Saiten - steht unter Strom - Saiten.ch

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Saiten - steht unter Strom - Saiten.ch
Saiten

steht unter Strom.
                     Ostschweizer Kulturmagazin
                          Nr. 223, Mai 2013
Saiten - steht unter Strom - Saiten.ch
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Ein Heft über
Wasser, Wind und
Sonne und das
schöne Leben mit
2000 Watt.
Ausserdem: Inside
VBSG, Outsider
in der Kunst. Und
sogar der Pfahl-
bauer spürt den
Frühling.
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Wo man hinschaut und hinhört: Energie.         Den Test kann im Netz jede und jeder
Sogar in Frankreich, dem Land der              machen – wie sinnvoll er ist, mag fraglich
AKWs und der ungestraften Umweltsün-           sein. Susan Boos etwa, Mitautorin
den, propagierte im April ein Tag der          dieses Hefts und Energiefachfrau, hält
offenen Tür die «transition énergétique».      von der Methode nicht viel mit dem
Und im Süden des Landes brechen                Argument: «Die Energiefrage wird mit
Bürgerproteste gegen die Gewinnung von         diesen persönlichen Energiebilanzen
«gaz de schiste» auf – hierzulande als         moralisch aufgeladen: Gute Menschen
Fracking ebenfalls umstritten.                 brauchen wenig Energie … Falsch,
        Das Thema steht zuoberst auf der       würde ich sagen: Wir brauchen Struktu-
Dringlichkeitsliste, lokal wie global.         ren, in denen ich gar kein guter
Aber auch weit oben auf der schwarzen          Mensch sein muss – oder eben gar kein
Liste der zeitgenössischen Perversio-          schlechter sein kann.» Das Thema
nen: Alle sind für Atomausstieg und für        lohnte eine ausführlichere Diskussion –
alternative Energien, kaum jemand              Gelegenheiten dazu gibt es im Mai,
ist bereit, bei sich selber, im persönlichen   dem Monat der kräftigen Sonnen- und
Alltagsverhalten Konsequenzen zu               anderen Lebensenergien, vielfach.
ziehen. Die Saiten-Redaktion nimmt sich        Unter anderem am 24./25. Mai am Ost-
davon nicht aus – aber wir widmen              schweizer Sozial- und Umweltforum
dieses Heft zumindest der Energiewende:        Sufo oder einen Tag zuvor am Ökomarkt
Wir fragen, wo St. Gallen energetisch          in St. Gallen. Wo man hinschaut und
steht, warum die Geothermie in der Stadt       hinhört: Energiewende.
gefeiert und im Thurgau verteufelt                     Ausserdem in diesem Heft:
wird und wie das Appenzellerland zum           Zwist ums Klubhaus, Kontroverse um die
Windpark werden könnte. Daneben                VBSG, Lob der Aussenseiterkunst,
besuchen wir das pionierhafte ökologi-         Möslangs neue Trilogie. Die Welt ist unter
sche Gross-Wohnprojekt Giesserei               Strom.
Winterthur, wo in Sachen Energieeffizi-                Peter Surber und
enz buchstäblich an alles gedacht                      Andrea Kessler
worden ist. Und wir nehmen uns an der
Nase und skizzieren den Energie-
haushalt des Saiten-Magazins von der
Idee bis zum Postversand – eine
Rechnung mit vielen Unbekannten, aber
ein Stück Bewusstseinsförderung.
Man merkt schnell: Der Energieteufel
steckt im Detail.
        Saiten ist für einmal Mainstream:
Der persönliche ökologische Fuss-
abdruck der Redaktion bewegt sich, trotz
möglichst umweltbewusstem Arbeits-
lebenswandel, im schweizerischen Mittel.
                                       EDITORIAL
Saiten Ostschweizer Kulturmagazin
223. Ausgabe, Mai 2013, 20. Jahrgang,
                                                        9    Reaktionen
erscheint monatlich
      HERAUSGEBER
Verein Saiten, Verlag, Schmiedgasse 15
Postfach 556, 9004 St.Gallen
                                                             Positionen
Tel. 071 222 30 66, Fax 071 222 30 77
      REDAKTION
Andrea Kessler, Peter Surber,
                                                        11   Blickwinkel
redaktion@saiten.ch                                     12   Redeplatz
      VERLAG/ANZEIGEN                                        mit Hansueli Stettler
Peter Olibet, verlag@saiten.ch
      SEKRETARIAT                                       13   Einspruch
Gabriela Baumann,                                            von Martin Amstutz
sekretariat@saiten.ch
      KALENDER                                          14   Stadtlärm
Michael Felix Grieder
kalender@saiten.ch                                      14   Neue schlechte Kunde
      GESTALTUNG
Samuel Bänziger, Larissa Kasper
                                                             für die Literatur
Rosario Florio, grafik@saiten.ch                         15   Ein Memento für Peter Kamm
      VEREINSVORSTAND
Susan Boos, Lorenz Bühler,
Heidi Eisenhut, Christine Enz,
Hanspeter Spörri (Präsident),
Rubel Vetsch
      VERTRIEB
8 days a week, Rubel Vetsch
      DRUCK
Niedermann Druck AG, St.Gallen
      AUFLAGE
5600 Ex.

                                                                                                                Saiten 05/2013
      ANZEIGENTARIFE
siehe Mediadaten 2013
      SAITEN BESTELLEN
Standardbeitrag Fr. 70.–, Unterstützungs-                    Unter Strom
beitrag Fr. 100.–, Gönnerbeitrag Fr. 280.–
Tel. 071 222 30 66, sekretariat@saiten.ch
      INTERNET                                          18   Die unaufgeregte Revolution
www.saiten.ch                                                Ein energiepolitischer Rundgang
      AN DIESER AUSGABE HABEN
                                                             durch die Stadt St.Gallen.
      MITGEARBEITET
Martin Amstutz, Ursula Badrutt,
                                                             von Susan Boos
Ladina Bischof, Susan Boos, Kurt Bracharz,
Wendelin Brühwiler, Richard Butz,
                                                        20 Der Herr der Winde
Gyatso Drongpatsang, Tine Edel, Dorothee                     Ein Besuch bei Heini Schneider, der auf
Elmiger, Eleonora Farinello, H.R. Fricker,                   dem Gäbris ein Windrad gebaut hat.
Georg Gatsas, Meinrad Gschwend,                              von Peter Surber
Marco Kamber, Stefan Keller, Andreas
Kneubühler, Painhead, Charles Pfahlbauer                22 Das erhoffte Bohr-Wunder
jr., Corinne Riedener, Harry Rosenbaum,                      In St.Gallen wird sie bejubelt, im thurgauischen
Super8, Pit Wuhrer, Jiajia Zhang,                            Etzwilen bekämpft: die Geothermie.
Roman Zwicky
                                                             von Harry Rosenbaum
      KORREKTUR
Esther Hungerbühler, Noëmi Landolt
                                                        24 Kilo, Kilowatt, Kilometer
                                                             Die Saiten-Ressourcen

                                                        26 Wo selbst der Kühlschrank
                                                           Ferien kennt
                                                             In Winterthur ziehen die letzten
                                                             Mieter in das wohl grösste
© 2013: Verein Saiten, St.Gallen. Alle Rechte                Minergie-P-Eco-Haus der Schweiz.
vorbehalten. Nachdruck, auch auszugs-                        von Andrea Kessler
weise, nur mit Genehmigung. Die Urheber-
rechte der Beiträge und Anzeigenentwürfe                     Bilder
bleiben beim Verlag. Keine Gewähr für                        von Marco Kamber
unverlangt eingesandte Manuskripte, Fotos
und Illustrationen.

                                                INHALTSVERZEICHNIS
Perspektiven                                          Kultur
                 32 Polen                                              44 Die Aussenseiter schaffen
                      Flaschenpost                                        «wahre Kunst»
                      von super8                                            Das Museum im Lagerhaus feiert sein
                                                                            25jähriges Bestehen mit einem
                 34   Rapperswil                                            umfassenden Blick auf die Naive Kunst.
                 34   Vorarlberg                                            von Meinrad Gschwend
                 35   Winterthur                                       48 Literatur
                 35   Stimmrecht                                       49 Theater
                                                                       50 Musik
                                                                            Der Meister der unerhörten
                      Report                                                Frequenzen: Norbert Möslang
                                                                            von Georg Gatsas
                 36 Wir sitzen alle
                    im gleichen Bus
                      Die VBSG privat.
                      von Corinne Riedener und Ladina Bischof
Saiten 05/2013

                                                                       52 Film
                                                                       53 Weiss auf schwarz
                                                                            von Painhead

                                                                       57   Kalender

                                                                            Abgesang
                 41   Kontrollverlust                                  82   Kellers Geschichten
                      In Konstanz wurden die
                      Stadtwerke bereits privatisiert.                 83   Bureau Elmiger
                      von Pit Wuhrer                                   85   Charles Pfahlbauer jr.
                                                                       87   Boulevard

                                                                NR. 223, MAI 2013
9
                 Saiten Nr. 222, April 2013   Ich gratuliere Euch zur gelungenen          wahrlich ein wunderbares heft! weiss
                                              Neugestaltung des Magazins. Der neue        gar nicht, wo anfangen zu lesen und wo
                                              Auftritt gefällt mir sehr gut, auch wenn    aufhören zu staunen. Noëmi Landolt,
                                              sich meine Augen zu Beginn ans neue         Zürich
                                              Lesebild gewöhnen mussten und ein
                                              wenig hilflos über die Spalten irrten.       Das Ostschweizer Kulturmagazin hat
                                              Doch schon nach wenigen Seiten gings        ein Redesign hinter sich & ist nun – wie
                                              wunderbar und ich habe die April-           man auch von Luzern aus anerkennen
                                              ausgabe von vorn bis hinten mit Genuss      muss – das wahrscheinlich grossartigs-
                                              durchgelesen. Hannes Geisser,               te Monatsmagazin der Schweiz. Pablo
                                              Frauenfeld                                  Haller, Luzern

                                              Gestolpert bin ich über die Cover-          Das neue Saiten gefällt mir sehr gut.
                                              Behauptung «Saiten findet ...», was die      Luftig und angriffig. Schön. Richi Küttel,
                 Zum neuen Saiten             Frage nach sich zieht: Ist Saiten die Re-   Trogen
                                              daktion oder/und der Vorstand, die
                 Die neue Heftgestaltung      AutorInnen und sind alle gleicher           beim ersten durchblättern habe ich vor
                                              Meinung? Die unglückliche Formulie-         mich hingemötzelt: nicht gerade lese-
                 hat zahlreiche und zum       rung ist ausschliessend: «Bist du nicht     freundlich, so dunkle bilder auch. einen
                 Teil kontroverse Reaktio-    dieser Meinung, dann bist du nicht cool     tag später gemütlich auf dem sofa habe
                 nen ausgelöst. Nachste-      und gehörst nicht zum Club.» Bis anhin      ich es durchgelesen von A bis Z. also
                                              habe ich Saiten als sehr integrierendes     doch lesefreundlich. schöne und freche
                 hend eine Auswahl – die      Heft mit einer heterogenen AutorIn-         texte. Andrea Gerster, Arbon
                 mit N.N. gekennzeich-        nen- und Leserschaft wahrgenommen.
                 neten kritischen Stimmen     N.N.

                 wollten nicht mit Namen      Wir haben bisher mit grossem Interesse
                 genannt sein. Im Sinn der    und Freude das Magazin jeden Monat
                 Vielfalt geben wir ihre      gelesen und studiert. Die erste Ausgabe
Saiten 05/2013

                                              in neuer Aufmachung ist bei uns gar
                 Kritik dennoch in Auszü-     nicht gut angekommen:
                 gen wieder.
                                              – Zu dominant, die selbstgefällige
                                                Selbstdarstellung zeitgenössischer
                                                Kunstschaffender
                                              – Wir vermissen Kulturkritik, ange-
                                                sichts der Flut von Anlässen in           Mash-down: Der sogenannte Schmutz-
                                                der Ostschweiz – hier könnten Sie         titel (2. Titelseite) des Aprilhefts am Ende
                                                Orientierungshilfe leisten                einer Party. Bild: Rosario Florio
                                              – Migros-Kulturprozent: hier störte
                                                mich, dass der Vertreter der
                                                Migros nicht selber die neue Ver-
                                                gabepolitik und Begründung
                                                dargelegt hat, hingegen viel Raum
                                                gewährt wurde für die Kritik
                                                eines davon direkt Betroffenen.
                                                Das wäre ein guter Aufhänger
                                                gewesen, sich mit der privaten
                                                Kulturförderung in der Ost-
                                                schweiz auseinanderzusetzen.
                                              – Verquere, ja störende grafische
                                                Gestaltung. Schwer lesbar                           Sie ärgern sich über einen
                                                der Text auf schwarzem Grund                        Bericht? Ihnen gefällt
                                              – Bilder gefielen gar nicht                            das neue Saiten? Sie wollen
                                              – Fehlen interessanter Reportagen aus                 uns Ihre Sicht der Dinge
                                                der Region, zu stadtlastige Themen                  darlegen? Kommentieren Sie
                                                                                                    unser Magazin und unsere
                                              Wir bleiben Abonnenten, Sie geniessen                 Netzeinträge auf saiten.ch
                                              unsere Sympathie, aber Sie sind unter                 oder schreiben Sie uns einen
                                              «Beobachtung». Wir sind gespannt auf                  Leserbrief an redaktion@
                                              die nächsten Nummern. N.N.                            saiten.ch

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11
                 Blickwinkel
                 Ein behutsames Manifest
Saiten 05/2013

                 «I am for messy vitality over obvious unity...»
                 The saints are in town und verkünden das «behutsame Manifest». Gegen den
                 Abriss des Klubhauses, für eine lebendige Stadt(architektur).
                       Jiajia Zhang fotografierte am 5. April den Künstler, Grafiker, Musiker Alexis Saile im Klubhaus Hogar Español
                       und zitiert aus Complexity and Contradiction in Architecture von Robert Venturi.

                                                                  POSITIONEN
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                                                                                                                                    !Rp/Y }Gns}^r
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                                                                             O!p !t(O -R/ [iV!J/ -/i p!-pc
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13
                           Fussgänger soll man nicht in den Untergrund ver-            Einspruch: Martin Amstutz
                           bannen, sagen die Gegner einer Unterführung.
                 Die Stadt plant einen «breiten Korridor», auf dem wir den
                                                                                       «Das kommt mir spanisch vor»,
                 Platz queren sollen. Das ist hanebüchen, weil die Fussgän-            wiehert Rosinante
                 ger immer den kürzesten Weg suchen und finden werden.
                 Und: Zwei Drittel kommen jetzt schon unterirdisch an, vom
                 Bahnhof her. Eine moderne, verlängerte Passage ist kein ge-
                 fährlicher Ort, wie Kritiker sagen, und sie wäre erst noch mit
                 Läden finanzierbar. Aber darüber will niemand mit mir dis-
                 kutieren, sogar der VCS nicht.

                           Warum nicht?
                 Man liebt Debatten in dieser Stadt nicht wirklich.
                                                                                                  (pd)

                            Vielleicht liegt es an Ihrer streitbaren Art?              Kaum jemand ist dagegen: Das Klubhaus muss er-
                 Ich bin hartnäckig, für manche argumentiere ich zu breit.             halten bleiben. Vielleicht mit einer anderen Trä-
                 Aber ich bleibe kritisch und will die Probleme selber durch-          gerschaft, vielleicht in angepasster Form. Aber auf
                 denken, aus gesamtgesellschaftlicher und ökologischer                 alle Fälle im Sinn einer offenen Gesellschaft und
                 Sicht. Die Bevölkerung will das übrigens auch, sie ist inter-         in den historischen Räumen, die diese Institution
                 essiert an guten Argumenten.                                          einmalig machen.
                                                                                                  Doch wer versucht, verlässliche Infor-
                            Wie sähe ein lebenswerter Bahnhofplatz in                  mationen zum Stand der Dinge zu bekommen, be-
                            Ihrer Vision aus?                                          gibt sich in einen schier undurchdringlichen Ne-
                 Der Verkehr fliesst oben stetig; die Unterführung bietet Si-           bel aus Widersprüchen, Angst, Scheinargumenten
                 cherheit, der Kornhausplatz wird ein wirklicher Platz. Über-          und Aberglauben. Einige Beispiele: Der Genossen-
                 sicht, Freiraum und Geschichte, das gehört zu einem städti-           schaftsvorstand, beauftragt mit der Rettung des
                 schen Platz. Er könnte flexible Nutzungen zulassen, aber               spanischen Klubhauses, hebelt mit Tricks und Ma-
                 nicht mit einem Zickzackbrunnen möbliert sein – solche                nipulationen seine eigene Daseinsberechtigung
                 Spielplätze gehören in die Quartiere. Ich bin dafür, den              aus und versucht, die Liegenschaft zu verspekulie-
Saiten 05/2013

                 Platz leer zu halten; St.Gallen braucht solche Freiräume.             ren. Die Presse publiziert ungeprüft vorgesetzte
                                                                                       Halb- und Unwahrheiten. Der Stadtrat könnte das
                            Gibt es für Ihre Ideen offene Ohren?                       Haus kaufen und bewahren, drückt sich aber vor
                 Ich hoffe, langfristig beim Kanton und den Busbetrieben.              einer öffentlichen Auseinandersetzung. Das Parla-
                 Der Kanton setzt zu Recht auf den Durchflussverkehr. Ich               ment stellt ihn für dieses undemokratische Geba-
                 bin letzthin wieder einmal am frühen Morgen zwei Stunden              ren nicht zur Rede. Genossenschafter setzen sich
                 auf dem Platz gestanden und habe zugeschaut, wie das zu-              mal für den Erhalt ein, mal suhlen sie sich in Un-
                 und hergeht. Also nein! So nicht mehr! Das Projekt, über das          tergangsphantasien. Selbst verirrte Geister wer-
                 wir abstimmen, bringt keine reale Verbesserung und lässt              den zitiert. Manche hoffen auf ein Wunder.
                 sich auch nicht «heilen» mit der Zusatzfrage.                                    Kein Wunder ist es ob solchem Obsku-
                                                                                       rantismus, dass das böse Wort der ungetreuen Ge-
                            Sie stehen dort und schauen, was abgeht?                   schäftsführung die Runde macht, dass wilde Ge-
                 Ja, ich mache das ab und zu, einfach beobachten und überle-           rüchte von willkürlich behaupteten oder
                 gen. Ich habe auch Modellrechnungen gemacht, hier, diese              vorsätzlich verpassten Terminen umgehen, dass
                 Grafik, mit allen Abfahrten Richtung Ost/Nord und West/                hinter vorgehaltener Hand von Lüge, Erpressung
                 Süd, und den Verbesserungen dank Durchflussverkehr. Aber               und Günstlingswirtschaft gemunkelt wird, dass
                 ich steige auch in den Bus, um zu schauen wo es sonst noch            nicht ohne Ironie betont wird, hierzulande gebe es
                 klemmt. Mein Hobby ist auch empirisch … man muss wis-                 bekanntlich keine Korruption.
                 sen, wie die Leute funktionieren, ihre Bedürfnisse kennen                        Die Öffentlichkeit ist aufmerksam ge-
                 und teilen.                                                           worden, wird Klarheit fordern und Wege finden,
                                                                                       ihr Klubhaus erneut zu retten. Gut möglich, dass
                           Hansueli Stettler ist Bauökologe                            einige der fast 500 Mitglieder der Genossenschaft
                           in St.Gallen, ehemals grüner Gemeinderat,                   die Machenschaften des Vorstandes gerichtlich
                           fährt viel Velo, Zug, ab und zu                             überprüfen lassen. Wahrscheinlich, dass der Pres-
                           Bus, selten Auto und ganz selten LKW.                       se harte Fakten zugespielt werden. Nicht ausge-
                                                                                       schlossen, dass sich der Stadtrat seiner kulturellen
                           Interview: Peter Surber                                     und sozialen Verantwortung erinnert. Denkbar,
                           Bild: Tine Edel                                             dass ihn das Parlament zu einer konstruktiven Dis-
                                                                                       kussion drängt. Sicher, dass das letzte Wort noch
                                                                                       nicht gesprochen ist.
                                                                                                  Martin Amstutz, 1965, ist
                                                                                                  Herausgeber des Wochenblattes.
                                                                                                  Er wünscht sich ein Pferd.
                                                                       POSITIONEN
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Stadtlärm                                                               Literaturtage
Keine Stimme für die Stadt                                              Fertig leer schlucken!
                                                                        Die hiesigen Literaturschaffenden haben leer ge-
                                                                        schluckt, als sie beim Wettbewerb für Literatur,
                                                                        den das Bundesamt für Kultur (BAK) ausgerichtet
                                                                        hat, schlicht vergessen gingen. Auch bei der vom
                                                                        BAK finanzierten daran anschliessenden Promo-
                                                                        tionstour wurden sie übergangen (Eva Bachmann
                                                                        hat im April-Saiten darüber geschrieben). Kaum
                                                                        haben sie beides verdaut, dringt neue schlechte
                                                                        Kunde zu ihnen. Absender: Solothurner Litera-
                                                                        turtage 2013.
                                                                                  Trotz eifrigem Durchblättern des um-
                                                                        fangreichen Programms, unterdessen ein dickes
                                                                        Heft, finden sich einzig zwei Autorinnen, die mit
Manchmal dominiert die Lokalpolitik den Kantonsrat. Wenn                der Ostschweiz in Verbindung gebracht werden
eine Ausbildung in eine andere Region verlegt werden soll.              können: die seit langem im Tessin wohnende Eve-
Oder eine Haltestelle aufgehoben werden könnte. Dann                    line Hasler sowie die im Thurgau lebende Zsuzsan-
heisst es: Sparen ja – aber nicht bei uns! Oder: Nicht in mei-          na Gahse. Aber keine Andrea Gerster, Christine
nem Dorf! Ob FDP, CVP oder SP spielt keine Rolle: Der Wi-               Fischer, Erica Engeler oder Elsbeth Maag und kein
derstand wird parteiübergreifend organisiert. Ist das Poltern           Clemens Umbricht oder Ivo Ledergerber, um nur
laut genug, besteht sogar Aussicht auf Erfolg.                          einige zu nennen. Selbst in der «Debüt»-Kategorie
           Nicht alle Gemeinde- oder Stadtoberhäupter im                findet die Ostschweiz nicht statt. Die einzige sons-
Kantonsrat verstehen sich in erster Linie als Vertreter ihrer           tige Verbindung zu St.Gallen ist eine Veranstaltung
Kommune. Es gibt auch Ausnahmen. Eine davon ist der                     zum 20. Todestag von Niklaus Meienberg.
St.Galler Stadtpräsident Thomas Scheitlin.                                        Das Fehlen der Ostschweiz ist kein ein-
           Das zentrale politische Thema der letzten Jahre ist          maliger «Ausrutscher». Beim Zurückblättern in
die rigorose Sparpolitik des Kantons. Die Stadt ist stark be-           den Programmen bis 2009 tauchen nur selten Ost-

                                                                                                                              Saiten 05/2013
troffen: als Bildungs- und Schulstadt, als kulturelles und so-          schweizer Namen auf, so Andrea Graf, Andrea
ziales Zentrum und nicht zuletzt als Wohnort vieler Kantons-            Gerster, Lika Nüssli und eine Waldgut-Verlag-Prä-
angestellter. Doch der St.Galler Stadtpräsident stimmte                 sentation im Zelt. In der Programmkommission ist
immer nur Ja: zu den Sparpakten, zu den konkreten Kürzun-               die Ostschweiz ebenfalls nicht mehr vertreten.
gen in der Bildung und im Sozialbereich. Gibt es nichts zu                        Was tun? Wieder leer schlucken? Nein,
verteidigen? In der Kommission, die in den letzten Monaten              handeln, und etwas für die Literatur tun! Hier ein
das dritte Sparpaket aushandelte, war Thomas Scheitlin nicht            Vorschlag: eine gezielte Publikationsförderung für
vertreten. Dem «Tagblatt» erklärte er, im Gremium sitze Rein-           Ostschweizer Autorinnen. Dies könnte zum Bei-
hard Rüesch aus Wittenbach, der die Interessen der Stadt be-            spiel in Form eines eigenen Verlags oder als eine
rücksichtigen werde. Reinhard Rüesch?                                   Editions-Reihe, die von einem bereits bestehen-
           Man würde sich für die grösste Stadt der Ost-                den Verlag betreut wird, sein. Wie das gehen kann,
schweiz einen Stadtpräsidenten wünschen, der für sein Ge-               macht die Innerschweiz mit dem Verlag Pro Libro
halt von 270 000 Franken Wirbel macht, wenn es um die In-               (Literatur und Sachbücher) vor. Er wird getragen
teressen der Hauptstadt geht. Einen, der sagt: Diese                    von einer Stiftung und finanziert von Sponsorin-
Finanzpolitik des Kantons ist falsch. Wir in der Stadt wissen,          nen und Sponsoren, darunter alle Innerschweizer
dass es nur eine Entwicklung gibt, wenn auch investiert wird.           Kantone, und Donatoren sowie Gönnern. Der lite-
Einen, der feststellt: Wir haben viele Zuzüger, auch wenn bei           rarische Katalog umfasst seit 2007 rund 25 Titel,
uns die Steuern hoch sind. Einen, der warnt: Die Stadt war              neue kommen ständig hinzu.
dreissig Jahre lang wie tiefgefroren, weil sie kein Geld ausge-                   Wie wichtig eine solche Initiative wäre,
ben konnte. Es herrschte danach eine Stimmung, so depres-               zeigt sich am Beispiel von Literaturtagen (nicht
siv wie die Farbe der Busstationen.                                     nur in Solothurn), aber auch grundsätzlich deut-
           Diese Rolle ist nicht diejenige von Thomas Scheitlin.        lich: Es wird immer schwieriger, literarische Wer-
Im Kantonsrat ist er vor allem FDP-Vertreter. 2009 hat er               ke in einem Verlag unterzubringen. Für Autorin-
letztmals einen Vorstoss eingereicht. Seit 2012 sitzt er nicht          nen und Autoren aus Randlagen gilt dies in
mehr in der einflussreichen Finanzkommission. Gegen die                  verstärktem Masse. Aber ohne Bücher entsteht
Abbruchpolitik des Kantons besitzt die Stadt keine Vertei-              kein lebendiges literarisches Leben, es fehlt ihm
digungslinie.                                                           das Echo – auch in Solothurn!
           Andreas Kneubühler, 1963,                                              Richard Butz, 1943,
           kommentiert monatlich die Stadtpolitik.                                ist Kulturvermittler und
                                                                                  Journalist in St.Gallen.

                                                       POSITIONEN
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                 Überfall                                                               war der Zeitpunkt, als er seine Stein-Arbeit in der ehemaligen
                                                                                        Fabrikhalle wieder aufnehmen wollte, nachdem er den Win-
                 Memento für Peter Kamm                                                 ter über in St.Gallen gearbeitet hatte. Peter Kamm, der Künst-
                 Es muss ein entsetzlicher Moment gewesen sein: Ende März               ler des komplexen Erinnerns, getroffen von einer Tat, began-
                 fand der Künstler Peter Kamm sein Atelier auf dem Saurer-              gen aus mutmasslich dumpfster Erinnerungslosigkeit ... Der
                 Areal in Arbon verwüstet vor, seine Arbeiten, Bücher, Werk-            Überfall ist bisher unaufgeklärt – hier Überlegungen von
                 zeuge beschmiert mit Hakenkreuzen und Nazi-Parolen. Es                 Ursula Badrutt sowie ein Kommentar von HR Fricker.

                 Homo sacer?                                                            Umwandlung als Strategie
                 Es geht um das Leben. Um das geordnete Leben. Aber auch                Kürzlich sah ich auf Facebook eine Anleitung: Wie aus die-
                 um das nackte Leben. Es geht darum, das geordnete Leben                sem menschenverachtenden Symbol (auf der Spitze stehen-
                 wieder aufzunehmen. Der Nacktheit Schutz zu bieten. Die                des Kreuz, mit nach rechtsgewinkelten Armen) durch wenige
                 nach Grösse sortierten Bohrer und Stifte dem Alltag zu über-           Striche eine holländische Windmühle entsteht. Es ist verblüf-
                 geben, sie ihm zurückzugeben. Die Gläser putzen. Formen                fend, aber die aggressive und provozierende Wirkung ver-
                 finden. Der Masse des Steins wieder Löcher entlocken, Porö-             pufft danach sofort.
                 ses, Gänge. Gänge, die hinein, Gänge, die hinaus führen. For-                     Peter Kamm ist zwar nicht als Zeichner von Wind-
                 men Boden geben. Körper werden lassen.                                 mühlen bekannt, seine steinernen Zeichen als Künstler sind
                            Nur so kann dem Ausnahmezustand Paroli gebo-                subtiler. In diesem Falle ist wohl auch eine gründliche Rei-
                 ten, dem Versehrten, der Versehrtheit begegnet werden. WIR             nigung des Ateliers das Richtige. Aber auch im Geiste wird er
                 VERSCHWINDEN NIE.                                                      die martialische Besudelung «zeichnerisch» umwandeln und
                            Ein Anschlag auf das Werk ist ein Anschlag auf sei-         entschärfen müssen.
                 nen Autor, seine Autorin. Immer. Denn Kunst ist Körper, ist                       Ich sehe sowieso im Erfinden oder Umwandeln von
                 Stellvertreterin für das Leben. Für Lebenszusammenhänge.               Zeichen und Symbolen eine wichtige Aufgabe künstlerischer
                 Kunst ist so politisch wie der Mensch, der sie macht. Bei Peter        Arbeit. Oft genügen wenige Striche oder Worte, um einen
                 Kamm wie bei anderen. Peter Kamm mischt sich ein, kennt                Sachverhalt zu klären, um so der Wahrnehmung eine neue
Saiten 05/2013

                 Dringlichkeit, Engagement, Verausgabung. Er analysiert und             Richtung zu ermöglichen. HR Fricker
                 denkt. WIR VERSCHWINDEN NIE.
                            Wehrst du dich oder lässt du dich verwahren?
                            «Patientenhaus – Das nackte Leben» titelte er einst
                 eine Ausstellung in St.Katharinen in St.Gallen. Darin legte er
                 sein Referenzsystem offen. In kruder Schablonenschrift ge-
                 sprayt waren Wörter zu lesen von ABSURD bis PHANTOM,
                 von AGONIE bis KIPPEN, von HALT bis AUSSER SICH, von
                 SCHOCK und PANIK, STIGMA und SCHMERZ. Jetzt tau-
                 chen sie wieder auf. WIR VERSCHWINDEN NIE.
                            In seiner Schrift «Homo sacer: Die souveräne
                 Macht und das nackte Leben» behauptet der Philosoph Gior-
                 gio Agamben die Rechtlosigkeit im Rechtsstaat; Demokratie
                 erlaubt Folter und Vertreibung und Zerstörung von Leben
                 jenseits allen Rechts. Ist Agamben in Arbon eingetroffen?
                            Der Anschlag auf das Atelier von Peter Kamm ist
                 ein Anschlag auf seine Person, auf das Künstlersubjekt
                 Kamm. Unabhängig von der Absicht des Anschlages, der Spu-
                 ren von Zufälligem zeigt. Der Künstler ist in die Flucht ge-
                 schlagen, ein Flüchtling, ein Verbannter. Der Homo sacer ist
                 nicht nur ein heiliger, sondern auch ein verbannter Mensch.
                 Für einen Moment steht das nackte Leben unter der aufge-
                 brochenen Tür.
                            Das könnte leicht als Zynismus des Zufalls gelesen
                 werden. «Sei nicht zynisch. Besser die Dinge dehnen biegen
                 knacken zerbrechen und sie zusammenlegen.» Das schreibt
                 Peter Kamm in seinem Brevier im September-Heft 2002 von
                 Saiten. Anfangen tut sein Brevier mit dem Wort ANKOM-
                 MEN: «Es gewinnen nicht die, die zuerst ankommen.» Daran
                 erinnern wir uns. Und lassen die Tür offen. Ursula Badrutt                 Bild: Bettina Wollinsky

                                                                       POSITIONEN
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Wie baut man eine
Gesellschaft so
um, dass sie mit
weniger Strom und
Wärme auskommt –
und trotzdem

                      Saiten 05/2013
nicht darben muss?

        UNTER STROM
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Saiten 05/2013

                 Eine Reise zu den
                 Elementen. Und
                 zu den Pionieren.
                          UNTER STROM
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                       Die unaufgeregte Revolution

                 Ein energiepolitischer Rundgang
                  durch St.Gallen. von Susan Boos

Unser Verhältnis zur Energie ist so innig, wie das zu Luft            Erste Station des Rundgangs: Kreuzung Burgstrasse,
und Wasser. Wir zahlen nichts für Luft, doch rein soll                Vonwilstrasse. Hinter der Kaserne ist die Strasse aufgerissen.
sie sein. Wir zahlen kaum fürs Wasser, aber sauber muss es            Lange, schwarze Rohre warten darauf, eingebaut zu
sein. Und so hätten wir es auch gerne bei der Energie, sie            werden – hier wird das Fernwärmenetz ausgebaut. Künftig
soll jederzeit verfügbar, billig und sauber sein.                     sollen möglichst viele Häuser in der Talsohle nicht mehr
           Energie hat etwas Magisches und lässt uns feudal           fossil, sondern mit der Abwärme der Kehrichtverbrennungs-
leben. Tausende von unsichtbaren Dienern erledigen                    anlage respektive dem geplanten Geothermieheizkraft-
die Arbeit, die wir noch vor nicht allzu langer Zeit hätten           werk (siehe Seite 22) versorgt werden. Das Fernwärmenetz
selber leisten müssen. Das ist keine moralische, sondern              wird Schritt für Schritt von West nach Ost in den Tal-
eine physikalische Feststellung.                                      boden gezogen. Die Innenstadt lässt man vorerst aus, weil
           Energie kann man in Watt messen – Watt steht               da der Bau komplexer und teurer ist.
für Energie pro Zeit. Ein Leistungssportler bringt es                            Hausbesitzer, die wollen, sollen künftig die Wärme
auf 200 Watt. Früher rechnete man in Pferdestärken. Eine              von den Stadtwerken beziehen können. Gezwungen wird

                                                                                                                                         Saiten 05/2013
bildhafte Einheit, die vor 200 Jahren sofort allen klar               niemand. «Der Preis muss so sein, dass es für die Hausbesit-
machte, was Dampfmaschinen leisten. Eine Pferdestärke                 zer attraktiv ist, sich anschliessen zu lassen», sagt Zaugg.
entspricht gut 700 Watt.                                              Die Fernwärme sollte nicht mehr kosten als eine neue
           In der Stadt St.Gallen leben 74 000 Menschen.              Öl- oder Gasheizung. Das kann sich bald rechnen, weil der
Jeder von ihnen braucht im Durchschnitt 5000 Watt, das                Preis für die fossilen Rohstoffe innert kürzester Zeit in
entspricht der Arbeitskraft von 25 Menschen. Anders gesagt:           die Höhe schnellen kann.
Gäbe es keine Maschinen, sondern nur Menschen, die                               Die Strategie der Stadt ist klug: Sie denkt die Ener-
diese Energie bereitstellen müssten, hätte St.Gallen fast zwei        gie als Ganzes und sieht Strom, Wärme und Verkehr als
Millionen Einwohnerinnen und Einwohner – das sind                     Einheit. Heute verbrauchen Autos wie Heizungen Benzin,
die unsichtbaren Energiediener, die im Benzin, im Heizöl              Öl oder Gas. Die einen zum Fahren, die andern nur zumHei-
und im Strom stecken. Mit 2000 Watt liesse sich so leben,             zen. Öl oder Gas sollte man aber nicht verbrennen, nur
dass auch künftige Generationen noch eine lebenswerte                 um zu heizen. Und Autos sind letztlich so etwas wie fahren-
Welt vorfinden. Die Stadt St.Gallen hat sich das Ziel gesetzt,         de Heizungen.
bis ins Jahr 2050 nahe an dieses Ziel heranzukommen                              Die beste Energie ist im übrigen die, die man nicht
und bis dann den CO2-Ausstoss von heute sechs auf eine                braucht. Das bedeutet zum Beispiel: Häuser isolieren.
Tonne zu reduzieren.                                                  Danach soll die Wärme eingesetzt werden, die bereits da ist
                                                                      – das heisse Wasser tief aus der Erde oder eben die Wär-
          Ein preisgekröntes Energiekonzept                           me, die entsteht, wenn unser Müll verbrannt wird. Damit
Die Stadtbevölkerung hat schon vor dem dreifachen Super-              sollte sich, wenn alles wunschgemäss läuft, ein Grossteil der
Gau in Fukushima beschlossen, dass sie ab 2030 keinen                 Häuser in der Stadt heizen lassen. Das ist nicht nur um-
Atomstrom mehr beziehen möchte. Die Verwaltung hat das                weltfreundlicher, als wenn jedes Haus seine eigne Ölheizung
«Energiekonzept 2050» entwickelt, das sich einer nach-                betreibt, es dürfte auch günstiger sein.
haltigen Energieversorgung verschreibt und vom Bund preis-
gekrönt wurde. Das klingt gut, es aber tatsächlich umzu-                        Strom aus Sonne und Wasser
setzen, ist eine Jahrhundertaufgabe.                                  Zweite Station: Schulhaus Schönenwegen. Oben auf dem
           Die Arbeiten haben schon begonnen. Fredy Zaugg             Dach des Neubaus steht eine prächtige Solaranlage,
vom Amt für Umwelt und Energie ist täglich mit der Um-                die Strom produziert. Im Jahr liefert sie 28’600 Kilowatt-
setzung des Energiekonzeptes beschäftigt. Mit einem Mobi-             stunden, das reicht, um sieben bis acht Haushalte mit
lity-Auto führt er durch St.Gallen und zeigt an einigen               Strom zu versorgen. Damit lassen sich jährlich sechzehn
Stellen, wie die Stadt sichtbar neu gedacht und umgebaut              Tonnen CO2 einsparen. Weil die Preise der Solarpanels
wird.                                                                 eingebrochen sind, kann man inzwischen zu einem vernünf-
                                                                      tigen Preis aus der Sonne Strom gewinnen, sagt Zaugg.

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                                                                                         durch dunkle Wolken, über Engelburg geht bereits ein erstes
                                                                                         Gewitter nieder. Die Birnbäumensiedlung ist neu und
                                                                                         steht am Hang, zu hoch, um einmal ans Fernwärmenetz an-
                                                                                         geschlossen zu werden. Deshalb hat die Stadt beschlos-
                                                                                         sen, hier ein Blockheizkraftwerk einzubauen.
                                                                                                    Das Raffinierte an diesen kleinen Gaskraftwerken:
                                                                                         Sie produzieren in erster Linie Strom – die Wärme, die
                                                                                         dabei ebenfalls anfällt, kann man nutzen, um die Häuser zu
                                                                                         heizen. Bei allen thermischen Kraftwerken, die Strom
                                                                                         produzieren, kann nur ein Drittel der eingesetzten Energie
                                                                                         wirklich in Strom umgesetzt werden. Die Abwärme der
                                                                                         Schweizer Atomkraftwerke würde reichen, um sämtliche
                                                                                         Häuser des Landes zu heizen. Doch diese Wärme ver-
                                                                                         pufft zum allergrössten Teil ungenutzt, sie heizt sinnlos das
                                                                                         Aarewasser oder entweicht als Dampf über die Kühltürme.
                                                                                         Dasselbe gilt für grosse Gaskraftwerke, wenn sie weit
                                                                                         weg von Dörfern und Städten gebaut werden und man des-
                                                                                         halb die Abwärme nicht sinnvoll einsetzen kann.
                                                                                                    Mit den Blockheizkraftwerken passiert das nicht.
                                                                                         Die stehen dort, wo man die Wärme braucht – und pro-
                                                                                         duzieren eben auch Strom. Damit holt man aus der eingesetz-
                                                                                         ten Energie vielmehr raus als das bislang der Fall war.
                                                                                                    Weiter oben auf der Notkersegg wird es allerdings
                                                                                         schwieriger. Dieses Quartier hat keinen Gasanschluss
                                                                                         und es wäre zu teuer, eine Gasleitung nach oben zu ziehen.
                                                                                                    Die Stadt möchte aber auch in der Notkersegg
                                                                                         ein kleines Fernwärmenetz mit einer Holzheizzentrale bau-
                                                                                         en, das mit Restholz der Valida betrieben würde. Die
                                                                                         Valida beschäftigt Menschen mit Behinderung und produ-
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                                                                                         ziert Holzwaren. Dabei entstehen viele Holzabfälle, die
                 Fredy Zaugg zeigt die Solarpanels auf dem Schul-                        die Valida ursprünglich in einem eigenen Heizkraftwerk ver-
                 hausdach von Schönenwegen.                                              feuern wollte. Nur wäre das nicht gescheit gewesen, weil
                                                                                         die Valida schon am Fernwärmenetz angeschlossen ist.
                            Dritte Station: Burentobel. Da kommt man hin,                Also ist es effizienter, das neue Holzkraftwerk in der Notker-
                 wenn man vom Friedhof Feldli Richtung Engelburg                         segg zu bauen. Noch ist nichts entschieden, aber logisch
                 fährt. Unten im Sittertal quert man bei der Filtrox den Fluss           erscheint das Projekt.
                 und folgt ihm aufwärts. Am Strassenrand blüht der Hu-                              Und die Logik der Stadt überzeugt: Wenn die
                 flattich. Die Sitter ist an diesem Tag ein reissender Fluss und          gesamte Energieversorgung zusammen gedacht wird, erge-
                 bringt braunes Schmelzwasser aus dem Appenzellerland.                   ben sich völlig neu und bessere Lösungen.
                 Am Ufer steht ein moderner, nüchterner Betonbau – das
                 Kleinwasserkraftwerk Burentobel. Ein schmuckes Werk mit                           Zurückhaltung beim privaten Verkehr
                 Fischtreppe, das umweltfreundlichen Strom bereitstellt.                 Auch der Verkehr müsste in diese Überlegung einbe-
                 Vor fünf Jahren ging es in Betrieb und produziert jährlich              zogen werden. Doch das sei der schwierigste Teil, sagt
                 1,3 Millionen Kilowattstunden, womit sich 370 Haushalte                 Fredy Zaugg. Die Stadt will nicht gross darüber reden, denn
                 versorgen lassen.                                                       das private Auto ist eben mehr als ein Fahrzeug. Also
                            Fredy Zaugg sagt, sie würden zurzeit weitere                 macht die Stadt, was sich machen lässt, ohne gleich heftige
                 Bäche auf Stadtgebiet prüfen, ob sie sich vielleicht energetisch        Dispute auszulösen.
                 sinnvoll nutzen liessen. Am idealsten wäre natürlich die                           Als erstes sollen die Busse eine eigene Spur erhal-
                 Steinach in der Mülenenschlucht. Nach starken Regenfällen               ten. Dadurch kommen sie schneller durch die Stadt und
                 stürzt sie dort tosend über die Felsen. Auch da überlege                geraten in keinen Stau. Diskutiert wird auch die Wiederein-
                 man sich, ob es sich lohne, ein kleines Kraftwerk zu bauen,             führung eines Trams, was noch effizienter wäre. Zudem
                 sagt Zaugg. Früher besassen die meisten Häuser in der                   setzt die Stadt auf Elektromobilität, weil strombetriebene
                 Schlucht ihren eigenen, kleinen Anschluss und betrieben                 Fahrzeuge rund viermal effizienter sind als solche, die
                 mit dem Steinach-Wasser ihre privaten Wasserräder. Aber                 mit Benzin unterwegs sind.
                 keine Bange, sagt Zaugg, es sei heute ein toller, ungestümer                       Frappierend an der Energiestrategie der Stadt ist:
                 Bach, denn man sicher nicht zum Rinnsal verkommen                       Sie hat etwas unaufgeregt Revolutionäres. Selbst rot-
                 lassen wolle, nur um möglichst viel Strom rauszuholen.                  grün regierte Städte, in denen wesentlich heftiger über die
                                                                                         Energiezukunft debattiert wird, bringen das nicht besser hin.
                           Effiziente Blockheizkraftwerke                                           Susan Boos, 1963, ist Redaktionsleiterin
                 Vierte Station: Meienbergstrasse, Birnbäumen. Die Aussicht                         der «Woz». 2012 erschien ihr Buch
                 ist pittoresk, im Westen der Stadt scheint noch die Sonne                          «Fukushima lässt grüssen».

                                                                       UNTER STROM
20

                          Der Herr der Winde

Auf dem Chürstein unter dem Gäbris steht
       eines der wenigen Windräder
     der Ostschweiz. Noch – denn das
      Appenzellerland hat laut einer
Studie grosses Windpotential. Ein windiger
   Tippel mit Initiant Heini Schneider.
              von Peter Surber

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  «Es läuft und läuft – bei Westwind»: Heini Schneider beim Windrad. Bild: Marco Kamber

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                 Es geht um den Wind, klar. Aber muss es gleich so heftig             muss er jeweils erklären: Windradwetter ist das Gegenteil
                 sein? Schon beim Aufstieg von der Wissegg her Richtung               von Wanderwetter. Ideal ist ein starker Westwind, tradi-
                 Gäbris sieht man im Westen den hellgrauen Schleier                   tionellerweise der Schlechtwetterwind. Föhn dagegen weht
                 hängen. Er kommt rasch näher mit sturmartigen Böen, erst             zwar heftig, aber zu sprunghaft. Und je schöner der Tag,
                 Regen, dann Hagel. Er peitscht uns um die Köpfe, da                  desto schlapper das Rad.
                 bleibt nur: unterstehen unter den Wettertannen vor dem                         Bis heute ist die Anlage auf dem Chürstein eine
                 Chürstein. Weiter vorn, majestätisch auf der Hügelsenke              der ganz wenigen in der Ostschweiz. Aber das könnte
                 zwischen zwei Anhöhen, dreht das Windrad seine Rotoren               sich ändern. Gemäss einer Studie der Kantone Appenzell
                 heftig im Hagelzug. Ein paar Minuten später ist der Spuk             Ausserrhoden und Innerrhoden (sie wurde 2011 noch
                 vorbei, der Himmel zeigt ein paar blaue Flecken.                     vor dem Reaktorunfall von Fukushima in Auftrag gegeben)
                             «Majestätisch»: Das Wort wird Heini Schneider            könnte Ausserrhoden rund zwölf Prozent seines Strom-
                 später auch benutzen, und es stimmt: Stattlich und elegant           bedarfs durch Windkraft decken – denn die Hügel seien nicht
                 zugleich wirkt das Windrad mit den zwei weissen Flügeln,             nur sonnenverwöhnt, sondern stellenweise auch wind-
                 dem blauen Motorkasten und dem schmalen Mast. Naben-                 reich. Die drei besten Stellen sind laut der im Herbst 2012
                 höhe neunzehn Meter, Spannweite achtzehn Meter, Leis-                publizierten Studie die Hochalp und der Hochhamm bei
                 tung ungefähr 33 000 Kilowattstunden pro Jahr, das gibt              Urnäsch sowie der Suruggen in den Gemeinden Trogen und
                 Strom für acht bis zwölf Durchschnittshaushalte – oder               Gais. Jetzt ab Frühling 2013 sind Windmessungen auf
                 für einige zusätzliche, wenn man energieeffizient haushaltet         dem favorisierten Berg, der Hochalp, geplant.
                 wie Schneider selber: 1200 kWh reichen ihm pro Jahr,                           Das Windrad auf dem Chürstein wäre im Vergleich
                 dreimal weniger als die durchschnittlich rund 3500 kWh               zu den künftigen, pro Standort rund acht Anlagen winzig,
                 pro Haushalt in einem Mehrfamilienhaus oder 4500 im                  «e Spielzüüg», sagt Schneider: Nabenhöhe 108 Meter, Rotor-
                 Einfamilienhaus. Schneiders Haushaltgeräte sind AAA-zer-             blattlänge 41 Meter – also weithin sichtbare Strom-Zeige-
                 tifiziert, den Kühlschrank ersetzt im Winter wie früher              finger. Die saubere Energie im Clinch mit der intakten Land-
                 ein kleiner Küchenvorbau, das «Lädeli», die Lampen sind              schaft: Den Konflikt verschweigt auch die Studie nicht.
                 LED. «Das sind so Sachen, auf die man achten kann»,                  Eine «Verspargelung» der Landschaft will der Kanton aber
                 sagt er, ohne daraus eine Ideologie machen zu wollen.                vermeiden und Windparks deshalb an wenigen Standor-
                 «Sparen heisst nicht verzichten.»                                    ten konzentrieren. Ein Windrad dieses Kalibers liefert Strom
                                                                                      für 500 Haushalte. Es könnte gemäss den Grobberechnun-
                          Von der Sonne zum Wind                                      gen nach etwa dreizehn Jahren amortisiert sein und von da
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                 Heini Schneiders 1200 kWh liefert ihm die Sonne, dank                an 2,5 Millionen Franken jährlich in die Kassen spülen.
                 Photovoltaik. Mit der Solarenergie hatte auch alles angefan-
                 gen. In den Achtzigerjahren plante Schneider auf dem                          Konkurrenzfähige «Windernte»
                 Dach des historischen «Ziithüsli» bei der Grossen Säge am            Luftschlösser, vorläufig. Aber das Appenzellerland hat damit
                 Fuss des Gäbris Sonnenkollektoren. Davon sprach da-                  die Nase wortwörtlich im Wind. Zwar liegen die wind-
                 mals noch kaum jemand. Während der Planungszeit sei ihm              trächtigsten Regionen Europas am Meer: die Nordsee samt
                 aufgegangen: «Schläuer wär sowieso Wind.» Dann gings                 angrenzenden Ländern sowie Südfrankreich mit dem
                 im Sturmtempo: Schneider und ein paar Nachbarn gründe-               Golfe du Lion. Der korrumpierte Begriff «Offshore» bekommt
                 ten die IG Wind, machten unterstützt vom Ökozentrum                  so unversehens eine andere, positive Bedeutung: Windparks
                 Langenbruck Windmessungen auf dem Gäbris-Gipfel und                  im Meer, in Küstennähe, mit Rotorblättern von 100 Metern
                 merkten rasch: Hier auf dem Chürstein wäre der ideale                Länge sind die Wind-Zukunft. Doch auch in der Schweiz
                 Ort, weil die Gäbris-Nordflanke den Westwind gleichsam               könnte an den besten Orten, so im Jura, die «Windernte» mit
                 kanalisiert. Von den ersten Messungen 1991 bis zum Bau               Nordeuropa mithalten, schreibt die Lobby-Organisation
                 im Herbst 1995 dauerte es vergleichsweise kurze fünf Jahre;          Suisse-Eole. Das sieht Heini Schneider ähnlich: «Sonnen- und
                 die Initianten organisierten sich in der Appenzellischen             Windstrom ergänzen sich; bei Schönwetter und im Sommer
                 Vereinigung zur Förderung umweltfreundlicher Energien,               Sonne, bei Schlechtwetter und im Winter Wind.» Die Schweiz
                 die bis heute das Windrad und weitere Stromprojekte be-              habe international Vorteile dank ihrer Speicherseen, die
                 treibt, bezogen Nachbarn, Behörden und Verbände früh mit             sich mit Billigstrom aus überschüssiger Solar- oder Wind-
                 ein – und brachten das Projekt ohne Einsprache durch.                elektrizität füllen lassen.
                 Das wundert Heini Schneider noch heute: «Vermutlich lag                         Damals, Ende Oktober 1995, war schon der zweite
                 es daran, dass niemand, auch wir selber nicht, so ganz               Betriebstag ein Rekord: fast 1000 kWh an einem einzigen
                 damit gerechnet hat, dass sie überhaupt bewilligt wird.» Wenn        Tag, bei Sturmwinden von neun Metern pro Sekunde. Heute
                 er vom Windrad spricht, dann meist in der weiblichen Form.           jedoch bleibt es nach dem Hagelsturm bei Windstärken
                                                                                      von etwa drei Metern die Sekunde, das Rad dreht gemäch-
                          Der Kanton plant die Windzukunft                            lich flappend seine Kreise. «Das Wetter erkennt man am
                 Der Westwind hat inzwischen den Himmel blankblau gefegt,             Winde wie den Herrn am Gesinde», steht auf der Infotafel
                 die Rotoren haben sich in die optimale Windposition                  auf dem Chürstein.
                 bewegt und drehen regelmässig, mit flappendem Geräusch.                          Peter Surber, 1957, ist Saiten-Redaktor.
                 Heini Schneider kontrolliert im kleinen Windhäuschen
                 und stellt fest: Noch produziert sie keinen Strom, der Wind
                 ist zu schwach. «Dein Rad dreht ja nicht!» Den Satz be-
                 komme er von Wanderern bis heute öfter zu hören. Dann

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                          Das erhoffte Bohr-Wunder

               In Zeiten der Energiewende
             hat in St.Gallen die Geothermie
                 einen unwahrscheinlich
           hohen Stellenwert. Im thurgauischen
             Etzwilen ist es total umgekehrt.
                   von Harry Rosenbaum

                                                                                                                               Saiten 05/2013
Richtig laut wird es im St.Galler Sittertobel erst, wenn das    spannung und Nervosität bedeutet dieses Projekt schon»,
Openair los röhrt, vom 27. bis 30. Juni. Der Bohrer, der        gibt Huwiler zu. Über den Bohrverlauf sei er bis jetzt aber
sich jetzt in den Grund des Geländes frisst, ist dagegen nur    äusserst zufrieden.
ein Wispern. Die Wühlerei soll kurz vor dem rockigen
Monsteranlass ein Ende haben. Dann hofft man, in 4000                     Akzeptanz
oder 4500 Metern auf das vermutete heisse Wasser ge-            Wird man im Erdenschlund auch wirklich heisses Wasser
stossen zu sein. Zunächst ist das Szenario noch wenig spek-     finden? Dafür will Huwiler die Hand noch nicht ins
takulär, trotzdem wirkt die Baustelle aber wie ein Magnet.      Feuer legen. Aber höchstwahrscheinlich werde man schon
Über 200 Führungen habe es seit dem Beginn der Bohrung          drauf stossen, die Vorausabklärungen stimmten diesbe-
am 4. März schon gegeben, sagt Projektleiter Marco              züglich sehr zuversichtlich. Die Sache habe schon auch etwas
Huwiler. Mit diesem Ansturm habe man nicht gerechnet.           Pionierhaftes, meint er, eine normale Baustelle sei das
Es kämen Leute aus der Stadt, der Region, der Schweiz           sicher nicht. Solche Tiefenbohrungen würden in der Schweiz
und auch aus dem Ausland.                                       schliesslich das erste Mal durchgeführt. «Ich fühle mich
            Der Diamantbohrer frisst sich bis zu acht Meter     dabei absolut sicher», sagt der Projektleiter, «wir arbeiten
pro Stunde in die Tiefe, in der laufenden zweiten Bohr-         transparent, der Bürger ist ein Teil des Projektes. Deshalb
sektion sogar in schrägem Winkel. Hundertvierzig Grad           haben wir auch diese hohe Akzeptanz in der Bevölkerung.»
oder noch heisser soll das gesuchte Wasser sein, das,
einmal heraufgepumpt, rund die Hälfte der St.Galler Haus-                 Kritik
halte beheizen wird. Je nachdem wie heiss im Untergrund         Davon weit entfernt ist man im Thurgau. Auf einem früheren
gekocht wird, könnte mit dem Wasser zusätzlich noch Strom       Bahngelände am Dorfrand von Etzwilen in der Gemeinde
erzeugt werden. Für die Nutzung der Geothermie steht ein        Wagenhausen will die Geo Energie Suisse AG für hundert
vom Volk bewilligter Rahmenkredit von 159 Millionen             Millionen Franken ein Geothermiekraftwerk bauen, das
Franken zur Verfügung. Das verpflichtet. «Eine gewisse An-       rund 6000 Haushalte mit Strom versorgen soll. Das Dorf und

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                 das benachbarte historische Schaffhauser Städtchen Stein            aus dem Elsass und aus Australien angeschaut. Beim Stimu-
                 am Rhein sind aufgeschreckt und melden Widerstand an.               lieren wird es keine spürbaren Erschütterungen in der
                                                                                     Erde geben. Wir haben absolut keine Bedenken, dass unsere
                          Erdbeben                                                   Bohrungen in Etzwilen irgendwelche negativen Auswir-
                 Die Vorgänger-Firma der Geo Energie Suisse hatte 2006               kungen haben werden.»
                 durch Geothermie-Bohrungen im Rahmen des Erdwär-
                 meprojektes «Deep Heat Mining» im Basler Stadtteil Klein-                    Begleitgruppe
                 hüningen mehrere Erdbeben ausgelöst, die an Hunderten               Die Geo Energie Suisse will ab 2020 in Etzwilen Strom
                 von Häusern Schäden in zweistelliger Millionenhöhe verur-           produzieren. Das Unternehmen hat für die Tiefenbohrungen
                 sachten. Bei der Erdwärmebohrung sollte Wasser in fünf              und den Kraftwerkbau die Schaffung einer Begleitgruppe
                 Kilometer Tiefe verpresst werden, wo es durch die dort herr-        versprochen, in welche sich die betroffene Bevölkerung mit
                 schenden höheren Temperaturen aufgeheizt worden wäre.               ihren Sorgen und Wünschen einbringen kann. Laut Meier
                 Dabei wurde das petrothermale und nicht das erprobtere              werden jetzt die Planung und das Bewilligungsverfahren für
                 hydrothermale Verfahren wie im Sittertobel angewandt. Das           das Projekt, wozu auch eine Umweltverträglichkeitsprü-
                 Basler-Projekt ist eingestellt und die Firma liquidiert wor-        fung gehört, vorangetrieben. Beim Betrieb des Kraftwerkes
                 den. Das neugegründete Unternehmen hält jedoch am alten             könne es schon passieren, dass zeitweise eine Dampfwolke
                 Ziel fest: Strom und Wärme aus tiefengeothermischen                 entstehe, meint er. Um einen Versuchsbetrieb handle es sich
                 Energiequellen zu gewinnen. Diese sollen als erneuerbare            in Etzwilen aber eindeutig nicht. Die Anlage würde trotz
                 Quellen in der Schweiz etabliert werden, zur sicheren,              der hohen Investitionen rentieren. Die anderen Bedenken der
                 wettbewerbsfähigen und klimafreundlichen Energiever-                Kritiker weist der CEO von Geo Energie Suisse zurück.
                 sorgung. Das petrothermale Verfahren kommt auch in                  Aktionäre der Geo Energie Suisse sind sieben öffentlich-
                 Etzwilen zur Anwendung, in Ermangelung von Wasser im                rechtliche Energieunternehmen, darunter die Elektrizi-
                 Untergrund. Um die Seismik nicht erneut herauszu-                   tätswerke der Stadt Zürich (EWZ) und die Westschweizer
                 fordern, will Geo Energie Suisse dabei auf das Aufbrechen           EOS-Gruppe.
                 grosser Gesteinsschichten wie seinerzeit in Basel ver-
                 zichten. Im Thurgau soll «stimuliert» vorgegangen werden,                    Euphorie
                 das heisst, die natürlichen Risse im Gestein sollen für             München ist zurzeit die führende Geothermiestadt. In 3000
                 die Wasserdurchlässigkeit nicht aufgebrochen, sondern               Metern Tiefe gibt es 140-grädiges Wasser. Bis 2040 ist
                 lediglich erweitert werden.                                         geplant, die Fernwärme für die Haushalte und Unternehmen
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                             Das Verfahren unterscheide sich aber nicht wirk-        der Millionenmetropole zu hundert Prozent aus erneuer-
                 lich von dem in Basel, meinen viele Dorfbewohnerinnen               baren Quellen, vornehmlich aus der Tiefengeothermie, zu
                 und –bewohner von Etzwilen und gehen auf die Barrikaden.            gewinnen. Einige Heisswasserkraftwerke sind bereits
                 Die «Gruppe besorgter Etzwiler» will das Kraftwerk um               in Betrieb. Die Geothermie in Deutschland ist in einigen
                 alles in der Welt verhindern.                                       Regionen aber auch in Verruf geraten, weil es bei den
                                                                                     Bohrungen respektive beim Betrieb geothermischer Anlagen
                          Fragenkatalog                                              zu Erdbeben, Überschwemmungen und Anhebungen
                 Geo Energie Suisse stellte sich in zwei Infoveranstaltungen,        des Bodens kam.
                 am 20. Februar und am 26. März, Fragen aus der Bevöl-                         In der Schweiz hat die Geothermie einen Wunder-
                 kerung. Vieles blieb aber unbeantwortet und die Bedenken            glauben ausgelöst. In der Energiestrategie des Bundesrats
                 wurden nicht ausgeräumt, heisst es bei der «Gruppe be-              wird damit gerechnet, dass 2035 Geothermieanlagen bereits
                 sorgter Etzwiler». Ein Fragenkatalog verlangt Klarheit: über        1,4 und 2050 4,4 Terawattstunden jährlich liefern. Noch
                 die Fördertechnik, das Entstehen einer Dampfwolke beim              euphorischer sind die beiden Parlamentskammern: Gegen
                 Betrieb des Kraftwerks, Einsprachemöglichkeiten der Bevöl-          den Willen der Landesregierung ist die Motion von FDP-
                 kerung und wer für den möglichen Minderwert von Lie-                Ständerat Felix Gutzwiller überwiesen worden, die verlangt,
                 genschaften in der Umgebung des Kraftwerks aufkommt.                dass der Bund schweizweit ein Programm zur Erkundung
                 Bis Redaktionsschluss sind bei den besorgten Etzwilern              des Untergrundes aufgleist und finanziert. Eine solche Bohr-
                 noch keine Antworten eingetroffen.                                  offensive würde über eine Milliarde Franken kosten. Aller-
                            René Bein von der Oppositionsgruppe sagt klar:           dings zeigen bis jetzt die grossen Energiekonzerne erst mäs-
                 «Wir sind nicht grundsätzlich gegen Geothermie. Aber                siges Interesse an der Geothermie.
                 aufgrund des bisherigen Auftretens der Geo Energie Suisse                     Harry Rosenbaum, 1951, ist freier Journalist.
                 und ihrer Informationspolitik sind wir überzeugt, dass
                 dies die falsche Firma mit der falschen Methode am falschen
                 Ort ist. Daher lehnen wir das Projekt entschieden ab. In
                 Etzwilen handelt es sich um eine reine Versuchsbohrung.
                 Hundert Millionen Franken kosten die Bohrungen und
                 der Bau des Kraftwerkes. Aber lediglich 6000 Haushalte
                 sollen mit Strom versorgt werden. Das rechnet sich un-
                 serer Meinung nach nicht.»
                            Der CEO von Geo Energie Suisse, Peter Meier, be-
                 schwichtigt: «Wir haben eine Studie zu unserem verfei-
                 nerten Verfahren gemacht und dabei viele Daten aus Basel,

                                                                   UNTER STROM
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