RICHARD WAGNER MANFRED HONECK
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Mittwoch 05.05.21 10 Uhr Mittwoch 05.05.21 20 Uhr Donnerstag 06.05.21 20 Uhr RICHARD WAGNER Vorspiel zu »Parsifal« FRANZ LISZT »Ad nos, ad salutarem MANFRED HONECK undam« Fantasie und Fuge Dirigent RICHARD STRAUSS IVETA APKALNA »Elektra«-Suite Orgel
RICHARD WAGNER »Parsifal« Bühnenweihfestspiel in drei Aufzügen Vorspiel zum ersten Akt FRANZ LISZT »Ad nos, ad salutarem undam« Fantasie und Fuge über den Choral der Wiedertäufer aus Giacomo Meyerbeers Oper »Le Prophète« (bearbeitet für Orgel und Orchester von Marcel Dupré) – Pause – RICHARD STRAUSS »Elektra« Symphonische Suite für großes Orchester (eingerichtet von Tomáš Ille und Manfred Honeck) MANFRED HONECK, Dirigent IVETA APKALNA, Orgel Konzertdauer: ca. 1 ¾ Stunden Das vorliegende Programmheft entstand als Kooperationsprojekt der Münchner Philharmoniker mit dem Institut für Musikwissenschaft der LMU München. Zwölf Studierende entwickelten das Konzept dieses Heftes, verfassten die Texte und führten die Interviews. Obwohl aufgrund der Corona-Beschränkungen das Konzertprogramm in dieser Form nicht gespielt wird, freuen wir uns, Ihnen das Ergebnis dieses Projekts präsentieren zu können. 122. Spielzeit seit der Gründung 1893 VALERY GERGIEV, Chefdirigent ZUBIN MEHTA, Ehrendirigent PAUL MÜLLER, Intendant
2 3 Die schillernde Welt ließ sie sich von ihm scheiden und verließ Paris, um sich auf ihre Karriere als Pianistin zu konzentrieren. Schließlich übernahm sie war die unter dem Namen George Sand auf- tretende Amantine Dupin de Francueil. Auf einem ihrer künstlerischen Salons stellte der Salonnières als erste Frau am Brüsseler Conservatoire Marie d’Agoult als Gastgeberin ihrer Freun- die Professur für eine hochkarätige Klavier- din den einsamen Frédéric Chopin vor, der klasse. Noch zuvor in ihren Pariser Jahren nach längerem Werben ihrerseits eine lang- legte Camilla Pleyel in ihrem musikalischen jährige Beziehung mit ihr einging. Chopin, Salon für den jungen Frédéric Chopin den der von den pianistischen Fähigkeiten Marie WAGNER, LISZT UND DIE INFLUENCERINNEN Grundstein zu seiner Karriere in Paris und d’Agoults beeindruckt war, widmete auch ihr DES 19. JAHRHUNDERTS förderte dessen Freundschaft mit Franz ein Werk. Beide Affären der vier Freunde Liszt. Beide Komponisten vergrößerten waren skandalös – nicht nur weil die Frauen durch die Salonbesuche ihre Netzwerke und älter als ihre Partner waren und die Paare Gäbe es heutzutage Salonnières, würden te Auftrittsmöglichkeiten und wurden da- waren dadurch mit bekannten Musikern wie unverheiratet blieben. George Sand lief ge- sie wohl zu den »Influencerinnen« zählen. durch gefördert, während man sich über die Hector Berlioz und Giacomo Meyerbeer be- nerell nur in Männerkleidung herum. Marie Weit gespannte Netzwerke mit Verbindun- aktuellsten Ereignisse in Politik und Kunst freundet, von denen sie auch musikalisch d’Agoult verließ Mann und Tochter, um mit gen zu den bekanntesten Künstler*innen, unterhielt oder sich gelegentlich dem neue geprägt wurden. Franz Liszt lernte hier so- Franz Liszt zu verreisen. Die beiden kehrten zahlreiche und ausgedehnte Reisen, wie sten Tratsch hingab. So übernahmen die gar die Mutter seiner Kinder kennen: Die schließlich Frankreich den Rücken und be- auch finanzielle Unbeschwertheit – diese Salonnières oft auch die Funktion von men- Salonnière Marie d’Agoult, die als Schrift- kamen drei Kinder, die jedoch nach dem Voraussetzungen waren im 19. Jahrhundert talen und finanziellen Förderinnen und stell- stellerin unter dem Pseudonym Daniel Stern Ende ihrer Beziehung bei der Liszt-Oma in nicht vielen Frauen gegeben. Die Tradition ten viele Kontakte zwischen Künstler*innen publizierte. Eine enge Freundin ihrerseits Paris aufwuchsen. der künstlerischen Salons spielte sich aus- her – nicht selten boten diese Salons sogar schließlich im gehobenen Bürgertum in Mit- die Möglichkeit, seine*n Lebenspartner*in teleuropa ab, und dennoch hatten sie einen zu finden! Künstlerische Salons zu besuchen enormen Einflussbereich. In Frankreich des brachte für junge Musiker*innen alle erdenk- 18. Jahrhunderts sollen diese stets von lichen Vorteile. Es ist also nicht verwunder- D amen geleiteten Treffen bedeutend zur lich, dass auch alle Komponisten, deren rasanten Verbreitung der Revolutionsge- Werke wir heute hören, die Salons nutzten, danken beigetragen haben. Doch wer waren um für sich Werbung zu machen und sich eigentlich diese einflussreichen Frauen und einem einflussreichen Netzwerk von Kunst- was machten sie? schaffenden anzuschließen. Die Salonnières waren Kunstliebhaberinnen, IN DEN SALONS VON PARIS oft selbst künstlerisch aktiv, hoch gebildet und von angesehener, wenn nicht gar adeli- Eine bekannte Musikerin und Pariser Salon- ger Abstammung. Da weibliche Kunstschaf- nière war Madame Camilla Pleyel. Die als fende in der Öffentlichkeit jedoch kaum ge- Marie Moke geborene Pianistin gehörte zu duldet wurden, fanden diese Frauen einen den besten Instrumentalist*innen des Umweg, ihre Kunst dennoch vor einem Pub- 19. Jahrhunderts. Ihre Lebensgeschichte likum zu präsentieren und Ideen mit Gleich- liest sich wie ein Roman: In ihrer Jugend war gesinnten auszutauschen. Bei wöchentli- sie kurzzeitig mit Hector Berlioz verlobt, hei- chen Treffen mit Freunden und geladenen ratete dann jedoch den Pianisten und Kla- Gästen wurden Hauskonzerte und Lesungen vierfabrikanten Camille Pleyel, dessen Na- veranstaltet. Wenn die Gastgeberinnen nicht men sie – aus marketing-strategischen selbst auftraten, erhielten Nachwuchstalen- Gründen – zeitlebens trug. Nach kurzer Ehe Das Netzwerk der Salonnières Influencerinnen des 19. Jahrhunderts Influencerinnen des 19. Jahrhunderts
4 5 Der verachtete MIMI UND DIE HERRIN d’Agoult. Cosima hatte mit 20 Jahren den VON BAYREUTH Schüler ihres Vaters, den Dirigenten Hans von Auch in Deutschland entwickelten sich zahl- Bülow geheiratet. Das Paar war gut mit Prophet reiche kulturelle Zusammenkünfte. In Berlin Richard Wagner befreundet. Nach einiger Zeit waren die »Sonntagsmusiken« der Familie begann Cosima mit Richard Wagner eine Lie- Mendelssohn Bartholdy bekannt, in denen besbeziehung. Während der gemeinsamen die jugendlichen Kinder Felix und Fanny ei- Arbeit ihres Mannes und ihres Liebhabers an gene Kompositionen und ihr instrumentales der Uraufführung von »Tristan und Isolde« ZU DEN NETZWERKEN ROMANTISCHER MUSIKKULTUR Können zum Besten gaben. Fanny übernahm 1865 in München gebar sie ihre erste gemein- später die Leitung dieser musikalischen Sa- same Tochter – Isolde –, die jedoch offiziell lons, die ihr lebenslang die Chance gaben, als Tochter Hans von Bülows das Licht der trotz des Publikationsverbotes durch Vater Welt erblickte. Schließlich wurde Cosima und Bruder ihre eigenen Werke vor einem Richard Wagners Frau und übernahm nach EINE VERSCHWÖRUNG? dam« aus Giacomo Meyerbeers Grand Opéra Publikum zur Aufführung zu bringen. seinem Tod die Leitung der Bayreuther Fest- »Le Prophète« verfasste, war seine Zeit als spiele. Sie setzte sich für das musikalische Wir schreiben das Jahr 1869: Richard Wagner Klaviervirtuose »on the road« im Wesent Eine andere Berliner Salonnière war Marie Erbe Wagners ein, was ihr schließlich den spürt die negativen medialen Auswirkungen lichen vorbei. Die Zeit um 1850 bedeutete von Schleinitz, genannt Mimi. Sie war selbst Beinamen »Herrin von Bayreuth« einbrachte, seines 1850 veröffentlichten, antisemiti- dabei für ihn eine Phase der künstlerischen künstlerisch aktiv, verewigte sich jedoch und unterstützte in Salonnière-Manier Richard schen Aufsatzes »Das Judenthum in der Mu- und kompositorischen Neuorientierung. Dass vor allem als Philanthropin einiger wichtiger Strauss, den sie als »Kämpfer für die Bay- sik« auf sich und seinen Freund Franz Liszt. Liszt Meyerbeer bearbeitete, zeigt die Ver- Künstler wie Franz von Lenbach und Richard reuther Sache« sah. Auch wenn sich Richard Als Reaktion darauf sucht er in der 19 Jahre flechtung der beiden Komponisten. Schließ- Wagner. Der Stil ihrer Salons orientierte sich Strauss vom Bayreuth Cosima Wagners spä- später verlegten und stark erweiterten Fas- lich agierten sie lange im selben musikali- stark am französischen Vorbild. Hier versam- ter distanzierte, führte er als jüngster Vertre- sung des Aufsatzes Schuldige: »So weit war schen und sozialen Milieu: Meyerbeer war melte sich für lange Zeit nicht nur der be- ter dieses Netzwerkes dessen musikalisches es eben gekommen: wir waren von der deut- einer der prominentesten Opernkomponisten kannteste Künstler- und Intellektuellenkreis Vermächtnis weiter in die Moderne. schen großen Presse vollständig ausge- des 19. Jahrhunderts. Liszt war der Klavier- Berlins, sondern ganz Deutschlands. Die schlossen. Wem gehört aber diese Presse?« virtuose, dessen Opernfantasien bis heute als hochkarätigsten Persönlichkeiten gingen Sophie Klaus Wagner sah die Schuld bei den Juden. Für ihn prägend für die Gattung gelten. Komponisten ein und aus, denn Mimi hielt insbesondere waren sie es, welche die Presse beherrsch- und Virtuosen lebten quasi in einer Symbiose: zum preußischen Adel, wie auch dem deut- ten, im Hintergrund gegen ihn intrigierten und Opern boten populäre und dankbare Bearbei- schen Kaiserpaar, regen Kontakt. Ihr Einfluss ihn für seine judenkritische Haltung abstrafen tungsvorlagen für Klavierfantasien, welche auf die Berliner Gesellschaft und die gemei- wollten. Wagners Zitat verweist dabei gleich wiederum das Publikum in die Theater lock- ne politische Lage wird vor allem dadurch auf mehrere Netzwerke, die Einfluss auf ihn ten. Liszts Fantasie zeigt freilich seinen deutlich, dass Bismarck persönlich jahre- übten: Er entwirft die Konstrukte einer ge- künstlerischen Wandel zu dieser Zeit: Das lang vergeblich versuchte, ihr Ansehen zu schlossenen, jüdischen Machtelite, einer anspruchsvolle Werk kehrt, auch was dessen schmälern. Mimi ist es mit zu verdanken, unterdrückten Gesamtheit der Presse und zeitliches Ausmaß und Besetzung (Orgel, dass Wagners Träume in Bayreuth Realität seines eigenen benachteiligten Kreises. wahlweise Pedalflügel) betrifft, der schillern- wurden, da sie ihn nicht nur finanziell unter- Doch das heutige Konzertprogramm macht den Opern- und Virtuosenwelt den Rücken. stützte, sondern ihn in ihrem Salon auch der uns nicht nur auf Wagner, sondern auch auf Berliner Obrigkeit vorstellte. die weiteren Komponisten des Abends auf- EIN MANN MIT ZWEI GESICHTERN merksam. Ein Blick in die Vergangenheit: Zu Mimis engstem Freundeskreis gehörten Richard Wagner fand zunächst nichts als auch zwei Töchter bekannter Musiker – Cor- ZWEI KOMPONISTEN, EIN MILIEU bewundernde Worte für den berühmten nelie Richter, selbst Salonnière und Tochter Meyerbeer. So schrieb Wagner 1850 über von Giacomo Meyerbeer, und Cosima von Als Franz Liszt 1850 seine Fantasie und Fuge »Le Prophète«: »In dieser zeit sah ich denn Bülow, Tochter von Franz Liszt und Marie über den Choral »Ad nos, ad salutarem un- auch zum ersten male den Propheten, – den Influencerinnen des 19. Jahrhunderts Der verachtete Prophet
6 7 Propheten der neuen welt: – ich fühlte mich glücklich und erhoben, ließ alle wühleri- schen pläne fahren, die mir so gottlos er- Quick Guide »Parsifal« schienen«. Die Sympathie Wagners für den aus jüdischer Familie stammenden Meyer- beer änderte sich jedoch rasch. Wagner schrieb in der bereits erwähnten ersten Fassung seines antisemitischen Aufsatzes – dort noch unter dem Pseudonym »K. Frei- gedank« – über den zuvor bewunderten ZUSAMMENGEFASST: »PARSIFAL« Kundrys Kuss öffnet Parsifal die Augen und Komponisten: »Wir glauben wirklich, daß er er erkennt die Leiden des Amfortas. Parsifal Kunstwerke schaffen möchte und weiß, daß Man versetze sich in die Zeit des frühen Mit- widersteht nicht nur der Verführung, sondern er sie nicht schaffen kann: um sich aus die- telalters, in die Sagenwelt um die Burg Mon kann auch den Speer abwenden, mit dem sem peinlichen Conflicte zwischen Wollen salvat und auf das Zauberschloss Klingsors Klingsor ihn niederstrecken wollte. Der zum und Können zu ziehen, schreibt er Opern für in den Pyrenäen. Amfortas, der Gralskönig, Gralskönig gesalbte Parsifal erlöst Kundry von Paris und läßt sie in der übrigen Welt auf- wird von einem Speer des abtrünnigen Grals- ihren Sünden und heilt Amfortas obendrein. führen«. Wagners Meinung über Meyerbeer ritters Klingsor verletzt. Er kann nur durch Richard Strauss und Joseph Goebbels (1938) hatte sich noch im selben Jahr also grund- denjenigen geheilt werden, der »durch Mit- Antonia Mayr legend geändert: Eben noch war Meyerbeer Aufführungsverbote von Werken jüdischer leid wissend der reine Tor« ist. Der junge Par- für Wagner der Bote einer prophetischen Komponisten wie Meyerbeer verantwortlich sifal unterdessen gelangt auf seinen Wande- BLICK INS LEXIKON Verheißung – oder gar der Prophet selbst. war. Diesen gegenüber standen vom NS- rungen in den Zaubergarten Klingsors und soll RICHARD WAGNER Nun wird er als ein unvermögender jüdi- Regime bevorzugte, als »deutsch« gesehe- von den betörenden Blumenmädchen, dar- »Parsifal« scher Komponist beschrieben, dessen ne Komponisten wie Liszt, Wagner und zu- unter die Heidin Kundry, verführt werden. Bühnenweihfestspiel in drei Aufzügen Name wohl aus Verachtung nicht ein einzi- letzt auch Strauss selbst. ges Mal im gesamten Aufsatz genannt wird. Lebensdaten des Komponisten geboren am 22. Mai 1813 in Leipzig; DER ROTE FADEN gestorben am 13. Februar 1883 in Venedig DER SPÄTGEBORENE Erscheint einem Meyerbeer in heutigen Kon- Entstehung Richard Strauss stand mit den bisher behan- zertprogrammen zwar nicht mehr sonderlich September 1877 bis Januar 1882 (erste delten Komponisten nicht im direkten Kon- häufig, erweist er sich bei näherer Betrach- Beschäftigung mit der Thematik: 1845 in takt und gehörte zu ihrer Nachfolgegenera- tung jedoch als eine zentrale Figur eines Marienbad; erste Skizze: 1857; Wieder tion. Jedoch war Strauss’ kompositorische mehrere Generationen umfassenden Netz- aufnahme: 1877) Entwicklung ab der Begegnung mit seinem werkes der klassischen Musik: Immer wie- Mentoren Alexander Ritter, einem fanati- der taucht sein Name in unterschiedlicher Uraufführungen schen Wagnerianer, stark geprägt von Wag- Funktion wie in unterschiedlichem Zusam- Vorspiel: am 25. Dezember 1878 im Haus ners Musik und Schriften. Wagners aggres- menhang auf. Giacomo Meyerbeer war da- Wahnfried in Bayreuth (Privataufführung, siv rassistische Haltung scheint dabei je- bei zunächst eine Persönlichkeit, der viel Dirigent: Richard Wagner) doch nicht auf Strauss übergegangen zu Bewunderung zuteil wurde, die aber im Ver- Oper: am 26. Juli 1882 im Bayreuther sein. Widersprüchlich erweist sich seine Rol- lauf ihrer anhaltenden Funktion als Dreh- Festspielhaus (Dirigent: Hermann Levi; le im NS-Regime: Zwar wird diese unter an- und Angelpunkt der damaligen Musikkultur Regisseur: Richard Wagner) derem als apolitisch beschrieben, dennoch mehr und mehr Neid und Hass erfuhr, nicht Zeit und Ort der Handlung war Strauss Präsident der Reichsmusikkam- zuletzt auch aus antisemitischen Gründen. Frühes Mittelalter, auf dem Gebiet und in mer von 1933 bis 1935 und profitierte damit Heinrich Hensel als Parsifal der Burg Monsalvat in Nordspanien von einer politischen Führungsebene, die für Amon Sokolski (Bayreuther Festspiele, 1911) Der verachtete Prophet Quick Guide »Parsifal«
8 9 Motive als Kompositionskonzept – eine Erfolgsgeschichte Grundmotiv des »Parsifal«: das Liebesmahlmotiv danken mit der Handlung macht die Ge- spiel die tödliche Beziehung zwischen dem schichte besser nachvollziehbar und lässt jungen Gralskönig Amfortas und der verfüh- wiederkehrende Personen oder Handlungs- rerischen Zauberin Kundry schon musika- Richard Wagner selbst soll den Begriff »Leit- werden einige Motive wie etwa das Liebes- elemente vertrauter erscheinen. Sie kennen lisch angekündigt, lange bevor sie das Li- motiv« lediglich geduldet haben. Aber die mahl-, Grals- und Glaubensmotiv vorgestellt. es vielleicht: Sie blättern, oder wohl eher: bretto offenbart. sogenannte Leitmotivtechnik ist dennoch in Leitmotive können, wie auch hier, sehr un- wischen durch die Fotos vom letzten Urlaub seinen Bühnenwerken omnipräsent. Mehr terschiedlicher Natur sein – von kurzen und plötzlich fühlen Sie sich wieder an den Es ist eine spannende Erfolgsgeschichte, noch: diese von Wagner maßgeblich ge- prägnanten Tonfolgen bis hin zu großen und fernen schönen Ort versetzt, vielleicht kön- welche das Leitmotiv vorzuweisen hat. Auch prägte Kompositionsweise hat seitdem eine ausdrucksvollen Melodien. Das ziemlich nen Sie sogar die salzige Meeresluft rie- für Strauss war »Leitmotiv« kein Fremdwort, steile Erfolgskarriere hingelegt. Noch heute lange und anspruchsvolle Liebesmahlmotiv chen. Unsere Sinne sind miteinander ver- man denke nur an seine Opern »Salome« und nutzen zum Beispiel Filmkomponisten Leit- zieht sich durch das gesamte Werk. Es bil- netzt. Wenn wir eine vertraute Melodie hö- »Elektra«. Und sogar außerhalb der Musik motive, um innerhalb ihres Werkes musika- den sich sogar neue Themen aus ihm he ren, z. B. ein Lied aus der Kindheit, weckt finden Leitmotive rege Verwendung. Nie- lische Zusammenhänge herzustellen. Eines raus. Wenn man so will, ist das Liebesmahl- dies in uns auch Erinnerungen, die wir mit mand geringeres als Thomas Mann machte der berühmtesten Beispiele ist wahrschein- motiv das Grundmotiv im »Parsifal«. Es er- diesen Tönen verbinden. Das macht sich die in seinem literarischen Werk von Leitmoti- lich das unheilvolle und bedrohliche Thema klingt zum ersten Mal direkt zu Beginn des Leitmotivtechnik zu Nutze. ven Gebrauch. Leitmotive in der Literatur des Weißen Hais aus dem gleichnamigen Vorspiels. treten zum Beispiel in der Form von sich Film von 1975. Oder stellen Sie sich einmal MUSIKALISCHER KLEBSTOFF regelmäßig wiederholenden Aussagen oder »Star Wars« ohne den »Imperial March« aus Im Kontrast zu dem sehr andächtigen Lie- auch Umständen auf, wie beispielsweise die der Feder von John Williams vor, der immer- besmahlmotiv steht das eindrucksvolle Diese Verknüpfung von Musik und Handlung wiederkehrenden Zahnprobleme des Prota- zu das dunkle Schaffen Darth Vaders ankün- Gralsmotiv. Erstmalig von Trompeten und erscheint umso wichtiger, wenn man sich gonisten in Thomas Manns Roman »Budden- digt. Ja, die Leitmotivtechnik ist aus moder- Posaunen zusammen vorgetragen, wirkt es die lange Aufführungsdauer des »Parsifal« brooks«. Überlegen Sie einmal, wie würden nen Hollywoodstreifen kaum mehr wegzu- erhaben und mächtig. Man kann förmlich (4,5 Stunden) zusammen mit der enorm ver- Sie ein Leitmotiv komponieren, z. B. für den denken. »Herr der Ringe«, »Fluch der Kari- hören, wie der heilige Gral, eine so kostbare dichteten Handlungsführung vergegenwär- ungeliebten Zahnarztbesuch? bik«, aber natürlich auch Klassiker wie »Spiel und Jahrtausende alte Reliquie, emporge- tigt. Für Wagner waren Leitmotive wie ein mir das Lied vom Tod« – überall findet man halten wird und die Betrachter in Staunen Klebstoff, der das musikalische Netzwerk Christian Kohler zahlreiche Leitmotive. Doch wie funktioniert versetzt. Doch interessanterweise stammt zusammenhält und dadurch die »Orchester- diese Technik, wie kommt sie im »Parsifal« dieses Motiv gar nicht von Wagner. Es ist melodie«, welche im Grunde das musikali- zum Tragen und warum ist sie so erfolgreich vielmehr ein Zitat des sogenannte »Dresd- sche Sprachrohr des Komponisten zu sei- geworden? ner Amen«, einer Chor-Akklamation aus dem nem Publikum ist, immer weiterfließen lässt. 18. Jahrhundert, das auch von vielen ande- Aber Leitmotive haben noch mehr zu bieten. GRUNDMOTIV DES PARSIFAL ren Komponisten der Romantik zitiert wurde. Sie können zum Beispiel ebenso die Rolle eines Erzählers annehmen, indem sie das Wie in allen seinen reifen Werken, greift Doch was nützen dem Komponisten diese Handlungsgeschehen kommentieren, Wis- Wagner auch im »Parsifal« auf diese Kompo- Leitmotive? Eine feste Verknüpfung und sen und Gefühle der Charaktere in Bezie- sitionstechnik zurück. Schon im Vorspiel Wiederholung bestimmter musikalischer Ge- hung zueinander setzen. So wird zum Bei- Motive als Kompositionskonzept Motive als Kompositionskonzept
10 11 Quick Guide Kirche, Kaufhaus, »Prophetenfuge« Konzertsaal LISZTS »PROPHETENFUGE« ZUSAMMENGEFASST: dem Berthe jedoch im Propheten ihren Ver- »LE PROPHÈTE« lobten Jean erkennt, sucht sie den Tod. Als die Truppen des Kaisers Karl V. Münster Jean de Lyde, der von den Wiedertäufern einnehmen, reißt Jean sich selbst, seine zum Propheten erhoben wurde, steht an der Mutter und sein ganzes Gefolge in den Tod. DIE ORGELWEIHE nämlich der Grand Opéra »Le Prophète« von Spitze des Aufstandes gegen den Comte Liebe, Verrat, Wut, Rachegelüste, Gewalt, IM MERSEBURGER DOM Giacomo Meyerbeer. Liszt nannte sein d’Oberthal, welcher die Münsteraner Bauern Größenwahn, Gnade, Selbstmord, Reue und Stück deshalb auch seine »Prophetenfuge«. und Bürger terrorisiert. Dadurch setzt Jean Tod offenbaren sich dem Publikum. Der Am 26. September 1855 wurde im Mersebur- Obwohl die Orgel doch eigentlich in der Kir- seine Mutter Fidès und seine Braut Berthe Choral »Ad nos, ad salutarem undam«, den ger Dom die seinerzeit größte Orgel in che beheimatet ist, nahm Liszt also ein welt- dem Chaos der Revolution und der Unter- Franz Liszt als Grundlage für seine Kompo- Deutschland eingeweiht. Gebaut von Fried- liches Thema als Vorlage. drückung durch antireformatorische Kräfte sition verwendete, ist in »Le Prophète« be- rich Ladegast hat sie 5.686 Pfeifen in 81 aus. Beide halten Jean für tot und machen sonders im ersten Akt präsent. Registern, vier Manuale und Pedal und wird MARCEL DUPRÉ UND DIE den Propheten dafür verantwortlich. Nach- Antonia Mayr auch heute noch gespielt. Für die Weihe WANAMAKER-ORGEL dieser Orgel komponierte Franz Liszt eigent- BLICK INS LEXIKON lich sein großes Orgelwerk »Präludium und Während Liszt die Prophetenfuge in Kirchen FRANZ LISZT Fuge über das Thema B-A-C-H«. Es wurde aufgeführt hatte, kam sie mit Marcel Dupré »Ad nos, ad salutarem undam« aber nicht rechtzeitig fertig. Deshalb ent- (1886–1971) ganz im Profanen an. Dieser Fantasie und Fuge über den Choral der schied er sich, stattdessen seine Fantasie schrieb seine Bearbeitung für Orgel und Or- Wiedertäufer aus Giacomo Meyerbeers und Fuge über den Choral »Ad nos, ad sa- chester nämlich für die Orgel eines Kaufhau- Oper »Le Prophète« lutarem undam« dort aufzuführen. Dies wur- ses. Der amerikanische Kaufmann John (bearbeitet für Orgel und Orchester von de lange als die Uraufführung des Werks Wanamaker eröffnete 1911 einen Neubau Marcel Dupré) angenommen. Liszt hatte das Stück aber seines Kaufhauses in Philadelphia. Als be- schon 1852 aufgeführt und danach noch sondere Attraktion stellte er darin die größte Lebensdaten des Komponisten einmal überarbeitet. Geschrieben hatte er Orgel der Welt auf. Sie war ursprünglich für geboren am 22. Oktober 1811 in Raiding es 1850 für eine von ihm selbst konstruierte die Weltausstellung 1904 in St. Louis gebaut (heute: Doborján/Ungarn); gestorben am Kombination aus Harmonium und Pedalkla- und danach von Wanamaker gekauft wor- 31. Juli 1886 in Bayreuth vier. Da er die Pedaltechnik selbst nicht aus- den. Bis 1930 wurde sie dann immer weiter Entstehung reichend beherrschte, spielte bei der Orgel- vergrößert. Mit 28. 750 Pfeifen in 464 Pfei- 1850 in Weimar weihe und weiteren Aufführungen sein fenreihen und 376 Registern sowie sechs Schüler Alexander Winterberger. Manualen und Pedal gilt sie heute noch im- Widmung mer als größte spielbare Orgel der Welt. Auch Giacomo Meyerbeer Bemerkenswert ist, dass Liszt, obwohl er die Filiale in New York hatte ab 1904 eine Uraufführungen vorher noch keine Orgelwerke komponiert Orgel, die mehrmals erweitert wurde. Wäh- am 29. Oktober 1852 in der Stadtkirche hatte, gleich eines in derartiger Länge und rend das Haus in Philadelphia heute zur Wa- Titelseite des Klavierauszugs von Meyerbeers von Weimar Komplexität schrieb. Zudem basiert es voll- renhauskette Macy’s gehört, wurde das in »Le Prophète« (1849) ständig auf einem Thema aus einer Oper, New York aber 1954 geschlossen. Quick Guide »Prophetenfuge« Liszts »Prophetenfuge«
12 13 Erklärung nachvollziehbar, dass Dupré den schnellen Pedallinien der Prophetenfuge ei- nen prägnanteren Klang geben wollte. Im Gespräch WIEDERENTDECKUNG FÜR DEN KONZERTSAAL mit der Organistin Duprés Bearbeitung galt lange als verschol- len, bis sie 2007 im Keller seiner Villa in Meu- don bei Paris von Olivier Latry und seinem Iveta Apkalna Schüler Denny Wilke wiederentdeckt wurde. Seitdem erklingt sie nun auch in Konzertsä- Marcel Dupré an der Wanamaker-Orgel len. Latry, bekannt als Titularorganist von Im November 2020 haben Sie auf dem You- mitteln möchte. Ich sehe Musik in Farben. in Philadelphia (1948) Notre-Dame de Paris, spielte Duprés Bear- Tube-Kanal der Elbphilharmonie die kurze Es gibt bestimmte Komponisten, bei denen beitung noch im selben Jahr im Merseburger Konzertreihe »Ivetas Pralinenschachtel« ich zum Beispiel meine roten Schuhe nie Ab 1919 fanden in beiden Kaufhhäusern re- Dom, wo die Geschichte einst begann. Von veröffentlicht. Wie kamen Sie auf diese anziehen würde. gelmäßig Konzerte statt, sowohl für Orgel Anfang an leisteten Werke wie dieses einen Idee? solo als auch mit Orchester. Dafür engagier- Beitrag zur Etablierung der Orgel als Konzert Ich wollte den Menschen etwas Kleines, Sie pflegen mit der »Königin der Instrumen- ten John und sein Sohn Rodman Wanamaker instrument auch außerhalb der Kirche. Feines, Kurzes, Süßes geben, damit dieser te« einen respektvollen Umgang, verbeugen auch bekannte europäische Organisten wie graue Alltag im Herbst 2020 ein wenig far- sich, bevor Sie am Spieltisch Platz nehmen Louis Vierne und Marcel Dupré. Für eine sol- Mit ihrem vielstimmigen Klang symbolisiert biger wird. Daher habe ich meine Lieblings- und Siezen die Orgel in Interviews. Warum? che USA-Tournee erstellte Dupré 1930 im die Orgel den Zusammenklang zwischen stücke als kleine Pralinenschachtel zusam- Die meisten Organisten, die beispielsweise Auftrag der Wanamaker-Foundation seine himmlischer und weltlicher Sphäre. Heute mengestellt und aufgenommen. Dazu habe in einer Kirche agieren dürfen, nennen das Bearbeitung von Liszts »Prophetenfuge«. sind Orgeln aus 500 Jahren Musikgeschich- ich echte Pralinen ausgewählt, die für mich Instrument fast immer »meine Orgel«. Ich te erlebbar, die individuell angepasst sind genauso wie die Musik schmecken. denke aber vielmehr, diese Orgeln gehören Die Kombination von Orgel und Orchester war an den Raum, in dem sie stehen, und an die dem Raum, in dem sie stehen. Deshalb pfle- für Dupré nichts Ungewöhnliches. Er hatte Musik, für die sie gebaut und gestimmt wur- Ihr Outfit und sogar die Orgelschuhe haben ge ich eine respektvolle und im guten Sinne bereits mehrere Stücke für diese Besetzung den. Um ihren Variantenreichtum zu zeigen, Sie dem jeweiligen Stück angepasst. Was distanzierte, aber gleichzeitig sehr warm- komponiert oder bearbeitet, darunter auch haben zehn der Landesmusikräte in ist eigentlich das Besondere an diesen herzige Beziehung zu den Orgeln. Das sind 1925 Liszts Klavierstück »St. François de Pau- Deutschland die Orgel zum Instrument des Schuhen, außer, dass sie auf den Pedalen manchmal bis zu 70 Instrumente pro Jahr. le marchant sur les flots«. 1948 bearbeitete er Jahres 2021 gekürt. Hierzu werden ver- »Eyecatcher« sind? Deshalb bleibe ich beim Sie, auch wenn ich in der gleichen Weise auch noch dessen Va- schiedene Aktivitäten und Veranstaltungen Wir Organisten müssen auf den Pedaltasten zu vielen Orgeln zurückkehre. Die Orgel ist riationen über »Weinen, Klagen, Sorgen, Za- organisiert. Schirmherrin für Hamburg und fast wie die Tänzer über den Tanzboden eine Königin, die königlich klingt, königlich gen« von Johann Sebastian Bach. In allen Schleswig-Holstein ist dabei übrigens Iveta gleiten, das kann man nicht in jedem belie- aussieht, sich königlich benimmt und mir vor Bearbeitungen ermöglichen die ergänzten Apkalna, die Solistin des heutigen Konzerts. bigen Schuhpaar meistern. Für mich sind ein allem nicht gehört. Gleichzeitig bedanke ich Orchesterstimmen eine effektvolle klangliche paar Elemente wesentlich, die ich bei kei- mich auf der Bühne bei der Orgel und ap- Erweiterung. Auch wenn die größte Orgel der Magnus Rosenbaum nem der erhältlichen Orgelschuhe finden plaudiere ihr. Welt sicher viele Klangfarben zu bieten hat, konnte. Daher habe ich selbst experimen- wird sie durch das Prinzip der Tonerzeugung tiert und meine eigenen Schuhe entworfen, Vor Konzerten müssen Sie die Orgeln vor mit Luft immer nach Orgel klingen. Ausnah- die ein Schuhmacher aus Lettland dann aus Ort genauestens ausprobieren. Inwieweit men sind vielleicht Spezialregister, die aber Ziegenleder handgefertigt hat. Zum Thema ist das »Einregistrieren« selbst eine Art von ebenfalls nicht wie Orchesterinstrumente »Eyecatcher«: Die Farbe meiner Kleidung Komposition? klingen, sondern eher Glocken und ähnliches und meiner Schuhe passe ich immer der Das, was Pianisten am Klavier über den An- anschlagen. Insofern wird auch die mögliche Message an, die ich mit meiner Musik ver- schlag machen, wie sie die Tasten berühren, Liszts »Prophetenfuge« Iveta Apkalna im Interview
14 15 an welchen Stellen sie piano oder fortissimo wählen, müssen wir Organisten alles mit der Registerauswahl schaffen. Bei einem Solo- konzert (z. B. 2x 45 min mit Pause) benötige Das hat eine mediale Resonanz geschaffen. Es tat wirklich gut, dass nicht nur Medien, die etwas mit Musik zu tun haben, plötzlich über Orgelmusik berichten wollten. Das war Iveta Apkalna ich mindestens acht bis zehn Stunden Vor- eine große Chance für die Orgel! Natürlich ORGEL bereitungszeit, exklusive Üben. Wir Organis- hat der Artikel in der Vogue damals auch ge- ten müssen mindestens ein, wenn nicht holfen. Ich weiß noch, dass in dieser Zeit sogar zwei Tage vor dem Konzert anreisen viele Leute nach dem Konzert zu mir zum und meistens nachts in den Konzertsälen Signieren gekommen sind und erzählt ha- proben. ben, dass sie wegen des Vogue-Artikels Iveta Apkalna studierte Klavier und Orgel im zum ersten Mal in ihrem Leben in ein Orgel- Doppelstudium in Riga, London und Stutt- Sie sind in Lettland aufgewachsen, einem konzert gekommen sind. gart. Seit ihrem Auftritt mit den Berliner Phil- Land, das bis 1990 Teil der Sowjetunion harmonikern unter der Leitung von Claudio war. Wie haben diese politischen Umstände 2021 wurde die Orgel zum »Instrument des Abbado im Jahr 2006 wird Iveta Apkalna von in Bezug auf die Orgel mit hineingespielt? Jahres« ernannt. Sie übernehmen auch internationalen Orchestern eingeladen und Seit meinem fünften Lebensjahr habe ich u. a. die Schirmherrschaft und sind mit ei- spielte unter bedeutenden Dirigenten wie Klavierspielen gelernt, später Klavier und genen Projekten involviert. Was erhoffen Mariss Jansons, Gustavo Dudamel und Orgel studiert. Während meiner Kindheit wa- Sie sich für die Orgel? Andris Nelsons. Sie ist regelmäßiger Gast ren in Lettland alle Kirchentüren zu. Den Mir ist wichtig, dass wir für das jüngere Pu- bei den großen Musikfestivals Europas wie Orgelklang kannte ich nur von Schallplatten. blikum die Augen und Ohren für die Königin dem Lucerne Festival oder dem Rheingau Ich war 15 Jahre alt, als Lettland unabhängig der Instrumente öffnen, die Orgeln allen zu- Musik Festival. wurde. Erst dann habe ich erfahren, dass gänglich machen und Aufmerksamkeit für mein Großvater und mein Urgroßvater Orga- und Neugier auf dieses Instrument schaf- Im Rahmen der Eröffnungskonzerte des Na- nisten waren. Das hat mir in meiner Kindheit fen. Die erhöhte mediale Präsenz hilft si- tional Kaohsiung Center for the Arts in niemand erzählt, damit ich mich in der Schu- cherlich dabei. Aber die Orgel ist in keiner Taiwan weihte Iveta Apkalna im Oktober le nicht verplappere. In meiner Stadt wurde schlechten Position, weil ich in den Orgel- 2018 die neue Klais-Orgel dort ein, auf der dann das Fach Orgel an der Musikschule konzerten zunehmend jüngeres Publikum sie kurz darauf ihre neueste CD »Widor & gegründet, und ich war dort die erste Orgel- bemerke. Wir sind auf einem guten Weg. Vierne« einspielte, die beim Label Berlin schülerin. Nach ein paar Monaten durfte ich Classics erschien. Ein besonderer Schwer- bereits vor einem kleinen Publikum, darun- Das Interview führte Marion Lutsch punkt in ihrem Schaffen ist die Neue Musik. ter mein Großvater, spielen. Sie können sich Zudem bestreitet sie mindestens eine Ur- vorstellen, was das für ihn, aber auch für »So furios wie eine Argerich an der Orgel«, aufführung pro Jahr. mich bedeutet hat. Schon ein wenig später, beschrieb die Westdeutsche Allgemeine im Alter von 16 Jahren, durfte ich beim Be- Zeitung die lettische Organistin, die inzwi- Iveta Apkalna erhielt zahlreiche Auszeich- such von Papst Johannes Paul II. in Lettland schen zu den weltweit führenden Inter- nungen und Preise, wie beispielsweise den den Gottesdienst im Dom in Riga begleiten. pret*innen an der Königin der Instrumente Grand Latvian Music Award. Als erste Orga- zählt. Als Titularorganistin der Klais-Orgel in nistin überhaupt wurde ihr im Jahre 2005 Sie sind als erste Organistin in der Vogue der Hamburger Elbphilharmonie eröffnete der ECHO Klassik in der Kategorie »Instru- erschienen. Wie ist es zu diesem Projekt sie das Konzerthaus im Januar 2017 zusam- mentalistin des Jahres« verliehen. gekommen? men mit dem NDR Elbphilharmonie Orches- Das war eines meiner ersten professionellen ter, unter der Leitung von Thomas Hengel- Um eine ausführliche Version des Stylings überhaupt. Die Gelegenheit dazu Interviews zu lesen, scannen Sie brock, mit der Weltpremiere von Wolfgang bot sich dank meiner ersten CD-Aufnahmen, bitten den QR-Code oder gehen Sie Rihms »Triptychon und Spruch in memoriam die von Musikkritikern gut bewertet wurden. auf www.spielfeld-klassik.de. Hans Henny Jahnn«. Iveta Apkalna im Interview Die Solistin
16 17 Die Oper fürs Klavier Sie nahmen in seinem Schaffen einen hohen Stellenwert ein und wurden auch von Kolle- gen hoch angesehen. Noch Béla Bartók be- schrieb lobend, Liszt greife »sehr viel Frem- Zwar ist es Ihnen im Jahr 1851 nicht möglich, nach Lust und Laune Musik zu hören oder Aufführungen zu sehen. Doch schon damals war das musikkulturelle Leben geprägt von ZUR MUSIKALISCHEN BEARBEITUNGSKULTUR des auf, aber noch mehr schöpfte er aus unfassbarer Vielfalt und Reichhaltigkeit. Al- sich selbst.« Dies zeigt sich musterhaft an lein die Liste an Liszts Klavier- und Orgelbe- EINER VERGANGENEN ZEIT der »Fantasie und Fuge über den Choral ›Ad arbeitungen birgt eine unglaubliche Auswahl nos, ad salutarem undam‹« im heutigen Kon- an Werken, deren Vorlagen von der Zeit zertprogramm. Liszt nimmt sich den Choral Bachs bis zu Liszts Zeitgenossen reichen aus Giacomo Meyerbeers Oper »Le Prophète« und alle möglichen Gattungen behandeln. vor und verarbeitet diesen zu einem virtuos Vor allem Opernvariationen zählten im 19. ausschweifenden Stück für Orgel oder Jahrhundert zu einer der beliebtesten Gat- Stellen Sie sich vor, Sie leben im Jahre 1851. zu hören. Richard Wagner beispielsweise Pedalflügel. Das Werk beginnt mit der Fan- tungen, weshalb die Anzahl an solchen Be- Voller Freude denken Sie an die deutsche plädierte deshalb für möglichst leichte Kla- tasie, an dessen Beginn das Choralthema arbeitungen aller, meist heute auch weniger Erstaufführung von Giacomo Meyerbeers vierfassungen. Es ging ihm nicht um eine vorgestellt wird. Es folgt ein Paradebeispiel bekannten, Komponisten dieser Zeit kaum großartiger Oper »Le Prophète« zurück, wel- möglichst vollständige Reproduktion, son- für Liszts virtuose Bearbeitungskunst und übersehbar ist. Auch heutzutage erfreuen che Sie letztes Jahr besucht haben. Wie dern um eine spielbare Bearbeitung, die vor die Eigenständigkeit in der Komposition, sich Bearbeitungen großer Beliebtheit – gerne würden Sie diese Musik jetzt hören allem das Verständnis des Werks fördert. In welche Bartók so an ihm bewunderte. Ohne man denke an unzählige Coversongs, Pot- oder die Aufführung ein zweites Mal sehen! einem Brief an seinen Freund Karl Klind das Wissen um die thematische Vorlage pourris oder Compilations sowohl zeitge- Heutzutage könnten Sie dafür einfach You- worth, der einen zu komplizierten Klavier- käme dem Zuhörer kaum in den Sinn, an den nössischer als auch älterer Musik. Hinter der Tube öffnen, Aufführungen aus den besten auszug anfertigte, formuliert Wagner: »Lie- Choral Meyerbeers zu denken. Auf den Tradition der Bearbeitungen steckt ein un- Konzerthäusern der Welt anklicken und das ber gleich zur Andeutung, während jetzt der Adagio-Mittelteil folgt eine anspruchsvolle gemeines kreatives Element und Potential Stück aufs Neue erleben. Fast schon selbst- gewöhnliche Klavierspieler doch nur durch- Fuge, in welcher Liszt das Choralthema in im Umgang mit bereits bestehender Musik, verständlich scheinen Ton- oder gar Film- kommt, wenn er über die Hälfte der Noten einem schnelleren Tempo wieder aufgreift. sodass sich oft die Frage stellt: Ab wann aufnahmen von Musik in unserer Zeit zu sein ausläßt.« Marcel Dupré übernahm den Orgelsatz von wird eine Bearbeitung selbst zum Original? – sind sie doch eigentlich jedem mit weni- Liszt und erarbeitete dazu einen komple- gen Klicks zugänglich. Es ist schwer vor- Es blieb aber nicht nur bei trockenen Klavier- mentären Orchestersatz, in welchem er das Karl Philipp stellbar, dass Musik nicht immer so frei zu- auszügen – warum sollte aus bestehender Choralthema Meyerbeers auch über die gänglich gewesen ist. Und doch begann Musik nicht auch Spannenderes geschaffen O rgeleinsätze hinaus verwendet. diese grundlegende Entwicklung erst im werden? Dabei entfaltete sich eine regel- 20. Jahrhundert. Immer vielfältiger wurde rechte Bearbeitungskultur: Werke wurden Einen komplett anderen Ansatz der Opern- das Angebot, Musik erreichte mit fortschrei- neu interpretiert, in andere Gattungen über- bearbeitung wählten Manfred Honeck und tender Technologisierung immer mehr Men- führt, für große und kleine Besetzungen neu Tomáš Ille für ihre »Elektra-Suite«. Ihr Ziel schen auf immer leichteren Wegen. geschrieben – der Kreativität schienen kei- war es, die Handlung und den musikalischen ne Grenzen gesetzt zu sein! Charakter der Strauss-Oper in eine sympho- Doch diese Möglichkeiten haben Sie 1851 nische Adaption zu fassen. Honeck faszi- nicht. Was gäben Sie in diesem Moment da- Franz Liszt – wohl vor allem durch seine nierten vor allem die unfassbare Klangfülle für, wenigstens einen Klavierauszug in den virtuosen Klavierkompositionen bekannt – der riesigen Orchesterbesetzung, die aus- Händen zu halten! Ursprünglich entwickelt, war einer der großen Meister der Bearbei- gefallene, sich an den Grenzen zur Atonalität um Probenarbeiten zu erleichtern, waren tungen. Er schaffte es nicht nur, den vor- bewegende Harmonik und die Psychologie Klavierreduktionen größerer Werke auch für mals häufig lieblos erstellten Klavierauszü- der handelnden Charaktere sowie deren mu- den Hausgebrauch beliebt. Schließlich war gen neues Leben einzuhauchen, sondern sikalische Umsetzung. All das versuchte er der Klavierauszug eine Möglichkeit, die Mu- zählte auch die künstlerische Neuinterpre- bestmöglich in seine Orchestersuite zu sik auch im privaten Rahmen zu spielen und tation von Werken zu seinen Spezialitäten. übernehmen. Zur musikalischen Bearbeitungskultur einer vergangenen Zeit Zur musikalischen Bearbeitungskultur einer vergangenen Zeit
18 19 Stimmenfang Mir fehlen die Theater- und Konzertbesu- che, aus denen habe ich immer so viel In spiration geschöpft. Finanziell wird es lang- mit meinem Vater, der Wissenschaftsjourna- list beim ZDF war. Wir haben verschiedene Programme mit den Titeln »Jazz und Univer- in der Pause sam auch schwierig, ich habe früher viel sum«, »Amazonas« und »Oceans« aufge- gekellnert, aber das geht ja bei der ge- führt. Es ging um die Verbindung von Musik, schlossenen Gastronomie auch nicht. Und Wissenschaft und Unterhaltung. Ich war wie läuft’s bei dir? damals noch in New York und bin mit meiner dortigen Band eingeflogen. Matthias Bublath: Als freischaffender Mu- Was in der Pandemie fehlt: der zufällige, war ein bunt zusammengewürfelter Haufen siker lebe ich hauptsächlich von Liveauftrit- Anne Keckeis: Auf diese Weise kann man ungezwungene Austausch mit Menschen, aus Schauspielern, Musikern und anderen ten und musste mich beruflich komplett sich wirklich ein neues Publikum erspielen. über ihren Alltag, über ihre Meinungen. In bei der Stadt angestellten Künstlern. Mir hat umorientieren. Momentan beschäftige ich Mir gefallen auch die Projekte von »Spielfeld der Pause am Kaffeeautomat könnten Sie die teilweise sehr schwere körperliche Ar- mich vor allem mit Musikproduktion, und Klassik«, da gab es während der Pandemie- zum Beispiel ein Gespräch wie dieses mit- beit Freude gemacht. mein Studium an der LMU läuft ja komplett zeit zum Beispiel Videos mit Bastelanleitun- bekommen, zwischen zwei Mitgliedern der online ab. Streaming-Konzerte habe ich in gen für Instrumente. Ich war daran auch Münchner Philharmoniker und Matthias Matthias Bublath: Aber der Orchesterbe- den verschiedensten Formaten gespielt, beteiligt, das hat total Spaß gemacht. Bublath, Musikwissenschafts-Student und trieb der Philharmoniker wurde dann schnell vom virtuellen Jazzfestival München aus Jazz-Pianist… wieder aufgenommen? der Black Box oder dem Kunstpark Ost, bis Matthias Bublath: Das ist so wichtig! Des- hin zu Konzerten in Autokinos. wegen hat mich übrigens auch die Debatte Matthias Bublath: Hey, man hört ja so eini- Nils Schad: Stimmt, nach einigen Wochen um die Systemrelevanz so gestört. ges in der Presse, wie von der Aktion haben wir wieder in verkleinerter Besetzung Anne Keckeis: Da wird dann gehupt und ge- »Alarmstufe Rot«, bei der die Musikerinnnen geprobt. Besonders die Abstandsregeln ha- blinkt anstatt applaudiert, oder? Nils Schad: Ich finde auch, dass Musik auf und Musiker schweigend und ohne zu spie- ben uns dabei vor neue Herausforderungen jeden Fall systemrelevant ist – Museen, The- len auf der Bühne standen, und den Initiati- gestellt – wir müssen uns gegenseitig hö- Matthias Bublath: Genau! ater und bildende Kunst mit eingeschlos- ven »Sang- und Klanglos« und »Ohne uns ren! Dazu kamen auch die Streaming-Kon- sen. Zudem hat die Musikausbildung eine wird’s still«. Mir sind auch die roten Lichter zerte und Videoaufzeichnungen ohne Pub- Nils Schad: Bei euch Jazzmusikern ist ja die hohe Wertigkeit auch für die allgemeine und in den Konzertsälen der Stadt aufgefallen. likum. Ich habe mich dabei wie die Profi-Fuß- Interaktion mit dem Publikum besonders berufliche Bildung, denn Musik schult Kon- Und ich habe davon gelesen, dass die Phil- baller gefühlt, die ebenfalls vor leeren Sta- wichtig! zentration, Merkfähigkeit und in Ensembles harmoniker ehrenamtliche Aufgaben für die dien spielen müssen. Ah, da kommt ja werden soziale Kompetenzen verbessert. Stadt übernommen haben. Stimmt das? gerade Anne Keckeis mit ihrem Cello. Sie ist Anne Keckeis: Aber auch mitten im großen Musik ist unerlässlich zur Bildung eines gu- derzeit Akademistin bei uns, fragen wir sie Orchester spürt man das Publikum irgend- ten Menschen! Nils Schad: Ich bin seit 1992 bei den Philhar- doch mal, wie es ihr seit Beginn der Pande- wie. Ich beschäftige mich schon länger mit monikern als zweiter Geiger beschäftigt, mie ergangen ist! alternativen Konzertformaten, um klassische Und es ertönt der Pausengong. Schade… also bei der Stadt München. Wir wurden Musik in neue Umlaufbahnen zu bringen. Das gleich zu Beginn der Krise gefragt, ob wir Anne Keckeis: Ich habe mich total auf meine Problem, eine breitere und jüngere Zuhörer- Matthias Bublath auf freiwilliger Basis die Behörden der Stadt zwei Jahre bei den Münchner Philharmoni- schaft zu gewinnen, kennen wir ja schon unterstützen möchten. Es wurde überlegt, kern gefreut, weil es eine einmalige Chance länger. Da könnte die Krise sogar eine Chan- welche Aufgaben wir Musiker übernehmen ist, aktiv am Orchesterleben teilzuhaben. Es ce sein. Gerade arbeite ich an einem Duo für könnten. Gefragt waren Dienste wie das Ein- ist total schade, dass mir diese Erfahrung Harfe und Cello mit Videoprojektionen. kaufen für Rentner, die telefonische Nach- jetzt verloren geht, weil in voller Besetzung verfolgung in den Gesundheitsämtern oder, wird momentan nicht geprobt. Vor einigen Matthias Bublath: Das klingt ja interessant! wie in meinem Falle, die Verteilung medizi- Monaten habe ich mich noch über die zu- Ein ähnliches Konzept hatten wir vor einigen nischer Schutzausrüstung im Logistikzen sätzliche Zeit zum Üben gefreut, aber mitt- Jahren in der BMW-Welt und der Orania in trum der Kleinen Olympiahalle. Unser Team lerweile dauert dieser Zustand zu lange an. Berlin. Es war eine Kollaboration zusammen Stimmenfang in der Pause Stimmenfang in der Pause
20 21 Quick Guide Im Gespräch mit »Elektra« dem Dirigenten ZUSAMMENGEFASST: »ELEKTRA« um diese zu töten. Aus der Entfernung hört Elektra den Todesschrei ihrer Mutter. Aighis- Manfred Honeck Elektra ist die mykenische Königstochter von tos kommt herbei, eilt ebenfalls ins Haus und Klytämnestra und Agamemnon. Vor vielen wird von Orest erschlagen. Elektra freut sich Jahren erschlugen ihre Mutter und deren darüber so sehr, dass sie sich in Ekstase Manfred Honeck befand sich im vergange- regen uns manchmal auf, wenn wir gewisse Liebhaber Aighistos Elektras Vater Agamem- tanzt und tot zusammenbricht. nen Februar in den USA. Über Zoom durften Dinge nicht so leicht bekommen. Und viel- non im Bad des Hauses. Seitdem sinnt Elek- wir uns mit ihm unterhalten. leicht haben wir nach der »Überreizung« tra auf Rache und bittet ihren Bruder Orest Antonia Mayr unseres Musikmarktes in den letzten Jahren um Hilfe bei der Vergeltung. Nach der Nach- Lieber Herr Honeck, Sie sind nun nach ei- jetzt die Chance, uns wieder auf das zu be- BLICK INS LEXIKON richt eines fremden Boten hält Elektra ihren nem ganzen Jahr der Abwesenheit wieder sinnen, was wir wirklich lieben, nämlich die Bruder Orest für tot. Sie will nun selbst die RICHARD STRAUSS zurück bei Ihrem Orchester in Pittsburgh. Musik selbst, unsere hohe Kunst. Rache an ihrer Mutter vollstrecken mit exakt »Elektra« Haben Sie diese Zeiten der Einschränkung demselben Beil, mit dem bereits ihr Vater Symphonische Suite für großes Orchester auch als neue Erfahrung positiv für sich Sie sind ein Familienmensch mit sechs Kin- erschlagen wurde. Sie begegnet jedoch (eingerichtet von Tomáš Ille und Manfred nutzen können? dern. Wie konnten Sie in normalen Jahren dem Boten und erkennt in ihm ihren Bruder Honeck) Ja! Ich bin von Grund auf ein sehr hoff- Ihr Familienleben mit der internationalen Orest. Orest eilt ins Haus zu Klytämnestra, Lebensdaten des Komponisten nungsvoller Mensch und bin optimistisch Karriere unter einen Hut bringen? geboren am 11. Juni 1864 in München; eingestellt. Ich denke, dass jeder Mensch, Das ist eine sehr wichtige Frage für mich gestorben am 8. September 1949 in Künstler oder nicht, sich in diesen schwie- gewesen, denn die Familie ist mir ganz wich- Garmisch rigen Zeiten gewisse Dinge zurecht legen tig. Es hätte nie funktioniert, wenn meine muss. Einerseits die Frage: »Wie geht es Frau nicht zu mir gestanden hätte. In dem Entstehung weiter?«, aber auch: »Was kann ich von mei- kleinen Dorf in Vorarlberg, in dem wir leben, Oper: Juni 1906 – September 1908 ner Seite aus tun, um Dinge zu ändern?«, gibt es nämlich kein Orchester, bei dem ich Suite eingerichtet von Tomáš Ille und »Wo stehe ich und wohin gehe ich?«. Es tut Chef sein könnte. Ich muss in die großen Manfred Honeck: 2014 ehrlich gesagt gut, so eine Bestandsaufnah- Städte reisen, wodurch ich meine Familie Widmung me zu machen! Etwas, das beispielsweise wochenlang nicht sehen kann. Das war für Natalie und Willy Levin stärker geworden ist, ist Dankbarkeit darü- uns manchmal etwas schwierig. Die Kinder ber, was man erreicht hat, was man tun und kennen den Vater dann nur so, dass er mal Uraufführungen wie man leben darf. Ich habe mir kürzlich nach Hause kommt, »Grüß Gott« sagt, und Oper: am 25. Januar 1909 in der Dresdner einige Briefe meiner Mutter, die 1965 jung dann ist er schon wieder weg! Gott sei Dank Hofoper verstorben ist, ansehen dürfen. Diese Brie- gibt es in unserer heutigen Zeit Facetime Suite: am 11. Juni 2014 in Pittsburgh; exakt fe hat sie zwischen 1942 und 1945 verfasst. oder Zoom. Stellen Sie sich vor: Antonín 150 Jahre nach dem Geburtstag von Darin habe ich gelesen, dass meine Mutter Dvořák flog nicht nach Amerika, sondern Richard Strauss meinem Vater, der in Kärnten in den Dienst musste ein Schiff nehmen, blieb jahrelang Zeit und Ort der Handlung gestellt worden war – er musste Gott sei dort und hatte bis auf Briefe überhaupt kei- Nach dem trojanischen Krieg in Mykene Dank nicht an die Front – Äpfel geschickt nen Kontakt mit seinen Kindern. Im vergan- Die »elektrische« Hinrichtung, Karikatur von Franz Jüttner (1909) hat. Dass man Äpfel geschickt hat! Und wir genen Jahr gab es auch Zeiten, in denen ich Quick Guide »Elektra« Manfred Honeck im Interview
22 23 zwei bis drei Wochen am Stück zu Hause sein durfte. Das habe ich sehr genossen. Man könnte sich fast daran gewöhnen! Die Oper musste ich einfach bearbeiten und ich finde es sehr schön, dass sich so viele Leute jetzt für diese Suite interessieren. Manfred Honeck Eine Digitalisierung findet zurzeit ja auch Was denken Sie, würde Richard Strauss sa- DIRIGENT verstärkt in der klassischen Musik statt. gen, wenn er mit im Konzert sitzen und Ihre Glauben Sie, dass die Pandemie die Kultur »Elektra-Suite« hören würde? auf diese Art sehr verändern wird? Ja, er war ein sehr wortkarger Mensch, wie Ich finde Livestreams ganz wichtig und eine ich gehört habe… Ich habe ihn ja nie treffen tolle Möglichkeit, präsent sein zu dürfen, dürfen. Also ich kann nur sagen, worum ich Manfred Honeck ist seit mehr als einem unseren Zuschauern etwas mitgeben zu ihn bitten würde: »Maestro, Herr Doktor, bit- Jahrzehnt Music Director beim Pittsburgh können und sie nicht allein zu lassen. Aber te dirigieren Sie. Sie können das sicher bes- Symphony Orchestra. Seine richtungswei- ich merke auch, dass das ein Notzustand ist. ser als ich!« Er war ja auch Dirigent und kann- senden Interpretationen gemeinsam mit Wir brauchen das Publikum und das Publi- te sein Stück. Ich kann mir aber auf jeden diesem Orchester erfahren international kum braucht uns. Ich glaube, es möchte uns Fall vorstellen, dass er froh gewesen wäre, große Anerkennung. Umjubelte Gastspiele live hören und diese besondere Erfahrung dass sich jemand um seine extremste, ato- führen regelmäßig in die großen Musikme des Moments machen. Sie können ein Bild nalste Musik kümmert und sie auf die Kon- tropolen sowie zu bedeutenden Festivals. hundertmal am Tag anschauen, aber Musik zertbühne bringt. Diese erfolgreiche Zusammenarbeit wird – wenn eine Note gespielt ist, ist sie schon durch zahlreiche Einspielungen dokumen- Vergangenheit. Das Live-Erlebnis in einem Wenn Sie Musik in einem nicht-musikali- tiert, die mit namhaften Schallplattenprei- Konzertsaal ist unaustauschbar und erfüllt schen Wort zusammenfassen müssten, sen ausgezeichnet wurden, darunter der uns mit großer Freude, Dankbarkeit und welches würden Sie wählen? Grammy Award. Hoffnung. Göttlich! Der gebürtige Österreicher absolvierte sei- Sie sind bekannt als ein begeisterter und Das Interview führte ne musikalische Ausbildung an der Hoch- bedeutender Richard-Strauss-Dirigent. Maria Sintow-Behrens schule für Musik in Wien. Seine Arbeit als Was hat Sie dazu bewegt, gerade seine Dirigent wird durch Erfahrungen geprägt, die »Elektra« als Suite zu bearbeiten? er über lange Jahre als Bratschist der Wiener Generalmusikdirektor der Staatsoper Stutt- Ich bin sozusagen auf Entdeckungsreise Philharmoniker und des Wiener Staatsopern gart. Er ist darüber hinaus seit 25 Jahren gegangen nach guter Musik, die es noch orchesters sammeln konnte. Seine Dirigen- Künstlerischer Leiter der Internationalen nicht im Konzertsaal gab. »Rusalka« und »Je- tenlaufbahn begann er als Assistent von Wolfegger Konzerte. nufa« habe ich zum Beispiel auch bearbei- Claudio Abbado in Wien; anschließend ging tet. Es hat mich dann sehr gewundert, dass er als Erster Kapellmeister ans Opernhaus Als Gastdirigent stand Manfred Honeck am es von Richard Strauss’ orchestralster Oper, Zürich, wo er mit dem Europäischen Dirigen- Pult führender internationaler Klangkörper, der »Elektra«, nichts gab, im Gegensatz zum tenpreis ausgezeichnet wurde. Nach Positi- darunter die Berliner und Wiener Philharmo- Beispiel zum »Rosenkavalier«. Als ich damals onen in Leipzig, als einer der drei Hauptdiri- niker, das Royal Concertgebouw Orchestra, als Bratschist im Wiener Staatsopernorches- genten des MDR Sinfonieorchesters, und das London Symphony Orchestra, das Or- ter unter Claudio Abbado »Elektra« spielen Oslo, wo er als Erster Gastdirigent des Oslo chestre de Paris und die Accademia di San- durfte, bin ich von den Socken gefallen – so Philharmonic Orchestra tätig war, wurde er ta Cecilia Rom. Manfred Honeck wurde von eine herrliche Musik! Unglaubliche Klänge zum Music Director des Swedish Radio Sym- mehreren US-amerikanischen Universitäten und harmonische Neuheiten und ein irrsin- phony Orchestra Stockholm berufen. Außer- zum Ehrendoktor ernannt. Im Auftrag des Um eine ausführliche Version des niges Orchester von 110 Leuten! Wenn man Interviews zu lesen, scannen Sie dem war Manfred Honeck für mehrere Jahre österreichischen Bundespräsidenten wurde »Elektra« hört, denkt man gleich: »Oh Gott, bitten den QR-Code oder gehen Sie Erster Gastdirigent der Tschechischen Phil- er mit dem Berufstitel Professor ausge- des ist teuer!« Das hat mich alles fasziniert. auf www.spielfeld-klassik.de. harmonie. Von 2007 bis 2011 wirkte er als zeichnet. Manfred Honeck im Interview Der Dirigent
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