangen. Sau- Dr. Andreas Ruffing 14 | PLUS 7/2019
Gedächtnistraining PLUS-praxistipp Das Denken fördern Das Nachlassen des Erinnerungsvermögens gehört zu den zentralen Symptomen einer begin- nenden Demenzerkrankung. Es wird durch fehlende Umweltreize, Bewegungsmangel und falsche Ernährung noch verstärkt. Deshalb spielt das Gedächtnistraining bei Menschen mit Demenzer- krankung im Anfangsstadium eine große Rolle. Das Gedächtnistraining mobilisiert die wichtigsten Funktionen des Gehirns. Ausgewählte Übungen schulen sowohl das Kurz- als auch das Langzeitgedächtnis und trainieren Merkfähigkeit, Wortfin- dung und Formulierungsfähigkeit. Wichtig ist das regelmäßige Traning mit gezielten Übungen, denn es erhält die geistige Regsamkeit. Übungsbeispiel I: Wir machen eine Reise und ich packe meinen Koffer Das Spiel „Ich packe meinen Koffer!“ ist sehr bekannt und dürfte auch den meisten Senio- rinnen und Senioren geläufig sein. Der oder die erste fängt an und sagt: „Ich packe meinen Koffer und nehme zum Beispiel die Sonnenbrille mit. Die anderen Teilnehmer/innen nennen jeweils die Dinge, die ihre Vorgänger aufgezählt haben und fügen etwas Eigenes hinzu. Um ein wenig mehr Bewegung in die Sache zu bringen, können die Utensilien mit einer Geste untermalt werden. Beispiel: Wenn jemand eine Sonnenbrille einpackt, dann tun alle so, als ob sie sich eine Sonnenbrille aufsetzen. Übungsbeispiel II: Orient-Rundreise mit Tüchern Tücher liegen verteilt im Raum – entweder auf Stühlen oder auf dem Boden. Die Teilneh- mer/innen (TN) machen gedanklich eine Reise durch den Orient. Der/die Übungsleiter/ in (ÜL) sagt ein Ziel an, beispielsweise „Markt“. Jeder TN sucht sich ein Tuch (bzw. einen Stuhl), das für sie den Markt symbolisiert und merkt sich diese Station. Dabei kann immer nur ein TN an jedem Tuch stehen und jedes Tuch darf nur einmal belegt werden, also exakt eine Station symbolisieren. Es folgt die nächste Ansage, etwa „Moschee“. Daraufhin sucht sich jeder TN ein neues Tuch. Dieses ist für ihn die Moschee. Auch diese Station gilt es zu merken. So geht es weiter, bis jeder TN eine bestimmte Anzahl – zum Beispiel fünf – individuelle Stationen hat. Danach werden die einzelnen Stationen auf Ansage immer wieder angesteuert. Ruft der ÜL „Basar“, geht jeder TN zu seinem persönlichen Basar, beim „Gewürzhändler“ erinnert sich jeder an sein Tuch, das diese Station symbolisiert. PLUS-Praxistipp 1 | Gedächtnistraining Die Aufgabe braucht sehr viel Konzentration und gute Merkfähigkeit. Christine Stüß DRK Seniorenzentrum Fulda, Pflegefachkraft Tel. 0170/2323776 E-Mail: christine.stuess@drk-fulda.de (Quelle Übungsbeispiel II: Sportfachzeitschrift „sportivo turnen und sport“ für Übungsleiter und Trainer im Verein. Ausgabe November/Dezember 2018. www.pohl-verlag.com. Autorin: Bettina M. Jasper. www.denk-werkstatt.com) PLUS 03/2017 | 15
Die Truhe der Erinnerungen PLUS-PRAXISTIPP Spielerische Biographiearbeit für Gruppen Die „Truhe der Erinnerungen“ ist eine spielerische Biographiearbeit für Gruppen in der Seniorenar- beit oder in Pflegeeinrichtungen. Die Grundidee: Aus einer „Truhe“ werden Bilder, Fotos oder auch Gegenstände herausgenommen. Die Bilder oder Gegenstände sollen die Mitspielenden an frühere Zeiten erinnern. Das ermöglicht Gespräche über erlebte Zeiten. Viele ältere Menschen bringen sich gerne mit ihren Erinnerungen ein. Auch Menschen, die eine beginnende Demenz haben, können gut mithalten. Variante I: die Foto-Truhe: Die Truhe ist ein hübsch dekorierter Karton, der mit einem Tuch abgedeckt wird. Die Teil- nehmenden sitzen im Kreis. Aus dem Karton ziehen sie blind ein Foto. Gemeinsam wird jetzt erinnert, was das Foto zeigt. Fragen für die Gesprächsrunde könnten sein: • Was habe ich mit diesem Gegenstand erlebt? • Wo war ich, als das modern war? • Was hat mir damals gut gefallen? Was hat Spaß gemacht? • Was waren meine Wünsche und Sehnsüchte? • Was war schwierig? • … Wichtig dabei ist, dass die Erinnerungen positiv abgeschlossen werden. Besonders die „Kriegskinder“ werden wahrscheinlich traurige Erlebnisse schildern. Der Blick auf die weitere Entwicklung und die Frage, wie in späterer Zeit das Schwere gemeistert war, sind hilfreich. Oder auch: Was war in schwerer Zeit gut, was hat getragen? Diese Fragen zielen auf die positiven Aspekte der erinnerten Geschichten. Zum Bildmaterial: Die Bilder sollten aus der Kinderzeit der Seniorinnen und Senioren stam- men, sich auch auf die Jugendzeit und das Erwachsenenalter erstrecken. Beliebte Themen sind: Feste feiern, Kleidung und Frisuren, Kindsein, Spielsachen, Schule, Freizeit, Flucht, Kinder im Krieg, Wohnen, Reisen, … PLUS-Praxistipp 2 | Die Truhe der Erinnerungen Variante II: die Gegenstände-Truhe Die Erinnerungstruhe kann an Stelle der Fotos mit Gegenständen gefüllt werden. Ein alter Teddy, eine kleine Milchkanne, eine Kittelschürze, Kaffeemühle, Petticoat, XXL Unterhose, eine alte Einladung, Lockenwickler, …. Die Truhe kann abwechslungsreich nach Jahreszeit oder Kirchenjahr gestaltet werden. Es bietet sich an, beide Truhe-Varianten im Wechsel zu spielen und immer wieder zu ergänzen. Beide Truhen bieten den Vorteil, mit überschaubaren Mitteln und Kosten spielbar zu sein. Viel Freude! Sitta von Schenck Dipl.Theol., Dipl.Rel.Päd, Koordinatorin für Seelsorge in den Seniorenpflegeeinrichtungen des Dekanates Fulda. E-Mail: sitta.von-schenck@bistum-fulda.de
Achtsam werden für das eigene Tempo PLUS-PRAXISTIPP Nachdenklichkeiten für das Spazierengehen Sich im Freien zu bewegen ist gut für Körper und Seele. Gestalten Sie in ihrer Seniorengruppe bewusst einen Frühlingsspaziergang. Es reicht oft schon eine kleine Runde beispielsweise im Stadtpark oder im Pfarrgarten. Hier eine Anregung dazu. I. Eine Strecke in Stille gehen Beginnen Sie den gemeinsamen Weg mit folgenden Impulsen: • Wenn ich auf meinen Atem achte: Was ist „mein Tempo“? Woran merke ich, welches „mein Tempo“ ist? Wann verliere ich es? • Wie gehe ich? Schnell? Hastig? Ruhig? langsam? Bedächtig? Vorsichtig? Kraftvoll? Aggressiv? Ausdauernd? Kurzatmig? • Wo ist meine Grenze? Habe ich Angst, an Grenzen zu stoßen? Wie teile ich anderen meine Grenze mit? II. Gesprächspause Wenn Sie in der Gruppe gehen, regen Sie ein Segne mir den Weg Gespräch an: • Welche Rolle spielen die anderen in der Gruppe Gott segne mir die Erde, bei meinem Gehen? auf der ich jetzt stehe. • Ist es mir egal, wo ich laufe? Möchte ich gerne Gott segne mir den Weg, vorne sein? auf den ich jetzt gehe. • Was mache ich, wenn es mir zu anstrengend Gott segne mir das Ziel, wird? Orientiere ich mich an den anderen? Oder orientieren sich die anderen an mir? für das ich jetzt lebe. Gott segne mir das, III. Sparziergang in Stille was mein Wille sucht. PLUS-Praxistipp 3 | Achtsam werden für das eigene Tempo Gehen Sie den zweiten Teil des Weges mit Gott segne mir das, folgendem Impuls: was meine Liebe braucht. • Mute ich mir manchmal zu viel zu? Du König der Könige, • Wann merke ich das? Erst, wenn mir die Kraft segne mir meinen Blick. ausgeht? • Gehe ich über meine Kräfte hin aus? IV. Abschluss Nutzen Sie eine Wegmarke, ein Kreuz oder eine Kapelle für den Abschlusssegen – zum Beispiel den hier mitabgedruckten irischen Segen. Dr. Andreas Ruffing und Mathias Ziegler seniorennetzwerk@bistum-fulda.de Tel.: 0661 / 87 467
Wenn Senioren auf Reisen gehen PLUS-PRAXISTIPP Tipps für eine gute Wahl und Vorbereitung Urlaub ist die schönste Zeit des Jahres, doch viele Senioren/innen trauen sich nicht mehr alleine auf Reisen zu gehen. Manchmal ist es auch die eingeschränkte Mobilität, weshalb man nicht mehr alleine verreisen möchte. I. Worauf ist zu achten? eniorenreisen sollten speziell für ältere Menschen und deren Bedürfnisse ausgeschrieben S sein. Denn so wird bei der Auswahl der Hotels bzw. Erholungshäuser auf möglichst viel geachtet, was für diese Zielgruppe wichtig ist, beispielsweise um Barrierefreiheit. Ist der Rollator im Haus gut nutzbar? Gibt es einen Kofferservice? Sind die Bäder seniorengerecht, mit niedrigem Einstieg in die Dusche? All das sollte im Vorfeld der Buchung zu klären sein. II. Pflegedienst während der Reise Zu Hause kommen – wenn nötig – täglich der Pflegedienst oder ein Mitarbeiter der Sozial- station vorbei. Darum sollte der Bedarf auch im Urlaub gedeckt sein. Im Vorfeld der Reise ist es wichtig, sich rechtzeitig um eine Pflege vor Ort kümmern, denn die Pflegedienste sind oft gut ausgelastet. III. Begleitung Für Senioren ist es von Bedeutung, einen Ansprechpartner vor Ort zu haben. Sei es um Organisatorisches zu klären oder wenn Hilfe benötigt wird, etwa bei Krankheit im Urlaub. Erfahrene Begleiter/innen sorgen für die Geselligkeit und das Gemeinschaftsgefühl und helfen auch sonst bei Bedarf weiter. IV. Tipps für Begleitpersonen Wenn Sie persönlich mit Senioren unterwegs sind, hier die wichtigsten Punkte, auf die die Reisebegleitung achten sollte: • Die Kontaktpflege ist eine der Kernaufgaben. Sie vermittelt das Gefühl der Sicherheit und Geborgenheit. • Bei der Freizeitgestaltung sind die Begleitungen gefordert, je nach Mobilität der Senioren, ein Angebot zu erstellen. PLUS-Praxistipp 4 | Wenn Senioren auf Reise gehen • Gut Zuhören können: Manche Teilnehmenden benötigen ab und an ein offenes Ohr. • Gemeinschaft fördern: Zusammen Spielen oder auch Singen fördert die Zusammengehö- rigkeit. V. Selbst Reisebegleiter/in werden Der Caritasverband Fulda bildet ehrenamtliche Reisebegleitungen aus. Zu Beginn Ihrer Tätig- keit hospitieren Sie zunächst bei einer erfahrenen Begleitung und lernen den Ablauf kennen. Jährliche Schulungen mit ausgewählten Themen bereiten Sie gut auf ihre Aufgabe vor. Simone Möller Erholung und Freizeiten für Senioren Caritasverband für die Diözese Fulda e.V., Tel. 0661 / 2428-131, E-Mail simone.moeller@caritas-fulda.de. Simone Möller informiert gerne zu den Caritas-Seniorenreisen und Schulungen. Die Caritas kümmert sich um Vorbereitung von Seniorenreisen. Hotel- auswahl, pflegerische Versorgung und Reisebegleitung. Aktuelle Termine auf Seite XX
KENIA, AFRIKA Rostrote Straße bei der Stadt Kitale im Westen Kenias Als Familie unterwegs (r. Holger Schindler) Reise in eine fremde Kultur Holger Schindlers Reise nach Kenia, Afrika. Hier, am Äquator, wo die Sonnenstrahlen mittags senkrecht fallen und nur kleine Schatten auf den tro- ckenen Boden zeichnen, sind die Menschen zu Fuß unterwegs. Geduldig wirken sie, es herrscht keine Eile und der Weg ist weit. Die Sonne brennt, hier wie dort, jetzt und auch später. Ein Mann geht mit drei Ziegen an der Leine; Kinder in farbigen Schuluniformen; Frauen mit gelben Plastikkanistern auf dem Kopf, in denen sie Wasser nach Hause tragen. Lasten auf dem Kopf „Mzungu – Weiße!“ „Trägst du auch Lasten auf dem Kopf?“, Kinder kichern uns zu: „Mzungu! (Weiße!)“ fragen wir Daniel Mlololo, unseren Fah- Was wollen wir hier? Eine weiße Familie rer. Er schüttelt belustigt den Kopf – was unterwegs in Afrika: Vater, Mutter und für eine merkwürdige Frage! „Nein, nie, zwei erwachsene Töchter. Eine typische das machen die Frauen.“ Männer tragen Familie? Für Kenianer nicht, hier sind Fa- ihre Lasten auf der Schulter oder auf dem milien viel größer. Rücken. 9 Stunden dauert der Flug über das Mittel- Wir brettern mit unserem Allradwagen meer und die Sahara bis Nairobi. Dort tref- über die rote Erde, hier auf dem Land gibt fen wir Godfrey Dawkins und seine Frau es nur Erdpisten. Zum Glück ist gerade Elisabeth. Der 77-jährige Missionar war keine Regenzeit, sonst würden wir im Schlamm versinken. Zebras grasen im Ge- Deutschland – England – Kenia lände, Giraffen spielen miteinander, indem Die Reise nach Kenia war für Holger Schindler die sie ihre langen Hälse ineinander verkno- Folge seiner Spurensuche im englischen Eardisley. ten. Nachts schmatzen sie so laut, dass wir Sein Vater Wolfgang war dort von 1946 bis 1947 im Zelt davon erwachen. An einem See Kriegsgefangener und freundete sich in der Zeit mit sehen wir Störche auffliegen – und sind dem Ehepaar Dawkins und ihren Kindern an. Godfrey, irritiert. Die Zugvögel gehören doch zu einer der Söhne, zog später nach Kenia. Dort besuch- uns und fliegen nur im Winter auf Besuch te ihn Holger Schindler im September 2018 mit seiner nach Afrika, so die europäische Wahrheit. Familie. Die ganze Vorgeschichte ist in Plus 5/2018 Oder leben sie etwa hier und kommen auf nachzulesen. Besuch nach Europa? PLUS 6/2018 | 19
ZUHÖREN Straßenverkauf Gekocht wird im Freien, Aidswaisen-Heim in Homa Bay der Anlass unserer Reise. Ihn wollten wir es mangelt an Chancen und Möglichkeiten. kennenlernen – Godfrey, den mein Vater Jedes Jahr strömen eine Million junge Ta- vor 73 Jahren als junger Kriegsgefangener lente neu auf den Arbeitsmarkt, Jobs gibt in England als damals 5-jährigen Jungen es für sie nicht. Trotzdem, von einer Stim- mit dessen Familie kennenlernte, was eine mung, das Land zu verlassen, bekommen lebenslange Bindung zu „Uncle Wolfgang“ wir nichts mit. Wir sind im Slum Marurui zur Folge hatte (PLUS-Magazin 5/2018). mitten in Nairobi. Hier lebt keiner freiwil- Godfrey ist höflich zurückhaltend, im Lau- lig. Ein fauliger Geruch liegt in der Luft. fe unserer Begegnungen wird er immer Zehntausende Menschen leben hier auf offener. Am Ende werden unsere Töchter engstem Raum, in winzigen Wellblechver- Großelterngefühle für die beiden netten äl- schlägen auf der nackten Erde, durchfurcht teren Herrschaften entwickelt haben. von Abwasserrinnen, dazwischen Hühner, Ziegen, spielende Kleinkinder Kein Urlaub Wir sind nicht auf Urlaub aus, wir wollen Zuhören das Land von seiner Alltagsseite kennenler- Wir sind in der Behausung zweier Mütter nen: Die Menschen – träumen sie wirklich mit ihren Kindern. Es ist eng, kaum Platz von einem Leben in Europa? Der schwarze zum Sitzen. Sie erzählen von ihrem Alltag, Kontinent – in wie weit stimmt unser me- der von Hunger und Not gekennzeichnet dienvermitteltes Bild von Afrika, das von ist, dass Beziehungen diesen Verhältnissen Hunger, Kriegen und Krankheiten geprägt nicht standhalten und viele Mütter mit ih- wird? ren Kindern alleingelassen sind. Wir sind Jomo Kenyatta International, Flughafen betroffen über ihre Offenheit und über die Nairobi: Gesichts-, Fingerabdruck-, Fie- Unmöglichkeit, ihre Situation zu verän- berscanner – modernes Afrika. Wir fahren dern. Sie hingegen lächelt: „Es ist gut, dass auf einem Highway durch die Hauptstadt. Sie zugehört haben.“ Trinkwasser gibt es Immer wieder gibt es tiefe Schlaglöcher im nicht, Toiletten ebensowenig. Wo verrich- Asphalt, mal stehen Kühe auf der Fahrbahn, ten die Menschen ihre Notdurft? Wir be- mal laufen Menschen quer über die sechs halten die Frage für uns. Ein Kenia-Kenner Spuren. klärt uns später auf: Er spricht von „Fly- ing Toilets“ – die Menschen verrichten ihre Mangel an Chancen und Möglichkeiten Notdurft in eine Plastiktüte, die sie dann Jugendliche hängen zwischen Hütten he- irgendwo wegwerfen.Die Verständigung rum, einer fängt an zu tanzen und einen ist kompliziert, bis zu vier Übersetzungs- Rap-Gesang zu singen. Wir sind beein- schleifen sind nötig, von der afrikanischen druckt von seinem Talent, das könnte auf Stammessprache über Kisuaheli und Eng- youtube laufen. Aber Talent zählt hier nicht, lisch ins Deutsche. Uns raucht der Kopf. 20 | PLUS 7/2019
CHANCEN Selbst hergesteller Schmuck Kleinkinder im Slum Marurui in Nairobi Elefantenherde in der Masai Mara Alle Fotos: Holger Schindler Viele Kenianer besitzen nichts außer ihrer Auch Strategien gegen Pflanzenschädlinge Kleidung – und einem Smartphone. Das ist werden entwickelt – und weltweit an inte- nicht nur Kommunikations-, sondern auch ressierte Länder weitergegeben. Zahlungsmittel. Dank des von Kenianern Kenia zählt zu den 50 ärmsten Ländern, entwickelten Systems Mpesa bezahlen sie gilt aber als aufstrebendes Land, China direkt mit dem Handy, auch ohne Bankkon- spielt dabei eine große Rolle. Immer wie- to. Modernes Kenia mit Vorbild-Charakter: der sehen wir chinesische Baumaschinen, Rauchen in der Öffentlichkeit ist verboten, die sich wie Raupen durchs Land fressen: die Benutzung von Plastiktüten ebenso. Vorne verschlingen sie löchrige Landstra- ßen, und hinten spucken sie mehrspurige Aids-Waisen Highways aus. Im Örtchen Homa Bay am Viktoriasee ist die Aidsrate besonders hoch. Mary und Die Chinesen verhalten sich teilweise wie James Kambona haben hier 200 Kinder neue Kolonialherren. So sorgt während aufgenommen, deren Eltern an Aids ge- unserer Reise ein Internet-Video im Land storben sind; sie werden unterrichtet und für Empörung. Es zeigt einen chinesi- leben auf dem Gelände. Der Boden ist stei- schen Vorarbeiter, der alle Kenianer, den nig und staubtrocken. 60 Jungen müssen Präsidenten eingeschlossen, als „Affen“ eng an eng in einem Raum auf dem Boden bezeichnet. Der Chinese musste das Land schlafen, 70 Mädchen in einem anderen. verlassen. Was der Fortschritt à la China Betten gibt es nicht. Wasser ist kostbar. Als bringen wird, ist unter Kenianern umstrit- wir dort sind, gibt es für jedes Kind pro ten. Sie verbinden damit die Hoffnung auf Tag nur einen Becher Trinkwasser. Inzwi- Entwicklung und Wohlstand. Zunächst schen wurde ein Brunnen gebohrt, so dass verschuldet sich das Land hoch bei den es nun ausreichend Wasser gibt. Statt der Asiaten. Der Strukturwandel wird das Le- Wellblechklassenzimmer sollen auch fes- ben verändern – wie genau weiß niemand. te Räume errichtet werden. Ein Lichtblick, Doch ein ängstlicher Blick in die Zukunft ausschließlich finanziert durch Spenden ist nicht ihre Sache: Hakuna matata, sagt aus Europa. Die sind auch weiterhin nötig, Daniel, no problem! denn die kenianische Regierung gewährt keine Unterstützung. Aids-Waisen helfen Hier im Malaria-Gebiet besuchen wir das Holger Schindler möchte einen Unterstützungsfonds international vernetzte Forschungsinstitut für die Kinder in Homa Bay am Viktoriasee aufbauen, ICIPE. Die Wissenschaftler untersuchen vor deren Eltern an Aids gestorben sind. Wer mithelfen Ort, wie man die Übertragung der Krank- möchte, kann sich gerne per E-Mail an ihn wenden: heit, die hier viele Menschenleben fordert, slow13@aol.com mit natürlichen Mitteln eindämmen kann. PLUS 7/2019 | 21
Zuhause Aus der Ferne: die Kolossalfigur Herkules im Bergpark Wilhelmshöhe (Copyright: Kassel Marketing GmbH | Fotograf Paavo Blåfield). Düne bei Noordwijk mit Kind. Ölgemälde (1906; 49x60 cm) von Max Liebermann (1847-1935) (Foto: Wikipedia). Die weite Welt rückt fern Jetzt holt Maria Hoesch die Welt in ihr Zuhause Wenn man in der Wohnung von Maria Hoesch aus dem Fenster schaut, dann hat man eine wunderbare Aussicht über die Stadt Kassel. „Hier vom Sofa aus kann ich die Wasserspiele am Herkules anschauen“, er- zählt sie und deutet auf das große Panoramafenster, durch das man auf das Schloss und den Bergpark Wil- helmshöhe blickt, der von der Unesco zum Weltkulturerbe erklärt wurde. Im Sommer kann Maria Hoesch miterleben, wie das Wasser zu Füßen der Herkules-Statue über die Kaskaden rauscht, flankiert von tausen- den Touristen, die aus aller Welt anreisen um das Schauspiel zu sehen. Jahrzehntelang unterwegs gebot bekam, für ein halbes Jahr als eine So wie die 90-Jährige heute als Zuschau- Art Au Pair nach Frankreich in die Provinz erin mit dabei ist, wenn andere ihre Stadt Touraine zu gehen. „Mein Verlobter Klaus erkunden, so war sie selbst viele Jahrzehnte sagte, mach das doch. Damals war das et- lang immer wieder unterwegs, um fremde was Besonderes. Man konnte ja nicht wie Menschen, Kulturen und Orte kennenzuler- heute einfach mal für ein Jahr ins Ausland nen. Und wenn sie von ihren Reisen erzählt, gehen“, erinnert sie sich. dann strahlen ihre Augen und ein feines Lächeln liegt auf ihrem von silberweißen Große Familie, viele Nationen Haaren umrahmten Gesicht. Kurz nach dem Auslandsaufenthalt wurde Schon als junge Frau zog es die gebürtige aus dem Verlobten 1955 ihr Ehemann, mit Rheinländerin hinaus in die Welt. „Ich war dem sie vor über 50 Jahren nach Kassel in allen Hauptstädten Europas, in London, zog, wo er als Volkswirt bei Henschel arbei- Paris, Rom und und und. Die verschiede- tete. Maria Hoesch kümmerte sich um den nen Städte haben mich einfach interessiert“, Haushalt und die vier Kinder und arbeitete erzählt sie. Nach dem Abitur besuchte sie viele Jahre ehrenamtlich als „Grüne Dame“ für ein Jahr eine höhere Handelsschule, ar- im Elisabethkrankenhaus, wo sie Patienten beitete dann vier Jahre als Sekretärin und besuchte, Besorgungen für sie erledigte und studierte vier Semester Jura. Während des als Gesprächspartnerin da war. „Mein Mann Studiums verlobte sich Maria Hoesch. Doch ist leider schon vor 16 Jahren gestorben. Er sie zögerte trotzdem nicht, als sie das An- wäre sehr stolz auf seine Familie“, sagt Ma- 22 | PLUS 7/2019
Sie können auch lesen