Risiken der Elektrizitäts wirtschaft - Expertenmeinungen zur Energiepolitik der Schweiz - sinnovec

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Risiken der Elektrizitäts wirtschaft - Expertenmeinungen zur Energiepolitik der Schweiz - sinnovec
R isike n d e r S chwe izer Elektrizitätswir tschaf t                                   Führung

Risiken der Elektrizitäts­
                                                                                                              Claudia Wohlfahrtstätter/
                                                                                                              Roman Boutellier

wirtschaft
Expertenmeinungen zur Energiepolitik der Schweiz

Wie viele Länder Europas steht die Schweiz vor der Entscheidung, die Kapazitäten in der
Elektrizitätswirtschaft zu ersetzen und aufzubauen. Die Diskussion führt das Land zeitgleich
mit dem Beginn der Liberalisierung der Energiemärkte und unter dem Einfluss der direkten
Demokratie. Eine repräsentative Umfrage veranschaulicht, dass die größte Herausforderung
der Schweizer Elektrizitätswirtschaft die autarke Versorgungssicherheit des Landes
ist und dass die Risiken ungenügend gemanagt werden.

  Einleitung                                            energiepolitische Entscheidungspyramide, ange-
                                                        lehnt an die Bedürfnispyramide von Maslow.1
Ziel der Arbeit ist es, die Risiken und das Risikoma-
nagement der Schweizer Elektrizitätswirtschaft aus
einer gesamtwirtschaftlichen Sicht aufzuzeigen.           Die Schweizer Elektrizitäts­wirtschaft
Die Datenbasis bilden Interviews mit 33 Entschei-
dungsträgern und Experten aus der Schweizer Elek-       Der Bund und die Kantone stehen in der Pflicht, mit
trizitätswirtschaft, die im Sommer 2009 geführt         geeigneten staatlichen Rahmenbedingungen dafür
wurden. Die Hintergründe der Analyse sind die Si-       zu sorgen, dass die Energiewirtschaft die Versor-
cherstellung der Stromversorgung des Landes, die        gungssicherheit gewährleisten kann.2 Den Schwei-
Marktliberalisierung, die Diskussion um Nachhal-        zer Landesverbrauch von rund 63 Terawattstunden
tigkeit sowie der Einfluss der schweizerischen di-      (TWh) generieren abgeschriebene Anlagen mit gün-
rekten Demokratie. Diskussionsgrundlage ist eine        stiger Primärenergie (56 % Wasserkraft und 40 %

06/2010 (79. Jg.), Seite 391–399                                                                                             zfo | 391
Risiken der Elektrizitäts wirtschaft - Expertenmeinungen zur Energiepolitik der Schweiz - sinnovec
Füh r un g             R isike n d e r S chweizer Elektrizitätswir tschaf t

                                               Nuklearkraft) ohne Emissionskosten           schaftlichen, nicht technischen Literatur10 zum
Inhalt                                         für CO2.3                                    schweizerischen Energiemarkt aus früheren Jahren
                                                  Seit rund 20 Jahren deckt sich die        wird ferner deutlich, dass die Schweiz politisch und
• Einleitung                                   Schweiz    im Winterhalbjahr zu 20 %         technologisch nicht bereit ist, ihre Kernenergie zu
• Die Schweizer Elektrizitätswirtschaft        mit   Atomstrom      aus französischen       ersetzen, ohne Gaskombikraftwerke einzusetzen –
• Interviews zur Energieversorgung             Kraftwerken   ein  – gemäß  langfristigen    eine teure Art der Stromproduktion. Weiterhin wird
  der Schweiz                                  Verträgen,   die ab  2017 nach und nach      diskutiert, dass die Bevölkerung zwar Wasserkraft-
• Ergebnisse der Experteninterviews            auslaufen.   Die  Schweiz  importiert  als   und Gaskombiwerke akzeptiert, dass aber Kern-
• Management von Risiken                       einziges   Land  im  Netzverbund  der  EU    und Windenergie umstritten sind.
• Zusammenfassung/Summary                      diese  Kapazitäten    noch heute in privi-
                                               legierter Position. Die Schweiz gene-
                                               riert als Stromdurchgangsland rund 2           Interviews zur Energieversorgung
                                 Mrd. CHF aus dem grenzüberschreitenden Handel.               der Schweiz
                                    Schätzungen zufolge4 klafft ab 2025 eine Versor-
                                 gungslücke, Engpässe werden bereits ab 2018 er-            Basis der vorliegenden Studie sind Interviews mit
                                 wartet. Aktuell liegen drei unabhängige Projekte           33 Entscheidungsträgern und Experten der Schwei-
                                 zum Bau von neuen Kernkraftwerken vor. Zwei Pro-           zer Elektrizitätswirtschaft vom Sommer 2009. Die
                                 jekten will die Regierung zustimmen. Der Bau von           wichtigsten Gruppen sind die Versorger als Strom-
                                 Nuklearkraftwerken untersteht seit dem revidierten         produzenten und Verteiler, deren Eigentümer, die
                                 Kernenergiegesetz von 20035 dem fakultativen Re-           Konsumenten und die Politik als Regulator und po-
                                 ferendum6. Über die neuen Anlagen kann frühes-             litischer Taktgeber. Ergänzt wurde die Reihe durch
                                 tens 2013 abgestimmt werden und sie wären in den           Interviews mit fünf Know-how-Trägern, die den
                                 Jahren 2025 bis 2027 betriebsbereit.                       Strommarkt in früheren Zeiten stark prägten (vgl.
                                                                                            Abb. 1). Die Größe des Landes und die Struktur der
                                   Liberalisierung7                                         Branche ließen es zu, mit relativ wenigen Inter-
                                                                                            views eine große Repräsentanz zu erreichen.
                                Bis Anfang des Jahres 2009 war die Schweizer Elek-             Alle Befragten erfüllen folgende Kriterien:
                                trizitätswirtschaft oligopolistisch organisiert. Die        • Sie sind die wichtigsten Entscheidungsträger in
                                Branche besteht aus 840 Elektrizitätswerken, die                ihrer Gruppe in der Schweizer Elektrizitätswirt-
                                zu durchschnittlich 80 % im Eigentum der öffentli-              schaft und verfügen über direkte Entschei-
                                chen Hand – den Kantonen und Gemeinden – sind.                  dungsgewalt in letzter Instanz in ihrem Bereich.
                                Eine regulierte Teilmarktöffnung wurde im Januar            • Expertenwissen: 85% der Befragten bringen
                                2009 für 53 % des Marktes eingeführt. Die Marktöff-             mindestens zehn Jahre Erfahrung in der Elektri-
                                nung für Kleinunternehmen und Haushalte ist ab                  zitätswirtschaft mit.
                                2013 geplant und untersteht ebenfalls dem fakulta-
                                tiven Referendum.                                           Die Grundgesamtheit der Versorger-Gruppe ent-
                                   Das Parlament verabschiedete im März 2008 die            spricht der Produktion des Schweizer Landesver-
                                neuen Regulierungen8. Bereits im Herbst waren die-          brauchs von 63 TWh. Zu Wort kamen acht Entschei-
                                se Bestimmungen wegen der angekündigten Strom-              dungsträger mit einem Anteil von 84 % der Jahres-
                                preiserhöhungen von bis zu 20 % wieder stark in der         produktion. Die ausgewählten Unternehmungen
                                Diskussion. Der Bundesrat fror daraufhin im Dezem-          sind zu 81  % in öffentlichem Eigentum, was dem
                                ber 2008 kurzfristig die Strompreiskomponente               gesamtschweizerischen Durchschnitt entspricht.
                                Energie auf dem Niveau der Erzeugungskosten ein.            Es wurden fünf Interviews mit Eigentümern der öf-
                                Dies galt jedoch nur für all diejenigen Konsumenten,        fentlichen Hand, mit Kantons- oder Gemeinderä-
                                die den bisherigen Anbieter nicht wechseln. Im glei-        ten, geführt.
                                chen Atemzug legte der Bund den Kapitalkostensatz             Die 8 % der privaten, meist anonymen Eigenkapi-
                                des Übertragungs- und Verteilnetzes auf durch-              talgeber sind durch vier relevante Finanzinstitute
                                schnittliche 4 % fest, was verglichen mit einem in-         der Schweiz repräsentiert. Die Grundgesamtheit
                                dustriellen Satz von 7 bis 9 % sehr niedrig ist.            dieser Gruppe ist schwierig zu erfassen. Interview-
                                   Zur Überwachung und Einhaltung der gesetz­               partner waren einerseits Vertreter der Schweizer
                                lichen Grundlagen rief der Bund die ElCom als un-           Banken, welche die sieben börsennotierten Versor-
                                abhängige staatliche Regulierungsbehörde mit um-            ger professionell bewerten, und andererseits Fund-
                                fassenden Kompetenzen ins Leben. Sie ordnete                Vertreter, die in der Branche für ihre finanziellen
                                beispielsweise im März 2009 die Senkung der Tari-           Engagements bekannt sind. Die ausländischen Be-
                                fe des Übertragungsnetzes um rund 40 % für das              teiligungen von rund 9 %11 wurden in der Befragung
                                gesamte Jahr 2009 an!9 Aus der wenigen wissen-              nicht berücksichtigt.

392 | zfo                                                                                                                               06/2010
Risiken der Elektrizitäts wirtschaft - Expertenmeinungen zur Energiepolitik der Schweiz - sinnovec
R isike n d e r S chwe izer Elektrizitätswir tschaf t                                                         Führung

   Bund und Regulatoren sind seit der Teilmarktöff-    Gruppe               Grundgesamtheit            Stellung der Befragten                 in %     Anzahl
nung neue Mitspieler. Innerhalb der 38 für die Ener-                                                                                                   Inter-
                                                                                                                                                       views
giebelange zuständigen National- und Ständeräte
                                                       Versorger            Produktion                 CEO oder Verwaltungsrats-              84 %         8
konzentrieren sich acht auf den Bereich Elektrizi-                          Landesverbrauch            Präsident oder -Vizepräsident,
tät. Die Energiedirektoren sind für die Energiepoli-                        Schweiz: 63 TWh            Jahresproduktion: 53 TWh
tik auf Kantonsstufe zuständig. Zusammen mit der       Eigentümer der       Durchschnittlich zu 83 %   Interviewte von Unternehmungen         81 %        5
obersten politischen Ebene auf Bundesstufe konn-       Versorger: öffent-   in öffentlicher Hand       zu 81 % in öffentlicher Hand
                                                       liche Hand
ten von 14 Experten sieben befragt werden. Die fünf
                                                       Eigentümer der       Durchschnittlich zu 8 %    Alle im Schweizer Markt                            4
wichtigsten Parteien der Schweiz12 werden mindes-      Versorger: private   im Eigentum von Privat-    bekannten Finanzinstitute mit Kom-
tens durch je einen Interviewpartner repräsentiert.    Kapitalgeber         wirtschaft                 petenzen im Stromsektor
   Die fünf Gespräche mit Großkonsumenten und          Politik              Regulatoren, Bund und      Präsidium von ElCom und Bundes-        50 %        7
                                                                            Kantonspolitik mit Fokus   amt für Energie BFE, Parlamenta­rier
energieintensiven Industrien vertreten 46 % des                             Elektrizität               & Kantonsregierung, Swissgrid
Stromverbrauchs auf dem freien Markt. Drei Inter-      Parteien (19)        SVP, SPS, FDP, CVP, GPS    Mindestens ein Politiker pro Partei
views wurden mit Geschäftsführern von Interessen-                                                      vertreten
verbänden mit insgesamt 80 Mitgliederbetrieben         Konsumenten          Zugang zum freien Markt    Vertreter von 13.8 TWh Konsum          46 %        4
geführt. Die Diversität der Mitglieder repräsentiert                        – 30 TWh
                                                       Unabhängige          unabhängig                 großes Expertenwissen                              5
die Großkonsumenten der Schweiz ausreichend.           Know-how-Träger

  Datenerhebung
                                                       raum. Die Genehmigung der Abschrift der Inter- Abb. 1 Repräsentativität
Die Untersuchung folgte einem explorativen Vorge-      views durch die Gesprächspartner hat dies stark der Interviews
hen13, um möglichst viel Offenheit zu gewährleis-      reduziert.
ten. Die Befragten sollten nicht durch vorgegebene        Die Zuordnung der Interviewtextteile erfolgte
Hypothesen und Kategorien beeinflusst werden.          nach Schlüsselworten. Die aus dem Untersu-
Die Wahrscheinlichkeit ist groß, dass gerade Perso-    chungshintergrund abgeleiteten Hauptkategorien
nen mit großer Verantwortung vorgegebene Risiken       »Versorgungssicherheit«, »Liberalisierung und ge-
eher nennen, selbst wenn diese für sie nicht an ers-   nerelle ökonomische Ineffizienzen«‚ »Nachhaltig-
ter Stelle stehen. Das Expertenwissen der Teilneh-     keit und Umwelt« sowie »direkte Demokratie und
mer war eine unabdingbare Voraussetzung für die-       soziale Akzeptanz« erwiesen sich als praktikabel.
ses Vorgehen, was der Interviewprozess auch be-        Nur insgesamt fünf der 80 angesprochenen Risiken
stätigte: Je mehr Erfahrung der Befragte mitbrach-     konnten nicht eindeutig zugeordnet werden. Auch
te, umso umfangreicher und differenzierter waren       die Unterkategorien ergaben sich aus den Inter-
die Antworten.                                         views relativ eindeutig. Schwierigkeiten bestanden
  Um ungefilterte Aussagen zu erhalten, wurden         bei der Zuordnung zur »direkten Demokratie und
mit einer Ausnahme die Interviews in Form des per-     sozialen Akzeptanz« sowie zur »Nachhaltigkeit und
sönlichen Gesprächs mit folgenden offenen Fragen       Umwelt«. Alle drei Kategorien beeinflussen direkt
geführt:                                               die Themenbereiche »Versorgungssicherheit« und
• Was sind die Risiken der Schweizer Elektrizitäts-    »ökonomische Ineffizienzen«. Es wurde strikt nach
   wirtschaft?                                         Schlüsselworten ausgewertet.
• Welche Maßnahmen werden ergriffen, um die               Die Quantifizierung der Resultate erfolgte über
   Risiken zu verringern?                              das Zählen der Nennungen (vgl. die Klammerinhal-
                                                       te im Kapitel »Ergebnisse der Experteninterviews«).
Alle Gesprächspartner erhielten eine Abschrift des     Dadurch ergab sich auch die Gewichtung der Risi-
Interviews, die angepasst und genehmigt wurde.         ken: Je mehr und argumentativ stärker Experten ein
                                                       Thema ansprachen, desto größer ist die
  Auswertung der Umfrage                               Risikowahrnehmung. Das Vorgehen wur-          Qualitative Inhaltsanalyse
                                                       de für die Haupt- und Unterkategorien an-     Der deutsche Psychologe, Soziologe und
Die Auswertung der Resultate orientiert sich an der    gewendet. Veranschaulicht werden konn-        Pädagoge Philipp Mayring entwickelte seit
qualitativen Inhaltsanalyse14, die qualitative mit     ten nur diejenigen Risiken und Maßnah-        1980 die qualitative Inhaltsanalyse. Diese
quantitativen Ansätzen kombiniert: Der erste           men zur Risikoverringerung, die von den       Methode soll systematisch Texte analysieren
Schritt der Kategorienbildung und die Zuordnung        Gesprächspartnern angesprochen wur-           können, aber gleichzeitig der Interpretations-
                                                                                                     bedürftigkeit des sprachlichen Materials ge-
zum Interviewtext sind qualitative Aspekte. Die        den.
                                                                                                                  recht werden. Ein wichtiger Bestandteil
Quantifizierung erfolgt durch die Erhebung der Ka-
                                                                                                                  ist die Bildung von Kategorien, nach denen
tegorienhäufigkeiten. Die Messung der Daten
                                                                                                                  Aussagen anhand von Schlüsselworten
durch Auszählen, wie auch die Zuordnung der Text-                                                                 sortiert werden können.
teile, bergen Unschärfen und Interpretationsspiel-

06/2010                                                                                                                                              zfo | 393
Füh r un g                   R isike n d e r S chweizer Elektrizitätswir tschaf t

                                            Ergebnisse der Experten­interviews                      (Stromausfälle) und Unfälle sowie generell techni-
                                                                                                    sche Risiken nennen 27 % der Befragten. Eine Un-
                                        Alle Interviewten nannten mindestens ein Risiko,            terschätzung des Nachfrageanstiegs durch die
                                        das die zukünftige Versorgungssicherheit der                Elektrifizierung der Gesellschaft wird von 9 % als
                                        Schweiz gefährdet. Je 79 % der Befragten sahen Ri-          Risiko empfunden. Einzelne Personen sehen Risi-
                                        siken in den Kategorien »Liberalisierung und öko-           ken in der Finanzierbarkeit der neuen Kapazitäten
                                        nomische Effizienz« sowie »direkte Demokratie               und in der Langfristigkeit der Investitionen.
                                        und soziale Akzeptanz«. Die wenigsten Risiken                  Gründe für eine unsichere zukünftige Versorgung
                                        werden mit 48 % im Bereich »Nachhaltigkeit und              liegen auch im Übertragungs- und Verteilnetz (58%,
                                        Umwelt« wahrgenommen (vgl. Abb. 2).                         vgl. Abb. 5). Investitionen in Netzkapazitäten sind
                                                                                                    wegen der geringen Rendite der Netze wenig attrak-
                       Versorgungssicherheit                                                        tiv (24%). Das generell hohe Alter der Netze ver-
          Liberalisierung und
                             Markteffizienz
                                                                                                   stärkt dies zusätzlich: Der aktuelle Wert des Netzes
                Nachhaltigkeit und
                                  Umwelt
                                                                                                   beträgt laut Schätzungen der ElCom 1,6 Mrd. CHF;
  Direkte Demokratie und soziale
                                 Akzeptanz
                                                                                                    der Wiederbeschaffungswert jedoch liegt bei 5 Mrd.
                                                 0%        20%     40%      60%     80%    100%
                                                                                                    CHF.
                                                                                                       Die Volatilität (Schwankung) im Netz steigt durch
Abb. 2 Die am häu-                          Versorgungssicherheit                                   die Zunahme auf Seiten der erneuerbaren Energien
figsten genannten Risiken                                                                           (12 %), – was ein Risiko für die Netzstabilität ist. Da
– die Hauptkategorien                   Alle Befragten weisen auf Risiken der zukünftigen           die Schweiz kein EU-Mitglied und damit juristisch
                                        Versorgungssicherheit hin: einerseits auf die Be-           kein gleichberechtigtes Mitglied des europäischen
                                        reitstellung der Produktionskapazitäten (100 %)             Netzverbundes EntsoE ist, wird sie ihre Interessen
                                        und andererseits auf die kritische Situation der            ungenügend vertreten können (9 %).
                                        Übertragungsnetze (58 %, vgl. Abb. 3).
                                                                                                      Liberalisierung und ökonomische
                                                                                                      Ineffizienzen
  Bereitstellung der
                   Produktionskapazitäten
              Übertragungs- und Verteilnetze                                                        In der Kategorie »Liberalisierung und ökonomische
                                                  0% 10% 20% 30% 40% 50% 60% 70% 80% 90%100%        Ineffizienzen« konnten die Unterkategorien »Regu-
                                                                                                    lierung«, »Struktur der Branche«und generell »öko-
                                                                                                    nomische Risiken« gebildet werden (vgl. Abb. 6).
Abb. 3 Risiken der                      Immer mehr Auflagen und restriktivere Bewilli-                 Die neue Regulierung zur Teilmarktöffnung ist ge-
Hauptkategorie »Versor-                 gungsverfahren verzögern den Aufbau von Kapazi-             nerell risikobehaftet (79 %, vgl. Abb. 7). 52 % der
gungssicherheit« (100 %)                täten (27 %, vgl. Abb. 4). Schätzungen der Bundes-          Befragten äußern sich kritisch und beschreiben ei-
                                        behörde zufolge dauert der Bau eines neuen Kern-            ne Marktordnung mit schwachen Kompromissen,
                                        kraftwerks in der Schweiz heute rund 18 Jahre, fast         vielen Unklarheiten sowie fehlenden und zu restrik-
                                        doppelt so lange wie vor 30 Jahren – trotz technolo-        tiven Vollzugsregelungen. In den Augen von 33 %
                                        gischer Fortschritte. Mangelnde Bauerfahrung                der Befragten fehlen das notwendige Wissen und
                                        (6 %) verstärkt den Effekt. Die Versorgung ist zudem        die Kenntnis von Zusammenhängen bei den Verant-
                                        durch die auslaufenden Verträge mit Frankreich ge-          wortlichen in der Politik. Kurzfristige Änderungen in
                                        fährdet (18 %).                                             der gesetzlichen Grundlage führten zu Unsicherhei-
                                          Auf die Gefahren einer Importabhängigkeit wei-            ten (66 %). Eine Ausnahme bilden die Konsumen-
                                        sen 33 % der Befragten hin. Dies würde die Erpress-         ten: Sie sind mit den Senkungen der Strompreis-
                                        barkeit der Schweiz steigern. Die führende Rolle der        komponenten zufrieden. Die Missbrauchsgesetz-
Abb. 4 Wichtigste                       Politik in der Sicherstellung der Versorgung wird als       gebung der ElCom ist nach Ansicht von 18 % der
Risiken der Unterkategorie              unbefriedigend wahrgenommen (25 %) wie auch                 Befragten beeinträchtigend.
»Produktionskapazitäten«                die Verhandlungsfähigkeit der Branche (18 %).                  Die Eigentümer der Versorger – die Kantone und
(100 %)                                   Risiken durch Kraftwerksausfälle, Blackouts               Gemeinden – verlören Einnahmen, da die fixierten
                                                                                                    Strompreise niedriger seien als der Marktpreis.
                                                                                                    Nicht ein Strommarktgesetz, sondern ein Stromver-
                             Importabhängigkeit                                                     sorgungsgesetz sei geschaffen worden: Service pu-
  Auflagen und restriktive Bewilligungsverfahren
                              technische Risiken                                                    blic (die Dienstleistungen, die die öffentliche Hand
                                  Rolle der Politik                                                 in der Schweiz zu erbringen hat) stehe im Vorder-
              Verhandlungsfähigkeit der Politik
         Unterschätzung des Nachfrageanstiegs                                                      grund, nicht Wettbewerb. Das Risiko bestehe, dass
                                                      0% 10% 20% 30% 40% 50% 60% 70% 80% 90% 100%   die Strommarktöffnung in der Schweiz nicht kom-
                                                                                                    men werde, sagten 6 %. Eine Gefahr für die heimi-

394 | zfo                                                                                                                                          06/2010
R isike n d e r S chwe izer Elektrizitätswir tschaf t                                                     Führung

schen Versorger ist für 12 % der Befragten die grö-
ßere Erfahrung der umliegenden EU-Länder mit                                         Zinssatz Netze
dem Wettbewerb. Dies könne die Marktmacht ge-            Privilegierung der Importe aus Frankreich
                                                            Volatilität durch erneuerbare Energien
fährden, wenn die Schweiz den Markt schließlich
                                                                                    Alter der Netze
doch öffne und sich die Preise anglichen.                             fehlende Verträge mit EntsoE 
   Ineffizienzen, verursacht durch die Struktur der                                                     0% 10% 20% 30% 40% 50% 60% 70% 80% 90% 100%
Branche, nannten 70 % der Befragten als Risiko
(vgl. Abb. 8). Die Branche sei mit ihren 840 Werken     Abb. 5     Wichtigste Risiken der Unterkategorie »Über­tragungs- und Verteilnetze« (58 %)
sehr zerstückelt. Die Schweiz besitze so viele Elekt-
rizitätswerke wie Deutschland, das zehn Mal größer
sei. Die Bereitschaft, sich zu bewegen und etwas zu
ändern, fehle: Die Interviewten äußerten sich in fol-                       Regulierung
gender Weise: »Es geht zu gut«, »in Watte gepackt«,                Struktur der
                                                                              Branche
»die Kassen sind zu voll« und »Wohlfühleffekt«.          Generelle ökonomische
                                                                              Risiken
   Ein weiteres Risiko wird in den Eigentümerstruk-                                        0%            20%      40%       60%       80%       100%
turen der Versorger (21 %) durch unklare Eignerstra-
tegien und eine mögliche Staatsgarantie bei Ver-        Abb. 6 Risiken innerhalb der Hauptkategorie »Liberalisierung
lusten der Versorger wahrgenommen. Langsame             und ökonomische Ineffizienzen« (79 %)
Entscheidungsprozesse wirkten verzögernd (6 %).
Die – im europäischen Vergleich – kleinen Schwei-
zer Versorger könnten Übernahmekandidaten wer-                        Kurzfristige Regulierungsänderungen
den (15 %).                                                             Regulierung zur Strommarktöffnung
                                                                   Fehlende Kenntnis der Verantwortlichen
   Generell ökonomische Risiken nannten 39 % der                          ElCom Missbrauchsgesetzgebung
Befragten (vgl. Abb. 9). Dass die Schweiz ihre Posi-                        Service public statt Wettbewerb
tion als Stromdrehscheibe im europäischen Um-            Konkurrenz für Versorger durch Wettbewerb aus EU
                                                                                                          0% 10% 20% 30% 40% 50% 60% 70% 80% 90% 100%
feld verlieren könnte und dass daher die Einnah-
men sinken könnten, befürchten 30 % der Inter-
viewten. Die im Jahr 2009 neu eingeführte kosten-       Abb. 7     Wichtigste Risiken der Unterkategorie »Liberalisierung« (79 %)
deckende Einspeisevergütung (KEV) zur Förderung
der erneuerbaren Energien wird als nicht wirt-
schaftlich angesehen (21 %). Auf Risiken aus dem                     Zerstückelt 840 Werke
derivaten Handel von Versorgern und auf finanziel-       »Wohlfühleffekt« – »zu volle Kassen«
le Verpflichtungen von Muttergesellschaften wei-                       Eigentümerstrukturen
sen 12 % der Befragten hin. Einzelaussagen be-                       Übernahmekandidaten
leuchten Währungsrisiken und das Marktrisiko der                                                0% 10% 20% 30% 40% 50% 60% 70% 80% 90% 100%
in Aktien angelegten Gelder des Entsorgungs- und
Stillegungsfonds für Nuklearkraftwerke.                 Abb. 8     Wichtigste Risiken der Unterkategorie »Struktur der Branche« (70 %)

  Nachhaltigkeit

Risiken im Bereich der Nachhaltigkeit und der Um-              Verlust Stromdrehscheibe CH
welt nennen 48 % der Befragten (vgl. Abb. 10). Ein       Förderung der neuen Erneuerbaren
Risiko für die Schweizer Elektrizitätswirtschaft wird                       Derivatehandel
von vielen Befragten (42 %) im beobachteten Trend                                               0% 10% 20% 30% 40% 50% 60% 70% 80% 90% 100%
zu Nachhaltigkeit und einer Ideologisierung und
sachfremden Politik wahrgenommen. Auch wird ein         Abb. 9     Wichtigste Risiken der Unterkategorie »generelle ökonomische Ineffizienzen«
fehlendes physikalisches Verständnis der Elektrizi-     (39%)
tät bemängelt, was zu Fehleinschätzungen führe.
Die kostendeckende Einspeisevergütung kanalisie-
re Investitionen unbefriedigend (18 %).
                                                         Ideologisierung und sachfremde Politik
   Die nicht gelöste Entsorgungsproblematik von            Zunehmende Auflagen und Abgaben
Nuklearabfällen sprechen 9 % der Interviewten an.                                         KEV
Immer mehr Regulierungen wie etwa die Auflagen                                                     0% 10% 20% 30% 40% 50% 60% 70% 80% 90% 100%
der Wasserkraftwerke, Renaturierungen, Wasser-
zinsen u.a. (21 %) und die Einschränkungen im Bau
fossiler Kraftwerke durch die geltende CO2-Kom-         Abb. 10     Wichtigste Risiken der Hauptkategorie »Nachhaltigkeit und Umwelt« (48 %)

06/2010                                                                                                                                     zfo | 395
Füh r un g                       R isike n d e r S chweizer Elektrizitätswir tschaf t

                                                                                                    branche sei risikobehaftet (52 %): Partikularinter-
                   Partikulatinteressen der Versorger                                               essen stünden oft im Vordergrund. Die Einstellung
                               Einsprachen vom Volk
                                 Öffentlichkeitsarbeit
                                                                                                    der Bevölkerung: »Wir in der Schweiz können uns
 Fakultatives Referendum: Bau neuer Kernkraftwerke                                                  alles leisten«, wird als Gefahr für die Entwicklung
                       Reputation der Strombranche                                                  der Elektrizitätsversorgung gesehen (6 %).
                                      NIMBY-Haltung 
                                                     0% 10% 20% 30% 40% 50% 60% 70% 80% 90% 100%
                                                                                                      Maßnahmen zur Verringerung der Risiken

Abb. 11 Wichtigste Risiken                   pensationsregelung der Schweiz (3 %) gelten als        Bei fast allen Befragten war nach der Frage »Was
der Hauptkategorie »direkte                  weitere Risiken für die Elektrizitätswirtschaft.       wird getan, um diese Risiken zu verringern?«, eine
Demokratie und soziale                                                                              längere Pause beobachtbar. Oft wurde anschlie-
Akzeptanz« (79 %)                               Direkte Demokratie und soziale Akzeptanz            ßend laut gedacht und nach Maßnahmen gesucht.
                                                                                                    Einige nannten Wünsche und machten Vorschläge,
                                             Die Schweizer Bürger verfügen in der direkten De-      was zu tun wäre. Hier zeigte sich ein weiterer Vorteil
                                             mokratie über weitgehende Mitbestimmungsrech-          der gewählten Interviewtechnik: Die spontanen Re-
                                             te. Der sozialen Akzeptanz kommt daher eine wich-      aktionen der Befragten konnten ebenfalls ausge-
                                             tige Bedeutung zu. 79 % der Befragten sehen eine       wertet werden.
                                             mangelnde Akzeptanz des Themas »Elektrizität« in         52 % der Befragten sind der Meinung, dass nicht
                                             der Gesellschaft (vgl. Abb. 11).                       viel oder gar nichts getan werde, um die Risiken zu
                                                Das fakultative Referendum gefährde den Bau         reduzieren. Nur 6 % der Befragten erwähnten ein
                                             der neuen Kernkraftwerke (30 %). Die Positionie-       funktionierendes Risikomanagement. Die Inter-
                                             rung der Branche und die Öffentlichkeitsarbeit wer-    viewten nahmen insgesamt 80 verschiedene Risi-
                                             den bemängelt (33 %): Das Vorgehen, drei separate      ken wahr und sahen 20 risikomindernde Maßnah-
                                             Kernkraftwerkprojekte zu präsentieren – obwohl         men (vgl. Abb. 12).
                                             nur zwei Projekte bewilligt werden – wird beispiels-     42 % der Befragten erkannten risikomindernde
                                             weise als »ungeschickt« bezeichnet. Nur 9 % sehen      Maßnahmen zum Thema »Versorgungssicherheit«:
                                             ein Risiko, dass durch nukleare Unfälle die geplan-    Die Branche trage durch geografische und technolo-
                                             ten Anlagen nicht gebaut werden. Das fakultative       gische Diversifikation und ihre Investitionsbereit-
                                             Referendum für die Einführung der zweiten Hälfte       schaft zur Versorgungssicherheit bei (36 %). Auch
                                             der Liberalisierungsphase bedeutet für 9 % der Be-     die Förderung der erneuerbaren Energien wird als
                                             fragten ein Risiko.                                    Diversifikationsmaßnahme gesehen (6 %). Die Vier-
                                                Regional zu erteilende Baubewilligungen für         Säulen-Strategie15 des Bundesrats und dessen Ener-
                                             Übertragungsleitungen können vom Volk über Ein-        gie-Außenhandelspolitik (18 %) sowie die Effizienz-
                                             sprachen lange hinausgezögert oder gar verhindert      maßnahmen der Kantone reduzieren gemäß (18 %)
                                             werden (39 %). Eine NIMBY »Not-In-My-Backyard«-        der Befragten das Risiko einer unsicheren Versor-
                                             Haltung ist in der Schweizer Bevölkerung auszuma-      gung. Die Versorgungspflicht (3 %) und die Aktien-
                                             chen (15 %): Man möchte alle Sicherheiten und Vor-     mehrheit des Staates (6 %) werden als solche risiko-
                                             teile, ist jedoch nicht bereit, Einschränkungen da-    mindernde Maßnahmen betrachtet, technologische
                                             für in Kauf zu nehmen. Risikobehaftet sehen die        Entwicklungen jedoch nur von einem Befragten.
                                             Befragten die emotionale Kommunikation von Un-         Blackouts würden die Bereitschaft zur Stärkung des
                                             fällen, insbesondere von nuklearen Zwischenfällen      Elektrizitätssystems erhöhen (3 %).
                                             (9 %). Blackouts werden als geringes Risiko (6 %)        Im Bereich »Liberalisierung und generelle ökono-
                                             wahrgenommen.                                          mische Ineffizienzen« ist die Klärung der Rahmenbe-
                                                »Strom« sei ein unbeliebtes Thema, sagen 30 %;      dingungen durch die ElCom für 9 % der Befragten ri-
Abb. 12 In welchen Haupt-                    der Grund sei ein Reputationsproblem der Branche.      sikomindernd wie auch die weitere Arbeit an den
kategorien erfolgen Maßnah-                  Noch immer scheint das Image der arroganten, sich      Rahmenbedingungen des Marktes (6 %). Der zuneh-
men, um die Risiken                          bereichernden »Strombarone« vorzuherrschen.            mende Druck der EU und die globale Debatte im Aus-
zu mindern?                                  Auch der Umgang innerhalb der Elektrizitäts­           land werden als unterstützend betrachtet (je 3 %).
                                                                                                    Die Trennung von Produktion und Netzen schaffe
                                                                                                    Transparenz und sei effizienzfördernd (3 %). Für die
                  Keine Maßnahmen ersichtlich                                                       Konsumenten war das im Dezember 2008 sehr er-
                         Versorgungssicherheit                                                      folgreiche Industrie-Lobbying risiko­mindernd (12 %).
 Liberalisierung und ökonomische Ineffizienzen
                    Nachhaltigkeit und Umwelt
                                                                                                    Handelsrisiken werden für 3 % durch Beschränkun-
     Direkte Demokratie und soziale Akzeptanz                                                       gen der Kapitalverflechtungen reduziert.
                                                   0% 10% 20% 30% 40% 50% 60% 70% 80% 90% 100%        Maßnahmen der Risikoreduktion zum Thema
                                                                                                    »Nachhaltigkeit und Umwelt« wurden nicht ge-

396 | zfo                                                                                                                                         06/2010
R isike n d e r S chwe izer Elektrizitätswir tschaf t                                                            Führung

nannt. Im Bereich »direkte Demokratie und soziale
Akzeptanz« erkennen 36 % der Befragten Maßnah-
men zur Aufklärung der Bevölkerung mit Kommuni-

                                                                 Zufriedenstellende Bedürfnisse
kationskampagnen. Der demokratische Prozess
allgemein (18 %) und die Kommunikation der Kan-                                                             5. Soziale
tone mit dem Bund und den Geschäftsleitungen der                                                            Akzeptanz
Versorger (6 %) trügen dazu bei.
                                                                                                         4. Nachhaltigkeit
   Das Verhalten der Experten im Interview und auch
                                                                                                            und Umwelt
ihre Aussagen lassen darauf schließen, dass sie in
Bezug auf den Umgang mit den Risiken wie gelähmt                                                     3. Ökonomische Effizienz
sind. So werden wiederum Entwicklungen und inno-
vative Ansätze blockiert. Einige Gesprächspartner

                                                              Bedürfnisse
drückten dies auch direkt aus und sprachen von ei-                                                   2. Versorgungssicherheit

                                                                Defizit-
nem gedämpften, nebulösen Bild, in dem Lustlosig-
keit herrsche und von einem spiralförmigen Prozess,                                               1. Zugriff auf nutzbare Energie
von dem man nicht wisse, wie man ihn beenden kön-
ne. Das Wort »Unsicherheit« konnte in allen Inter­
view­abschriften 24 Mal gezählt werden.
                                                       gefährdet – eigentlich weniger wichtige Bedürfnis- Abb. 13 Energiepolitische
                                                       se, die auf den oberen Stufen der Maslow-Pyramide Entscheidungspyramide
  Management von Risiken                               stehen. Nur geringe 9 % der Befragten nannten bei-
                                                       spielsweise das Risiko, dass durch Vorfälle in Nuk-
Den vielen Risiken stehen wenige risikomindernde       learkraftwerken die neuen Kraftwerke nicht gebaut
Maßnahmen gegenüber. 52 % der Befragten erken-         würden. Jedoch sehen 30 % ein hohes Risiko in ei-
nen keine oder zu wenig risikoreduzierende Aktivi-     ner Volksabstimmung. Das Vertrauen der Experten
täten, das Risikomanagement in der Schweizer           in die Technologie scheint wesentlich höher zu
Elektrizitätswirtschaft ist demnach ungenügend.        sein, als in die Wähler.
   Beobachtungen energiepolitischer Entscheidun-         Folgende Aussage verdeutlicht dies zusätzlich:
gen anderer Staaten zeigen, dass eine sichere Ver-     »… durch die Diskussionen werden die Bewilligun-
sorgung des Landes vor Themen wie ökonomische          gen so lange verzögert, dass zwischen dem tech-
Effizienz, Nachhaltigkeit und gesellschaftliche Ak-    nisch notwendigen Abschalten alter Kraftwerke so-
zeptanz debattiert wird.16                             wie dem Bau und der Inbetriebnahme der Ersatz-
   Das Modell von Frei ist eine Analogie zur Bedürf-   kraftwerke eine langjährige Lücke entsteht, wäh-
nispyramide von Maslow17, die allerdings in der Or-    rend der die Versorgung infrage gestellt ist…«. Ei-
ganisationslehre kaum mehr akzeptiert wird.18 Sie      gentlich müsste jeder mündige Bürger einer sol-
liefert aber einen einfachen Bezugsrahmen zur Dis-     chen Argumentation folgen können.
kussion der Risiken und des Risikomanagements in         Folgende Erklärungen bieten sich an:
der Elektrizitätswirtschaft. Die Maslow-Pyramide       • Eine unmittelbare Erfahrung im Umgang mit Kraft-
legt nahe, dass höher geordnete Bedürfnisse erst          werk-Neubauten bringen weder Bürger noch am-
Beachtung finden, wenn untergeordnete Bedürf-             tierende Manager und Politiker mit. Die Langfris-
nisse befriedigt sind. Die Beobachtungen von Frei         tigkeit sowohl des Baus wie auch des Betriebs
resultieren in der Hypothese, dass die Versorgungs-       von Kraftwerken (und auch Netzen) übersteigt ge-
sicherheit entscheidend ist.                              wöhnliche Entscheidungserfahrun­
   Man würde in einem weit entwickelten Land wie          gen. Die Laufzeit ist wesentlich län-    Maslow’sche Bedürfnispyramide
der Schweiz erwarten, dass die Grundbedürfnisse           ger als die Amtszeit eines Politikers    In der Bedürfnispyramide von Maslow sind
(unten in der Pyramide) in der Energiepolitik ge-         oder Managers. Das letzte Nuklear-       die Bedürfnisse des Menschen hierarchisch
deckt sind und dass die Diskussionen mehrheitlich         kraftwerk wurde in der Schweiz vor       geordnet. Unten finden sich die physio­
die oberen Stufen der Pyramide beleuchten. Über-          rund 25 Jahren gebaut und die Geset-     logischen Bedürfnisse, dann folgen Bedürfnisse
raschend zeigt die Umfrage jedoch, dass alle              ze haben sich seither geändert.          nach Sicherheit und Wertschätzung. Ganz oben
Schweizer Experten ein Risiko in der zukünftigen       • Viele Bürger glauben den Experten         in der Pyramide steht das Bedürfnis nach
                                                          und Stromkonzernen nicht. Emotio-        Selbstverwirklichung. Maslow zufolge wird
Versorgungssicherheit sehen – auf der zweiten Stu-
                                                                                                   ein höheres Bedürfnis erst dann befriedigt,
fe der Pyramide –, obwohl die technischen Voraus-         nale Grundhaltungen erzeugen Vor-
                                                                                                   wenn ein unteres Bedürfnis befriedigt ist.
setzungen dafür längst gegeben sind.                      stellungen, dass mit Energiesparen
                                                                                                   Allerdings wird diese Theorie in der modernen
   Die Interviewten sehen die Versorgung durch den        oder mit erneuerbaren Energien die       Organisa­tionslehre normalerweise kaum
direkt-demokratischen Prozess, die soziale Akzep-         Versorgungssicherheit zu gewähr-         noch akzeptiert.
tanz und die Diskussionen um die Nachhaltigkeit           leisten sei.

06/2010                                                                                                                                   zfo | 397
Füh r un g   R isike n d e r S chweizer Elektrizitätswir tschaf t

                    • Politiker und Stromkonzerne sind nicht über-                      ge eigene Produktion sehr wohl einer sehr teu-
                      zeugt, dass die Bürger ihnen glauben werden.                      ren Versorgung entgegen.
                      Das Vertrauen in den politischen Prozess scheint
                      zu fehlen. In der Umfrage äußerte sich ein Drittel             Auffallend hoch sind für die Befragten die Risiken,
                      der befragten Politiker positiv über den Verlauf               die aus der Einführung der neuen Marktordnung re-
                      des politischen Prozesses, während die Versor-                 sultieren. Die Schweizer Regierung gab in der Zwi-
                      ger diesen vor allem kritisieren und als Risiko                schenzeit auch bekannt, dass die Regulierungen
                      wahrnehmen.                                                    überarbeitet werden sollen.
                    • Die Bereitschaft zu radikalen Änderungen ist bei                 In der Schweiz ist das Verständnis für die zukünfti-
                      den Betroffenen – den Versorgern und Großkon-                  ge Versorgungsproblematik ungenügend. Das Exper-
                      sumenten – nicht vorhanden. Sie halten am Bau                  tenwissen ist primär in der Strombranche vorhan-
                      von Großanlagen fest. Alternative Lösungen wur-                den. Die Umfrage zeigt, dass nach der Planung von
                      den in den Gesprächen selten genannt. Es ist                   Produktionskapazitäten Maßnahmen zur Aufklä-
                      jedoch wahrscheinlich, dass die Schweiz als                    rung und zur Wissensvermittlung in der Politik und
                      Stromdurchgangsland geringe Versorgungspro-                    bei den Wählern eine äußerst wichtige Aufgabe sein
                      bleme haben wird. Sie sieht jedoch ohne günsti-                werden.

                          Zusammenfassung                                                Summary

                        Eine repräsentative Umfrage bei Entscheidungsträgern           A representative survey among experts and decision-
                        im Umfeld der Schweizer Elektrizitätswirtschaft vom            makers in the Swiss electricity sector in summer 2009
                        Sommer 2009 zeigt, dass die Stromversorgung der                shows that Switzerland will face insecurity in energy
                        Schweiz zukünftig nicht gesichert ist, wenn Risiken            supply if risks are not managed successfully. The same
                        nicht erfolgreich gemanagt werden. Dieselben Exper-            experts identify an insufficient Risk management. The
                        ten halten das heutige Risikomanagement für mangel-            discussion shows that communication and education
                        haft. In der Diskussion wird klar, dass Aufklärung und         are necessary to solve the dilemma. Switzerland
                        Kommunikation unabdingbar sind. In der Schweiz                 seems to lack a clear and common understanding of
                        scheint ein klares gemeinsames Verständnis zum The-            the security energy supply topic. This leads to pseudo-
                        ma »Versorgungssicherheit« zu fehlen. Dies führt zu            discussions about technologies and to misjudgments
                        Scheindiskussionen über Technologien und zu Fehl-              of citizens and politicians.
                        einschätzungen bei Bürgern und Politikern.

                    Anmerkungen                                                         mildert damit die Strompreiserhöhungen deutlich ab
                    1    Vgl. Maslow, A.: A theory of human motivation.                 (09.03.2009).
                         In: Psychological Review, 1943, Nr. 50, S. 370–396.         10 Literaturübersicht: Es gibt wenig nicht technische,
                    2    Vgl. Schweizerische Bundesverfassung Art. 89 Abs. 1.,          wissenschaftliche Literatur zum Schweizer Elektrizitäts-
                         Energiegesetz Art. 4 Abs. 2., Energiegesetz Art. 6a            markt. Vier Publikationen sind für einen Teilaspekt
                         Abs. 1.                                                        der vorliegenden Studie interessant: Sie analysieren
                    3    Vgl. www.admin.bfe.ch: Themen und Energie­                     das größte Risiko der Schweizer Elektrizitätswirtschaft,
                         statistiken, Elektrizitätsstatistik, Schweizer                 die Versorgungssicherheit, und betrachten das zu­
                         Elektrizitätsstatistik 2008.                                   künftige Produktionsportfolio genauer.
                    4    Vgl. www.drs3.ch/nachrichten/Schweiz: Darin heißt es,          Ochoa sowie Ochoa und Ackere diskutieren Szenarien
                         die Stromlücke sei weniger akut als angedroht                  eines Ausstiegs der Schweiz aus der Kernenergie und
                         (6.10.2009).                                                   dessen Auswirkungen auf Importe und Exporte. Ochoa,
                    5    Vgl. www.bfe.admin.ch/Themen/Energierecht und                  P.: Policy changes in the Swiss electricity market:
                         Wasserrecht: Kernenergiegesetz und Kernenergiever-             Analysis of likely market response. In: Socio-Economic
                         ordnungen.                                                     Planning Sciences, 2007, Nr. 41, S. 336–349; Ochoa, P./
                    6    Fakultatives Referendum: Es kommt zu einer Volks­              Ackere, van A.: Policy changes and the dynamics
                         abstimmung, falls dies 50.000 Bürger und Bürgerinnen           of capacity expansion in the Swiss electricity market.
                         verlangen. Die Unterschriften müssen innerhalb von             In: Energy Policy, 2009, Nr. 37, S. 1983–98.
                         100 Tagen nach der Publikation des Erlasses vorliegen.         Aus ihrer Studie folgt, dass die Schweiz politisch und
                         Vgl. www.bk.admin.ch/Dokumentation                             technologisch nicht bereit ist, ihre 40 %-Kapazität aus
                    7    Vgl. Wohlfahrtstätter, C./Boutellier, R.: Die Strommarkt-      Kernenergie zu ersetzen, ohne auf Gaskombikraftwerke
                         liberalisierung kommt und keiner geht hin. In: io new          zurückzugreifen. Diese teure Stromproduktion bekäme
                         management, 2009, Nr. 1–2, S. 39–43.                           Konkurrenz von Importen aus Tiefpreisländern, was den
                    8    Vgl. www.bfe.admin.ch/Themen/Stromversorgung                   Aufbau eigener Kapazitäten verhindern könnte.
                         Stromversorgungsgesetz (Strom VG).                             Jegen und Wüstenhagen veranschaulichte die Einstel-
                    9    Vgl. www.elcom.ch/Neues Die ElCom senkt die Tarife             lung von Schlüsselpersonen zum Portfolio-Mix der
                         2009 des Stromübertragungsnetzes um rund 40 % und              Schweiz aus einer standardisierten Umfrage bei

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R isike n d e r S chwe izer Elektrizitätswir tschaf t                                                   Führung

   250 Schweizer Schlüsselpersonen der Elektrizitäts­              SPS – Soziale Partei Schweiz, Wähleranteil: 21,5 %, CVP
   wirtschaft: Es herrschte eine breite Akzeptanz für die          – Christliche Volkspartei Wähleranteil: 15,5 %, FDP –
   Wasserkraft-Technologien, für Energieeffizienz und              Freisinnig-demokratische Partei: Wähleranteil: 15,5 %,
   auch für Gaskombikraftwerke. Ein großes Fragezeichen            GPS – Grüne Partei, Wähleranteil: 10 %.
   wurde hinter die Kernkraft gesetzt und auch Windkraft           In: www.parlament.ch/Dokumentation
   war umstritten. Jegen, M./Wüstenhagen, R.: Modernise       13   Vgl. Lamnek, S: Qualitative Sozialforschung, München/
   it, sustainabilise it! Swiss energy policy on the eve           Weinheim 2005.
   of electricity market liberalisation. In: Energy Policy,   14   Vgl. Mayring, P.: Neuere Entwicklungen in der
   2001, Nr. 29, S. 45–54.                                         qualitativen Forschung und der Qualitativen Inhalts-
   Eine neuere Studie von Roth untersucht den zukünfti-            analyse, Weinheim 2005.
   gen Produktionsmix des größten Schweizer Versorger-        15   Vgl. www.news.admin.ch/messages Der Bundesrat
   Konzerns Axpo unter Einbezug von 85 Mitarbeitern: Die           beschließt eine neue Energiepolitik.
   erneuerbaren Energien waren prioritäre Wahl. Roth, S.      16   Vgl. Frei, C. W: The Kyoto Protocol – a victim of supply
   et al.: Sustainability of electricity supply technology         security? Or: if Maslow were in energy politics.
   portfolio. In: Annuals of Nuclear Energy, 2009, Nr. 36,         In: Energy Policy, 2004, Nr. 32, S. 1253–1256.
   S. 409–416.                                                17   Vgl. Maslow: a. a. O.
11 Vgl. www.admin.bfe.ch Energiestatistiken, Schweizer        18   Vgl. Wahba, A./Bridgwell, L: Maslow verunsichert.
   Elektrizitätsstatistik 2008.                                    In: Organisational Behaviour and Human Performance,
12 SVP – Schweizerische Volkspartei, Wähleranteil: 31 %,           1976, Bd. 15, H. 2, S. 212–240.

   Dr. sc. ETH Claudia Wohlfahrtstätter                            Prof. Dr. sc. math. Roman Boutellier
   Department of Managment, Technology,                            Department of Managment, Technology,
   and Economics Chair of Technology and Innovation                and Economics Chair of Technology and Innovation
   Management, ETH Zürich                                          Management, ETH Zürich
   cwohlfahrtstaetter@ethz.ch                                      rboutellier@sl.ethz.ch

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