RICHARD WAGNER MANFRED HONECK

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RICHARD WAGNER MANFRED HONECK
Mittwoch		 05.05.21 10 Uhr
Mittwoch		 05.05.21 20 Uhr
Donnerstag 06.05.21 20 Uhr

RICHARD WAGNER
Vorspiel zu »Parsifal«

FRANZ LISZT
»Ad nos, ad salutarem        MANFRED HONECK
undam« Fantasie und Fuge     Dirigent

RICHARD STRAUSS              IVETA APKALNA
»Elektra«-Suite              Orgel
RICHARD WAGNER
                                       »Parsifal«
                           Bühnenweihfestspiel in drei Aufzügen
                                Vorspiel zum ersten Akt

                                        FRANZ LISZT
                               »Ad nos, ad salutarem undam«
                    Fantasie und Fuge über den Choral der Wiedertäufer
                       aus Giacomo Meyerbeers Oper »Le Prophète«
                   (bearbeitet für Orgel und Orchester von Marcel Dupré)

                                        – Pause –

                                     RICHARD STRAUSS
                                         »Elektra«
                         Symphonische Suite für großes Orchester
                     (eingerichtet von Tomáš Ille und Manfred Honeck)

                               MANFRED HONECK, Dirigent
                                 IVETA APKALNA, Orgel

                              Konzertdauer: ca. 1 ¾ Stunden

Das vorliegende Programmheft entstand als Kooperationsprojekt der Münchner Philharmoniker
mit dem Institut für Musikwissenschaft der LMU München. Zwölf Studierende entwickelten das
Konzept dieses Heftes, verfassten die Texte und führten die Interviews. Obwohl aufgrund der
 Corona-Beschränkungen das Konzertprogramm in dieser Form nicht gespielt wird, freuen wir
               uns, Ihnen das Ergebnis dieses Projekts präsentieren zu können.

                           122. Spielzeit seit der Gründung 1893

                              VALERY GERGIEV, Chefdirigent
                               ZUBIN MEHTA, Ehrendirigent
                                PAUL MÜLLER, Intendant
2                                                                                                      3

   Die schillernde Welt                                                                              ließ sie sich von ihm scheiden und verließ
                                                                                                     Paris, um sich auf ihre Karriere als Pianistin
                                                                                                     zu konzentrieren. Schließlich übernahm sie
                                                                                                                                                          war die unter dem Namen George Sand auf-
                                                                                                                                                          tretende Amantine Dupin de Francueil. Auf
                                                                                                                                                          einem ihrer künstlerischen Salons stellte

     der Salonnières
                                                                                                     als erste Frau am Brüsseler Conservatoire            Marie d’Agoult als Gastgeberin ihrer Freun-
                                                                                                     die Professur für eine hochkarätige Klavier-         din den einsamen Frédéric Chopin vor, der
                                                                                                     klasse. Noch zuvor in ihren Pariser Jahren           nach längerem Werben ihrerseits eine lang-
                                                                                                     legte Camilla Pleyel in ihrem musikalischen          jährige Beziehung mit ihr einging. Chopin,
                                                                                                     Salon für den jungen Frédéric Chopin den             der von den pianistischen Fähigkeiten Marie
                   WAGNER, LISZT UND DIE INFLUENCERINNEN
                                                                                                     Grundstein zu seiner Karriere in Paris und           d’Agoults beeindruckt war, widmete auch ihr
                           DES 19. JAHRHUNDERTS                                                      förderte dessen Freundschaft mit Franz               ein Werk. Beide Affären der vier Freunde
                                                                                                     Liszt. Beide Komponisten vergrößerten                waren skandalös – nicht nur weil die Frauen
                                                                                                     durch die Salonbesuche ihre Netzwerke und            älter als ihre Partner waren und die Paare
Gäbe es heutzutage Salonnières, würden             te Auftrittsmöglichkeiten und wurden da-          waren dadurch mit bekannten Musikern wie             unverheiratet blieben. George Sand lief ge-
sie wohl zu den »Influencerinnen« zählen.          durch gefördert, während man sich über die        Hector Berlioz und Giacomo Meyerbeer be-             nerell nur in Männerkleidung herum. Marie
Weit gespannte Netzwerke mit Verbindun-            aktuellsten Ereignisse in Politik und Kunst       freundet, von denen sie auch musikalisch             d’Agoult verließ Mann und Tochter, um mit
gen zu den bekanntesten Künstler*innen,            unterhielt oder sich gelegentlich dem neue­       geprägt wurden. Franz Liszt lernte hier so-          Franz Liszt zu verreisen. Die beiden kehrten
zahlreiche und ausgedehnte Reisen, wie             sten Tratsch hingab. So übernahmen die            gar die Mutter seiner Kinder kennen: Die             schließlich Frankreich den Rücken und be-
auch finanzielle Unbeschwertheit – diese           Salonnières oft auch die Funktion von men-        Salonnière Marie d’Agoult, die als Schrift-          kamen drei Kinder, die jedoch nach dem
Voraussetzungen waren im 19. Jahrhundert           talen und finanziellen Förderinnen und stell-     stellerin unter dem Pseudonym Daniel Stern           Ende ihrer Beziehung bei der Liszt-Oma in
nicht vielen Frauen gegeben. Die Tradition         ten viele Kontakte zwischen Künstler*innen        publizierte. Eine enge Freundin ihrerseits           Paris aufwuchsen.
der künstlerischen Salons spielte sich aus-        her – nicht selten boten diese Salons sogar
schließlich im gehobenen Bürgertum in Mit-         die Möglichkeit, seine*n Lebenspartner*in
teleuropa ab, und dennoch hatten sie einen         zu finden! Künstlerische Salons zu besuchen
enormen Einflussbereich. In Frankreich des         brachte für junge Musiker*innen alle erdenk-
18. Jahrhunderts sollen diese stets von            lichen Vorteile. Es ist also nicht verwunder-
­D amen geleiteten Treffen bedeutend zur           lich, dass auch alle Komponisten, deren
 rasanten Verbreitung der Revolutionsge-           Werke wir heute hören, die Salons nutzten,
 danken beigetragen haben. Doch wer waren          um für sich Werbung zu machen und sich
 eigentlich diese einflussreichen Frauen und       einem einfluss­reichen Netzwerk von Kunst-
 was machten sie?                                  schaffenden anzuschließen.

Die Salonnières waren Kunstliebhaberinnen,              IN DEN SALONS VON PARIS
oft selbst künstlerisch aktiv, hoch gebildet
und von angesehener, wenn nicht gar adeli-         Eine bekannte Musikerin und Pariser Salon-
ger Abstammung. Da weibliche Kunstschaf-           nière war Madame Camilla Pleyel. Die als
fende in der Öffentlichkeit jedoch kaum ge-        Marie Moke geborene Pianistin gehörte zu
duldet wurden, fanden diese Frauen einen           den besten Instrumentalist*innen des
Umweg, ihre Kunst dennoch vor einem Pub-           19. Jahrhunderts. Ihre Lebensgeschichte
likum zu präsentieren und Ideen mit Gleich-        liest sich wie ein Roman: In ihrer Jugend war
gesinnten auszutauschen. Bei wöchentli-            sie kurzzeitig mit Hector Berlioz verlobt, hei-
chen Treffen mit Freunden und geladenen            ratete dann jedoch den Pianisten und Kla-
Gästen wurden Hauskonzerte und Lesungen            vierfabrikanten Camille Pleyel, dessen Na-
veranstaltet. Wenn die Gastgeberinnen nicht        men sie – aus marketing-strategischen
selbst auftraten, erhielten Nachwuchstalen-        Gründen – zeitlebens trug. Nach kurzer Ehe        Das Netzwerk der Salonnières

                         Influencerinnen des 19. Jahrhunderts                                                                  Influencerinnen des 19. Jahrhunderts
4                                                                                                       5

                                                                                                                        Der verachtete
        MIMI UND DIE HERRIN                          d’Agoult. Cosima hatte mit 20 Jahren den
          VON BAYREUTH                               Schüler ihres Vaters, den Dirigenten Hans von
Auch in Deutschland entwickelten sich zahl-          Bülow geheiratet. Das Paar war gut mit

                                                                                                                           ­Prophet
reiche kulturelle Zusammenkünfte. In Berlin          Richard Wagner befreundet. Nach einiger Zeit
waren die »Sonntagsmusiken« der Familie              begann Cosima mit Richard Wagner eine Lie-
Mendelssohn Bartholdy bekannt, in denen              besbeziehung. Während der gemeinsamen
die jugendlichen Kinder Felix und Fanny ei-          Arbeit ihres Mannes und ihres Liebhabers an
gene Kompositionen und ihr instrumentales            der Uraufführung von »Tristan und Isolde«
                                                                                                                     ZU DEN NETZWERKEN ROMANTISCHER MUSIKKULTUR
Können zum Besten gaben. Fanny übernahm              1865 in München gebar sie ihre erste gemein-
später die Leitung dieser musikalischen Sa-          same Tochter – Isolde –, die jedoch offiziell
lons, die ihr lebenslang die Chance gaben,           als Tochter Hans von Bülows das Licht der
trotz des Publikationsverbotes durch Vater           Welt erblickte. Schließlich wurde Cosima
und Bruder ihre eigenen Werke vor einem              Richard Wagners Frau und übernahm nach                    EINE VERSCHWÖRUNG?                            dam« aus Giacomo Meyerbeers Grand Opéra
Publikum zur Aufführung zu bringen.                  seinem Tod die Leitung der Bayreuther Fest-                                                             »Le Prophète« verfasste, war seine Zeit als
                                                     spiele. Sie setzte sich für das musikalische       Wir schreiben das Jahr 1869: Richard Wagner          Klaviervirtuose »on the road« im Wesent­
Eine andere Berliner Salonnière war Marie            Erbe Wagners ein, was ihr schließlich den          spürt die negativen medialen Auswirkungen            lichen vorbei. Die Zeit um 1850 bedeutete
von Schleinitz, genannt Mimi. Sie war selbst         Beinamen »Herrin von Bayreuth« einbrachte,         seines 1850 veröffentlichten, antisemiti-            dabei für ihn eine Phase der künstlerischen
künstlerisch aktiv, verewigte sich jedoch            und unterstützte in Salonnière-Manier Richard      schen Aufsatzes »Das Judenthum in der Mu-            und kompositorischen Neuorientierung. Dass
vor allem als Philanthropin einiger wichtiger        Strauss, den sie als »Kämpfer für die Bay-         sik« auf sich und seinen Freund Franz Liszt.         Liszt Meyerbeer bearbeitete, zeigt die Ver-
Künstler wie Franz von Lenbach und Richard           reuther Sache« sah. Auch wenn sich Richard         Als Reaktion darauf sucht er in der 19 Jahre         flechtung der beiden Komponisten. Schließ-
Wagner. Der Stil ihrer Salons orientierte sich       Strauss vom Bayreuth Cosima Wagners spä-           später verlegten und stark erweiterten Fas-          lich agierten sie lange im selben musikali-
stark am französischen Vorbild. Hier versam-         ter distanzierte, führte er als jüngster Vertre-   sung des Aufsatzes Schuldige: »So weit war           schen und sozialen Milieu: Meyerbeer war
melte sich für lange Zeit nicht nur der be-          ter dieses Netzwerkes dessen musikalisches         es eben gekommen: wir waren von der deut-            einer der prominentesten Opernkomponisten
kannteste Künstler- und Intellektuellenkreis         Vermächtnis weiter in die Moderne.                 schen großen Presse vollständig ausge-               des 19. Jahrhunderts. Liszt war der Klavier-
Berlins, sondern ganz Deutschlands. Die                                                                 schlossen. Wem gehört aber diese Presse?«            virtuose, dessen Opernfantasien bis heute als
hochkarätigsten Persönlichkeiten gingen                                               Sophie Klaus      Wagner sah die Schuld bei den Juden. Für ihn         prägend für die Gattung gelten. Komponisten
ein und aus, denn Mimi hielt insbesondere                                                               waren sie es, welche die Presse beherrsch-           und Virtuosen lebten quasi in einer Symbiose:
zum preußischen Adel, wie auch dem deut-                                                                ten, im Hintergrund gegen ihn intrigierten und       Opern boten populäre und dankbare Bearbei-
schen Kaiserpaar, regen Kontakt. Ihr Einfluss                                                           ihn für seine judenkritische Haltung abstrafen       tungsvorlagen für Klavierfantasien, welche
auf die Berliner Gesellschaft und die gemei-                                                            wollten. Wagners Zitat verweist dabei gleich         wiederum das Publikum in die Theater lock-
ne politische Lage wird vor allem dadurch                                                               auf mehrere Netzwerke, die Einfluss auf ihn          ten. Liszts Fantasie zeigt freilich seinen
deutlich, dass Bismarck persönlich jahre-                                                               übten: Er entwirft die Konstrukte einer ge-          künstlerischen Wandel zu dieser Zeit: Das
lang vergeblich versuchte, ihr Ansehen zu                                                               schlossenen, jüdischen Machtelite, einer             anspruchsvolle Werk kehrt, auch was dessen
schmälern. Mimi ist es mit zu verdanken,                                                                unterdrückten Gesamtheit der Presse und              zeitliches Ausmaß und Besetzung (Orgel,
dass Wagners Träume in Bayreuth Realität                                                                seines eigenen benachteiligten Kreises.              wahlweise Pedalflügel) betrifft, der schillern-
wurden, da sie ihn nicht nur finanziell unter-                                                          Doch das heutige Konzertprogramm macht               den Opern- und Virtuosenwelt den Rücken.
stützte, sondern ihn in ihrem Salon auch der                                                            uns nicht nur auf Wagner, sondern auch auf
Berliner Obrigkeit vorstellte.                                                                          die weiteren Komponisten des Abends auf-              EIN MANN MIT ZWEI GESICHTERN
                                                                                                        merksam. Ein Blick in die Vergangenheit:
Zu Mimis engstem Freundeskreis gehörten                                                                                                                      Richard Wagner fand zunächst nichts als
auch zwei Töchter bekannter Musiker – Cor-                                                               ZWEI KOMPONISTEN, EIN MILIEU                        bewundernde Worte für den berühmten
nelie Richter, selbst Salonnière und Tochter                                                                                                                 Meyerbeer. So schrieb Wagner 1850 über
von Giacomo Meyerbeer, und Cosima von                                                                   Als Franz Liszt 1850 seine Fantasie und Fuge         »Le Prophète«: »In dieser zeit sah ich denn
Bülow, Tochter von Franz Liszt und Marie                                                                über den Choral »Ad nos, ad salutarem un-            auch zum ersten male den Propheten, – den

                          Influencerinnen des 19. Jahrhunderts                                                                             Der verachtete ­Prophet
6                                                                                                    7

Propheten der neuen welt: – ich fühlte mich
glücklich und erhoben, ließ alle wühleri-
schen pläne fahren, die mir so gottlos er-
                                                                                                                        Quick Guide
                                                                                                                         »Parsifal«
schienen«. Die Sympathie Wagners für den
aus jüdischer Familie stammenden Meyer-
beer änderte sich jedoch rasch. Wagner
schrieb in der bereits erwähnten ersten
Fassung seines antisemitischen Aufsatzes
– dort noch unter dem Pseudonym »K. Frei-
gedank« – über den zuvor bewunderten                                                               ZUSAMMENGEFASST: »PARSIFAL«                           Kundrys Kuss öffnet Parsifal die Augen und
Komponisten: »Wir glauben wirklich, daß er                                                                                                               er erkennt die Leiden des Amfortas. Parsifal
Kunstwerke schaffen möchte und weiß, daß                                                           Man versetze sich in die Zeit des frühen Mit-         widersteht nicht nur der Verführung, sondern
er sie nicht schaffen kann: um sich aus die-                                                       telalters, in die Sagenwelt um die Burg Mon­          kann auch den Speer abwenden, mit dem
sem peinlichen Conflicte zwischen Wollen                                                           salvat und auf das Zauberschloss Klingsors            Klingsor ihn niederstrecken wollte. Der zum
und Können zu ziehen, schreibt er Opern für                                                        in den Pyrenäen. Amfortas, der Gralskönig,            Gralskönig gesalbte Parsifal erlöst Kundry von
Paris und läßt sie in der übrigen Welt auf-                                                        wird von einem Speer des abtrünnigen Grals-           ihren Sünden und heilt Amfortas obendrein.
führen«. Wagners Meinung über Meyerbeer                                                            ritters Klingsor verletzt. Er kann nur durch
                                                    Richard Strauss und Joseph Goebbels (1938)
hatte sich noch im selben Jahr also grund-                                                         denjenigen geheilt werden, der »durch Mit-                                           Antonia Mayr
legend geändert: Eben noch war Meyerbeer            Aufführungsverbote von Werken jüdischer        leid wissend der reine Tor« ist. Der junge Par-
für Wagner der Bote einer prophetischen             Komponisten wie Meyerbeer verantwortlich       sifal unterdessen gelangt auf seinen Wande-            BLICK INS LEXIKON
Verheißung – oder gar der Prophet selbst.           war. Diesen gegenüber standen vom NS-­         rungen in den Zaubergarten Klingsors und soll          RICHARD WAGNER
Nun wird er als ein unvermögender jüdi-             Regime bevorzugte, als »deutsch« gesehe-       von den betörenden Blumenmädchen, dar-                 »Parsifal«
scher Komponist beschrieben, dessen                 ne Komponisten wie Liszt, Wagner und zu-       unter die Heidin Kundry, verführt werden.              Bühnenweihfestspiel in drei Aufzügen
Name wohl aus Verachtung nicht ein einzi-           letzt auch Strauss selbst.
ges Mal im gesamten Aufsatz genannt wird.                                                                                                                 Lebensdaten des Komponisten
                                                                                                                                                          geboren am 22. Mai 1813 in Leipzig;
                                                               DER ROTE FADEN
                                                                                                                                                          ­gestorben am 13. Februar 1883 in Venedig
         DER SPÄTGEBORENE
                                                    Erscheint einem Meyerbeer in heutigen Kon-                                                            Entstehung
Richard Strauss stand mit den bisher behan-         zertprogrammen zwar nicht mehr sonderlich                                                             September 1877 bis Januar 1882 (erste
delten Komponisten nicht im direkten Kon-           häufig, erweist er sich bei näherer Betrach-                                                          Beschäftigung mit der Thematik: 1845 in
takt und gehörte zu ihrer Nachfolgegenera-          tung jedoch als eine zentrale Figur eines                                                             Marienbad; erste Skizze: 1857; Wieder­
tion. Jedoch war Strauss’ kompositorische           mehrere Generationen umfassenden Netz-                                                                aufnahme: 1877)
Entwicklung ab der Begegnung mit seinem             werkes der klassischen Musik: Immer wie-
Mentoren Alexander Ritter, einem fanati-            der taucht sein Name in unterschiedlicher                                                             Uraufführungen
schen Wagnerianer, stark geprägt von Wag-           Funktion wie in unterschiedlichem Zusam-                                                              Vorspiel: am 25. Dezember 1878 im Haus
ners Musik und Schriften. Wagners aggres-           menhang auf. Giacomo Meyerbeer war da-                                                                Wahnfried in Bayreuth (Privataufführung,
siv rassistische Haltung scheint dabei je-          bei zunächst eine Persönlichkeit, der viel                                                            Dirigent: Richard Wagner)
doch nicht auf Strauss übergegangen zu              Bewunderung zuteil wurde, die aber im Ver-                                                            Oper: am 26. Juli 1882 im Bayreuther
sein. Widersprüchlich erweist sich seine Rol-       lauf ihrer anhaltenden Funktion als Dreh-                                                             Festspielhaus (Dirigent: Hermann Levi;
le im NS-Regime: Zwar wird diese unter an-          und Angelpunkt der damaligen Musikkultur                                                              Regisseur: Richard Wagner)
derem als apolitisch beschrieben, dennoch           mehr und mehr Neid und Hass erfuhr, nicht                                                             Zeit und Ort der Handlung
war Strauss Präsident der Reichsmusikkam-           zuletzt auch aus antisemitischen Gründen.                                                             Frühes Mittelalter, auf dem Gebiet und in
mer von 1933 bis 1935 und profitierte damit                                                        Heinrich Hensel als Parsifal                           der Burg Monsalvat in Nordspanien
von einer politischen Führungsebene, die für                                      Amon Sokolski    (Bayreuther Festspiele, 1911)

                                  Der verachtete ­Prophet                                                                             Quick Guide »Parsifal«
8                                                                                                    9

       Motive als
 Kompositions­konzept –
 eine Erfolgs­geschichte                                                                             Grundmotiv des »Parsifal«: das Liebesmahlmotiv

                                                                                                     danken mit der Handlung macht die Ge-                spiel die tödliche Beziehung zwischen dem
                                                                                                     schichte besser nachvollziehbar und lässt            jungen Gralskönig Amfortas und der verfüh-
                                                                                                     wiederkehrende Personen oder Handlungs-              rerischen Zauberin Kundry schon musika-
Richard Wagner selbst soll den Begriff »Leit-        werden einige Motive wie etwa das Liebes-       elemente vertrauter erscheinen. Sie kennen           lisch angekündigt, lange bevor sie das Li-
motiv« lediglich geduldet haben. Aber die            mahl-, Grals- und Glaubensmotiv vorgestellt.    es vielleicht: Sie blättern, oder wohl eher:         bretto offenbart.
sogenannte Leitmotivtechnik ist dennoch in           Leitmotive können, wie auch hier, sehr un-      wischen durch die Fotos vom letzten Urlaub
seinen Bühnenwerken omnipräsent. Mehr                terschiedlicher Natur sein – von kurzen         und plötzlich fühlen Sie sich wieder an den          Es ist eine spannende Erfolgsgeschichte,
noch: diese von Wagner maßgeblich ge-                prägnanten Tonfolgen bis hin zu großen und      fernen schönen Ort versetzt, vielleicht kön-         welche das Leitmotiv vorzuweisen hat. Auch
prägte Kompositionsweise hat seitdem eine            ausdrucksvollen Melodien. Das ziemlich          nen Sie sogar die salzige Meeresluft rie-            für Strauss war »Leitmotiv« kein Fremdwort,
steile Erfolgskarriere hingelegt. Noch heute         lange und anspruchsvolle Liebesmahlmotiv        chen. Unsere Sinne sind miteinander ver-             man denke nur an seine Opern »Salome« und
nutzen zum Beispiel Filmkomponisten Leit-            zieht sich durch das gesamte Werk. Es bil-      netzt. Wenn wir eine vertraute Melodie hö-           »Elektra«. Und sogar außerhalb der Musik
motive, um innerhalb ihres Werkes musika-            den sich sogar neue Themen aus ihm he­          ren, z. B. ein Lied aus der Kindheit, weckt          finden Leitmotive rege Verwendung. Nie-
lische Zusammenhänge herzustellen. Eines             raus. Wenn man so will, ist das Liebesmahl-     dies in uns auch Erinnerungen, die wir mit           mand geringeres als Thomas Mann machte
der berühmtesten Beispiele ist wahrschein-           motiv das Grundmotiv im »Parsifal«. Es er-      diesen Tönen verbinden. Das macht sich die           in seinem literarischen Werk von Leitmoti-
lich das unheilvolle und bedrohliche Thema           klingt zum ersten Mal direkt zu Beginn des      Leitmotivtechnik zu Nutze.                           ven Gebrauch. Leitmotive in der Literatur
des Weißen Hais aus dem gleichnamigen                Vorspiels.                                                                                           treten zum Beispiel in der Form von sich
Film von 1975. Oder stellen Sie sich einmal                                                              MUSIKALISCHER KLEBSTOFF                          regelmäßig wiederholenden Aussagen oder
»Star Wars« ohne den »Imperial March« aus            Im Kontrast zu dem sehr andächtigen Lie-                                                             auch Umständen auf, wie beispielsweise die
der Feder von John Williams vor, der immer-          besmahlmotiv steht das eindrucksvolle           Diese Verknüpfung von Musik und Handlung             wiederkehrenden Zahnprobleme des Prota-
zu das dunkle Schaffen Darth Vaders ankün-           Gralsmotiv. Erstmalig von Trompeten und         erscheint umso wichtiger, wenn man sich              gonisten in Thomas Manns Roman »Budden-
digt. Ja, die Leitmotivtechnik ist aus moder-        Posaunen zusammen vorgetragen, wirkt es         die lange Aufführungsdauer des »Parsifal«            brooks«. Überlegen Sie einmal, wie würden
nen Hollywoodstreifen kaum mehr wegzu-               erhaben und mächtig. Man kann förmlich          (4,5 Stunden) zusammen mit der enorm ver-            Sie ein Leitmotiv komponieren, z. B. für den
denken. »Herr der Ringe«, »Fluch der Kari-           hören, wie der heilige Gral, eine so kostbare   dichteten Handlungsführung vergegenwär-              ungeliebten Zahnarztbesuch?
bik«, aber natürlich auch Klassiker wie »Spiel       und Jahrtausende alte Reliquie, emporge-        tigt. Für Wagner waren Leitmotive wie ein
mir das Lied vom Tod« – überall findet man           halten wird und die Betrachter in Staunen       Klebstoff, der das musikalische Netzwerk                                        Christian Kohler
zahlreiche Leitmotive. Doch wie funktioniert         versetzt. Doch interessanterweise stammt        zusammenhält und dadurch die »Orchester-
diese Technik, wie kommt sie im »Parsifal«           dieses Motiv gar nicht von Wagner. Es ist       melodie«, welche im Grunde das musikali-
zum Tragen und warum ist sie so erfolgreich          vielmehr ein Zitat des sogenannte »Dresd-       sche Sprachrohr des Komponisten zu sei-
geworden?                                            ner Amen«, einer Chor-Akklamation aus dem       nem Publikum ist, immer weiterfließen lässt.
                                                     18. Jahrhundert, das auch von vielen ande-      Aber Leitmotive haben noch mehr zu bieten.
    GRUNDMOTIV DES PARSIFAL                          ren Komponisten der Romantik zitiert wurde.     Sie können zum Beispiel ebenso die Rolle
                                                                                                     eines Erzählers annehmen, indem sie das
Wie in allen seinen reifen Werken, greift            Doch was nützen dem Komponisten diese           Handlungsgeschehen kommentieren, Wis-
Wagner auch im »Parsifal« auf diese Kompo-           Leitmotive? Eine feste Verknüpfung und          sen und Gefühle der Charaktere in Bezie-
sitionstechnik zurück. Schon im Vorspiel             Wiederholung bestimmter musikalischer Ge-       hung zueinander setzen. So wird zum Bei-

                             Motive als Kompositions­konzept                                                                      Motive als Kompositions­konzept
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           Quick Guide                                                                                   Kirche, Kaufhaus,
         »Prophetenfuge«                                                                                    Konzertsaal
                                                                                                                                 LISZTS »PROPHETENFUGE«
         ZUSAMMENGEFASST:                           dem Berthe jedoch im Propheten ihren Ver-
           »LE PROPHÈTE«                            lobten Jean erkennt, sucht sie den Tod. Als
                                                    die Truppen des Kaisers Karl V. Münster
Jean de Lyde, der von den Wiedertäufern             einnehmen, reißt Jean sich selbst, seine
zum Propheten erhoben wurde, steht an der           Mutter und sein ganzes Gefolge in den Tod.              DIE ORGELWEIHE                              nämlich der Grand Opéra »Le Prophète« von
Spitze des Aufstandes gegen den Comte               Liebe, Verrat, Wut, Rachegelüste, Gewalt,            IM MERSEBURGER DOM                             Giacomo Meyerbeer. Liszt nannte sein
d’Oberthal, welcher die Münsteraner Bauern          Größenwahn, Gnade, Selbstmord, Reue und                                                             Stück deshalb auch seine »Prophetenfuge«.
und Bürger terrorisiert. Dadurch setzt Jean         Tod offenbaren sich dem Publikum. Der         Am 26. September 1855 wurde im Mersebur-              Obwohl die Orgel doch eigentlich in der Kir-
seine Mutter Fidès und seine Braut Berthe           Choral »Ad nos, ad salutarem undam«, den      ger Dom die seinerzeit größte Orgel in                che beheimatet ist, nahm Liszt also ein welt-
dem Chaos der Revolution und der Unter-             Franz Liszt als Grundlage für seine Kompo-    Deutschland eingeweiht. Gebaut von Fried-             liches Thema als Vorlage.
drückung durch antireformatorische Kräfte           sition verwendete, ist in »Le Prophète« be-   rich Ladegast hat sie 5.686 Pfeifen in 81
aus. Beide halten Jean für tot und machen           sonders im ersten Akt präsent.                Registern, vier Manuale und Pedal und wird                   MARCEL DUPRÉ UND DIE
den Propheten dafür verantwortlich. Nach-                                          Antonia Mayr   auch heute noch gespielt. Für die Weihe                       WANAMAKER-ORGEL
                                                                                                  dieser Orgel komponierte Franz Liszt eigent-
                                                     BLICK INS LEXIKON                            lich sein großes Orgelwerk »Präludium und             Während Liszt die Prophetenfuge in Kirchen
                                                     FRANZ LISZT                                  Fuge über das Thema B-A-C-H«. Es wurde                aufgeführt hatte, kam sie mit Marcel Dupré
                                                     »Ad nos, ad salutarem undam«                 aber nicht rechtzeitig fertig. Deshalb ent-           (1886–1971) ganz im Profanen an. Dieser
                                                     Fantasie und Fuge über den Choral der        schied er sich, stattdessen seine Fantasie            schrieb seine Bearbeitung für Orgel und Or-
                                                     Wiedertäufer aus Giacomo Meyerbeers          und Fuge über den Choral »Ad nos, ad sa-              chester nämlich für die Orgel eines Kaufhau-
                                                     Oper »Le Prophète«                           lutarem undam« dort aufzuführen. Dies wur-            ses. Der amerikanische Kaufmann John
                                                     (bearbeitet für Orgel und Orchester von      de lange als die Uraufführung des Werks               Wanamaker eröffnete 1911 einen Neubau
                                                     Marcel Dupré)                                angenommen. Liszt hatte das Stück aber                seines Kaufhauses in Philadelphia. Als be-
                                                                                                  schon 1852 aufgeführt und danach noch                 sondere Attraktion stellte er darin die größte
                                                     Lebensdaten des Komponisten                  einmal überarbeitet. Geschrieben hatte er             Orgel der Welt auf. Sie war ursprünglich für
                                                     geboren am 22. Oktober 1811 in Raiding       es 1850 für eine von ihm selbst konstruierte          die Weltausstellung 1904 in St. Louis gebaut
                                                     (heute: Doborján/Ungarn); gestorben am       Kombination aus Harmonium und Pedalkla-               und danach von Wanamaker gekauft wor-
                                                     31. Juli 1886 in Bayreuth                    vier. Da er die Pedaltechnik selbst nicht aus-        den. Bis 1930 wurde sie dann immer weiter
                                                     Entstehung                                   reichend beherrschte, spielte bei der Orgel-          vergrößert. Mit 28. 750 Pfeifen in 464 Pfei-
                                                     1850 in Weimar                               weihe und weiteren Aufführungen sein                  fenreihen und 376 Registern sowie sechs
                                                                                                  Schüler Alexander Winterberger.                       Manualen und Pedal gilt sie heute noch im-
                                                     Widmung                                                                                            mer als größte spielbare Orgel der Welt. Auch
                                                     Giacomo Meyerbeer                            Bemerkenswert ist, dass Liszt, obwohl er              die Filiale in New York hatte ab 1904 eine
                                                     Uraufführungen                               vorher noch keine Orgelwerke komponiert               Orgel, die mehrmals erweitert wurde. Wäh-
                                                     am 29. Oktober 1852 in der Stadtkirche       hatte, gleich eines in derartiger Länge und           rend das Haus in Philadelphia heute zur Wa-
Titelseite des Klavierauszugs von Meyerbeers         von Weimar                                   Komplexität schrieb. Zudem basiert es voll-           renhauskette Macy’s gehört, wurde das in
»Le Prophète« (1849)                                                                              ständig auf einem Thema aus einer Oper,               New York aber 1954 geschlossen.

                               Quick Guide »Prophetenfuge«                                                                           Liszts »Prophetenfuge«
12                                                                                                    13

                                                       Erklärung nachvollziehbar, dass Dupré den
                                                       schnellen Pedallinien der Prophetenfuge ei-
                                                       nen prägnanteren Klang geben wollte.
                                                                                                                  Im Gespräch
                                                               WIEDERENTDECKUNG
                                                              FÜR DEN KONZERTSAAL                               mit der Organistin
                                                       Duprés Bearbeitung galt lange als verschol-
                                                       len, bis sie 2007 im Keller seiner Villa in Meu-
                                                       don bei Paris von Olivier Latry und seinem
                                                                                                                 Iveta Apkalna
                                                       Schüler Denny Wilke wiederentdeckt wurde.
                                                       Seitdem erklingt sie nun auch in Konzertsä-
Marcel Dupré an der Wanamaker-Orgel                    len. Latry, bekannt als Titularorganist von        Im November 2020 haben Sie auf dem You-            mitteln möchte. Ich sehe Musik in Farben.
in Philadelphia (1948)                                 Notre-Dame de Paris, spielte Duprés Bear-          Tube-Kanal der Elbphilharmonie die kurze           Es gibt bestimmte Komponisten, bei denen
                                                       beitung noch im selben Jahr im Merseburger         Konzertreihe »Ivetas Pralinenschachtel«            ich zum Beispiel meine roten Schuhe nie
Ab 1919 fanden in beiden Kaufhhäusern re-              Dom, wo die Geschichte einst begann. Von           veröffentlicht. Wie kamen Sie auf diese            anziehen würde.
gelmäßig Konzerte statt, sowohl für Orgel              Anfang an leisteten Werke wie dieses einen         Idee?
solo als auch mit Orchester. Dafür engagier-           Beitrag zur Etablierung der Orgel als Konzert­     Ich wollte den Menschen etwas Kleines,             Sie pflegen mit der »Königin der Instrumen-
ten John und sein Sohn Rodman Wanamaker                instrument auch außerhalb der Kirche.              Feines, Kurzes, Süßes geben, damit dieser          te« einen respektvollen Umgang, verbeugen
auch bekannte europäische Organisten wie                                                                  graue Alltag im Herbst 2020 ein wenig far-         sich, bevor Sie am Spieltisch Platz nehmen
Louis Vierne und Marcel Dupré. Für eine sol-           Mit ihrem vielstimmigen Klang symbolisiert         biger wird. Daher habe ich meine Lieblings-        und Siezen die Orgel in Interviews. Warum?
che USA-Tournee erstellte Dupré 1930 im                die Orgel den Zusammenklang zwischen               stücke als kleine Pralinenschachtel zusam-         Die meisten Organisten, die beispielsweise
Auftrag der Wanamaker-Foundation seine                 himmlischer und weltlicher Sphäre. Heute           mengestellt und aufgenommen. Dazu habe             in einer Kirche agieren dürfen, nennen das
Bearbeitung von Liszts »Prophetenfuge«.                sind Orgeln aus 500 Jahren Musikgeschich-          ich echte Pralinen ausgewählt, die für mich        Instrument fast immer »meine Orgel«. Ich
                                                       te erlebbar, die individuell angepasst sind        genauso wie die Musik schmecken.                   denke aber vielmehr, diese Orgeln gehören
Die Kombination von Orgel und Orchester war            an den Raum, in dem sie stehen, und an die                                                            dem Raum, in dem sie stehen. Deshalb pfle-
für Dupré nichts Ungewöhnliches. Er hatte              Musik, für die sie gebaut und gestimmt wur-        Ihr Outfit und sogar die Orgelschuhe haben         ge ich eine respektvolle und im guten Sinne
bereits mehrere Stücke für diese Besetzung             den. Um ihren Variantenreichtum zu zeigen,         Sie dem jeweiligen Stück angepasst. Was            distanzierte, aber gleichzeitig sehr warm-
komponiert oder bearbeitet, darunter auch              haben zehn der Landesmusikräte in                  ist eigentlich das Besondere an diesen             herzige Beziehung zu den Orgeln. Das sind
1925 Liszts Klavierstück »St. François de Pau-         Deutschland die Orgel zum Instrument des           Schuhen, außer, dass sie auf den Pedalen           manchmal bis zu 70 Instrumente pro Jahr.
le marchant sur les flots«. 1948 bearbeitete er        Jahres 2021 gekürt. Hierzu werden ver-             »Eyecatcher« sind?                                 Deshalb bleibe ich beim Sie, auch wenn ich
in der gleichen Weise auch noch dessen Va-             schiedene Aktivitäten und Veranstaltungen          Wir Organisten müssen auf den Pedaltasten          zu vielen Orgeln zurückkehre. Die Orgel ist
riationen über »Weinen, Klagen, Sorgen, Za-            organisiert. Schirmherrin für Hamburg und          fast wie die Tänzer über den Tanzboden             eine Königin, die königlich klingt, königlich
gen« von Johann Sebastian Bach. In allen               Schleswig-Holstein ist dabei übrigens Iveta        gleiten, das kann man nicht in jedem belie-        aussieht, sich königlich benimmt und mir vor
Bearbeitungen ermöglichen die ergänzten                Apkalna, die Solistin des heutigen Konzerts.       bigen Schuhpaar meistern. Für mich sind ein        allem nicht gehört. Gleichzeitig bedanke ich
Orchesterstimmen eine effektvolle klangliche                                                              paar Elemente wesentlich, die ich bei kei-         mich auf der Bühne bei der Orgel und ap-
Erweiterung. Auch wenn die größte Orgel der                                    Magnus Rosenbaum           nem der erhältlichen Orgelschuhe finden            plaudiere ihr.
Welt sicher viele Klangfarben zu bieten hat,                                                              konnte. Daher habe ich selbst experimen-
wird sie durch das Prinzip der Tonerzeugung                                                               tiert und meine eigenen Schuhe entworfen,          Vor Konzerten müssen Sie die Orgeln vor
mit Luft immer nach Orgel klingen. Ausnah-                                                                die ein Schuhmacher aus Lettland dann aus          Ort genauestens ausprobieren. Inwieweit
men sind vielleicht Spezialregister, die aber                                                             Ziegenleder handgefertigt hat. Zum Thema           ist das »Einregistrieren« selbst eine Art von
ebenfalls nicht wie Orchesterinstrumente                                                                  »Eyecatcher«: Die Farbe meiner Kleidung            Komposition?
klingen, sondern eher Glocken und ähnliches                                                               und meiner Schuhe passe ich immer der              Das, was Pianisten am Klavier über den An-
anschlagen. Insofern wird auch die mögliche                                                               Message an, die ich mit meiner Musik ver-          schlag machen, wie sie die Tasten berühren,

                                   Liszts »Prophetenfuge«                                                                               Iveta Apkalna im Interview
14                                                                                                     15

an welchen Stellen sie piano oder fortissimo
wählen, müssen wir Organisten alles mit der
Registerauswahl schaffen. Bei einem Solo-
konzert (z. B. 2x 45 min mit Pause) benötige
                                                     Das hat eine mediale Resonanz geschaffen.
                                                     Es tat wirklich gut, dass nicht nur Medien,
                                                     die etwas mit Musik zu tun haben, plötzlich
                                                     über Orgelmusik berichten wollten. Das war
                                                                                                                      Iveta Apkalna
ich mindestens acht bis zehn Stunden Vor-            eine große Chance für die Orgel! Natürlich                                                   ORGEL
bereitungszeit, exklusive Üben. Wir Organis-         hat der Artikel in der Vogue damals auch ge-
ten müssen mindestens ein, wenn nicht                holfen. Ich weiß noch, dass in dieser Zeit
sogar zwei Tage vor dem Konzert anreisen             viele Leute nach dem Konzert zu mir zum
und meistens nachts in den Konzertsälen              Signieren gekommen sind und erzählt ha-
proben.                                              ben, dass sie wegen des Vogue-Artikels                                                                 Iveta Apkalna studierte Klavier und Orgel im
                                                     zum ersten Mal in ihrem Leben in ein Orgel-                                                            Doppelstudium in Riga, London und Stutt-
Sie sind in Lettland aufgewachsen, einem             konzert gekommen sind.                                                                                 gart. Seit ihrem Auftritt mit den Berliner Phil-
Land, das bis 1990 Teil der Sowjetunion                                                                                                                     harmonikern unter der Leitung von Claudio
war. Wie haben diese politischen Umstände            2021 wurde die Orgel zum »Instrument des                                                               Abbado im Jahr 2006 wird Iveta Apkalna von
in Bezug auf die Orgel mit hineingespielt?           Jahres« ernannt. Sie übernehmen auch                                                                   internationalen Orchestern eingeladen und
Seit meinem fünften Lebensjahr habe ich              u. a. die Schirmherrschaft und sind mit ei-                                                            spielte unter bedeutenden Dirigenten wie
Klavierspielen gelernt, später Klavier und           genen Projekten involviert. Was erhoffen                                                               Mariss Jansons, Gustavo Dudamel und
Orgel studiert. Während meiner Kindheit wa-          Sie sich für die Orgel?                                                                                Andris Nelsons. Sie ist regelmäßiger Gast
ren in Lettland alle Kirchentüren zu. Den            Mir ist wichtig, dass wir für das jüngere Pu-                                                          bei den großen Musikfestivals Europas wie
Orgelklang kannte ich nur von Schallplatten.         blikum die Augen und Ohren für die Königin                                                             dem Lucerne Festival oder dem Rheingau
Ich war 15 Jahre alt, als Lettland unabhängig        der Instrumente öffnen, die Orgeln allen zu-                                                           Musik Festival.
wurde. Erst dann habe ich erfahren, dass             gänglich machen und Aufmerksamkeit für
mein Großvater und mein Urgroßvater Orga-            und Neugier auf dieses Instrument schaf-                                                               Im Rahmen der Eröffnungskonzerte des Na-
nisten waren. Das hat mir in meiner Kindheit         fen. Die erhöhte mediale Präsenz hilft si-                                                             tional Kaohsiung Center for the Arts in
niemand erzählt, damit ich mich in der Schu-         cherlich dabei. Aber die Orgel ist in keiner                                                           Taiwan weihte Iveta Apkalna im Oktober
le nicht verplappere. In meiner Stadt wurde          schlechten Position, weil ich in den Orgel-                                                            2018 die neue Klais-Orgel dort ein, auf der
dann das Fach Orgel an der Musikschule               konzerten zunehmend jüngeres Publikum                                                                  sie kurz darauf ihre neueste CD »Widor &
gegründet, und ich war dort die erste Orgel-         bemerke. Wir sind auf einem guten Weg.                                                                 Vierne« einspielte, die beim Label Berlin
schülerin. Nach ein paar Monaten durfte ich                                                                                                                 Classics erschien. Ein besonderer Schwer-
bereits vor einem kleinen Publikum, darun-                  Das Interview führte Marion Lutsch                                                              punkt in ihrem Schaffen ist die Neue Musik.
ter mein Großvater, spielen. Sie können sich                                                                                                                Zudem bestreitet sie mindestens eine Ur-
vorstellen, was das für ihn, aber auch für                                                           »So furios wie eine Argerich an der Orgel«,            aufführung pro Jahr.
mich bedeutet hat. Schon ein wenig später,                                                           beschrieb die Westdeutsche Allgemeine
im Alter von 16 Jahren, durfte ich beim Be-                                                          Zeitung die lettische Organistin, die inzwi-           Iveta Apkalna erhielt zahlreiche Auszeich-
such von Papst Johannes Paul II. in Lettland                                                         schen zu den weltweit führenden Inter-                 nungen und Preise, wie beispielsweise den
den Gottesdienst im Dom in Riga begleiten.                                                           pret*innen an der Königin der Instrumente              Grand Latvian Music Award. Als erste Orga-
                                                                                                     zählt. Als Titularorganistin der Klais-Orgel in        nistin überhaupt wurde ihr im Jahre 2005
Sie sind als erste Organistin in der Vogue                                                           der Hamburger Elbphilharmonie eröffnete                der ECHO Klassik in der Kategorie »Instru-
erschienen. Wie ist es zu diesem Projekt                                                             sie das Konzerthaus im Januar 2017 zusam-              mentalistin des Jahres« verliehen.
gekommen?                                                                                            men mit dem NDR Elbphilharmonie Orches-
Das war eines meiner ersten professionellen                                                          ter, unter der Leitung von Thomas Hengel-
                                                            Um eine ausführliche Version des
Stylings überhaupt. Die Gelegenheit dazu                    Interviews zu lesen, scannen Sie
                                                                                                     brock, mit der Weltpremiere von Wolfgang
bot sich dank meiner ersten CD-Aufnahmen,                   bitten den QR-Code oder gehen Sie        Rihms »Triptychon und Spruch in memoriam
die von Musikkritikern gut bewertet wurden.                 auf www.spielfeld-klassik.de.            Hans Henny Jahnn«.

                                Iveta Apkalna im Interview                                                                                     Die Solistin
16                                                                                                     17

Die Oper fürs Klavier                                                                                     Sie nahmen in seinem Schaffen einen hohen
                                                                                                          Stellenwert ein und wurden auch von Kolle-
                                                                                                       gen hoch angesehen. Noch Béla Bartók be-
                                                                                                       schrieb lobend, Liszt greife »sehr viel Frem-
                                                                                                                                                             Zwar ist es Ihnen im Jahr 1851 nicht möglich,
                                                                                                                                                             nach Lust und Laune Musik zu hören oder
                                                                                                                                                             Aufführungen zu sehen. Doch schon damals
                                                                                                                                                             war das musikkulturelle Leben geprägt von
                   ZUR MUSIKALISCHEN BEARBEITUNGSKULTUR                                                des auf, aber noch mehr schöpfte er aus               unfassbarer Vielfalt und Reichhaltigkeit. Al-
                                                                                                       sich selbst.« Dies zeigt sich musterhaft an           lein die Liste an Liszts Klavier- und Orgelbe-
                          EINER VERGANGENEN ZEIT
                                                                                                       der »Fantasie und Fuge über den Choral ›Ad            arbeitungen birgt eine unglaubliche Auswahl
                                                                                                       nos, ad salutarem undam‹« im heutigen Kon-            an Werken, deren Vorlagen von der Zeit
                                                                                                       zertprogramm. Liszt nimmt sich den Choral             Bachs bis zu Liszts Zeitgenossen reichen
                                                                                                       aus Giacomo Meyerbeers Oper »Le Prophète«             und alle möglichen Gattungen behandeln.
                                                                                                       vor und verarbeitet diesen zu einem virtuos           Vor allem Opernvariationen zählten im 19.
                                                                                                       ausschweifenden Stück für Orgel oder                  Jahrhundert zu einer der beliebtesten Gat-
Stellen Sie sich vor, Sie leben im Jahre 1851.        zu hören. Richard Wagner beispielsweise          ­Pedalflügel. Das Werk beginnt mit der Fan-           tungen, weshalb die Anzahl an solchen Be-
Voller Freude denken Sie an die deutsche              plädierte deshalb für möglichst leichte Kla-      tasie, an dessen Beginn das Choralthema              arbeitungen aller, meist heute auch weniger
Erstaufführung von Giacomo Meyerbeers                 vierfassungen. Es ging ihm nicht um eine          vorgestellt wird. Es folgt ein Paradebeispiel        bekannten, Komponisten dieser Zeit kaum
großartiger Oper »Le Prophète« zurück, wel-           möglichst vollständige Reproduktion, son-         für Liszts virtuose Bearbeitungskunst und            übersehbar ist. Auch heutzutage erfreuen
che Sie letztes Jahr besucht haben. Wie               dern um eine spielbare Bearbeitung, die vor       die Eigenständigkeit in der Komposition,             sich Bearbeitungen großer Beliebtheit –
gerne würden Sie diese Musik jetzt hören              allem das Verständnis des Werks fördert. In       welche Bartók so an ihm bewunderte. Ohne             man denke an unzählige Coversongs, Pot-
oder die Aufführung ein zweites Mal sehen!            einem Brief an seinen Freund Karl Klind­          das Wissen um die thematische Vorlage                pourris oder Compilations sowohl zeitge-
Heutzutage könnten Sie dafür einfach You-             worth, der einen zu komplizierten Klavier-        käme dem Zuhörer kaum in den Sinn, an den            nössischer als auch älterer Musik. Hinter der
Tube öffnen, Aufführungen aus den besten              auszug anfertigte, formuliert Wagner: »Lie-       Choral Meyerbeers zu denken. Auf den                 Tradition der Bearbeitungen steckt ein un-
Konzerthäusern der Welt anklicken und das             ber gleich zur Andeutung, während jetzt der       ­Adagio-Mittelteil folgt eine anspruchsvolle         gemeines kreatives Element und Potential
Stück aufs Neue erleben. Fast schon selbst-           gewöhnliche Klavierspieler doch nur durch-         Fuge, in welcher Liszt das Choralthema in           im Umgang mit bereits bestehender Musik,
verständlich scheinen Ton- oder gar Film-             kommt, wenn er über die Hälfte der Noten           einem schnelleren Tempo wieder aufgreift.           sodass sich oft die Frage stellt: Ab wann
aufnahmen von Musik in unserer Zeit zu sein           ausläßt.«                                          Marcel Dupré übernahm den Orgelsatz von             wird eine Bearbeitung selbst zum Original?
– sind sie doch eigentlich jedem mit weni-                                                               Liszt und erarbeitete dazu einen komple-
gen Klicks zugänglich. Es ist schwer vor-             Es blieb aber nicht nur bei trockenen Klavier-     mentären Orchestersatz, in welchem er das                                            Karl Philipp
stellbar, dass Musik nicht immer so frei zu-          auszügen – warum sollte aus bestehender            Choralthema Meyerbeers auch über die
gänglich gewesen ist. Und doch begann                 Musik nicht auch Spannenderes geschaffen           ­O rgeleinsätze hinaus verwendet.
diese grundlegende Entwicklung erst im                werden? Dabei entfaltete sich eine regel-
20. Jahrhundert. Immer vielfältiger wurde             rechte Bearbeitungskultur: Werke wurden          Einen komplett anderen Ansatz der Opern-
das Angebot, Musik erreichte mit fortschrei-          neu interpretiert, in andere Gattungen über-     bearbeitung wählten Manfred Honeck und
tender Technologisierung immer mehr Men-              führt, für große und kleine Besetzungen neu      Tomáš Ille für ihre »Elektra-Suite«. Ihr Ziel
schen auf immer leichteren Wegen.                     geschrieben – der Kreativität schienen kei-      war es, die Handlung und den musikalischen
                                                      ne Grenzen gesetzt zu sein!                      Charakter der Strauss-Oper in eine sympho-
Doch diese Möglichkeiten haben Sie 1851                                                                nische Adaption zu fassen. Honeck faszi-
nicht. Was gäben Sie in diesem Moment da-             Franz Liszt – wohl vor allem durch seine         nierten vor allem die unfassbare Klangfülle
für, wenigstens einen Klavierauszug in den            virtuosen Klavierkompositionen bekannt –         der riesigen Orchesterbesetzung, die aus-
Händen zu halten! Ursprünglich entwickelt,            war einer der großen Meister der Bearbei-        gefallene, sich an den Grenzen zur Atonalität
um Probenarbeiten zu erleichtern, waren               tungen. Er schaffte es nicht nur, den vor-       bewegende Harmonik und die Psychologie
Klavierreduktionen größerer Werke auch für            mals häufig lieblos erstellten Klavierauszü-     der handelnden Charaktere sowie deren mu-
den Hausgebrauch beliebt. Schließlich war             gen neues Leben einzuhauchen, sondern            sikalische Umsetzung. All das versuchte er
der Klavierauszug eine Möglichkeit, die Mu-           zählte auch die künstlerische Neuinterpre-       bestmöglich in seine Orchestersuite zu
sik auch im privaten Rahmen zu spielen und            tation von Werken zu seinen Spezialitäten.       übernehmen.

            Zur musikalischen Bearbeitungskultur einer vergangenen Zeit                                            Zur musikalischen Bearbeitungskultur einer vergangenen Zeit
18                                                                                                   19

                 Stimmenfang                                                                          Mir fehlen die Theater- und Konzertbesu-
                                                                                                      che, aus denen habe ich immer so viel In­
                                                                                                      spiration geschöpft. Finanziell wird es lang-
                                                                                                                                                           mit meinem Vater, der Wissenschaftsjourna-
                                                                                                                                                           list beim ZDF war. Wir haben verschiedene
                                                                                                                                                           Programme mit den Titeln »Jazz und Univer-

                  in der Pause
                                                                                                      sam auch schwierig, ich habe früher viel             sum«, »Amazonas« und »Oceans« aufge-
                                                                                                      gekellnert, aber das geht ja bei der ge-             führt. Es ging um die Verbindung von Musik,
                                                                                                      schlossenen Gastronomie auch nicht. Und              Wissenschaft und Unterhaltung. Ich war
                                                                                                      wie läuft’s bei dir?                                 damals noch in New York und bin mit meiner
                                                                                                                                                           dortigen Band eingeflogen.
                                                                                                      Matthias Bublath: Als freischaffender Mu-
Was in der Pandemie fehlt: der zufällige,             war ein bunt zusammengewürfelter Haufen         siker lebe ich hauptsächlich von Liveauftrit-        Anne Keckeis: Auf diese Weise kann man
ungezwungene Austausch mit Menschen,                  aus Schauspielern, Musikern und anderen         ten und musste mich beruflich komplett               sich wirklich ein neues Publikum erspielen.
über ihren Alltag, über ihre Meinungen. In            bei der Stadt angestellten Künstlern. Mir hat   umorientieren. Momentan beschäftige ich              Mir gefallen auch die Projekte von »Spielfeld
der Pause am Kaffeeautomat könnten Sie                die teilweise sehr schwere körperliche Ar-      mich vor allem mit Musikproduktion, und              Klassik«, da gab es während der Pandemie-
zum Beispiel ein Gespräch wie dieses mit-             beit Freude gemacht.                            mein Studium an der LMU läuft ja komplett            zeit zum Beispiel Videos mit Bastelanleitun-
bekommen, zwischen zwei Mitgliedern der                                                               online ab. Streaming-Konzerte habe ich in            gen für Instrumente. Ich war daran auch
Münchner Philharmoniker und Matthias                  Matthias Bublath: Aber der Orchesterbe-         den verschiedensten Formaten gespielt,               beteiligt, das hat total Spaß gemacht.
Bublath, Musikwissenschafts-Student und               trieb der Philharmoniker wurde dann schnell     vom virtuellen Jazzfestival München aus
Jazz-Pianist…                                         wieder aufgenommen?                             der Black Box oder dem Kunstpark Ost, bis            Matthias Bublath: Das ist so wichtig! Des-
                                                                                                      hin zu Konzerten in Autokinos.                       wegen hat mich übrigens auch die Debatte
Matthias Bublath: Hey, man hört ja so eini-           Nils Schad: Stimmt, nach einigen Wochen                                                              um die Systemrelevanz so gestört.
ges in der Presse, wie von der Aktion                 haben wir wieder in verkleinerter Besetzung     Anne Keckeis: Da wird dann gehupt und ge-
»Alarmstufe Rot«, bei der die Musikerinnnen           geprobt. Besonders die Abstandsregeln ha-       blinkt anstatt applaudiert, oder?                    Nils Schad: Ich finde auch, dass Musik auf
und Musiker schweigend und ohne zu spie-              ben uns dabei vor neue Herausforderungen                                                             jeden Fall systemrelevant ist – Museen, The-
len auf der Bühne standen, und den Initiati-          gestellt – wir müssen uns gegenseitig hö-       Matthias Bublath: Genau!                             ater und bildende Kunst mit eingeschlos-
ven »Sang- und Klanglos« und »Ohne uns                ren! Dazu kamen auch die Streaming-Kon-                                                              sen. Zudem hat die Musikausbildung eine
wird’s still«. Mir sind auch die roten Lichter        zerte und Videoaufzeichnungen ohne Pub-         Nils Schad: Bei euch Jazzmusikern ist ja die         hohe Wertigkeit auch für die allgemeine und
in den Konzertsälen der Stadt aufgefallen.            likum. Ich habe mich dabei wie die Profi-Fuß-   Interaktion mit dem Publikum besonders               berufliche Bildung, denn Musik schult Kon-
Und ich habe davon gelesen, dass die Phil-            baller gefühlt, die ebenfalls vor leeren Sta-   wichtig!                                             zentration, Merkfähigkeit und in Ensembles
harmoniker ehrenamtliche Aufgaben für die             dien spielen müssen. Ah, da kommt ja                                                                 werden soziale Kompetenzen verbessert.
Stadt übernommen haben. Stimmt das?                   gerade Anne Keckeis mit ihrem Cello. Sie ist    Anne Keckeis: Aber auch mitten im großen             Musik ist unerlässlich zur Bildung eines gu-
                                                      derzeit Akademistin bei uns, fragen wir sie     Orchester spürt man das Publikum irgend-             ten Menschen!
Nils Schad: Ich bin seit 1992 bei den Philhar-        doch mal, wie es ihr seit Beginn der Pande-     wie. Ich beschäftige mich schon länger mit
monikern als zweiter Geiger beschäftigt,              mie ergangen ist!                               alternativen Konzertformaten, um klassische          Und es ertönt der Pausengong. Schade…
also bei der Stadt München. Wir wurden                                                                Musik in neue Umlaufbahnen zu bringen. Das
gleich zu Beginn der Krise gefragt, ob wir            Anne Keckeis: Ich habe mich total auf meine     Problem, eine breitere und jüngere Zuhörer-                                    Matthias Bublath
auf freiwilliger Basis die Behörden der Stadt         zwei Jahre bei den Münchner Philharmoni-        schaft zu gewinnen, kennen wir ja schon
unterstützen möchten. Es wurde überlegt,              kern gefreut, weil es eine einmalige Chance     länger. Da könnte die Krise sogar eine Chan-
welche Aufgaben wir Musiker übernehmen                ist, aktiv am Orchesterleben teilzuhaben. Es    ce sein. Gerade arbeite ich an einem Duo für
könnten. Gefragt waren Dienste wie das Ein-           ist total schade, dass mir diese Erfahrung      Harfe und Cello mit Videoprojektionen.
kaufen für Rentner, die telefonische Nach-            jetzt verloren geht, weil in voller Besetzung
verfolgung in den Gesundheitsämtern oder,             wird momentan nicht geprobt. Vor einigen        Matthias Bublath: Das klingt ja interessant!
wie in meinem Falle, die Verteilung medizi-           Monaten habe ich mich noch über die zu-         Ein ähnliches Konzept hatten wir vor einigen
nischer Schutzausrüstung im Logistikzen­              sätzliche Zeit zum Üben gefreut, aber mitt-     Jahren in der BMW-Welt und der Orania in
trum der Kleinen Olympiahalle. Unser Team             lerweile dauert dieser Zustand zu lange an.     Berlin. Es war eine Kollaboration zusammen

                                 Stimmenfang in der Pause                                                                             Stimmenfang in der Pause
20                                                                                                 21

                     Quick Guide                                                                              Im Gespräch mit
                      »Elektra«                                                                                dem Dirigenten
 ZUSAMMENGEFASST: »ELEKTRA«                          um diese zu töten. Aus der Entfernung hört
                                                     Elektra den Todesschrei ihrer Mutter. Aighis-
                                                                                                              Manfred Honeck
Elektra ist die mykenische Königstochter von         tos kommt herbei, eilt ebenfalls ins Haus und
Klytämnestra und Agamemnon. Vor vielen               wird von Orest erschlagen. Elektra freut sich
Jahren erschlugen ihre Mutter und deren              darüber so sehr, dass sie sich in Ekstase       Manfred Honeck befand sich im vergange-            regen uns manchmal auf, wenn wir gewisse
Liebhaber Aighistos Elektras Vater Agamem-           tanzt und tot zusammenbricht.                   nen Februar in den USA. Über Zoom durften          Dinge nicht so leicht bekommen. Und viel-
non im Bad des Hauses. Seitdem sinnt Elek-                                                           wir uns mit ihm unterhalten.                       leicht haben wir nach der »Überreizung«
tra auf Rache und bittet ihren Bruder Orest                                          Antonia Mayr                                                       unseres Musikmarktes in den letzten Jahren
um Hilfe bei der Vergeltung. Nach der Nach-                                                          Lieber Herr Honeck, Sie sind nun nach ei-          jetzt die Chance, uns wieder auf das zu be-
                                                      BLICK INS LEXIKON
richt eines fremden Boten hält Elektra ihren                                                         nem ganzen Jahr der Abwesenheit wieder             sinnen, was wir wirklich lieben, nämlich die
Bruder Orest für tot. Sie will nun selbst die         RICHARD STRAUSS                                zurück bei Ihrem Orchester in Pittsburgh.          Musik selbst, unsere hohe Kunst.
Rache an ihrer Mutter vollstrecken mit exakt          »Elektra«                                      Haben Sie diese Zeiten der Einschränkung
demselben Beil, mit dem bereits ihr Vater             Symphonische Suite für großes Orchester        auch als neue Erfahrung positiv für sich           Sie sind ein Familienmensch mit sechs Kin-
erschlagen wurde. Sie begegnet jedoch                 (eingerichtet von Tomáš Ille und Manfred       nutzen können?                                     dern. Wie konnten Sie in normalen Jahren
dem Boten und erkennt in ihm ihren Bruder             Honeck)                                        Ja! Ich bin von Grund auf ein sehr hoff-           Ihr Familienleben mit der internationalen
Orest. Orest eilt ins Haus zu Klytämnestra,           Lebensdaten des Komponisten                    nungsvoller Mensch und bin optimistisch            Karriere unter einen Hut bringen?
                                                      geboren am 11. Juni 1864 in München;           eingestellt. Ich denke, dass jeder Mensch,         Das ist eine sehr wichtige Frage für mich
                                                      gestorben am 8. September 1949 in              Künstler oder nicht, sich in diesen schwie-        gewesen, denn die Familie ist mir ganz wich-
                                                      Garmisch                                       rigen Zeiten gewisse Dinge zurecht legen           tig. Es hätte nie funktioniert, wenn meine
                                                                                                     muss. Einerseits die Frage: »Wie geht es           Frau nicht zu mir gestanden hätte. In dem
                                                      Entstehung                                     weiter?«, aber auch: »Was kann ich von mei-        kleinen Dorf in Vorarlberg, in dem wir leben,
                                                      Oper: Juni 1906 – September 1908               ner Seite aus tun, um Dinge zu ändern?«,           gibt es nämlich kein Orchester, bei dem ich
                                                      Suite eingerichtet von Tomáš Ille und          »Wo stehe ich und wohin gehe ich?«. Es tut         Chef sein könnte. Ich muss in die großen
                                                      Manfred Honeck: 2014                           ehrlich gesagt gut, so eine Bestandsaufnah-        Städte reisen, wodurch ich meine Familie
                                                      Widmung                                        me zu machen! Etwas, das beispielsweise            wochenlang nicht sehen kann. Das war für
                                                      Natalie und Willy Levin                        stärker geworden ist, ist Dankbarkeit darü-        uns manchmal etwas schwierig. Die Kinder
                                                                                                     ber, was man erreicht hat, was man tun und         kennen den Vater dann nur so, dass er mal
                                                      Uraufführungen                                 wie man leben darf. Ich habe mir kürzlich          nach Hause kommt, »Grüß Gott« sagt, und
                                                      Oper: am 25. Januar 1909 in der Dresdner       einige Briefe meiner Mutter, die 1965 jung         dann ist er schon wieder weg! Gott sei Dank
                                                      Hofoper                                        verstorben ist, ansehen dürfen. Diese Brie-        gibt es in unserer heutigen Zeit Facetime
                                                      Suite: am 11. Juni 2014 in Pittsburgh; exakt   fe hat sie zwischen 1942 und 1945 verfasst.        oder Zoom. Stellen Sie sich vor: Antonín
                                                      150 Jahre nach dem Geburtstag von              Darin habe ich gelesen, dass meine Mutter          Dvořák flog nicht nach Amerika, sondern
                                                      Richard Strauss                                meinem Vater, der in Kärnten in den Dienst         musste ein Schiff nehmen, blieb jahrelang
                                                      Zeit und Ort der Handlung                      gestellt worden war – er musste Gott sei           dort und hatte bis auf Briefe überhaupt kei-
                                                      Nach dem trojanischen Krieg in Mykene          Dank nicht an die Front – Äpfel geschickt          nen Kontakt mit seinen Kindern. Im vergan-
Die »elektrische« Hinrichtung, Karikatur von
Franz Jüttner (1909)                                                                                 hat. Dass man Äpfel geschickt hat! Und wir         genen Jahr gab es auch Zeiten, in denen ich

                                     Quick Guide »Elektra«                                                                        Manfred Honeck im Interview
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zwei bis drei Wochen am Stück zu Hause
sein durfte. Das habe ich sehr genossen.
Man könnte sich fast daran gewöhnen!
                                                      Die Oper musste ich einfach bearbeiten und
                                                      ich finde es sehr schön, dass sich so viele
                                                      Leute jetzt für diese Suite interessieren.
                                                                                                                  Manfred Honeck
Eine Digitalisierung findet zurzeit ja auch           Was denken Sie, würde Richard Strauss sa-                                                   DIRIGENT
verstärkt in der klassischen Musik statt.             gen, wenn er mit im Konzert sitzen und Ihre
Glauben Sie, dass die Pandemie die Kultur             »Elektra-Suite« hören würde?
auf diese Art sehr verändern wird?                    Ja, er war ein sehr wortkarger Mensch, wie
Ich finde Livestreams ganz wichtig und eine           ich gehört habe… Ich habe ihn ja nie treffen
tolle Möglichkeit, präsent sein zu dürfen,            dürfen. Also ich kann nur sagen, worum ich        Manfred Honeck ist seit mehr als einem
unseren Zuschauern etwas mitgeben zu                  ihn bitten würde: »Maestro, Herr Doktor, bit-     Jahrzehnt Music Director beim Pittsburgh
können und sie nicht allein zu lassen. Aber           te dirigieren Sie. Sie können das sicher bes-     Symphony Orchestra. Seine richtungswei-
ich merke auch, dass das ein Notzustand ist.          ser als ich!« Er war ja auch Dirigent und kann-   senden Interpretationen gemeinsam mit
Wir brauchen das Publikum und das Publi-              te sein Stück. Ich kann mir aber auf jeden        diesem Orchester erfahren international
kum braucht uns. Ich glaube, es möchte uns            Fall vorstellen, dass er froh gewesen wäre,       große Anerkennung. Umjubelte Gastspiele
live hören und diese besondere Erfahrung              dass sich jemand um seine extremste, ato-         führen regelmäßig in die großen Musikme­
des Moments machen. Sie können ein Bild               nalste Musik kümmert und sie auf die Kon-         tropolen sowie zu bedeutenden Festivals.
hundertmal am Tag anschauen, aber Musik               zertbühne bringt.                                 Diese erfolgreiche Zusammenarbeit wird
– wenn eine Note gespielt ist, ist sie schon                                                            durch zahlreiche Einspielungen dokumen-
Vergangenheit. Das Live-Erlebnis in einem             Wenn Sie Musik in einem nicht-musikali-           tiert, die mit namhaften Schallplattenprei-
Konzertsaal ist unaustauschbar und erfüllt            schen Wort zusammenfassen müssten,                sen ausgezeichnet wurden, darunter der
uns mit großer Freude, Dankbarkeit und                welches würden Sie wählen?                        Grammy Award.
Hoffnung.                                             Göttlich!
                                                                                                        Der gebürtige Österreicher absolvierte sei-
Sie sind bekannt als ein begeisterter und                                    Das Interview führte       ne musikalische Ausbildung an der Hoch-
bedeutender Richard-Strauss-Dirigent.                                       Maria Sintow-Behrens        schule für Musik in Wien. Seine Arbeit als
Was hat Sie dazu bewegt, gerade seine                                                                   Dirigent wird durch Erfahrungen geprägt, die
»Elektra« als Suite zu bearbeiten?                                                                      er über lange Jahre als Bratschist der Wiener         Generalmusikdirektor der Staatsoper Stutt-
Ich bin sozusagen auf Entdeckungsreise                                                                  Philharmoniker und des Wiener Staatsopern­            gart. Er ist darüber hinaus seit 25 Jahren
gegangen nach guter Musik, die es noch                                                                  orchesters sammeln konnte. Seine Dirigen-             Künstlerischer Leiter der Internationalen
nicht im Konzertsaal gab. »Rusalka« und »Je-                                                            tenlaufbahn begann er als Assistent von               Wolfegger Konzerte.
nufa« habe ich zum Beispiel auch bearbei-                                                               Claudio Abbado in Wien; anschließend ging
tet. Es hat mich dann sehr gewundert, dass                                                              er als Erster Kapellmeister ans Opernhaus             Als Gastdirigent stand Manfred Honeck am
es von Richard Strauss’ orchestralster Oper,                                                            Zürich, wo er mit dem Europäischen Dirigen-           Pult führender internationaler Klangkörper,
der »Elektra«, nichts gab, im Gegensatz zum                                                             tenpreis ausgezeichnet wurde. Nach Positi-            darunter die Berliner und Wiener Philharmo-
Beispiel zum »Rosenkavalier«. Als ich damals                                                            onen in Leipzig, als einer der drei Hauptdiri-        niker, das Royal Concertgebouw Orchestra,
als Bratschist im Wiener Staatsopernorches-                                                             genten des MDR Sinfonieorchesters, und                das London Symphony Orchestra, das Or-
ter unter Claudio Abbado »Elektra« spielen                                                              Oslo, wo er als Erster Gastdirigent des Oslo          chestre de Paris und die Accademia di San-
durfte, bin ich von den Socken gefallen – so                                                            Philharmonic Orchestra tätig war, wurde er            ta Cecilia Rom. Manfred Honeck wurde von
eine herrliche Musik! Unglaubliche Klänge                                                               zum Music Director des Swedish Radio Sym-             mehreren US-amerikanischen Universitäten
und harmonische Neuheiten und ein irrsin-                                                               phony Orchestra Stockholm berufen. Außer-             zum Ehrendoktor ernannt. Im Auftrag des
                                                              Um eine ausführliche Version des
niges Orchester von 110 Leuten! Wenn man                      Interviews zu lesen, scannen Sie
                                                                                                        dem war Manfred Honeck für mehrere Jahre              österreichischen Bundespräsidenten wurde
»Elektra« hört, denkt man gleich: »Oh Gott,                   bitten den QR-Code oder gehen Sie         Erster Gastdirigent der Tschechischen Phil-           er mit dem Berufstitel Professor ausge-
des ist teuer!« Das hat mich alles fasziniert.                auf www.spielfeld-klassik.de.             harmonie. Von 2007 bis 2011 wirkte er als             zeichnet.

                               Manfred Honeck im Interview                                                                                       Der Dirigent
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