Bildung und Inklusion Ganz Frau IV-Willkür - handicapforum

 
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2020
                                                                                                               1
handicapforum

   Bildung und Inklusion
   Ganz Frau
   IV-Willkür

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BO_Inserat_HF_sw_10:Inserat BBS.qxp 10.02.10 17:02 Seite 1

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                           THEMA

Bildungschancen für alle                                       4
Trotz allem … !                                                5
Über Mythen und Fakten zum Thema Inklusion                     7
Inklusion ist keine Frage des Ortes                        8
           Zugang zur Welt der Musik                       9

                          AKTUELL
                                                                    Liebe Leserin, Lieber Leser
Musik für alle                                            10
                                                                    Als ehemalige Waldorfschülerin habe ich Erfahrung
Angebote der Behindertenhilfe                              11
                                                                    mit inklusiver Bildung. Wir hatten an unserer
Inklusionsarbeit ist Arbeit –
                                                                    Schule alle Lern-Niveaus in derselben Klasse und
auch für Frauen mit Behinderung                           12
                                                                    auch SchülerInnen mit Beeinträchtigungen wurden
Ganz Frau …                                               13
                                                                    aufgenommen. Für mich war das normal. Anstren-
Meldestelle für Opfer der IV-Willkür                      14
                                                                    gend, bisweilen sogar belastend waren die Reakti-
Endspurt bei der 7. IVG-Revision                          15
                                                                    onen der Aussenstehenden. Allein das Gerücht
                   BEITRÄGE/HINWEISE                                «dort gibt es ‹Geistig Behinderte›» reichte aus, um
                                                                    auch meine kognitiven Fähigkeiten anzuzweifeln.
Bahnhöfe erst teilweise zugänglich                        16       Ich wurde als Sonderschülerin behandelt – leicht
Transition17                                                       distanziert und mitleidig. Später machte ich mein
Wem sini Recht? Mini Recht!                               18       Abitur mit Leichtigkeit und befand mich nun plötz-
Disco Spezial                                             18       lich in einer anderen Kategorie … Diese Vorurteile!
                                                                    Christine Bühler hat sie während ihrer schulischen
            M I T G L I E D O R G A N I S AT I O N E N              und beruflichen Laufbahn abbekommen, weil sie
                                                                    sich weigerte eine Sonderschülerin zu sein und in
Insieme: «Die Ferienkurse sind meine Ferien!»             20       einer geschützten Werkstatt zu arbeiten. Sie musste
Vereinigung Cerebral Basel                                21       sehr hart kämpfen ( siehe Beitrag Seiten 5 und 6 ).
Procap: Vereinsanlässe und Veranstaltungen                22       Wie viel durchlässiger sind die Schul- und Denksys-
IVB: Jahresprogramm 2020                                  24       teme mittlerweile geworden? Diesen Fragen gehen
Fragile: Von der Erdmännchen -                                      wir in der vorliegenden Ausgabe des Handicap­
zur Vogelperspektive                                      25
                                                                    forums nach. Wir berichten von den Fortschritten,
             A D R E S S E N U N D K O N TA K T E                   aber auch von den Baustellen, die man nicht aus
                                                                    den Augen zu verlieren darf.
Wichtige Adressen ( BTB, Beratungsstellen etc.) 26–27
                                                                    Ich wünsche Ihnen eine anregende Lektüre

                                                                    Herzliche Grüsse
                              An der inklusiven Sophie-Scholl
                                                                    Barbara Imobersteg
                              Schule in Berlin
                              Bild: Andi Weiland,
                              Gesellschaftsbilder.de

                                                                                         handicapforum Nr. 1 | 2020       3
T h em a

Bildungschancen für alle
Ob man sich zugehörig fühlt, hat viel mit Schule zu tun. Separativ, integrativ oder inklusiv: die eigene Bil-
dungs-Biografie prägt das Selbstbewusstsein und die gesellschaftliche Position. Die Volksschule ­Basel-Stadt
versteht sich mittlerweile als integrative Schule: Sie nimmt alle Kinder auf, auch jene mit einer Behinderung,
einer Lernschwäche oder einer besonderen Begabung.

bim. Im Jahr 1657 forderte der Pädagoge und Theo-          Nach wie vor Spezialangebote
loge Johann Amos Comenius eine Schule «wo allen            Im Kanton Basel-Stadt spricht man von integrativer
alles umfassend gelehrt werden soll» ( im Original: ubi    Schule. Der Begriff Inklusion wird vermieden, denn
omnes omnia omnino duceantur ). Comenius war ein           nach wie vor werden auch separative Angebote ge-
früher Aufklärer und überzeugt, dass jede Geistes-         macht. Die Wortwahl ist nur folgerichtig. Aber die Um-
anlage durch Bildung verbessert werden könnte. Er          setzung der UNO-BRK nimmt man ernst. Die Volksschu-
verfasste später denn auch die erste Enzyklopädie für      le soll wirklich allen Kindern offenstehen. Es gilt der
Kinder. «Alle», das hiess bei Comenius nicht nur «Ade-     Grundsatz: Integrative Schulungsformen sind die Regel,
lige und Nicht-Adelige, Reiche und Arme, Knaben und        separative Massnahmen sind zu begründen. Allerdings
Mädchen aus Städten, Flecken, Dörfern und Gehöften»,       gibt es nach wie vor eine Reihe «Spezialangebote» –
sondern auch die von «schwerfälliger Stumpfheit und        zum Beispiel speziell kleine Klassen unter einer speziel-
Dummheit». «Denn man findet keine so unglückliche          len personellen Führung und verschiedene «integrative
Geistesanlage, dass sie durch Pflege nicht verbessert      Fördermassnahmen».
werden könnte. Die Erfahrung lehrt sogar, dass von
Natur aus äusserst Schwerfällige doch eine solch hohe       Noch ist Vieles Neuland. Viele LehrerInnen sind noch
wissenschaftliche Bildung erwarben, dass sie selbst         nicht vertraut mit sonderpädagogischen Inhalten, mit
Begabte überholt haben!»                                    den Methoden einer nachhaltigen inklusiven Didaktik
                                                            sowie mit der erforderlichen Teamarbeit und Zusam-
Bildung für alle – eine Forderung aus dem 17. Jahr-         menarbeit mit Fachpersonen. Förder-Institutionen und
hundert, die so schnell nicht eingelöst wurde. Dass        -Personen sind oft noch immer separat ausgerichtet
Mädchen alle Fachgebiete offen stehen ist noch heute        und nicht darauf eingestellt, sich einzubringen und
eher Theorie als Praxis. Dass Kinder aus bildungsfernen     mitzuwirken. Ein grosses Problem stellt der Mangel
Schichten echte Chancen auf einen guten Schulab-            an HeilpädagogInnen dar. Um im Zusammenhang mit
schluss haben, ist immer noch die Ausnahme, dass            verhaltensauffälligen Schülern kreative Lösungen zu
Menschen mit Behinderung die Regelschule besuchen           finden, müsste hier die Zusammenarbeit gestärkt wer-
können, wird immer wieder neu in Frage gestellt. Aus-       den können. Schwierige Kinder auszusondern, ist aber
grenzung ist in unserem Schulsystem tief verankert.         keine gute Lösung, denn unter anderen verhaltensge-
                                                            störten Kindern wird bestimmt keine wünschenswerte
                                                            Verbesserung erzielt, im Gegenteil.
Ein grosser Veränderungsprozess
Und nun kommt diese Uno-Behindertenrechtskonven-
tion und definiert inklusive Bildung als Menschenrecht.    Für Kinder mit und ohne Behinderungen
Der Begriff Integration ist in der deutschen Übersetzung   Die Schulreformen halten die Lehrkräfte seit Jahren
verworfen worden, denn es soll nicht darum gehen,          auf Trab. Es gab unendlich viel umzustrukturieren und
Aussenstehende bei Bedarf miteinzubeziehen, sondern        neu zu konzipieren. Es gab eine nicht zu bewältigende
von Anfang an mit allen gemeinsam Schule zu machen.        Papierflut, Sitzungen, Besprechungen und organisato-
Alle gehören dazu. Das ist eine Haltung und ein Lebens-    rische Herausforderungen jeder Art. Das Thema Integ-
gefühl. Sich zugehörig fühlen nimmt sich anders aus als    ration respektive Inklusion stand dabei meist nicht im
manchmal dabei sein dürfen. Die Bildungsinstitutionen      Zentrum. Langsam kann man sich wieder zurechtfinden
in der Schweiz sind nun dabei, die neue Denkweise          und viele motivierte und engagierte Lehrerinnen und
umzusetzen und die Schulen entsprechend umzubauen.         Lehrer freuen sich, wieder vermehrt Kapazitäten fürs
Das ist ein grosser Veränderungsprozess. Das Separieren    Klassenzimmer zur Verfügung zu haben, für Kinder mit
ist einfacher und ist das System, das alle kennen und      und ohne Behinderungen – für alle, die dazugehören
können. Die inklusive Schule ist pionierhaft, sie muss     und ihr Recht auf Teilhabe wahrnehmen.
erst erfunden und erprobt werden und sie stellt die
bisherigen Denkmuster in Frage. Das verunsichert.

4          handicapforum Nr. 1 | 2020
Them a

Trotz allem … !
Der separative Weg war vorgezeichnet und ist ihr unerbittlich nahe gelegt worden. Gleichwohl hat
­C hristine Bühler als körperbehinderte Frau ihre eigene schulische und berufliche Laufbahn eingeschlagen
und ­P sychologie studiert.

bim. «Zu meiner Zeit ist einem nichts geschenkt wor-           die wachen Augen und das erste Lächeln. Gleichwohl
den.» Wann war das? Damals, in grauer Vorzeit? Damals,         ergab die erste heilpädagogische Untersuchung die
als Krieg war, als die Leute arm waren und die Kinder          klare Prognose: nicht schulbildungsfähig. Begründung:
mit Prügelstrafen «erzogen» wurden? Wenn man den               das Kind kann nicht greifen … Christine Bühler lacht.
Erzählungen Christine Bühlers folgt, könnte man mei-           Im Nachhinein klingt die Begebenheit wie eine lus-
nen, in eine Zeit versetzt zu werden, die längst nur           tige Anekdote. Was die Fehldiagnose dann ausgelöst
noch in Geschichtsbüchern existiert. Aber es ist kaum          hat, war allerdings äusserst leidvoll – aber damals die
ein halbes Jahrhundert vergangen seither. Wir befin-           einzige Chance für eine Bildung, die den kognitiven
den uns auch nicht in einem abgelegenen Dorf, weitab           Fähigkeiten entsprach. Wenn man jetzt die fröhliche,
der Zivilisation, sondern in Basel und Agglomeration.          sprühende Person vor sich sieht, kann man nur erah-
Christine Bühler kam mit einer seltenen Erkrankung zur         nen, mit wieviel Energie und Durchhaltewillen Christine
Welt: Arthrogryposis Multiplex Congenita, kurz «AMC»,          Bühler ihren Weg gebahnt hat, ohne sich zermürben
ein Krankheitsbild, das auch unter dem Begriff «Ge-            zu lassen.
lenksteife» zusammengefasst wird. Das kleine Mäd-
chen wurde verkrümmt und körperlich beeinträchtigt             «Lic.phil. Christine Bühler, Klinische Psychologie», steht
geboren. Die Ärzte des Kinderspitals diagnostizierten          auf ihrer Visitenkarte. An der Fachklinik für Rehabili-
aber auch gleich eine «geistige» Behinderung - bei so          tation, Rheumatologie und Osteoporose in Schinznach
starken körperlichen Einschränkungen war damals of-            ist sie nach wie vor tätig, wenn auch aufgrund zuneh-
fenbar nichts anderes vorstellbar. Nur die Eltern hatten       mender Altersbeschwerden nur noch mit einem kleinen
einen klaren Blick. Sie konnten eine normale Entwick-          Pensum. Ihre Arbeit macht ihr so viel Freude, dass
lung bei ihrer kleinen Tochter beobachten. Sie sahen           sie auch den langen Arbeitsweg auf sich nimmt. Dass

Christine Bühler: An einem geschützten Arbeitsplatz wäre ich verkümmert                          Bild: Barbara Imobersteg

                                                                                     handicapforum Nr. 1 | 2020         5
T h em a

sie als Psychologin ihren Kenntnissen und Fähigkeiten       Das konnten die sich einfach nicht vorstellen …
­ emäss eingesetzt wird: darauf hat sie schliesslich sehr
g                                                           Das Gymnasium Muttenz war Erholung. Langsam fasste
lange warten müssen. Warten, respektive kämpfen –           sie wieder Selbstvertrauen, denn hier wurde ihre An-
ihr Bildungs- und Berufsweg ist seit der unsäglichen        wesenheit nicht mehr in Frage gestellt. Der Weg an die
Diagnose im Kleinkindalter stets aufs Neue verbarri-        Uni stand ihr bald frei. Rechtswissenschaften empfahl
kadiert worden.                                             ihr die IV-Berufsberaterin. Christine Bühler schüttelt
                                                            den Kopf und fragt lakonisch: Weshalb reden bei be-
                                                            hinderten Menschen immer alle mit?» Sie studierte
Am besten aufgehoben im Heim …                              jedenfalls nicht Jus, sondern Klinische Psychologie und
Die erste Bildungsetappe hat Christine Bühler dank          war bald bereit, ins Berufsleben einzusteigen. Aller-
drei mutigen Frauen geschafft, die sich den amtlichen       dings war sie im Hinblick auf ihre Therapie-Ausbildung
Verordnungen einfach widersetzt haben. Ihre Mutter          auch wieder mit neuen Schranken konfrontiert: «Eine
konnte die Kindergärtnerin ihres Erstgeborenen dafür        körperbehinderte Therapeutin: das konnten die sich
gewinnen, dass sie die jüngere Schwester, trotz Behin-      einfach nicht vorstellen.» Ihre Bewerbung wurde nicht
derung, aufnahm. Somit konnte die kleine Christine          berücksichtigt, die Ausbildungsorte waren auch kaum je
den regulären Kindergarten besuchen. Anschliessend          rollstuhlgängig. Was ihren Schulbildungsweg erschwert
war von offizieller Seite her die TSM Münchenstein vor-     hatte, wiederholte sich nun in der Berufswelt. Erst
gesehen, Schulzentrum für Kinder mit Behinder­ungen.        spät fand sie doch noch ein Institut, an dem sie ihre
Wiederum liess sich aber eine Ausnahmeregelung              psychotherapeutische Ausbildung absolvieren konnte.
treffen, indem die Primarlehrerin des Bruders Hand          Christine Bühler liess sich aber ihre Selbständig­keit
bot, das aufgeweckte Mädchen regulär einzuschulen.          nicht nehmen. Rente kam nicht mehr in Frage, eher
Unterstützung bei diesem Vorgehen gab es nicht, im          hielt sie sich mit kleinen Jobs über Wasser. «Pfadi trotz
Gegenteil. Der Sozialdienst des Kinderspitals weigerte      allem» war auch hier wieder eine Hilfe. Als erfahre-
sich, die Organisation und Finanzierung eines Fahr-         ne Lagerleiterin erhielt sie eine Anstellung beim Frei-
dienstes zu veranlassen und bestand auf Sonderschule.       zeitzentrum von insieme. «Bedenken hatten immer
Die IV vertrat denselben Standpunkt und liess sich auch     die so genannten Profis, die HeilpädagogInnen, die
von guten Noten keineswegs überzeugen. Der Weg der          Psychologen, die SozialarbeiterInnen …» das musste
Sonderschule war fest installiert bei allen involvierten    Christine Bühler immer wieder erfahren. Selbst in In-
Stellen und erst recht in den Köpfen. Selbst Eltern in      stitutionen für Menschen mit Behinderungen – oder
ähnlichen Situationen waren damals überzeugt, dass          vielleicht gerade dort – erhielten ihre qualifizierten
ihre behinderten Kinder im Heim am besten aufgeho-          Leistungen kaum Beachtung. «Ich war einfach ‘die
ben wären.                                                  Behinderte’, als Fachperson wurde ich nicht wahr-
                                                            genommen, fasst Christine Bühler ihre Erfahrungen
 «Dann musste ich wirklich hart durch», erinnert sich       zusammen. Ihre KlientInnen hingegen bestätigten sie
Christine Bühler. Am Progymnasium entfiel plötz-            stets in ihrer Kompetenz. Sie schätzten die versierte
lich jegliche Unterstützung durch Lehrkräfte und sie        Psychologin und bestärkten sie darin, ihren berufli-
wurde als Schülerin ausgegrenzt. Der Lehrer verkündete      chen Weg weiterzuverfolgen. «Geschenkt wurden mir
öffent­lich, dass sie nicht an diese Schule gehöre und      schliesslich ihre vielen guten Rückmeldungen», sagt
liess es damit auch zu, dass sie durch ihre Mitschüle-      die Kämpferin. Dass sich der Kampf gelohnt hat, steht
rinnen gemobbt wurde. «Man schloss den Kreis vor mir,       ausser Frage. «An einem geschützten Arbeitsplatz wäre
wenn ich in den Pausenhof kam und man rannte weg,           ich verkümmert;» Christine Bühler lacht mit all ihrem
wenn ich Hilfe bei der Benützung des Lifts brauchte»,       Schalk: «Da blieb mir doch nichts anderes übrig, als
erzählt Christine Bühler. Ein Gespräch mit der Klasse       durchzuhalten.»
wurde den Eltern verweigert. Wie liess sich das alles
ertragen? Christine Bühler wird nachdenklich: «Ja, ich
bin psychisch fast draufgegangen.» Aber sie hatte auch
stets ein Ziel vor Augen: die Matur, die ihr Möglich-
keiten und eine berufliche Laufbahn eröffnen würde.
Und sie hatte ausserschulische Erfahrungen, die ihre
Lebensfreude nährten: bei den «Pfadi trotz allem» war
sie voll integriert, dort wurde sie später auch die erste
Leiterin mit Behinderung. Zuhause hatte sie ebenfalls
die volle Unterstützung. Ihre Eltern sorgten dafür, dass
Christine bei allen Familienaktivitäten mit ihren Ge-
schwistern dabei sein konnte.

6          handicapforum Nr. 1 | 2020
Them a

Über Mythen und Fakten zum Thema Inklusion

Inklusion ist keine Sozialromantik                                          Bild: Andi Weiland, Gesellschaftsbilder.de

Inklusionsfakten.de ist eine Seite über Mythen und        Barrieren, die heute gleichberechtigte Teilhabe verhin-
Fakten rund um inklusive Bildung. Was man heimlich        dern. Diese Barrieren gab es an meinen Schulen nicht».
denkt, offen beanstandet oder als Skepsis mit sich her-
umträgt, findet man bestimmt unter den gesammelten         Unter Inklusionsfakten.de/ Was ich über inklusive Bil-
vorurteilhaften Aussagen aufgelistet. Den 37 Beispielen    dung sagen kann, wenn jemand sagt …, kann man
stehen ebenso viele fundierte, Fakten basierte und gut     beispielsweise folgende Aussagen überprüfen:
verständliche Widerlegungen gegenüber.                    •	«Kinder mit Behinderung brauchen einen
Lisa Reimann, Pädagogin, und Inklusionsberaterin ist          ­Schonraum/Schutzraum»
die Autorin der Seite Inklusionsfakten.de. Sie nennt      •	«Also die ganz verhaltensauffälligen Schüler, die
sich selber eine Verbreiterin von vorurteilssensiblen          können nicht in den Gemeinsamen Unterricht.
Ansätzen für die inklusive Praxis. Inklusive Bildung           Das geht ja gar nicht»
kennt sie aus eigener Erfahrung:                          • «Die Kinder mit Behinderung werden gehänselt»
«Ich selber lernte von der ersten Klasse bis zum Abitur   •	«Die Schulen sind nicht ausgestattet für Kinder
mit MitschülerInnen mit und ohne Behinderung. Zu-              mit Behinderung»
erst an der ersten staatlichen Integrationsschule im      •	«Die Lehrer der Regelschule wollen doch gar keine
deutschsprachigen Raum ( Fläming-Grundschule ) und             Inklusion»
dann an der Sophie-Scholl-Oberschule. Ich kannte von      • «Inklusion ist Sozialromantik»
klein auf Kinder, die ihren Kopf nicht bewegen konnten,
die manchmal laut schrien oder die nie lesen lernten.     Einfach anklicken und lesen, stöbern, Informatio-
Ich erlebte Sie als Teil der Schulgemeinschaft. Behin-    nen finden und Wissen vertiefen!
derung fasziniert und interessiert mich nicht. Behin-     Inklusionsfakten.de
derung ist ein Aspekt von Vielfalt. Mich interessieren

    «Die Arbeit mit den behinderten Kindern hat unsere Schule und uns tiefgreifend verändert. Der Kern dieser
    Veränderung besteht in einer Richtigstellung der Verantwortlichkeit für den pädagogischen Prozess: Aus
    der Frage: «Wie muss ein Kind sein, damit es an unsere Schule darf?», wurde die Frage: «Wie müssen wir
    Schule machen, damit hier jedes Kind sein darf?» ( Fred Ziebarth, Sonderpädagoge der Fläming-Grund-
    schule Berlin 2006 ).

                                                                               handicapforum Nr. 1 | 2020            7
A ktu e l l

Inklusion ist keine Frage des Ortes

Inklusion heisst; dass sich alle zugehörig fühlen                            Bild: Andi Weiland, Gesellschaftsbilder.de

Viele meinen: Wenn Kinder mit Behinderung in Regel-         tatsächlich für alle sind, messbare Erfolge bringt, das
klassen lernen, sei das Inklusion. Nachdem Deutsch-         besser dasteht als die Ergebnisse unseres 200 Jahre
land im Jahr 2009 eine Konvention unterschrieben            alten Schulsystems. Wir müssen weg vom Denken in
hatte, lassen sie nun Kinder mit Behinderung in die         geschlossenen Systemen – diese Systeme gehören auf-
Regelklassen. Aber dabei bleibt es. Sowas nennt man         gebrochen. Dazu braucht es Geld, aber es braucht auch
jetzt Inklusion, sozusagen per order, ist aber weit davon   ein neues Denken. Dieses ist nicht besonders revoluti-
entfernt. Inklusion bedeutet eben nicht, dass Kinder        onär, und vom Himmel fällt es auch nicht.
mit Behinderung zu 100 Prozent in einem Regelklas-
senraum unterrichtet werden. Inklusion fordert ganz         Wir alle müssen erfahren, was wir können und was
anderes, richtet sich nämlich an alle SchülerInnen. Es      nicht. Auch mit Niederlagen in den Klassenräumen
ist ein Konzept, ein Rahmen zur Erziehung von Kindern       als Basen neuen Lernens ist umzugehen, da wird es
mit und ohne Behinderung. Da soll niemand hinein,           Mobbing geben, weil es das immer gab, aber damit ist
«integriert» oder «inkludiert» werden, sondern es sind      sowieso umzugehen – sei es beim Hänseln von Kindern
schon alle da.                                              mit Behinderung, von Rothaarigen, Dicken oder Stre-
                                                            bern. Wenn wir anfangen, Inklusion uns umfassender
Inklusion hat eine Bedingung: Dass alle sich zuge-          vorzustellen, dann klappt das schon: Je mehr Berüh-
hörig fühlen, in der Gemeinschaft, im Klassenraum.          rung, desto weniger Vorbehalte, Vorurteile und Ängste.
Dass sie ein «Commitment» verspüren. Dann ist der
Klassenraum eine Art Basis des Lernens, aber keine                                                Raul Krauthausen
ausschließliche: Wenn es individuell Sinn macht, ge-
wisse Stunden woanders zu verbringen, und das gilt
für Kinder mit und ohne Behinderung, verlagert sich
der Unterricht. Wir müssen kreativer denken, die Schule
den Kindern anpassen – bisher läuft es andersrum.
Wir brauchen also ein System, in dem Lehrkräfte und
Förder­pädagoginnen gemeinsam schauen, wie die Kin-
der bestmöglich begleitet werden. Aber der Staat spart.
Dabei sind die Beispiele, wie es besser laufen kann,
unübersehbar. Finnland und Kanada schneiden in
den Schulleistungstests von PISA regelmäßig stark ab.
Beide Länder haben keine Förderschulen – und doku-
mentieren, wie gemeinsames Lernen in Schulen, die

8             handicapforum Nr. 1 | 2020
Aktu e l l

    Zugang zur Welt der Musik
    Mögen Sie Musik? Ich mag Musik und meine Tochter             sie die Bläser, durch ein Vibrieren auf der Brust, die
    Mina liebt sie noch viel mehr. Zurzeit steht sie – so habe   Streicher erzeugen Vibrationen an den Armen, je nach
    ich den Eindruck – auf tiefe, rauchige Männerstimmen.        Tonlage und Lautstärke.
    Tom Waits zum Beispiel mag sie sehr. Wir setzen die
    Musik von Tom Waits, zum Beispiel oft im öffentlichen        Gehörlos, aber nicht sprachlos
    Verkehr ein, wenn wir mit Mina im Tram unterwegs             Mittlerweile wird der Junge so wie ich ebenfalls um die
    sind. Als Kind mit einer Autismusspektrumsstörung            Mitte Vierzig sein. Und ich frage mich, ob er vielleicht
    ist Mina gerade im ÖV sehr vielen Reizen und Geräu-          sogar an eines der von Mux ( Verein für Musik und
    schen ausgesetzt. Da helfen ein paar Kopfhörer und die       Gebärdensprache ) organisierten Konzerte geht. Mux
    laute, rauchige Stimme von Tom Waits. Das funktioniert       ermöglicht den Gehörlosen Zugang zu Musik, indem
    zwar nicht immer, aber immerhin ab und zu.                   zum Beispiel Konzerte auf der Bühne zusätzlich von
                                                                 Übersetzerinnen in Gebärdensprache übersetzt wer-
    Musik beruhigt, begeistert, tröstet. Musik bringt uns        den. Eine ziemliche Meisterleistung so den Stakka-
    zum Weinen und Tanzen. Die Wirkung der Musik auf             to-Rap eines Hip-Hoppers in die Gehörlosensprache
    uns Menschen ist noch immer nicht abgeschlossen              zu übersetzen, finde ich.
    und es gibt Theorien, die attestieren der Musik sogar
    heilende Wirkung.                                            Das Schöne daran ist, dass solche Projekte immer auch
                                                                 eine Möglichkeit sind, um mit Menschen mit einer Be-
    Oft wird Musik auch im therapeutischen Bereich ein-          hinderung in Kontakt zu treten. Es müsste mehr solche
    gesetzt. Mina kam schon früh in den Genuss einer Mu-         Begegnungsstätten geben, wo Menschen gemeinsam
    siktherapie, wo sie anhand verschiedener Musikinstru-        und unabhängig von ihrer Behinderung einem Konzert
    mente das Prinzip der Ursache-Wirkung kennenlernte.          beiwohnen können.
    Noch heute haut sie mit einem Pathos auf die Tasten
    des Keyboards, welches ihr die damalige Musikthera-          Musik unterscheidet nicht
    peutin schenkte, dass es eine helle Freude ist. Ich bin      Doch oft scheitern solche Projekte schon an den bau-
    froh, dass Mina Zugang zur Welt der Musik hat. Doch          lichen Voraussetzungen, weil der Zugang zum Kon-
    was ist mit Menschen, die zum Beispiel gehörlos sind?        zertsaal oder zur Disco nicht rollstuhlgängig ist. Wenn
                                                                 diese Hürden genommen sind, dann sind Anlässe
     Nichts hören, aber trotzdem spüren                          wie die von Pro Infimis lancierte Musikveranstaltung
     Meine erste Begegnung mit einem Menschen mit einer          «Musik unterscheidet nicht» eine wunderbare Gele-
     Behinderung war mit einem Gehörlosen. Damals hatte          genheit, um mit Menschen mit Behinderung in Kon-
     ich in der Oberstufe eine Freundin. Und die hatte einen     takt zu treten und sogar gemeinsam Musik zu machen.
     Nachbarn, der hörte manchmal so laut Musik, dass ich        Denn wie der Name der Veranstaltung schon sagt,
     dachte, da sei eine Disco im Gange. Einmal gingen wir       ist die Idee, dass Menschen gemeinsam Musik ma-
     ihn besuchen. Als wir in die Wohnung eintraten, sahen       chen. Unabhängig von ihrer Behinderung oder ihrer
     wir den Jungen zu meinem Erstaunen ganz alleine und         Herkunft. Ein schönes Beispiel gelebter Inklusion.
     wild tanzend zur Musik. Erst später begriff ich, dass der   Überhaupt: Wir sollten uns an der Musik ein Beispiel
     gehörlose Nachbarsjunge die Musik so laut aufdrehte,        nehmen. Musik unterscheidet nicht. Nicht zwischen
     damit er die Vibrationen des Basses mitkriegt.              schwarz und weiss. Nicht zwischen behindert und
    Was es damals noch nicht gab, war das sogenannte             nicht-behindert. Musik ist einfach da. Für alle. Immer
    ‚Soundshirt‘. Eine Weste für Gehörlose, welche Vibra-        schon. Oder wie es Tom Waits einmal gesagt hat: «The
     tionen auslöst, je nach Lautstärke der Musik. In einem      universe is making Music all the time».
    Video ist zu sehen, wie eine gehörlose Frau zum ers-
     ten Mal an einem Symphonie-Konzert dabei ist. In die                                              Patrick Dubach
    Weste sind Vibrationsmotoren eingebaut. Und so spürt

                                                                                        handicapforum Nr. 1 | 2020          9
A ktu e l l

Musik für alle

Das politische Klima hat sich verändert: Am 2.12.2019 konnte das Initiativkomitee das neue BRG feiern        Bild: Hitzigraphy

bim. Das kantonale Behindertenrechtegesetz ( BRG ) ist           Die zahlreichen Diskussionen im Vorfeld der Abstim-
in Kraft. Basel-Stadt kann stolz sein, als erster Kan-           mung haben Teile der Bevölkerung und auch politische
ton die Gleichstellung verankert zu haben und somit              EntscheidungsträgerInnen sensibilisiert. Ein aktuel-
über eine gesetzliche Basis zu verfügen, die konkrete            les Beispiel ist die Zugänglichkeit der Musik­akademie.
Umsetzungen auch möglich macht. Merken Menschen                  Natürlich haben wir es hier einmal mehr mit einigen
mit Behinderung überhaupt etwas davon? Wird es in                Altstadthäusern zu tun, die nicht ohne weiteres roll-
nützlicher Frist konkrete Verbesserung in ihrem Le-              stuhlgängig gemacht werden können. Gleichwohl ist
bensalltag geben? Georg Mattmüller, Geschäftsleiter              im Dezember 2019 ein Anzug überwiesen worden, mit
des Behindertenforums und Initiant des BRG sieht es              dem der Regierungsrat gebeten wird, zu prüfen, welche
realistisch: «Die Bäume werden nicht plötzlich in den            Massnahmen getroffen werden könnten um den Zugang
Himmel wachsen, aber das politische Klima hat sich               zu den Gebäuden und ihrer Infrastruktur zu verbessern.
tatsächlich verbessert zu Gunsten von Menschen mit               Ein solches Ansinnen stösst mittlerweile auf Verständnis
Behinderungen.» Was lange Zeit ein Thema war, das                und da die gesetzlichen Grundlagen nun auch vorhan-
kaum Beachtung fand, das im besten Fall als «nice to             den sind, steht der Prüfung eines berechtigten Anlie-
have», aber bestimmt nicht als wichtig oder notwendig            gens nichts mehr im Wege. Wir freuen uns, wenn bald
erachtet wurde, ist gesellschaftlich relevant geworden.          auch Menschen mit Behinderungen die Angebote der
Dass Menschen mit Behinderungen gesellschaftliche                Musikakademie nutzen können.
Teilhabe zusteht, finden inzwischen Viele ganz normal.

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10            handicapforum Nr. 1 | 2020
Aktu e l l

Angebote der Behindertenhilfe
Selber entscheiden oder mitentscheiden wie der Alltag mit Unterstützungsbedarf gestaltet wird, heisst
auch, sich einen Weg durch den Informations-Dschungel zu bahnen. Das Amt für Sozialbeiträge hat mit
seiner Website eine gute Übersicht geschaffen und legt ein spezielles Augenmerk auf die Zugänglichkeit.

bim. Seit dem 1.1.2017 ist in den Kantonen Basel-Stadt     Liste
und Basel-Landschaft das Behindertenhilfegesetz            Wenn man sich einen Überblick über die verschiedenen
( BHG ) in Kraft. Es hat Auswirkungen auf alle Personen    Einrichtungen der Behindertenhilfe verschaffen möch-
mit Behinderung, die eine IV-Rente beziehen Das Ge-        te, findet man in einer Angebotsübersicht eine Liste
setz wurde im Zuge des Nationalen Finanzausgleichs,        mit allen zugehörigen Institutionen, ihren spezifischen
der die Aufgabenteilung zwischen Bund und Kanto-           Merkmalen und den derzeitigen freien Plätzen. Sie ist
nen neu ausgestaltete, erarbeitet. Nach Annahme der        nun aufgrund von entsprechenden Rückmeldungen
UNO-Behindertenrechtskonvention wurde dabei auch           auf die letztjährige Umfrage des ASB zugänglicher und
dem Recht auf Selbstbestimmung, respektive auf Mit-        übersichtlicher gestaltet worden. Mitwirken kann ja nur,
wirkung Rechnung getragen, so dass Menschen mit Be-        wer sich die notwendigen Informationen auch beschaf-
hinderungen ihr Leben möglichst eigenverantwortlich        fen kann. Weitere Anregungen zur Website werden vom
organisieren können. Das BHG regelt unter anderem,         Amt für Sozialbeiträge auch gern entgegengenommen.
welche Leistungen man erhält, wer für diese Leistungen
bezahlt und wie diese Leistungen allenfalls verändert
werden können.

Broschüre
Der Behindertenhilfe obliegt die finanzielle Unterstüt-
zung von Anspruchsberechtigten sowie das Bereitstel-
len und Betreiben von geeigneten Angeboten in den
Bereichen Wohnen, Tagesstruktur und Beratung. Sie ist
dem Amt für Sozialbeiträge ( ASB ) angegliedert.
Wer sich nun auf den Weg machen möchte, Leistungen
der Behindertenhilfe zu beziehen oder bestehende
Leistungen zu ändern, kann sich auf der Website des
ASB orientieren. Eine leicht verständliche Broschüre er-
klärt die wesentlichen Änderungen in der Behinderten-
hilfe und zeigt die möglichen Handlungsschritte auf. Sie
kann unter www.asb.bs.ch/alter-behinderung/behin-
dertenhilfe eingesehen oder heruntergeladen werden.

    Angebotsübersicht
    Hier finden Sie eine Übersicht über die Angebote der Behindertenhilfe im Kanton Basel-Stadt. In der
    Excel-Tabelle haben Sie die Möglichkeit, die Angebote nach verschiedenen Kriterien zu filtern und nach
    Angeboten mit freien Plätzen zu suchen. Die Übersicht wird mindestens einmal monatlich aktualisiert.
    Die Übersichten stehen auch als PDF-Dokumente zur Verfügung. Unter der Übersicht finden Sie zudem ein
    Merkblatt, welches die wichtigsten Filter- und Suchfunktionen erklärt. Eine Übersicht über die Angebote
    im Kanton Basel-Landschaft finden Sie unter www.stiftungmosaik.ch/beratungsstelle/institutionen.
    Haben Sie Fragen zur Bedienung der Angebotsübersicht? Gerne stehen wir Ihnen bei Fragen zur Verfü-
    gung, per E-Mail ( behindertenhilfe@bs.ch ) oder Telefon ( 061 267 84 81). Für weitere Unterstützung bei
    der Wohnplatzsuche stehen Ihnen die beiden Beratungsstellen Stiftung Rheinleben und Pro Infirmis zur
    Verfügung.

                                                                                handicapforum Nr. 1 | 2020     11
A ktu e l l

Inklusionsarbeit ist Arbeit –
auch für Frauen mit Behinderung
Was nichts kostet, ist nichts wert. Doch von Menschen mit Behinderung wird oft erwartet, dass sie an
Tagungen, bei Studien oder in Arbeitsgruppen gratis mitarbeiten.

Menschen mit Behinderung haben ein riesiges Wissen,         uns noch schlechter stellt als Frauen ohne Behinderung
wenn es um Pflege, Inklusion und Zugang geht, denn          oder Männer mit Behinderung.
unsere gelebte Erfahrung führt zu der täglichen Aus-
einandersetzung mit diesen Themen. Ironischerweise
wird diese Expertise jedoch häufig nur in Menschen          Get that Money, Ladies!
ohne Behinderung als ebensolche wahrgenommen                Auch wenn es nicht immer einfach ist, können wir die-
und entsprechend entlohnt. Von uns Menschen mit             ses Verhalten ändern und lernen einzufordern, was uns
Behinderung hingegen wird häufig erwartet, dass wir         zusteht. Helfen kann dabei, sich mit anderen Menschen
über diese Themen in Vorträgen und Gesprächsrunden          auszutauschen und zu erfahren, wie vergleichbare Ar-
sprechen oder über sie schreiben – ohne Honorar, da         beit bezahlt wird. Ausserdem müssen wir uns bewusst
wir ja schliesslich Inklusion zum Ziel haben und es «für    werden, wie wertvoll unsere Expertise ist, dass auch
uns selber tun».                                            «Alltagswissen» eine unverzichtbare Form von Wissen
                                                            ist, und dass «Inklusion» und «Diversity» Schlagwörter
Dieser Logik bin ich schon oft begegnet, und sie wirft      sind, aus denen nicht nur Institutionen und Menschen
bei mir ein paar Fragen auf: Haben Menschen ohne Be-        ohne Behinderung Kapital schlagen sollten. Mir per-
hinderung denn Inklusion nicht zum Ziel? Und müssen         sönlich fällt es auch nicht immer leicht, nach angemes-
wir uns nicht auch auf diese Arbeit vorbereiten, indem      sener Entlohnung zu fragen. Es braucht Selbstbewusst-
wir uns mit Themen und Argumenten befassen, die             sein und Mut. Trotzdem ist es wichtig, dass wir es tun.
über unsere eigene Erfahrung hinausgehen, womit das         Nicht nur für unser eigenes Portemonnaie, denn: Nur
Argument, dass wir diese Arbeit nur «für uns selber»        so wird unsere Arbeit in der Gesellschaft auch wirklich
machen, hinfällig ist? Sollte unsere Erfahrung nicht als    als Arbeit angesehen, die zum Teil viel Kraft braucht.
zusätzliche Qualifikation gesehen werden, die ­unseren      Get that money, ladies!
Beitrag noch wertvoller macht? Leisten Menschen mit
Behinderung nicht schon genug unbezahlte Arbeit,                                  avanti donne, Nina Mühlemann
wenn es darum geht andere Menschen zu sensibili-                          Erschienen in Netzbrief avanti donne 16
sieren?

Ein Zeichen der Wertschätzung
Natürlich gibt es immer wieder Situationen, in denen
ich bewusst ohne Honorar arbeite. Ich engagiere mich
bei «avanti donne» und bei «selbstbestimmung.ch» im
Vorstand und nehme auch sonst manchmal unentgelt-              Tipps für die Praxis
liche Aufträge an, wenn sie sonst reizvoll erscheinen          Nach dem Honorar und Spesen ( Anreise etc.)
oder von Vereinen oder Zwecken kommen, für die ich             fragen, bevor eine Mitwirkung zugesagt bzw.
mich gerne umsonst engagiere und die wenig Geld                ein Auftrag angenommen wird.
haben. Generell ist es allerdings so, dass in unserer          •	Es kann hilfreich sein zu fragen, welche Ho-
kapitalistischen Gesellschaft Wertschätzung auf dem                norare üblicherweise bezahlt werden.
Arbeitsmarkt vor allem durch finanzielle Vergütung             •	Der Austausch mit anderen Menschen ( ins-
ausgedrückt wird, und dies sollte gerade auch für die              besondere mit Männern! ) bezüglich ihrer
Arbeit von Menschen mit Behinderung gelten, die auf                Bezahlung kann sehr aufschlussreich sein
dem Arbeitsmarkt sowieso schon mit vielen Barrieren            •	Gibt es keine oder nur eine sehr tiefe Bezah-
konfrontiert sind. Leider fällt es vielen von uns schwer,          lung, gilt es abzuwägen, ob andere Faktoren
diese Vergütung einzufordern. Insbesondere Frauen                  ( Networking oder die Plattform, die gegeben
mit Behinderung werden oft in einer Art und Weise                  wird ) dies wettmachen. Werden allerdings
sozialisiert, die ihnen beibringt, sich zurückzunehmen             andere Menschen für die gleiche Arbeit be-
und keine eigenen Bedingungen zu stellen: Gender und               zahlt, ist dies eindeutig ein Warnzeichen.
Behinderung wirken hier auf eine Weise zusammen, die

12            handicapforum Nr. 1 | 2020
Aktu e l l

Ganz Frau …
… für all jene, die mehr über weibliche Sexualität und Liebe aus der Perspektive von Frauen mit einer
­Körper-, Sinnes- oder Kommunikationsbehinderung wissen möchten

bim. «Ganz Frau» – für einmal keine Schminktipps,       telt. Erfahrungsberichte bilden einen wichtigen Teil
keine Mode und auch keine Ratschläge, wie es Män-       der Dokumentation. Meistens haben andere das Wort:
nern am besten gefällt, sondern ein Webportal, das      Fachexpertinnen ohne eigene Behinderungserfahrung,
Selbstbestimmung und Frauenrechte ins Zentrum stellt.   Eltern, Männer mit Behinderung – «ganz Frau», lässt
Es geht um weibliche Sexualität, Liebe und Behinde-     bewusst ExpertInnen in eigener Sache sprechen. Das
rung. Frauen mit unterschiedlichen Beeinträchtigun-     Web-Portal greift Themen der Broschüre auf und ent-
gen haben sich auf Initiative von «avanti donne» mit    hält zudem aktuelle Infos, Links und Angebote. Im Blog
diesen Themen auseinandergesetzt, eine umfassende       besprechen Fachexpertinnen und betroffene Frauen
Dokumentation erarbeitet und ein neues Web-Portal       ( Peers ) Fragen, die die NutzerInnen des Portals be-
aufgebaut.                                              schäftigen.

Die Broschüre informiert über die wichtigsten Aspekte   «Ganz Frau» richtet sich an Mädchen und junge Frauen,
von Sexualität sowie über die sexuellen Rechte von      die mit einer Behinderung aufwachsen oder aufge-
Mädchen und Frauen mit einer Behinderung. Im prak-      wachsen sind, an ihre Mütter und Vertrauenspersonen,
tischen Teil kommen Themen aus dem Alltag und Erfah-    an Fachpersonen und alle andern, die sich mit dem
rungen von Frauen mit unterschiedlichen Beeinträchti-   Thema auseinandersetzen wollen. Während in den
gungen zur Sprache. Den Schwerpunkt bilden Körper-,     letzten Jahren vermehrt über Sexualität und kognitive
Sinnes- und Kommunikationsbehinderungen.                Beeinträchtigungen informiert und publiziert worden
Die Inhalte ermöglichen eine Annäherung ans Thema       ist, wurden die Auswirkungen einer Körper-, Sinnes-
«Sexualität, Liebe und Behinderung» auf verschiedene    oder Kommunikationsbehinderung auf die weibliche
Weise: sachlich, informativ und alltagsnah. Alle The-   Sexualität und Partnerschaften wenig beachtet. Avan-
men werden kompakt und leicht verständlich vermit-      tidonne hat hier ein notwendiges Projekt gestartet
                                                        und einen wichtigen Beitrag geleistet, dass betroffene
                                                        Mädchen und junge Frauen zu einem selbstbestimmten
                                                        und liebevollen Umgang mit ihrer Sexualität und ihrem
                                                        Körper finden.

                                                        Bestellungen, aktuelle Informationen, Links und wei-
                                                        tere Beiträge zum Thema: www.ganz-frau.ch
                                                        Avanti donne, Interessenvertretung Frauen und Mäd-
                                                        chen mit Behinderung: www.avantidonne.ch

                                                                             handicapforum Nr. 1 | 2020   13
A ktu e l l

Meldestelle für Opfer der IV-Willkür
Medienmitteilung von Inclusion Handicap

Haarsträubende Qualität von medizinischen Gutachten,             Ein paar Bespiele:
unhaltbare Sparvorgaben von den Behörden: Inclusion             •	Die IV verweigerte einer Frau aufgrund ihres schlech-
Handicap ist entrüstet über die mittlerweile enthüllten             ten Gesundheitszustandes berufliche Eingliede-
Missstände bei der IV. Das Nachsehen haben Men-                     rungsmassnahmen. Gleichzeitig attestierte ihr der
schen mit Behinderungen, die nicht oder nur zum Teil                Gutachter eine hundertprozentige Arbeitsfähigkeit.
arbeitsfähig sind, die ihnen zustehenden Versiche-              •	Ein Gericht stellte bei einem Gutachter «gewisse
rungsleistungen aber nicht erhalten. Inclusion Handi-               Fehlleistungen» fest. Er erhält aber Aufträge von
cap befürchtet, dass die Enthüllungen nur die Spitze                insgesamt 3.1 Millionen Franken.
des Eisbergs sind.                                              •	Ein Arzt hat in 16 Gutachten einen komplett iden-
                                                                    tischen Text verwendet – und dabei jeweils 100
                                                                    Prozent Arbeitsfähigkeit attestiert.
Die Missstände sind erheblich
Kopierte Berichte, Aufträge in Millionenhöhe, tenden-            Zudem sollen die IV-Stellen vom Bundesamt für Sozi-
ziöser Inhalt – die Missstände bei den medizinischen             alversicherungen ( BSV ) gezielt Sparvorgaben erhalten
Gutachten der IV sind erheblich, deren Qualität ver-             haben. Dies ist einer öffentlichen Versicherung nicht
einzelt «schludrig». Mehrere skandalöse Fälle sind in-           würdig. Gemäss Versicherungsprinzip ist es die Aufgabe
zwischen publik geworden, bei denen gewisse Ärzte zu             der IV-Stellen, den Rechtsanspruch auf eine Leistung
Ungunsten von Menschen mit Behinderungen unseriöse               ergebnisoffen zu prüfen, und nicht fragwürdige Quo-
IV-Gutachten erstellt haben. Die veröffentlichten Fälle          tenziele zu erfüllen.
zeigen, dass die IV-Stellen immer wieder Aufträge an
Gutachter vergeben, die tendenziöse Einschätzungen
liefern. An Ärztinnen und Ärzte, die teilweise Millio-           Notwendige Untersuchung – Inclusion Handicap
nenbeträge kassieren und im Gegenzug systematisch                schafft Meldestelle
die Arbeitsfähigkeit zu hoch einschätzen – dies auch             Bundesrat Alain Berset hat angekündigt, die Missstände
immer mal wieder völlig gegensätzlich zu den Ein-                untersuchen zu lassen. Inclusion Handicap begrüsst
schätzungen der behandelnden Ärzte. Die Folgen für               diesen Schritt und fordert rasche Massnahmen, um
die Betroffenen können tragisch sein.                            die unhaltbaren Zustände bei der IV zu beseitigen. Der
                                                                 Dachverband der Behindertenorganisationen bietet
                                                                 Hand, die Untersuchungen zu unterstützen und wird
                                                                 dafür eine unabhängige Meldestelle einrichten, an die
                                                                 sich die Opfer der bisherigen IV-Praxis wenden können.

                                                                    www.inclusion-handicap.ch

Die Folgen einer willkürlichen Begutachtung können für die Betroffenen tragisch sein.                 Bild: Bruno Lindau

14            handicapforum Nr. 1 | 2020
Beiträge

Endspurt bei der 7. IVG-Revision
Die 7. IVG-Revision steht vor dem Abschluss. Die Schlussabstimmung ist für die Frühlingssession 2020 ge-
plant. Die Zeit ist damit reif, eine Gesamtbilanz der 7. IVG-Revision zu ziehen. Und natürlich steht auch die
Frage im Raum, wie sich AGILE.CH und die Mitgliedorganisationen zur Referendumsfrage stellen.

Mit Vehemenz haben sich die Behindertenorganisatio-         Auch eher positiv bewertet werden kann, dass die Ein-
nen gegen das vom Bundesrat vorgeschlagene stufen-          gliederungsbemühungen zugunsten von Jugendlichen,
lose Rentensystem gewehrt. Das Parlament hat nicht          jungen Erwachsenen und psychisch Erkrankten ver-
auf sie gehört und sich für die Einführung dieses neuen     stärkt werden sollen, unter anderem mit dem Ausbau
Rentensystems ausgesprochen. Immerhin wird auch             der Beratung und Begleitung dieser Gruppen sowie
zukünftig eine ganze Rente ab einem IV-Grad von 70%         mit der Ausweitung der Früherfassung und der Inte-
ausgerichtet, und Menschen unter 30 Jahren bleiben          grationsmassnahmen auf Jugendliche. Die Einführung
rentenberechtigt. Beim Übergang ins neue Rentensys-         eines Personalverleihs und die Zusammenarbeitsver-
tem wird die Besitzstandwahrung ab 55 Jahren ge-            einbarung mit Dachorganisationen der Arbeitswelt sind
währt, wie dies der Ständerat eingebracht hat.              weitere Pluspunkte der Vorlage. Dank der Beharrlichkeit
                                                            von Ständerätin Pascale Bruderer ist in den Materialien
 Der Aufwand, bewährte Begriffe in Gesetzen, Verord-        festgehalten worden, dass die berufliche Erstausbil-
 nungen, Weisungen, Kreisschreiben, Lehrbüchern etc.        dung von Jugendlichen mit Behinderungen weiterhin
zu ändern, ist immens, das hat der Bundesrat in seiner      zwei Jahre dauern soll.
Antwort auf eine Anfrage von Nationalrat Adrian Wüth-
 rich bestätigt. Doch der Nationalrat schreckt vor einem
 solchen Aufwand nicht zurück. Der Begriff Kinderren-       Eine Rente stabilisiert die Situation
 te soll – wenn es nach dem Willen des Nationalrats         Der Vorstand von AGILE.CH setzte sich mit der Vorla-
 geht – in «Zusatzrente für Eltern» umbenannt werden.       ge auseinander und sprach sich gegen ein Referen­
­AGILE­.­CH hofft, dass der umbenennungsfreudige Nati-      dum aus. Das Zentralsekretariat ist aber gefordert, die
 onalrat Konsequenz an den Tag legt und endlich auch        Umsetzung genau zu beobachten. Der Vorstand er-
 den veralteten und diskreditierenden Begriff «invalid»     wartet, dass bei einer Umbenennung der Kinderrente
aus der Schweizer Gesetzgebung verbannen wird.              der veraltete und diskriminierende Begriff «invalid»
                                                            endlich aus der Gesetzgebung entfernt wird. Und in
                                                            der nächsten IVG-Revision, der 8. IVG-Revision oder
Verbesserungen bei den Gutachten                            der zweiten Weiterentwicklung der IV, sollte unbe-
Die Kürzung der Kinderrente von 40 auf 30% der ent-         dingt die Eintrittsschwelle für eine IV-Rente von 40 auf
sprechenden IV-Rente konnte glücklicherweise dank           10% gesenkt werden. Der Vorstand ist überzeugt, dass
des Ständerats abgewendet werden. Damit wird das            sich eine solche Senkung positiv auf die Eingliederung
Versprechen der Kostenneutralität der Vorlage in letzter    auswirken würde. Eine Rente stabilisiert die Situati-
Minute doch noch eingelöst. Unerfreulich hingegen ist,      on und ermöglicht so Betroffenen, sich voll und ganz
dass die Auskunftspflicht von Ärztinnen und Ärzten          auf die Eingliederung zu konzentrieren. Auch könnten
ausgeweitet wird und dass die Taggeldregelungen für         Menschen mit langandauernden Gesundheitsschäden
die erste berufliche Ausbildung und die allgemeine          – insbesondere mit einer kontinuierlichen Verschlech-
Schule verschlechtert werden.                               terung – noch früher erreicht werden.

Die grössten Verbesserungen bringt die 7. IVG-Revision         Agile.ch
im Bereich der Gutachten: Die Pflicht zur Statistik, Ton-
bandaufnahmen von Interviews und eine Kommission
sind wichtig für mehr Transparenz, Nachvollziehbarkeit
und Qualität. Die Serie des Blicks zum Thema, die u.a.
in Zusammenarbeit mit AGILE.CH, Procap und touché.ch
entstanden ist, hat zu den positiven parlamentarischen
Entscheiden im Bereich der Gutachten beigetragen. Es
besteht die Hoffnung, dass zukünftig Menschen mit
einer langandauernden Gesundheitsschädigung nicht
willkürlich von Gutachtern gesundgeschrieben werden
können.

                                                                                  handicapforum Nr. 1 | 2020    15
Bei träge

Bahnhöfe erst teilweise zugänglich
Bis endlich alle Bahnhöfe für Menschen mit Behinderung zugänglich sind, braucht es Durchhaltevermögen.

                                                                                                            Bild: zVg

2023 sollten alle Bahnhöfe in der Schweiz barrierefrei        Die Verpflichtung hat kein Ablaufdatum
– das heisst für Menschen mit Behinderungen selbstän-         Seit dem vergangenen Jahr wurden weitere 74 Bahn­
dig benutzbar – sein. So verlangt es das Behinderten-         höfe als BehiG-gerecht klassifiziert, womit insgesamt
gleichstellungsgesetz. Sie sollten, sie sind es aber nicht.   819 für Passagiere mit Behinderungen autonom be-
«Transportunternehmen und auch das Bundesamt für              nutzbar sind. Insgesamt gibt es in der Schweiz aber
Verkehr ( BAV ) haben seit der Inkraftsetzung des BehiG       rund 1800 Bahnhöfe. Die gesetzliche Frist wird nicht
2003 lange geschlafen, bis die Umsetzung der Ver-             eingehalten werden können, das heisst bis zu ihrem
pflichtungen an die Hand genommen wurde», schreibt            Ablauf im Jahr 2023 sollen laut BAV nur drei Viertel
«Inclusion Handicap», der Schweizerische Dachverband          aller Bahnhöfe behindertengerecht sein. Zudem wird
der Behindertenorganisationen. Er intervenierte bereits       der Umbau bei neun Prozent der Bahnhöfe als unver-
2017 beim BAV und erreichte, dass die Bestrebungen            hältnismässig taxiert. Für Inclusion Handicap ist klar:
zur Erfüllung der gesetzlichen Vorgaben intensiviert          Das Vorgehen ist zwar richtig im Sinne einer Priorisie-
wurden. Jedes Jahr listet das BAV sämtliche Bahnhöfe          rung der Projekte, aber man muss laufend überprü-
auf und gibt an, ob diese behindertengerecht sind bzw.        fen, ob eine bauliche Anpassung nicht doch notwendig
bis wann dies erreicht werden soll.                           ist und nach Ablauf der Frist muss mit den baulichen
                                                              Massnahmen selbstverständlich fortgefahren werden.
                                                              Die Verpflichtung Zugänglichkeit zu schaffen hat kein
                                                              Ablaufdatum.

16          handicapforum Nr. 1 | 2020
Beiträge

Transition
Transition heisst Übergang. In der Medizin versteht man darunter den geplanten Übergang von Jugendli-
chen mit chronischen Erkrankungen von einer kindzentrierten zu einer erwachsenenorientierten Gesund-
heitsversorgung.

bim. Das Jugendalter ist mit vielen Herausforderun-           Menschen oft neue Freiheiten und eine möglichst au-
gen verbunden: eine Zeit voller Veränderungen und             tonome Lebensführung. Der Verein «Transition 1525»
Verheissungen, die meist auch mit Schwierigkeiten             ist neu gegründet worden, um den jungen Menschen in
und zeitweisen Problemen einhergeht. Das ist normal.          dieser Übergangszeit beizustehen. Leitende ÄrztInnen
In der Pubertät gehören Krisen dazu und helfen, den           und weitere Fachpersonen aus den Bereichen Rehabi-
Weg ins Erwachsenenalter zu finden. Wenn chronisch            litation und Neuropädiatrie haben sich zusammenge-
kranke oder behinderte Kinder in die Pubertät kom-            funden, um diesen Prozess interdisziplinär zu begleiten,
men, sind sie mit zusätzlichen Herausforderungen kon-         denn es braucht hier jedenfalls mehr als eine Übergabe
frontiert. Ihren Platz in der Gesellschaft zu finden, ist     von Arzt zu Arzt. Aufbauend auf europäischen Transi-
anspruchsvoll. Die Loslösung vom Elternhaus gestaltet         tions-Programmen sollen im Rahmen von «Transition
sich schwieriger, mit verschiedenen Beeinträchtigun-          1525» Standards entwickelt werden bezüglich Fallma-
gen respektive Unterstützungsbedarf die Welt zu er-           nagement, Epikrisen, Dokumentation und die Anspra-
obern, ist kein Sonntagsspaziergang. Die medizinische         che der Betroffenen. Aber auch im Zusammenhang
Versorgung, auf die die jungen PatientInnen speziell          mit Sozialversicherungsfragen, mit der psychosozialen
angewiesen sind, ändert sich ausgerechnet in dieser           Betreuung sowie der Arbeits- Wohn- und Lebensform
Zeit grundlegend. Die Kinder kommen von der Pädiatrie         möchte der Verein Unterstützung anbieten, dazu soll
in die Erwachsenenmedizin, das heisst, sie müssen             nun die Zusammenarbeit mit allen relevanten Organi-
oft ihre über Jahre vertrauten ÄrztInnen und medizi-          sationen in der Schweiz aktiviert werden. Der Verein
nische Betreuungspersonen wechseln, meist auch die            ist noch im Aufbau, Interessierte haben aber bereits
Institutionen, selbst wenn sie zum zweiten Zuhause            die Möglichkeit Kontakt aufzunehmen und/oder mit-
geworden sind. Die rechtliche Situation, insbesondere         zuwirken.
bezüglich Sozialversicherungen, ändert sich ebenfalls,
die Kostenübernahme von Hilfsmitteln muss neu gere-              www.transition1525.ch/transition
gelt werden und gleichzeitig wünschen sich die jungen

Erwachsen werden mit einer chronischen Krankheit oder Behinderung ist besonders herausfordernd.       Bild: Bruno Lindau

                                                                                     handicapforum Nr. 1 | 2020       17
H inwei se

Wem sini Recht? Mini Recht!
bim. Die UNO-Behindertenrechskonvention geht alle         Beispiele, Forderungen und unter der Rubrik «aufge-
etwas an – auch die Institutionen. INSOS, der nationale   schnappt» mögliche Aussagen von Betroffenen geben
Branchenverband der Behinderteninstitutionen setzt        einen Einblick in die Thematik und greifen Erfahrungen
sich dafür ein, seine Angebote im Sinne der UNO-BRK       auf, die Menschen mit Behinderung kennen. Es geht
weiterzuentwickeln. Die Ostschweizer Sektion SG-AI hat    weiter mit den Themen Selbstbestimmung, Mitsprache,
im Laufe der letzten zwei Jahre in Zusammenarbeit mit     Barrierefreiheit und Teilhabe. «Sich für die eigenen
zwölf Institutionen ein entsprechendes Projekt durch-     Rechte einsetzen, ist nicht einfach. Dazu braucht es
geführt. Entstanden sind dreizehn Aktionspläne, eine      Wissen, Mut, Hartnäckigkeit, Eigen-Sinn, Überzeugung,
Broschüre für KlientInnen als Instrument des Empower-     Leidenschaft und vielleicht noch mehr. Wichtig ist: Man
ments, Fragebogen ( Selbstüberprüfung ) zur Umsetzung     muss irgendwo anfangen. Im Hier und Jetzt. Wie man

Disco Spezial
der UN-BRK in den Institutionen und Empfehlungen der      anfangen kann, will diese Broschüre zeigen.»
Fachhochschule St. Gallen, wie Partizipation wirksam
umgesetzt werden kann.                                    Auf der Webseite von INSOS SG-AI stehen alle dreizehn
                                                          Aktionspläne zum Download zur Verfügung. Zudem fin-
«Wem sini Recht? Mini Recht!» heisst der Titel der klei-  det man dort ein Tool in Form von Fragebogen, anhand
nen Broschüre, die in einfacher Sprache und mit Il-       derer man gemeinsam mit den KlientInnen die Umset-
lustrationen und Fotos Betroffene ermutigen möchte,       zung der UN-BRK in den Institutionen überprüfen kann.
                                Disco mit dem Basler Tanzfest
sich für ihre Visionen und Träume einzusetzen. Die
Publikation ist kein Regelwerk mit Paragrafen, son- Das Projekt wurde von der Fachhochschule St. Gallen
dern möchte Anstösse vermitteln,An wie
                                    diesem
                                         und Abend
                                              wo mantanzen    wir zusammen
                                                          ausgewertet:         mit dem findet man ebenfalls
                                                                        Ihre Empfehlungen
anfangen könnte, sich für ein selbstbestimmtes Leben      auf www.insos-sg-ai.ch.     Eine Version der UNO-BRK in
                                Basler  Tanzfest.
einzusetzen – auch in einer Institution. Es beginnt
                                                    Wir  machen
                                                          Leichter
                                                                  eine Karaoke-Disco.
                                                                   Sprache  findet   man   auch unter www.behin-
mit der «Bewussseinsbildung»: Lassen
                                 was sindSieVorurteile?
                                              sich überraschen.
                                                          dertenforum.ch/Infos/ ­ a ktuelle-infos

                                  Wir hoffen auf viele tanzlustige Gäste.

Disco Spezial
Disco mit dem Basler Tanzfest und                         15.Mai 2020
mit insieme Basel                                         ab 19 Uhr bis 23 Uhr
An diesem Abend tanzen wir zusammen mit dem Basler        (an diesem Abend dauert die Disco bis 23 Uhr )
Tanzfest. Wir machen eine Karaoke-Disco.
Lassen Sie sich überraschen.                              Markthalle Basel
                                                          Viaduktstrasse 10
Wir hoffen auf viele tanzlustige Gäste.                   4051 Basel

18       handicapforum Nr. 1 | 2020
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