Rosen-Regen HERZTÖNE - KONZERTE ZUR SAISONERÖFFNUNG MI 15. SEP 2021 | 19.30 UHR KULTURPALAST - Dresdner Philharmonie

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HERZTÖNE — KONZERTE ZUR SAISONERÖFFNUNG

Rosen-Regen
MI 15. SEP 2021 | 19.30 UHR
KULTURPALAST
KONZERTE ZUR
SAISON-
ERÖFFNUNG

10.-12. SEP 2021
BEETHOVEN
MAREK JANOWSKI | Dirigent
MARÍA DUEÑAS | Violine
DRESDNER PHILHARMONIE

13.-15. SEP 2021
SCIARRINO
(ek)statisch –
Sciarrino im Kontext
Skrjabin, Feldman,
B. A. Zimmermann, Sciarrino

Wege zu Sciarrino
Schubert, Debussy, Ravel

Uraufführung
Auftragswerk ›150 Jahre
Dresdner Philharmonie‹
Vanitas – Musikalisches Stillleben

18./19. SEP 2021

MAHLER

STANISLAV KOCHANOVSKY |
Dirigent
DRESDNER PHILHARMONIE
PROGRAMM

           Salvatore Sciarrino (* 1947)
           »Vanitas« – Stilleben in einem Akt für Stimme, Violoncello und Klavier (1981)
           Introduzione – »Rosa« (Die Rose) –
           »Marea di rose« (Meer von Rosen) –
           »L’eco« (Das Echo) –
           »Lo specchio infranto« (Der zerbrochene Spiegel) –
           »Ultime rose« (Letzte Rosen)

           Noa Frenkel | Mezzosopran
           Martina Schucan | Violoncello
           Florian Hoelscher | Klavier

           PAUSE

           Salvatore Sciarrino
           »Piogge diverse« (Regen verschiedener Art) – Fünf Gesänge für Bariton
           und großes Orchester
           1. »Polvere, assetata sorella del fango« (Staub, durstige Schwester
               des Schlamms), Text: Matsuo Basho
           2. »Pioggia di sole« (Sonnenregen), Text: nach Aischylos
           3. »Piovono fiori« (Blütenregen), Text: nach Ghirlanda
           4. »Gocce di mercurio dal cielo«, Quecksilbertropfen vom Himmel
               (Text: Salvatore Sciarrino)
           5. »Harusame« (Text: Epigraph aus Ugento)

           (Kompositionsauftrag zum 150-jährigen Jubiläum der
           Dresdner Philharmonie, Uraufführung)

           Emilio Pomàrico | Dirigent
           Michael Nagy | Bariton
           Dresdner Philharmonie
Jacob de Gheyn (1565 – 1629): »Vanitas« (1603)

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JENS SCHUBBE

Alles ist eitel

  Da macht ein Hauch mich von Verfall erzittern,
  Die Amsel klagt in den entlaubten Zweigen.
  Es schwankt der rote Wein an rostigen Gittern,
                                                    ihm immerwährende Aktualität.
  Indes wie blasser Kinder Todesreigen              An der Wende vom 16. zum 17. Jahr-
  Um dunkle Brunnenränder, die verwittern,          hundert, also am Übergang von
  Im Wind sich fröstelnd blaue Astern neigen.       der Renaissance zum Barock, be-
                                                    gann der Vanitas-Gedanke in den
So lauten einige todestrunkene Zeilen               europäischen Kulturen die Geistes-
aus einem »Verfall« überschriebenen           haltung der Menschen immer stärker
Gedicht von Georg Trakl, entstanden am        zu durchdringen. Nach den Wirren der
Vorabend des Ersten Weltkrieges. Es sind      Reformation und durch die rapide Zu-
Symbole und Bilder der Vergänglichkeit,       nahme naturwissenschaftlicher Erkennt-
die hier gereiht sind – und die haben in      nisse standen überkommene Glaubens-
der abendländischen Kunst- und Kultur-        gewissheiten in Frage. Epidemien,
geschichte eine lange Tradition.              wirtschaftliche Krisen und kriegerische
»Vanitas vanitatum« – »Alles ist eitel«,      Auseinandersetzungen – allen voran die
verkündet der Prediger Salomo im Alten        verheerende Katastrophe des Dreißigjäh-
Testament und entlarvt alle irdischen         rigen Krieges – taten ein Übriges, um die
Hoffnungen des Menschen, der unaus-           Menschen dem vergleichsweise stabilen
weichlich seiner eigenen Vergänglichkeit      Weltgefüge der Renaissance zu entreißen.
ausgeliefert ist, als Illusion. Hier findet   Der religiösen Sicherheiten wenigstens
der Vanitas-Gedanke, der die Nichtigkeit,     teilweise beraubt, konzentrierte sich der
Leere und Sinnlosigkeit menschlicher          barocke Mensch auf das Diesseits, war
Existenz meint, seine exemplarische Aus-      sich jedoch gleichzeitig der Endlichkeit
formung. Deren permanente Gefährdung          aller weltlichen Genüsse bewusst:
– sei es durch Kriege, Krankheiten, Hun-
gersnöte, Naturkatastrophen – sichert

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Das Mündlein von Korallen
                                                         Wird ungestalt,
                                                         Die Händ’ als Schnee verfallen,
                                                         Und du wirst alt.

                                                         Drum lass uns jetzt genießen
                                                         Der Jugend Frucht,
                                                         Eh’ dann wir folgen müssen
                                                         Der Jahre Flucht.

                                                       Das rät der deutsche Poet
                                                       Martin Opitz ganz im Geiste
                                                       seiner Zeit. Die hier anklin-
                                                       gende Spannung zwischen
                                                       Lebenslust und dem Bewusst-
                                                       sein der Hinfälligkeit spiegelt
                                                       sich in den Künsten des Barock
                                                       allenthalben in Motiven der
                                                       Vanitas wider. In der Malerei
                                                       stehen der Darstellung üp-
                                                       pigen Lebens Todessymbole
                                                       gegenüber – manchmal kaum
                                                       wahrnehmbar, dann wieder
                                                       ganz offenkundig. Man den-
    Michelangelo Merisi da Caravaggio (1571 – 1610):   ke an Caravaggios »Bacchino
    »Bacchino malato« (1593)

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malato«: Sein Bacchino ist ein junger,       Ebenso wie in der Malerei wird das The-
kräftiger Mann. Dessen Gesicht freilich      ma der Eitelkeit der Welt von der Litera-
ist von Blässe gezeichnet, die Augen         tur des Barock aufgenommen, und das –
fixieren den Betrachter glanzlos, matt und   wie an der Herkunft der von Sciarrino
voll Melancholie, sein Lächeln scheint       einbezogenen Autoren nachzuvollziehen
müde. Die Trauben in seiner Hand zeigen      ist – in ganz Mittel- und Westeuropa.
Spuren von Fäulnis; die Blätter, die sein    Auch hier wird ein Arsenal von Chiffren
Haupt umkränzen, beginnen zu welken.         ausgeprägt, sind es bestimmte wieder-
Zumal in der Stillebenmalerei jener Zeit     kehrende sprachliche Metaphern, die
werden vergleichbare mit symbolischer        in immer neuen Varianten aufgegriffen
Bedeutung versehene Objekte zu einem         werden, um die Vergänglichkeit des
ganzen Zeichenrepertoire entwickelt.         Irdischen zu umschreiben: Die welkende
Dazu gehören Blumen, Luxusgüter und          Blume, die brandende Welle, die verlö-
Machtinsignien, Spiegel als Sinnbilder       schende Flamme, das Echo, dessen Hall
irdischer Freuden und narzisstischer         kaum vernommen wieder verschwindet –
Selbstverliebtheit, denen Schädel,           das sind bezeichnende Topoi, die auch in
Sanduhren, Ungeziefer, zerbrochene           »Vanitas« aufscheinen.
Gegenstände, vergilbte Buchseiten oder
Manuskripte, verlöschende Kerzen,
Spuren der Fäulnis und des Verwelkens
als Symbole der Vergänglichkeit gegen-
übergestellt werden. Die pessimistische
Grundstimmung der Stilleben, das latent
Unheilvolle, wird oftmals durch dunkle
Farbtöne unterstrichen.

                                                                                         7
Liederzyklus und Musiktheater
    Sciarrinos »Vanitas«

    Pieter Claesz (1597 – 1661) : Vanitas-Stilleben mit Selbstportrait (1628)

    Sciarrinos »Vanitas«, komponiert 1981                                       Gesang ebenfalls um ein weiteres Solo-
    und am 11. Dezember des Jahres in der                                       Instrument (Klarinette bzw. Horn) erwei-
    Piccola Scala in Mailand uraufgeführt,                                      tert wurde.
    erinnert in seiner Anlage an einen Lieder-                                  Freilich haben diese Bezüge zu einer tra-
    zyklus. Die Besetzung mit Singstimme,                                       ditionellen musikalischen Gattung nichts
    Klavier und Violoncello lässt zudem an                                      oberflächlich Nostalgisches oder meinen
    Schuberts »Hirt auf dem Felsen« oder                                        ein »Zurück zu …«, sondern Sciarrino ver-
    »Auf dem Strom« denken – Gesänge, in                                        wandelt und verzaubert die historischen
    denen das traditionelle Duo Klavier und                                     Modelle. Ohne dass »Vanitas« mit einer

8
herkömmlichen Oper zu vergleichen             Herkunft noch zu erinnern vermöchten;
wäre – weder gibt es eine Handlung, noch      sie gleichen Trümmern einer längst
klar umrissene Protagonisten im Sinne         vergangenen Musik.
eines szenischen Spiels –, fügen sich die     Vergänglichkeit wird in »Vanitas« vorab
fünf Gesänge zu einer Folge korrespon-        im Verklingen erfahrbar. Jene Akkorde,
dierender Tableaux, wird der Raum, in         die den Klavierpart des ersten Gesanges
dem sich die Klänge entfalten, gleich-        durchziehen, verstummen durch suk-
sam zum tönenden Stillleben. Darüber          zessives Aufheben der Tasten von unten
hinaus aber spiegelt sich die Idee der        nach oben. Die langen Haltetöne, auf
Vanitas in den Strukturen der Musik. Das      denen die Singstimme das Wort »Rosa«
betrifft zunächst die zeitliche Dimension.    über viele Takte hinweg immer wieder
Zwar borgt sich »Vanitas« vom Lied die        wie traumverloren intoniert, verflüchti-
Intimität und den lyrischen Tonfall, aber     gen sich am Ende in einem absinkenden
dessen übliche zeitliche Grenzen werden       Melisma und in einer Lage, in der die
aufgehoben. So wie die Sonne vor ihrem        Stimme zum Hauch wird. Der Klang des
Untergang das Schattenbild eines              Cellos ist über weite Strecken zum Imma-
Baumes immer mehr vergrößert, bevor           teriellen, Irrlichternden hin verfremdet
es in der Dämmerung zergeht, wird in          und durch Flageoletts, Spiel am Steg oder
»Vanitas« die Zeit gedehnt. Die Musik         am Griffbrett sowie durch Verwendung
scheint kein Ziel zu kennen, sondern ihre     eines Dämpfers seiner Körperlichkeit be-
Bewegung ist die des Kreisens. Im ersten      raubt. Dieser Eindruck wird noch durch
Gesang, »Rosa«, werden Akkorde und            eine Dynamik verstärkt, die aus der Stille
melodische Floskeln – gleichsam die           kommt und in sie zurücksinkt. So wächst
Worte der musikalischen Sprache – aus der     der Musik insgesamt etwas Fragiles,
Syntax eines sogleich nachvollziehbaren       Gefährdetes zu. In solchem Kontext
Zusammenhangs gelöst, scheinen sie für        wirken die wenigen eingestreuten Fortis-
sich zu stehen und ein Eigenleben zu füh-     simo-Einwürfe umso schockierender für
ren. Erst das wiederholte Hören oder der      ein durch das ansonsten dominierende
Blick in die Partitur lassen erkennen, dass   Pianissimo sensibilisiertes Ohr. Im vierten
sich der dissoziierte Gesang strophischen     Gesang haben diese Momente fast visuelle
Strukturen zumindest ansatzweise fügt.        Qualitäten, als würde das Bild vom zerbro-
Die sanft dissonierenden Akkorde klin-        chenen Spiegel, das der Titel beschwört,
gen vertraut, ohne dass wir ihre genaue       ganz drastisch in Klang übersetzt.

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Ein Netz von Bezügen verbindet die fünf      Die Anamorphose ist eigentlich eine
     Gesänge. »Marea di rose« wird aus einer      Technik in der Malerei, bei der Gegen-
     chromatisch sinkenden Figur entwickelt,      stände perspektivisch verzerrt dargestellt
     die zuvor im ersten Gesang als kontras-      werden und nur bei der Betrachtung
     tierende Gestalt eingeführt worden war.      aus einem bestimmten, vorzugsweise
     »L’eco« setzt das im Titel benannte akus-    extremen Blickwinkel das enthüllen,
     tische Phänomen zum einen um, indem          was sie eigentlich darstellen. Innerhalb
     im Cello-Part die Melodik der Singstimme     dieses Satzes wird für einen Takt kurz vor
     teilweise imitiert wird. Zum anderen aber    Ende des Satzes vom Cello eine Gestalt
     werden in das von Arpeggien geprägte         zitiert, die Sciarrino in einem anderen,
     Klangband des Klaviers Passagen der          nur wenig älteren Werk benutzt hat: in
     ersten beiden Gesänge versenkt, deren        »Blue Dream«, einer Art szenischen Re-
     Floskeln zudem in Singstimme und Cello       vue, in der er 21 Songs aus der goldenen
     nachhallen. Der letzte Gesang gleicht        Ära von Musical und Film, bevorzugt aus
     einer überaus zarten Reminiszenz an den      den 1920er und 1930er Jahren, aufge-
     Beginn – Versuch der Bewahrung des Ver-      griffen und bearbeitet hat. Das erwähnte
     loschenen im Erinnern.                       Melodiefragment stammt aus der Nr. 13
                                                  von »Blue Dream«, einer Bearbeitung
     VERBORGENE DIMENSIONEN                       des Songs »Stardust« (Sternenstaub), der
     Jenseits des an der klanglichen Oberflä-     1927 von Hoagy Carmichael komponiert
     che unmittelbar Wahrnehmbaren enthält        und erst nachträglich von Mitchell Parish
     »Vanitas« gleichsam in die Tiefe führende    textiert wurde. Joachim Steinheuer, der in
     Dimensionen, auf die in zunächst rätsel-     seiner höchst aufschlussreichen Betrach-
     haft erscheinender Form verwiesen wird:      tung diese und andere Tiefendimensio-
     etwa durch manche der Motti, die den ein-    nen von »Vanitas« erkundet hat, verweist
     zelnen Teilen vorangestellt sind oder auch   zunächst darauf, dass der Songtext sich
     durch einen kryptisch erscheinenden          in manchen Zeilen mit der Gedankenwelt
     Titel. Der vierte Satz ist überschrieben:    von »Vanitas« berührt, um sodann auszu-
                                                  führen: »Doch übernimmt ›Vanitas‹ nicht
       Der zerbrochene Spiegel                    nur einzelne motivische Elemente aus
       (Sternenstaub)                             dem Text von ›Stardust‹, sondern ›Vanitas‹
       in dem sich die Anamorphose enthüllt       ist letztlich insgesamt selbst als eine Ana-
                                                  morphose von ›Stardust‹ zu verstehen,

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Hans Holbein der Jüngere: »Die Gesandten«, 1533. Bei den abgebildeten Personen handelt es sich um Jean
de Dinteville (links), und Georges de Selve (rechts), der bereits im Alter von siebzehn Jahren Bischof von
Lavaur geworden war. Beide waren 1533 französische Gesandte am Hof Heinrichs VIII. von England. »Zu den
verstörenden und ungeklärten Details innerhalb des Bildes müssen das matt silbrig glänzende Kruzifix links
oben sowie der zum Anamorph verzerrte Totenschädel gezählt werden. Der Totenschädel lässt sich nur
aus extremer Nahsicht von rechts nach links unten erkennen. Wahrscheinlich ist er einer Vanitas-Symbolik
zuzuschreiben, um zugleich jedoch als Augentäuschung die malerischen Fähigkeiten zu unterstreichen.
Das Kruzifix hingegen verweist in Zeiten der Religionskonflikte auf den heilsgeschichtlichen Kern der
christlichen Botschaft und mag angesichts der wissenschaftlichen Attribute zur Einheit des Christentums
mahnen. Auffällig ist auch, dass ein katholischer Bischof sich mit einem Gesangbuch mit Lutherliedern
abbilden ließ.« (Wikipedia)

                                                                                                             11
als eine durch Einbeziehung zahlreicher        Damit spielt Steinheuer auf jene für
     zusätzlicher Elemente enorm ausgewei-          »Vanitas« so charakteristischen verstum-
     tete und fast bis zur Unkenntlichkeit per-     menden Akkorde an, die Schattenbildern
     spektivisch veränderte Bearbeitung des         rauschender Arpeggien gleichen. Die auf
     zugrunde liegenden Songs, der paradoxer        »Stardust« zurückgehenden Prägungen
     Weise ständig präsent und doch zumin-          spielen bis auf den einen erwähnten Takt
     dest auf der Oberfläche abwesend bzw.          allerdings im vierten Satz von »Vanitas«
     weitgehend unkenntlich ist.« Bezogen           ansonsten keine Rolle – dafür aber in
     auf das zitierte Melodiefragment heißt es:     den Sätzen 1, 3 und 5. Im vierten Satz
     »Dies ist jener Moment, ›ove si svela l’ana-   aber greift Sciarrino dennoch auf älteres
     morfosi‹, wo also die Anamorphose in ih-       Material zurück, nämlich auf eine Szene
     rer rätselhaften Verstellung enthüllt wird.    seiner Oper »Cailles en sarcophages«, in
     Die Stelle korrespondiert dabei im ganz        der Teile des Gedichts »Le contre-chant«
     anders gearteten, zeitlich verlaufenden        aus »Le Fou d’Elsa« von Louis Aragon
     Medium der Musik jenem einen Blick-            vertont wurden. Diese Vertonung wurde
     punkt, von dem aus eine bildnerische           von Sciarrino aus der Oper herausgelöst
     Anamorphose allein dasjenige eindeutig         und unter dem Titel »Canto degli spec-
     zu erkennen gibt, was sie in normaler An-      chi« (Gesang von den Spiegeln) zu einem
     sicht nur in stark verzerrter Perspektive      eigenständigen Werk für Klavier und Ge-
     darstellt. Auch wenn die Melodie ansons-       sang umgearbeitet. Ähnlich wie im Falle
     ten nicht direkt erklingt, so ist dennoch      von ›Stardust‹ gibt es einige Analogien
     ›Stardust‹ über weite Strecken präsent         zwischen Aragons Text und der Bilder-
     in ›Vanitas‹, denn Sciarrino übernimmt         welt von »Vanitas«. Freilich übernimmt
     die von ihm in ›Blue Dream‹ zur Melodie        Sciarrino aus dem »Canto degli specchi«
     hinzukomponierte Begleitung im Klavier,        nur die Musik und verbindet sie mit
     die damit gleichsam als eine ›forma            einem ganz anderen Text, der bestenfalls
     negativa‹ die Leerstelle der nicht selbst      auf indirekte Weise mit Aragons Gedicht
     erklingenden, aber durch die Begleitung        korrespondiert. Das Sonett-Fragment von
     indirekt präsenten Melodie andeutet.«          Jean de Sponde, das Sciarrino benutzt,
                                                    beschwört das Bild einer verlöschenden
                                                    Fackel, ohne deren Licht auch das Bild,

12
das sie beleuchtet, nicht mehr wahrzu-       Der Titel des zweiten Teils, »Meer von Ro-
nehmen ist. In Aragons Text ist hingegen     sen«, verkoppelt die ersten beiden Gesän-
das Motiv des Spiegels zentral:              ge miteinander, hat mit dem eigentlich
                                                           vertonten Textfragment
  Der Unglückliche bin ich den Spiegeln zu vergleichen     nur in der vagen Korres-
  Die reflektieren zwar jedoch nicht sehen können          pondenz von »Meer« und
                                                           »Sintflut« etwas zu tun.
Darauf verweist bei Sciarrino nur noch       Im dritten Teil scheinen die Elemente der
der Titel »Der zerbrochene Spiegel«, der     ersten beiden Teile wieder auf, gelegent-
als sprachliches Bild ein Vanitas-Motiv      lich unmittelbar oder aber in transfor-
beschwört und gleichzeitig in verrätselter   mierter Form. Die durch den Tonraum
Form einen Hinweis darauf gibt, dass         jagenden Quintarpeggien sind mit den
dieser Gesang auf Bruchstücken eines         verlöschenden Akkorden des ersten Teils
älteren Werkes gegründet ist.                verwandt. Die Sforzato-Akkorde des
Aber zurück zu den aus »Stardust« ent-       ersten und zweiten Teils korrespondieren
lehnten Elementen, also insbesondere         mit jenen eigentümlichen Echo-Klängen,
zu jenen gleichsam von der Stille auf-       die erzeugt werden, indem die Tasten
gesogenen, verlöschenden Akkorden. Sie       stumm niedergedrückt und die Saiten
dominieren die beiden großformatigen,        nur vermittels des Pedals zum Resonie-
»Vanitas« eröffnenden und beschließen-       ren gebracht werden. Das Phänomen des
den Teile.                                   Echos, das der Titel des Satzes beschwört,
Jenes Motiv aus Sforzato-Akkord und          wird so unmittelbar Klang. Sciarrino ver-
chromatischer Figur, das im ersten Teil      schränkt hier zwei Texte ineinander: die
als kontrastierender Einwurf erstmals        Bruchstücke aus Giambattista Marinos
exponiert war, wird im zweiten Teil zum      Gedicht beziehen sich auf die mythische
beherrschenden Element. Auch diese           Nymphe Echo, die von Jupiter den Auf-
Gestalt geht auf »Blue Dream« zurück,        trag erhalten hatte, seine Gemahlin Hera
nämlich auf Sciarrinos eigene Klavierbe-     durch das Erzählen von Geschichten
gleitung zu Cole Porters Song »Night and     abzulenken, so dass er ungestört seinen
Day«, der Nummer 3 der Revue, in der         Liebesabenteuern nachgehen konnte
diese Figur nur einmal auftaucht.            und die dafür von Hera bestraft wurde,

                                                                                          13
indem sie nicht mehr selbst sprechen,        ›Second Hand Rose‹ trägt. Die Rose aus
     sondern nur noch die letzten Worte           Clarkes Songtext verbindet nur ihr Vor-
     wiederholen konnte, die von anderen          name mit der in ›Vanitas‹ emblematisch
     an sie gerichtet wurden. Das mit die-        für Vergänglichkeit stehenden Blume,
     sem Text verschränkte Gedicht Robert         doch dürfte die Zeile vor dem Hinter-
     Blairs spielt auf den Klang einer Glocke     grund des Gedichtinhalts wohl dafür
     auf einem nächtlichen Friedhof an, die       stehen, dass ähnlich wie im Leben von
     unberührt zu tönen beginnt – gleichsam       Rose auch in ›Vanitas‹ und besonders in
     Widerhall der in die Sphäre des Todes        diesem dritten Teil musikalisch alles aus
     Verbannten. Dieser Glockenklang hallt in     zweiter oder dritter Hand ist. Doch wäh-
     den oben erwähnten Schattenakkorden          rend Rose mit ihrem Schicksal hadert,
     wider. Insgesamt aber ist der Satz darüber   sind die Second-Hand-Rosen in ›Vanitas‹
     hinaus als Echo des in den ersten beiden     das Ergebnis einer gezielten komposito-
     Gesängen Erklungenen zu verstehen, die       rischen Entscheidung. [… ] Dies zeigt sich
     wiederum Nachhall der Songs aus »Blue        gerade in den vielen Umdeutungen des
     Dream« sind. Das Motto, das dem Gesang       verwendeten musikalischen Materials in
     voran steht – »That’s why they call me       diesem dritten Teil besonders deutlich.«
     Second Hand Rose« – nimmt einerseits         (Joachim Steinheuer)
     ein zentrales Motiv der beiden voran-
     gegangenen Gesänge auf und mischt
     gleichzeitig eine ironische Brechung ein:
     Die Worte stammen aus Grand Clarkes
     Text zu dem Song »Second Hand Rose«
     von James F. Hanley, den Sciarrino eben-
     falls in »Blue Dream« bearbeitet hatte:
     »Der Text erzählt von der Tochter eines
     Second-Hand-Ladenbesitzers namens
     Rose, die sich über ihr Schicksal beklagt,
     nur Gebrauchtes und nie etwas Neues zu
     bekommen, von den Kleidern über die
     Locken bis hin zu dem Installateur Jake,
     der schon einmal verheiratet war, wes-
     halb sie den leicht spöttischen Beinamen

14
Hendrik Andriessen (1607 – 1655) oder David Bailly (1584–1657): Vanitas mit einem
Schädel und einem Jungen, der ein Portrait des Malers hält.

                                                                                    15
SALVATORE SCIARRINO

     Kommentar zu »Vanitas«

     Vanitas ist ein Wort, das wir gewohnheits-   nicht in unserer Wahrnehmung und in
     mäßig benutzen. Dennoch haben wir            den Weisen, sie darzustellen. Auf Grund
     seine Bedeutung vergessen. Mit Mühe er-      dessen können auf der illusionshaften
     kennen wir es als das nämliche Wort aus      Oberfläche der Töne einige Erinnerungen
     dem alttestamentarischen Buch Koheleth       zu Tage treten: die abendlichen Grillen,
     wieder. Und das lateinische Wörterbuch,      das Ticken einer alten Pendeluhr, das
     mit dem wir nicht mehr vertraut sind,        Zerbrechen von Gläsern, eine entfernte
     überrascht uns: Vanitas heißt Leere. Mit     Flöte und anderes: alles Dinge, die die
     demselben Wort wird (im Italienischen)       Zeit hat vergehen lassen.
     zudem eine Gattung von Gemälden mit          Vanitas gravitiert im Leeren, nicht nur
     starker allegorischer Aufladung bezeich-     wegen der Ausdünnung der Musik selbst,
     net [die im Deutschen Stillleben genannt     sondern auch weil der Begriff der Leere,
     wird]. Eine solche Gattung gemahnte an       um es so auszudrücken, dort in der
     das Verfließen der Zeit und die Hinfällig-   Realisierung der Einzelmomente wider-
     keit der Dinge. In Italien sprechen wir      gespiegelt ist.
     auch von »natura morta«.                     Die Anwesenheit des Klaviers als Begleit-
     […].                                         instrument macht die Atmosphäre so
     Der Sinn von »natura morta« ist in die       unscharf, dass sie, leicht verschleiert, in
     Musik selbst eingegangen, er wohnt dem       eine entfernte Liedhaftigkeit projiziert
     Widerhall der sie aufnehmenden klin-         wird. Dennoch ist der Klavierpart reich
     genden Wirklichkeit inne. Heute besit-       an technischen und klangfarblichen Er-
     zen wir eine analytischere Kenntnis der      findungen, die so zart sind, dass manch-
     Wirklichkeit, und uns ist bewusst, dass      mal sogar der Hauptklang vorenthalten
     die Wirklichkeit nicht existiert, wenn       und in die Ferne gerückt wird, wodurch

16
eine psychologische Leere in den Vorder-     Menschen demaskiert. Mitten in den ent-
grund tritt, als ob »ein anderes« Klavier    legensten und verlorensten Erinnerungen
»von dort« erklänge. In der Stille tauchen   hat jeder von uns irgendeinen Schlager,
dann künstliche Nachklänge auf, und          der, gerade weil er an eine bestimmte
man ahnt die Dimension der großen,           Periode der Vergangenheit geknüpft ist,
unbewohnten Räume; eine unendlich            ein Konzentrat der Nostalgie darstellt.
widerhallende Leere, wo die Stimme und       Man stelle sich also eine Musik aus einem
ihr klangvolles Doppel, das Violoncello,     so weitmaschigen Gewebe vor, dass sie
fluktuieren – lyrische Trugbilder einer      eine andere Musik durchscheinen lässt:
Nachtigall.                                  Dies ist »Vanitas«, eine riesige Anamor-
Die Schlager stellen im Bereich der Musik    phose eines alten Schlagers, von dem sie
ein Äquivalent zu den Blumen dar, zwar       auf mysteriöse Weise den Duft bewahrt.
schön, doch ephemer. Niemals könnte
die hohe Musik mit ihrem Universalitäts-
anspruch das Gefühl des Todes vermit-
teln, das eine Komposition des leichten
Genres ausschwitzt. Sie bietet sich in
ihrer maximalen Stilisierung mit liebens-
würdigen Ausdrucksweisen dar, sie hat
keine Ansprüche; doch gegenüber der
von einer trügerischen Sinfonie prokla-
mierten Ewigkeit ergreift der Schlager
einen Augenblick, der die Fragilität des

                                                                                         17
SALVATORE SCIARRINO
     * 4. April 1947 in Palermo

     »Vanitas« – Stilleben in
     einem Akt für Stimme,
     Violoncello und Klavier

     ENTSTEHUNG
     1981
     URAUFFÜHRUNG
     11. Dezember 1981, Mailand, Piccola Scala, mit
     Daisy Lumini (Mezzosopran), Arturo Bonucci
     (Violoncello) und Gabriella Barsotti (Klavier)
     ERSTMALS IN EINEM KONZERT DER
     DRESDNER PHILHARMONIE
     DAUER
     ca. 50 Minuten

18
SALVATORE SCIARRINO

Piogge diverse

Schwer zu sagen, wo sich die Quellen der      in die Irre geht und vielleicht gar stirbt,
Gesänge verbergen, auch für den, der          während er von einer Entdeckung und
sein Leben lang zahlreiche erdacht und in     der Vollendung träumt. Ein fernöstlicher
Zyklen gesammelt hat. Unsere Vorfahren        Meister meint, die Trockenheit sei ein
meinten, die Musen zeigten sich un-           Zustand, der die Seele überragt, sie stehe
erwartet, zuweilen launenhaft, nie, wenn      über jeder Erfahrung.
wir sie anrufen.                              Dieser Haiku von Bashō evoziert für uns
Auf der Suche nach dem Ursprung der           westliche Menschen die Bitterkeit des
Gesänge meinen wir, sie in der Über-          Endes, während er eigentlich von Ver-
lieferung zu finden, die in unsere Zeit       feinerung spricht: letztes Stadium des
hineinreicht, die sich in Aufzeichnungen      Verzichts, das zur Erleuchtung führt.
am Rand von Buchseiten oder Karten            Nr. 2: Zu einem »Sonnenregen« ist der
verliert und wiederfindet. Also blättern      zur Unbeweglichkeit gezwungene Pro-
wir in Heften, in denen sorgsam oder          metheus verdammt. Als ich an einem
hastig Texte verschiedener Länge nieder-      Theaterprojekt über Aischylos arbeitete,
geschrieben wurden. Auch dort finden          schrieb ich mir – lange bevor es Form
wir Hinweise, aber nicht das Warum der        annahm – in ein Heft den Prolog des
Gesänge.                                      Gefesselten Prometheus ab. Der Wunsch,
Dunkel ist der Sinn der Reise jenseits des    ihn in Klänge zu übertragen, erschien mir
Gebirges, jenseits der Zeit. Und der Wan-     lange Zeit unrealistisch. Aber es kommt
derer ist die Schlüsselfigur eines Singens,   ein Moment, in dem auch das rätselhaf-
das auf eine Landschaft antwortet, die sich   teste oder unscheinbarste Fragment zu
wandelt, auf Dinge und auf Begegnungen.       Gesang werden kann, wenn die Musen
»Arten des Regens« hat nichts mit Meteo-      gnädig sind.
rologie zu tun, sondern öffnet ungewohn-      Zwei Personen sprechen erregt miteinan-
te Blickwinkel, durch die ich die Welt zu     der, unterschieden durch verschiedene
erkunden suche.                               Orchestergrundierungen: neutral die des
Nr. 1: »Staub, durstige Schwester des         Mächtigen; transparent und klar die des
Schlammes«. Der Staub ist der ewige           Hephaistos, des Urvaters der Künstler,
Begleiter des Wanderers, der krank wird,      der Prometheus an den Felsen ketten soll.

                                                                                            19
Jener hat dem Schmied der Götter das        Nr. 4: »Quecksilbertropfen vom Himmel«
     Feuer gestohlen um es den Menschen zu       bezieht sich auf die aktuelle Umweltver-
     bringen; dafür will Zeus ihn bestrafen.     schmutzung mit ihrem giftigen Regen.
     Das Motiv ist in Wahrheit jedoch ein        Auch dieser Gesang trägt dramatische
     anderes: obwohl er in die Zukunft blicken   Akzente. Die Szenerie, in der er sich abzu-
     kann, weigert er sich, Zeus zu sagen, wer   spielen scheint, ist desolat: eine zerstörte
     ihn entmachten wird.                        Stadt, in der es nichts mehr gibt; ein
     Die Technologie des Feuers, die den         paar Verrückte, die überlebt haben, irren
     Menschen gebracht wird, steht für den       durch den ohrenbetäubenden Wind, der
     Beginn der Zivilisation, und Prometheus     in der Stille wohnt.
     ist der erste, der universale Brüderlich-   Nr. 5: »Harusame« steht im Japanischen
     keit proklamiert. Wir dagegen wissen,       für den Frühlingsregen, er ist geräuschlos
     dass sich die Vorteile der Technik, wenn    und dringt überall ein. Der Text verbindet
     sie an blindes wirtschaftliches Interesse   das Lesbare und doch Unverständliche
     gebunden sind, ins schlimmste Gegen-        eines Epigraphs. Zur Erklärung: Die
     teil verwandeln und unseren Planeten        Messapier bewohnten einst den süd-
     zerstören.                                  lichen Zipfel Apuliens und übernahmen
     Hephaistos widersetzt sich dem Willen       das griechische Alphabet für ihre Schrift;
     des Mächtigen, Prometheus anzuketten,       ihre Literatur bleibt aber unübersetzbar.
     aber er muss dem Willen des Göttervaters    Sie beteten eine Bronzestatue des Gottes
     gehorchen. Am Ende der Welt wird die        Zis an; diese hatte eine dunkle Patina und
     Stille zerrissen von seinen Hammerschlä-    stand auf einer Reihe niedriger dorischer
     gen; als die Ketten geschmiedet, die Rin-   Säulen im Mittelpunkt eines heiligen Be-
     ge geschlossen, das Werk vollendet ist,     zirks. Die Mauer ringsum war mannshoch
     lässt der Schmied sein Werkzeug fallen      und der Raum nach oben offen, also den
     und verflucht das Werk seiner Hände.        Unbilden der Witterung ausgesetzt.
     Allein gelassen, ruft nun Prometheus den    Das Stück ist gewollt disproportional
     Himmel an, den Wind, die Erde, das Meer     komponiert: es kombiniert großes
     und die Sonne selbst, die seinen Körper     Orchestertutti, eine Art Tröpfeln der Ins-
     bedroht. Und hier bricht der Gesang ab.     trumente und das Summen der mensch-
     Nr. 3: »Blumenregen«. Es handelt sich um    lichen Stimme.
     ein Liebesgedicht, um eine alte javanesi-
     sche Dichtung: jede Blüte steht für eine
     weibliche Tugend.                           Übersetzung: Claudia Woldt

20
Der Beginn des letzten Gesanges in Sciarrinos Partitur.

                                                          21
ALBERT BREIER

     Fruchtbarkeit aus Dürre
     Zu Sciarrinos »Piogge diverse«

     Seit ewig fällt der Regen auf die Welt, eine   risten haben diese Technik zum Extrem
     Botschaft des Himmels an die Erde. Er          getrieben. Sie hat auch ihr Bedenkliches,
     wird verschieden aufgenommen, wie er           weil sie die Texte bisweilen hoffnungslos
     auch selbst verschieden sein kann. Der         verdunkelt.
     geradlinig fallende Regen macht blind,         Den Staub als »durstig« zu bezeichnen,
     der schräg fallende eröffnet Perspektiven      fügt in der Tat der Vorstellung etwas
     – so hat Salvatore Sciarrino es für seine      hinzu. Zugleich hat eine solche Aus-
     Komposition »Piogge diverse« gesagt.           drucksweise etwas Spitzes, Intellektuel-
     Regen bedeutet Veränderung, bedeutet           les. Sie operiert mit den Rändern der
     Leben, bedeutet Geschichte und Bewusst-        Dinge und der Wörter. Die Kompositions-
     werdung. Sein Gegenbild, die Trocken-          weise Sciarrinos passt dazu vortrefflich:
     heit, die Dürre, erhält durch ihn seine        Ihre Vorliebe für sehr kurze Impulse, in
     Bestimmung, wie es auch ihn bestimmt.          rätselhafter, jedoch genau bestimmter
     Sciarrinos Texte handeln nicht vom             Reihung, spannt die Kräfte des Hörers
     Wasser, allenfalls – wie im Gedicht des        außerordentlich an, schafft aber auch zu-
     Haiku-Meisters Bashō – von seinem              gleich eine Klangatmosphäre, in der jedes
     Fehlen. Sciarrino überschreibt dieses          Ereignis als einer geschlossenen Welt an-
     Gedicht mit »Staub, durstige Schwester         gehörig empfunden wird. Denn die Kürze
     des Schlamms«. Das nimmt die alte              weist bei Sciarrino nicht aufs Fragment,
     literarische Praxis auf, in der Dichtung       eher auf einen kohärenten ästhetischen
     Dinge durch ihr Gegenteil auszudrücken,        Kosmos, der sich dem Wahrnehmenden
     und sie damit vielleicht noch schärfer         immer zugleich öffnet und verschließt.
     sichtbar zu machen als es die unmittel-        In den »Piogge diverse« finden Zeugnisse
     bare Darstellung vermöchte. Die Manie-         aus ganz verschiedenen literarischen
                                                    Welten Platz. Das zweite Gedicht, vom

22
Komponisten selbst nach Aischylos ge-
schrieben, verweist auf die griechische
Mythologie und führt die paradoxe Vor-
stellung eines Sonnenregens ein. Das
dritte, von der Insel Java, gemahnt daran,   SALVATORE SCIARRINO
dass die Blüten aus dem Zusammenspiel
von Sonne und Wasser entstehen – und         »Piogge diverse« – Fünf
so zu Regen und Sonnenregen zugleich         Gesänge für Bariton und
werden können. Das vierte, wieder vom        großes Orchester
Komponisten selbst, ist vielleicht das
persönlichste, in seiner Aussage aber        ENTSTEHUNG
                                             2019, Kompositionsauftrag der Dresdner
das allgemeinste. »Was erzählt das Wort,
                                             Philharmonie.
wenn es abbricht« – das könnte auch
                                             URAUFFÜHRUNG
zur Beschreibung von Sciarrinos Musik        In diesem Konzert.
dienen, die immer dann besonders klar
                                             BESETZUNG
»erzählt«, wenn sie die Ränder der Klänge    Solo-Bariton, Piccolo, 2 Flöten, Altflöte,
inszeniert, die Momente, wo sie in die       2 Oboen, Englischhorn, 2 Klarinetten,
Stille übergehen, die, obgleich stumm,       Bassklarinette, 3 Fagotte (3. auch Kontra-
                                             fagott), 4 Hörner, 4 Trompeten, 4 Posaunen,
auf diese Weise eine sprechende wird.        Schlagwerk (Marimba, Xylophon, Vibraphon,
Das letzte Gedicht, in der kaum ent-         Röhrenglocken, Metallhammer auf Amboss,
schlüsselten Sprache der Messapier,          Becken, hängendes Becken mit Kontra-
                                             bassbogen zu streichen, Donnerblech,
gibt das Geheimnis seine Sinnes nicht        Tamtam, Große Trommel), Klavier, Harfe,
preis. Aber auch hier fallen die Silben      Streicher
und Töne wie Tropfen, befördern die          DAUER
Fruchtbarkeit des Geistes.                   ca. 25 Minuten

                                                                                           23
DIE GESANGSTEXTE

     Vanitas
     Den einzelnen Teilen des Werkes hat Sciarrino kurze Motti vorangestellt, die in der
     Partitur zu lesen sind, aber nicht gesungen werden. Wir stellen sie hier kursiv gesetzt
     den Gesangstexten voran.

                                                          I

              grosero aliento acabará ti suerte. Ein einfacher Hauch genügt, um dein Glück zu zerstören.
                     Luis de Góngora y Argote (1561 – 1627)

                                                    Rosa Die Rose

                                 Rosa quae moritur, Die Rose, die stirbt,
                                   Unda quae labitur die Welle, die eilet,
                                       Mundi delicias sie lehren, wie flüchtig,
                                     docent fugaces. die Freuden der Welt.

                                   Vix fronte amabili Ein liebliches Antlitz
                                  Mulcent cum labili ergötzt kaum, schon entschwinden
                                Pede, praetervolant mit eilendem Schritte
                                       larvae fallaces. die Masken voll Trug.
            anonymer Arientext zu Antonio Vivaldis Motette
                        »O qui coeli terraeque serenitas«

24
II

                  Ed ecco che nel deserto appare … Und siehe, er erscheint in der Wüste …

                                           Marea die Rose Meer von Rosen

    e un diluvio di fiamme apoco a poco scioglie; Und eine Sintflut von Flammen löst sich allmählich;
             Scioglie, quasi cometa, il crine ardente es löst sich, kometengleich, das brennende Haar,
                                 Per minacciar la morte. um dem Tod zu drohen.
    Giovan Leone Sempronio (ca. 1600 – 1636?), aus dem Sonett
                        »Chioma rossa di bella donna«, 1633

                                                              III

       That’s why they call me Second Hand Rose Deshalb nennt man mich Second Hand Rose.
    aus dem Song »Second hand Rose« von Grant Clarke (Text)
                               und James F. Hanley (Musik)

                                                         L’eco Das Echo

                                      Oracolo de’ boschi, Weissagung der Wälder,
                                         Anima delle selve, Seele der Wildnis,
               Cittadina dell’ombre, ombra sonante. Schattenbewohnerin, klingender Schatten.
       aus »Eco« (1614) von Giovan Battista Marino (1596 - 1625)

                            And the great bell has toll’d Und die große Glocke hat geläutet,
                                        Unrung, untouch’d Ungeschlagen, unberührt.
aus dem Gedicht »The grave« (1743) von Robert Blair (1699 – 1746)

                                       Stridul’aura infelice Es ächzt die unglückselige Luft,
                                    Dell’altrui parlar vago unsichtbares Bild
                                             Invisibili imago des undeutlichen Sprechens eines anderen.
                          aus »Eco« von Giovan Battista Marino

                                                                                                          25
IV

                 serén ceniza, mas tendrán sentido; Asche werden sie, doch von Verlangen voll;
                polvo serán, mas polvo enamorado zu Staub werden sie, doch verliebter Staub.
                           Francesco de Quevedo (1580 – 1645)

                                   Lo specchio infranto Der zerbrochene Spiegel
                                           (pulvis stellaris) (Sternenstaub)
                              ove si svela l’anamorfosi in dem sich die Anamorphose enthüllt

Ce beau flambeau qui lance une flamme fumeuse, Die schöne Fackel, die eine rauchende Flamme ausstößt,
        Sur le vert de la cire éteindra ses ardeurs, wird auf dem Grün des Wachses ihre Gluten verlöschen,
         L’huie de ce tableau ternira ses couleurs, das Öl dieses Bildes in den Farben ermatten
       Et les flots se rompront à la rive écumeuse und am gischtigen Ufer werden die Wellen sich brechen.
                aus dem Sonett »Mais si faut-il mourir, et la vie
          orgueilleuse« (1588) von Jean de Sponde (1557 – 1595)

                                          Et moritur mors. Und es stirbt selbst der Tod.
     aus dem anonymen Conductus ad laudes »Natus est hodie
                       Dominus« aus dem Festum asinorum

26
V

                  Celsus est in humili, Das Himmlische ist im Irdischen
                       solidus in fragili Das Feste im Zerbrechlichen
                         figulus in fictili Da Starre im Biegsamen
aus »Patrem parit filia« von Pierre de Corbeil deutsche Übertragungen: Joachim Steinheuer
                              (um 1150 – 1222)

                           Ultime Rose Letzte Rosen

                                             Das Mündlein von Korallen
                                             Wird ungestalt.
                                             aus dem Gedicht »Ach Liebste, lass uns eilen« (1624) von
                                             Martin Opitz (1597 – 1639)

                                             Mit Rosen schmück ich Haupt und Haare,
                                             Die Rosen tauch ich in den Wein.
                                             aus dem Gedicht »Scherzhafte Gedanken über die Rosen« (1717 - 1719)
                                             von Johann Christian Günther (1695 – 1723)

                                             Komm Trost der Nacht, o Nachtigall!
                                             Lass deine Stimm mit Freudenschall
                                             Aufs lieblichste erklingen!
                                             aus dem Gedicht »Lied des Einsiedels« (1662) von Hans Jakob Christoffel
                                             von Grimmelshausen (um 1622 – 1676)

                                             Die Rose zieret meine Flöten.
                                             aus dem Gedicht »Scherzhafte Gedanken über die Rosen« (1717 - 1719)
                                             von Johann Christian Günther

                                                                                                                       27
Piogge diverse

     N. 1 - Polvere, assetata sorella del fango N. 1 – Staub, durstige Schwester des Schlamms

                            Ammalato in viaggio Krank von der Reise
                          il sogno mio percorre Durchstreift mein Traum
                                   pianure aride dürre Ebenen
                                      Matsuo Bashō

                           N. 2 - Pioggia di sole N. 2 – Sonnenregen

     [Il Potere] La luce artefice di tutto, il fuoco [Der Herrscher] Deinem künstlichen Licht stahl
                             tuo, egli ha rubato. er einen Funken.
            Che impari a odiare Zeus il tiranno! Damit du Zeus den Tyrannen hassen lernst!
         [Efesto] Figlio di Temi, dai pensieri alti, [Hephaistos] Hochsinniger Sohn der Themis,
                       [Il Potere] Perché indugi? [Der Herrscher] Was zögerst du?
                           [Efesto] io non vorrei [Hephaistos] ich will es nicht
                       [Il Potere] Perché indugi? [Der Herrscher] Warum zögerst du?
          [Efesto] tu non vorresti, figlio di Temi, [Hephaistos] du willst es nicht, Sohn der Themis,
                  io non vorrei, ma t’inchioderò ich will es nicht, aber ich werde dich
                                  a questa rupe an diesen Felsen nageln
                                   né udrai voce du wirst keine Stimme hören
                                  immobile sarai dich nicht bewegen können
                           alla fi amma del sole, in der Glut der Sonne,
                 e il fiore del tuo corpo muterà und die blühende Kraft deiner Glieder wird dahinwelken.

28
[Il Potere] Esiti ancora, esiti? [Der Herrscher] Zögerst du noch, zögerst du?
   [Efesto] il fiore del tuo corpo muterà. [Hephaistos] die blühende Kraft deiner Glieder wird
                                                 dahinwelken.
           [Il Potere] Perché interrompi? [Der Herrscher] Warum hältst du inne?
  [Efesto] Questo ti frutta l’amore per gli [Hephaistos] Das hast du von deiner Liebe zu den
                                      uomini Menschen

           [Il Potere] Perché interrompi? [Der Herrscher] Warum hältst du inne?
[Efesto] Questo ti frutta l’amore per, per, [Hephaistos] Das hast du von deiner Liebe zu, zu
                     [Il Potere] Più forte! [Der Herrscher] Mach weiter!
                  [Efesto] per gli uomini. [Hephaistos] zu den Menschen.
 [Il Potere] Più forte! Che Prometeo ora [Der Herrscher] Mach weiter! Damit Prometheus das
                    scopra l’impossibile, Unvorstellbare erkennt,
                scopra ora l’impossibile! jetzt das Unvorstellbare erkennt.
 [Efesto, fra sé] Maledetta arte delle mie [Hephaistos, zu sich selbst] Verfluchte Kunst meiner
                                       mani! Hände!

     [Prometeo, solo] Cielo, vento, fonti, [Prometheus, allein] Himmel, Wind, Quellen,
          sorriso interminabile del mare, unendliches Lächeln des Meeres,
   terra madre, e tu occhio del sole, tu... Mutter Erde, und du Auge der Sonne, du…
                 Salvatore Sciarrino, da Eschilo Salvatore Sciarrino, nach Aischylos

                                                                                                  29
N. 3 – Piovono fiori          Nr. 3 – Blütenregen

              Fior die kenkùr         Blüte des Kenkùr
           s’invoca con gioia         man denkt an sie mit Freude
        di forme armoniose            von harmonischer Form
        si muove ed incanta           bewegt sie sich und verzaubert
          che grazia nel dire         die Anmut ihres Namens
              rapisce l’anima         überwältigt die Seele

            Fior die Blimbìng         Blüte des Blimbing
                gìrati, spòrgiti      dreh dich, recke dich
          splendente còglila          pflück sie, wenn sie leuchtet
            gioiello sul vuoto        Schmuck über dem Abgrund
                corolla regina        Krone der Königin
           essenza di donna           Essenz der Frau

                Fiore die arèn        Blüte der Arenga
       reclina su altro ramo          geneigt hoch über dem Zweig
              sempre scende           immer senkt sich
                      al vederti      um dich zu sehen
                 sui miei versi       auf meine Verse
                      un‘ombra        ein Schatten

               Fior di Pandàn         Blüte des Pandang
                  soffice suolo       flaumweicher Boden
                tu vieni da me        du kommst zu mir
                            entri     tritt ein
         ma scorda il timore          aber vergiss die Furcht
                eccoti l’anima        hier ist deine Seele
     da Ghirlanda, Giava, sec. XVII   nach Ghirlanda, Giava, 18. Jahrhundert

30
N. 4 - Gocce di mercurio dal cielo N. 4 – Quecksilbertropfen vom Himmel

      - V’è una lingua del silenzio? Un rombo - Wo ist eine Sprache der Stille? Ein Hall,
                              cova fra parole? verborgen zwischen den Wörtern?
  Della città non restava niente. Uno gridava: Von der Stadt blieb nichts. Einer schrie:
             - Ma il silenzio è vuoto, o pieno? - Ist die Stille leer oder voll?
      È rifi uto della lingua o memoria antica? Ist sie ausgestoßen von der Sprache oder uraltes
                                                    Gedächtnis?
                                      E gridava: Und er schrie:
    - Cosa racconta la parola, se interrompe? - Was erzählt das Wort, wenn es abbricht?
                                   Non sentite? Hört ihr nicht?
              Il vecchio sbucò dalle macerie: Der Alte kroch aus den Trümmern:
                 - V’è una lingua del silenzio? - Wo ist eine Sprache der Stille?
                                Salvatore Sciarrino Salvatore Sciarrino

                             N. 5 - Harusame N. 5 – Harusame

                                La pàtina di Zis (Die Patina von Zis)
tisin/etei/tanin/dedi/rantha/thonkra/kohen/ (t)isin/etei/tanin/dedi/rantha/thonkra/kohen/
     pritai/mathia/lam-l/liatin/krina/nam/in pritai/mathia/lam-l/liatin/krina/nam/in
                       epigrafe messapica di Ugento Epigraph der Messapier von Ugento

                                                    Übertragungen ins Deutsche: Claudia Woldt

                                                                                                   31
MEZZOSOPRAN

     NOA
     FRENKEL                                           Zu jüngsten Opernengagements
                                                       gehören Gubaidulinas »Stunde der
                                                       Seele« am Konzerthaus Wien, die
                                                       Uraufführung von Thierry Pécous
                                                       »Nahasdzáán« mit dem Ensemble
                                                       Variances an der Opéra de Rouen,
                                                       Chaya Czernowins »Infinite Now«
                                                       an der Vlaamse Opera und am
                                                       Nationaltheater Mannheim sowie
                                                       Hans Zenders »Don Quijote de la
                                                       Mancha« mit dem Klangforum
                                                       Heidelberg beim Frankfurt LAB.
                                                       Zu weiteren Opernpartien gehören
                                                       Woman in »Zaide/Adama« von Mo-
                                                       zart/Czernowin bei den Salzburger
                                                       Festspielen, Frau Ocholowska in
                                                       der Uraufführung von Johannes
                                                       Kalitzkes »Die Besessenen« am
                                                       Theater an der Wien, La révéren-
                                                       de Mère in François Parls’ »Maria
                                                       Republica« und Dritte Dame in
                                                       Mozarts »Die Zauberflöte« an der
                                                       Angers Nantes Opéra, Madame
               Die israelische Altistin Noa Frenkel,   Flora in Menottis »The Medium«
               die in Tel Aviv und Den Haag Ge-        und Philip Glass’ »Akhnaten« in
               sang studiert hat, ist eine äußerst     Rotterdam, die Madrigaloper »La
               wandlungsfähige Künstlerin, die         barca« an der Nationale Reisope-
               mit ihrem großen Stimmumfang in         ra, Stockhausens SONNTAG aus
               einem breit gefächerten Repertoire      LICHT an der Oper Köln unter
               von der Renaissance bis zur zeitge-
               nössischen Musik zu Hause ist.

32
Peter Rundel und »Pnima« von          Als gefragter Interpretin zeitge-
Chaya Czernowin an der Staats-        nössischer Musik haben zahlreiche
oper Stuttgart.                       Komponisten Stücke für sie ge-
Auf der Konzertbühne war sie in       schrieben. Zusammen mit Ensem-
Bernsteins »Songfest« mit dem         bles wie Ensemble Modern, Schön-
MDR Sinfonieorchester, Brahms’        berg Ensemble, Klangforum Wien,
»Alt-Rhapsodie« mit dem Israel        L’Ensemble Intercontemporain,
Chamber Orchestra, Händels            MusikFabrik, Ensemble Variances,
»Dixit Dominus« und Luigi Nonos       den Israeli Contemporary Players
»Prometeo« mit dem SWR Sinfo-         sowie dem Experimental Studio
nieorchester Freiburg/Baden-          Freiburg (SWR) ist sie regelmäßig
Baden und Ingo Metzmacher am          bei den großen Festivals in Europa
Teatro alla Scala in Mailand, der     zu Gast.
Philharmonie Berlin, der Ruhr-        Zu den Höhepunkten der Spielzeit
triennale, beim Lucerne Festival      2019/20 gehörten Luigi Nonos »Al
sowie dem Festival d’Automne Paris    gran sole carico d'amore« am Thea-
zu hören sowie mit dem israeli-       ter Basel, eine Hauptrolle in der
schen Ensemble Musica Nova und        Uraufführung von »Heart Chamber«
Nonos »Guai ai gelidi mostri« bei     von Chaya Czernowin an der
den Salzburger Festspielen            Deutschen Oper Berlin, die Rolle
und den Wiener Festwochen.            der Amba in Thierry Pécous Urauf-
Noa Frenkel ist mit Barock-           führung »Until The Lions« an der
Ensembles wie Les Arts Florissants,   Opéra national du Rhin sowie eine
Elyma Ensemble, Combattimento         Uraufführung von Óscar Escudero
Amsterdam und dem Utrecht             bei der Münchener Biennale 2020.
Baroque Consort aufgetreten.
Zudem ist sie Mitbegründerin
des Kassiopeia Quintetts, einer
A-Cappella-Gruppe, mit der sie
sämtliche Madrigale Carlo
Gesualdos aufgenommen hat.

                                                                           33
VIOLONCELLO

     MARTINA
     SCHUCAN

                   Im Alter von 14 Jahren wurde
                   die aus Graubünden stam-
                   mende Martina Schucan in
                   die Meisterklasse von André
                   Navarra in Detmold aufge-
                   nommen. Nach dem Konzert-
                   examen setzte sie ihre Studien
                   bei Heinrich Schiff, Daniel
                   Shafran und Janos Starker
                   fort. Ein erster Preis beim
                   Gaspar Cassadò Wettbewerb in
                   Florenz und zahlreiche weitere
                   Auszeichnungen eröffneten
                   ihr den Weg zu internationaler
                   Konzerttätigkeit.

34
Als Solistin konzertierte sie mit   Das Erarbeiten der zeitgenös-
renommierten Orchestern wie         sischen Musik ist ein zentraler
den Bamberger Sinfonikern, dem      Bestandteil ihres künstlerischen
Metropolitan Orchestra Tokyo,       Engagements. Ihre Interpreta-
dem Orchestre de la Suisse          tionen des Konzertes von Henri
Romande oder dem Tonhalle-          Dutilleux, der »Assonance V« von
orchester Zürich und spielte an     Michael Jarrell und der Solosonate
den internationalen Festivals von   von Bernd Alois Zimmermann
Salzburg, Luzern, Schleswig-        wurden von der Fachwelt und
Holstein, Witten, Montpellier und   dem Publikum gefeiert.
Bratislava. Als gefragte Kammer-    Martina Schucan ist Professorin
musikerin nahm sie an den Kam-      an der Zürcher Hochschule der
mermusikfestivals von Kuhmo,        Künste und Mitglied des Collegium
Prussia Cove und Davos teil und     Novum Zürich.
zählten Musiker wie Yuri Bashmet,
György Kurtág, Heinz Holliger,
Shlomo Mintz, Veronika Hagen,
Jürg Wyttenbach, und das Carmi-
na Quartett zu ihren Partnern.

                                                                         35
KLAVIER

     FLORIAN
     HOELSCHER

               Florian Hoelscher studierte bei        orchester Baden-Baden und
               Robert Levin, Michel Béroff und        Freiburg, dem Luzerner Sinfonie-
               Pierre-Laurent Aimard in Freiburg,     orchester und dem Orchester der
               Paris und Köln. Entscheidende          Staatsoper Stuttgart; zu seinen
               Impulse erhielt er darüber hinaus      Kammermusikpartnern gehören
               durch den Dirigenten Peter             u.a. Pirmin Grehl, Jean-Guihen
               Eötvös. Sein Repertoire umfasst        Queyras und Chen Halevi.
               Solo- und Kammermusikwerke aus         Mit Soloprogrammen war er Gast
               dem 17. bis 21. Jahrhundert. Mit       bei Festivals wie Présences (Radio
               besonderer Leidenschaft widmet         France, Paris), Eclat Stuttgart,
               er sich der Uraufführung neuer         Agora (IRCAM, Paris), beim Bartók-
               Werke. Seit vielen Jahren verbin-      Festival Szombathély, bei den
               det Florian Hoelscher eine inten-      Salzburger Festspielen, beim
               sive Zusammenarbeit mit Kompo-         Heidelberger Frühling, beim
               nisten unserer Zeit, besonders mit     Lucerne Festival, im Théâtre du
               Marco Stroppa, Alberto Posadas         Châtelet Paris, in der Tonhalle
               und Jonathan Harvey.                   Zürich, der Philharmonie Luxem-
               Als Solist arbeitete er mit Dirigen-   burg und den Kunstfestspielen
               ten wie Peter Eötvös, Christopher      Hannover-Herrenhausen.
               Hogwood, David Zinman, Francois-       Florian Hoelscher hat eine um-
               Xavier Roth, Kent Nagano, Sylvain      fangreiche Diskographie vorgelegt.
               Cambreling und Johannes Kalitzke       Die CD-Einspielung der »Miniature
               sowie mit Orchestern wie dem           estrose« von Marco Stroppa und
               Tonhalle-Orchester Zürich, dem         seine Aufnahme mit Solo- und
               SWR Radio-Sinfonieorchester            Duowerken von Jonathan Harvey
               Stuttgart, den Hamburger Sym-          wurden mehrfach ausgezeichnet,
               phonikern, dem SWR Sinfonie-           u.a. mit dem diapason d’or. Seine

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Einspielung mit Solowerken von         Prof. Florian Hoelscher leitete
Salvatore Sciarrino fand in der        seit 2008 eine Hauptfachklasse
ganzen Welt ein überaus positives      für Klavier- und Kammermusik
Medienecho. Er ist Gründungsmit-       an der Hochschule Luzern. Zum
glied des Stuttgarter Ensembles        Wintersemester 2018 wurde er als
ascolta, mit dem er regelmäßig bei     Professor an die Hochschule für
vielen wichtigen Festivals für zeit-   Musik und Darstellende Kunst
genössische Musik auftritt und ein     in Frankfurt am Main berufen.
Repertoire von über 300 Ensemble-
werken aufgebaut hat.

                                                                          37
DIRIGENT

     EMILIO
                                                      Emmanuel Nunes’ »Quodlibet« in
                                                      Lissabon (1991), »Omnia Mutantur

     POMÀRICO
                                                      Nihil Interit« in Paris (1994) und
                                                      »Musivus« in Lissabon (1996);
                                                      der gesamte Zyklus der »Cami-
                                                      nantes« von Luigi Nono in Paris
                                                      (1999); Wolfgang Rihms »Seraphin
                                                      Symphonie« in Donaueschingen
                                                      (2012); Georg Friedrich Haas‘ Oper
                                                      »Melancholia« an der Opera Gar-
                                                      nier in Paris (2008), sein Konzert
                                                      für Baritonsaxophon und Or-
                                                      chester in Köln (2008) sowie »Ich
                                                      suchte, aber ich fand ihn nicht«
                                                      in München (2012). Nach der Auf-
                                                      führung des gesamten Zyklus der
                                                      »Carceri d'Invenzione« von Brian
                                                      Ferneyhough in Genf, Basel und
                                                      Paris (1996) hat Pomàrico auch
                Der in Buenos Aires geborene          »Finis Terrae« an der Opera Bas-
                italienische Dirigent und Kompo-      tille in Paris (2012) uraufgeführt.
                nist Emilio Pomàrico gilt heute als   Hans Zender betraute ihn mit
                einer der führenden Interpreten       der Uraufführung seiner »Logos
                der zeitgenössischen Musik. Er        Fragmente« in der Berliner Phil-
                tritt regelmäßig bei den wichtigs-    harmonie (Mitschnitt WERGO).
                ten internationalen Musikfestivals    Auf Einladung des Teatro Colon in
                sowie in bedeutenden Opern- und       seiner Heimatstadt Buenos Aires
                Konzerthäusern in Europa und          gab Emilio Pomàrico eine erfolg-
                darüber hinaus auf.                   reiche lateinamerikanische Erst-
                Als leidenschaftlicher Fürsprecher    aufführung von Luciano Berios
                der zeitgenössischen Musik hat        »Coro« (2014).
                Emilio Pomàrico eine Vielzahl         In den letzten zehn Jahren hat
                von Werken von bedeutenden            Emilio Pomàrico eng mit dem grie-
                Komponisten der Gegenwart aus         chischen Komponisten Georges
                der Taufe gehoben. Dazu gehören       Aperghis zusammengearbeitet

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und viele seiner Werke in Europa
uraufgeführt. Dazu gehören »Tee-      Castellucci, 2014). Im Jahr darauf
ter-Totter« (2008) und »Situations«   dirigierte er einen umjubelten
(2013) mit dem Klangforum Wien        »Wozzeck« an der Opera de Dijon
bei den Donaueschinger Musik-         mit dem SWR Sinfonieorchester.
tagen, Etudes Pour Orchestre I–IV     Bei den Wiener Festwochen 2016
in der Kölner Philharmonie (2013)     leitete er das Klangforum Wien in
und Etudes Pour Orchestre V–VI        einer Neuproduktion von Salvato-
und Concerto pour Accordeon           re Sciarrinos »Luci mie traditrici«
mit dem BRSO beim Musica Viva         (Regie: Achim Freyer). Mit dem
Festival (2015 bzw. 2016) und zu-     Ensemble Modern brachte er 2016
letzt »Migrants« mit dem Ensem-       Johannes Maria Stauds »Specter
ble Resonanz bei MaerzMusik in        of the Gardenia oder Der Tag wird
Berlin (2018). Die Etudes Pour        kommen« beim Steirischen Herbst
Orchestre und das Concerto pour       Festival in Graz zur Uraufführung.
Accordeon wurden von NEOS auf-        Das Internationale Musikfestival
genommen und in deren Musica          Aix en Provence 2017 eröffnete er
Viva Vol. 28 (2017) veröffentlicht.   mit der Uraufführung von Philip-
Als Conductor in Residence des        pe Boesmans’ Oper »Pinocchio«
Ensemble Resonanz in Hamburg          (Regie: Joël Pommerat). Auch
für die Jahre 2017 und 2018 wurde     Christian Spucks Neuproduktion
Pomàrico eingeladen, den Kleinen      von Zenders »Winterreise« unter
Saal der Elbphilharmonie mit          Emilio Pomàricos musikalischer
Werken von Haas, Berg und Bartók      Leitung wurde am Opernhaus Zü-
einzuweihen.                          rich (2018) mit viel Beifall bedacht.
Auch Opernproduktionen sind ein       Im Herbst 2019 leitete er das
wichtiger Bestandteil in der Arbeit   Philharmonische Orchester von
Emilio Pomàricos. So leitete er bei   Radio France bei der Premiere von
der Ruhrtriennale das HR-Sinfo-       Francesco Filideis »L'inondation«
nieorchester bei der Produktion       (Regie: Joël Pommerat) an der
von Helmut Lachenmanns »Das           Opera Comique in Paris. Im Febru-
Mädchen mit den Schwefelhöl-          ar 2020 leitete er die Premiere von
zern« in der Inszenierung von Ro-     »Les Châtiments« von Brice Pauset
bert Wilson (2013) sowie in Morton    an der Opera de Dijon.
Feldmans »Neither« (Regie: Romeo

                                                                              39
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