Sammelrezension: Anime - Herbert Schwaab Repositorium für die Medienwissenschaft - media/rep

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Repositorium für die Medienwissenschaft

   Herbert Schwaab
   Sammelrezension: Anime
   2020
   https://doi.org/10.25969/mediarep/13617

   Veröffentlichungsversion / published version
   Rezension / review

Empfohlene Zitierung / Suggested Citation:
Schwaab, Herbert: Sammelrezension: Anime. In: MEDIENwissenschaft: Rezensionen | Reviews, Jg. 37 (2020), Nr. 1,
S. 90–94. DOI: https://doi.org/10.25969/mediarep/13617.

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Sammelrezension: Anime

Mit e Anime Machine (Minneapo-                Im Vergleich dazu ist die Lektüre
lis/London: University of Minnesota         von e Anime Ecology, das neue Werk
Press) hat omas Lamarre 2009 eine          von Lamarre, nun eher enttäuschend.
wichtige Arbeit herausgebracht, die den     Ähnlich lang und umfangreich, auch
Anime im Anschluss an Gilles Deleuze        im Format dem Vorgängerwerk sehr
als ‚Maschine‘ zu denken versucht, als      ähnlich gestaltet, scheint es den Ver-
einen technologischen und ästhetischen      such zu machen, e Anime Machine
Komplex sowie eine Kraft des bewegten       und seine Ambitionen noch zu über-
Bildes, das basierend auf den Verfahren     treffen und die Reichweite einer eo-
der limitierten Animation einen eige-       rie, die sich aus dem Anime als Form
nen Raum, eine eigene Zeit und Dar-         ableiten lässt, noch weiter auszudehnen,
stellungen der Welt hervorbringt. Dieses    was diese Arbeit aber ausufern lässt. e
Buch ist äußerst instruktiv, geht es bei-   Anime Ecology legt den Fokus auf den
spielsweise darum, zu verstehen, wie in     Fernsehanime und betrachtet ihn als
der Animation mit der Verschiebung von      Möglichkeit, das Medium Fernsehen
Folien gearbeitet wird, um Bewegungs-       an sich, aber auch eine weitreichende
eindrücke zu erzeugen, wie Immobilität      transmediale Infrastruktur zu verste-
in Bewegungsdarstellungen integriert        hen, die sich beim Anime in unzähligen
werden kann, die sich von realfilmischen     Franchises und vielen weiteren trans-
Bewegungseindrücken unterscheiden           medialen Phänomenen offenbart (vgl.
und sich durch ein Durchbrechen der         S.1). Lamarre möchte eine Ansicht ver-
sensomotorischen Schemata der Anime         tiefen, die mit dem Fernsehanime ver-
als eine audiovisuelle Form manife-         bunden ist, nämlich dass die Geschichte
stiert, was sich tatsächlich sehr gut mit   der Konvergenz und der Transmedi-
Deleuzes Begriff des Zeitbildes verste-      alität nicht erst mit digitalen Medien
hen lässt. Die Lesenden lernen daher        beginnt, sondern weit zurückreicht in
von diesem Werk von Lamarre nicht           die japanische Medien- und Fernsehge-
nur medienphilosophische Deutungen          schichte, die schon immer (im Anime
des Anime, sondern zusätzlich sehr viel     seit den frühen 1960er Jahren) Kopp-
über dessen Ästhetik, Gestaltung und        lungen von Fernsehserien, Konsum-
einzelne Anime kennen.                      produkten und Werbung gekannt hat.
Fotografie und Film                              91

Auch hier fungiert die ‚anime machine‘     des Zusammenschlusses von Anime
als ein Katalysator und Initiator dieser   mit der Technologie und Institution
transmedialen Entwicklungen.               des Fernsehens produziert werden,
   Was das Buch interessant macht,         über Konzepte der Zuschauer_in, über
ist vor allem der Versuch, Fernsehen       medienkritische Diskurse und in der
als zentral für die Veränderungen zu       Gesellschaft zirkulierende Ängste vor
betrachten, die mit den neueren Medien     dem Fernsehen und vieles mehr. Die-
einhergehen, und nicht als Medium,         ser Ansatz ist durchaus interessant und
das von einer digitalen Medienkultur       wird äußerst material- und theoriereich
abgelöst wird. Lohnend sind auch die       behandelt. So setzt sich Lamarre zum
Einblicke in die japanische Medienge-      Beispiel mit einzelnen Animeserien und
schichte, etwa wenn wir die Geschichte     -franchises auseinander, und versucht
des japanischen Fernsehens und dessen      mit ihnen diese neue Medienökolo-
Beziehung zu den Digitalisierungspro-      gie und ihre Effekte zu perspektivie-
zessen der Medien kennenlernen (vgl.       ren. Das gelingt ganz gut, wenn die
Kapitel 6 und 7). Was die Lektüre aber     Serie Crayon Shin-chan (1990-2010)
anstrengend macht, ist der Versuch, die    diskutiert wird, deren transformative
Anime-Ökologie als Ankerpunkt für          Hauptfigur weder Kind noch Erwach-
eine Auseinandersetzung mit Effek-          sener ist (vgl. S.238). Hier werden unter
ten von Medien auf die Menschen und        anderem Wirkungen des Fernsehens in
ihre Wahrnehmung zu nutzen. Hierbei        Frage gestellt und mit der eigenwilligen
wird ständig eher zwanghaft und auch       Hauptfigur ein eigenartiger Vertreter
auf etwas ermüdende Weise versucht,        des von den Cultural Studies konzi-
Anime mit den Großtheoretikern wie         pierten aktiven Publikums gezeichnet.
Gilles Deleuze, Felix Guattari, Michel     Im Franchise und der ästhetischen Dif-
Foucault oder Jacques Lacan, aber auch     ferenz zwischen Fernseh- und Film-
erst in jüngster Zeit diskutierten eo-    anime werden produktive Prozesse von
retikern wie Jacques Rancière oder         Divergenz erkannt und Henry Jenkins
Gilbert Simondon zusammenzuden-            alles vereinigende Konvergenzfantasie
ken.                                       erfolgreich in Frage gestellt (S.244).
   Hintergrund dieser Auseinander-            Aber in anderen Kapiteln ist das
setzung und Leitmotiv dieses Buches        Buch auch sehr anstrengend, bisweilen
ist der sogenannte Pokémon-Schock          verwirrend zu lesen; es fällt nicht immer
von 1997 (vgl. S.33), als die Ausstrah-    leicht, zu verstehen, auf was Lamarre
lung einer Episode dieser Animeserie       eigentlich hinauswill: Der Versuch,
bei jungen Zuschauern und Zuschau-         den esen durch eorien Autorität
erinnen epileptische Anfälle ausgelöst     zu geben, trägt häufig eher zur Ver-
haben soll. Dieser Moment, auf den im      wirrung bei und wirkt etwas wahllos,
Band immer wieder rekurriert wird,         wenn etwa auf Seite 48 so unterschied-
bietet den Anlass dazu, über die neu-      liche eoretiker_innen wie Elizabeth
ropsychologischen Effekte nachzuden-        Grosz, Judith Butler, Bruno Latour,
ken, die durch die spezifischen Folgen      Friedrich Kittler oder Isabelle Stengers
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in einem einzigen, kleinen Abschnitt       Reihe (1982-90) und deckt dabei die
zitiert werden. Dennoch gelingt es dem     medial bedingten Unterschiede als kon-
Werk, immer wieder neue Perspektiven       stitutive Merkmale beider Objekte auf
auf den Anime und die audiovisuelle        (Kapitel 1). In diesem Fall und auch in
Kultur zu eröffnen und vielleicht bedarf    den anderen Lesarten, die immer ein
es noch mehr Lektüren, um e Anime         Kapitel des Bandes einnehmen, funkti-
Ecology besser verstehen und abschlie-     oniert der Anspruch sehr gut, Ästhetik
ßend beurteilen zu können, was es tat-     und Narration zusammenzudenken:
sächlich zu leisten vermag.                So behandelt Bolton die Frage, ob
   Etwas einfacher, aber ebenso            Akira eher als Auseinandersetzung mit
gestützt auf eine lange Reihe mittler-     dem japanischen Trauma der Atom-
weile klassisch gewordener Ansätze wie     bombe zu betrachten ist (S.27f.), oder
die von Michel Foucault, Jean-François     als zynischer, postmoderner Text, der
Lyotard, Roland Barthes, Vivian            keine Möglichkeit bietet, für eine Poli-
Sobchack, Judith Butler oder Donna         tik vereinnahmt zu werden, sondern nur
Haraway operiert der Band Interpreting     die Verlorenheit des Subjektes darstel-
Anime von Christopher Bolton. Auch         len kann (S.34f.). In dieser Auseinan-
sein Ziel ist es, den Anime als Genre      dersetzung lernen wir sehr viel über die
ernst zu nehmen und seine Objekte als      japanische Kulturgeschichte und einen
Texte auszuweisen, die mit allem Auf-      widersprüchlichen Opferstatus kennen,
wand und allen eorien auf produktive      weil häufig die Rolle Japans als Aggres-
Weise diskutiert werden können und         sor verkannt wird.
sollen. Bolton betont, dass seine Les-        Für Bolton sind aber diese Wider-
arten, im Gegensatz zu vielen anderen      sprüche auch ein Kennzeichen für eine
Auseinandersetzungen, immer auch           bestimmende Eigenschaft des Anime,
die Ästhetik und die Medialität des        auf Gegensätzen aufgebaut zu sein.
Anime in den Blick zu nehmen versu-        Bei ihm ist dies vor allem der Gegen-
chen (vgl. S.4).                           satz zwischen Immersion und Distanz
   Er organisiert seine Lesarten von       (S.27). Hier schließt Bolton auch an
Animeklassikern wie Akira (1988),          Lamarre an, wenn er etwa betont, wie
Ghost in the Shell (1995), Millennium      dieser Kontrast mit dem Wechselspiel
Actress (2001) oder Howl‘s Moving Castle   von Bewegung und Stillstand in der
(2004), aber auch unbekannteren Werke      limitierten Animation korrespondiert
wie 3x3 Eyes (1991 und 1992), die für      und der Anime generell die Tendenz
Videoveröffentlichungen und Fernse-         dazu habe, seine Darstellung immer
hen produziert wurden, immer über die      wieder zu unterbrechen. Bolton gibt
Diskussion ihrer Beziehungen zu einem      diesem Aspekt, den er etwas zu pene-
anderen Medium. So stellt er Ghost in      trant als ,Prozess des Oszillierens‘
the Shell in Kontrast zum klassischen      bezeichnet, an vielen Stellen Bedeu-
japanischen Marionettentheater (vgl.       tung. So korrespondiert die Ambiva-
Kapitel 3), oder vergleicht den Anime      lenz, die Akira auszeichnet, auch mit
Akira mit der gleichnamigen Manga-         einer Ästhetik des begrenzten Blickes,
Fotografie und Film                             93

wenn die Hauptfi gur Tetsuo mit dem          Gendertheorie und liefert ähnlich
Motorrad durch die Nacht fährt und          wie diese keine Auflösung des Wider-
das Licht immer nur einen kleinen           spruchs, eine geschlechtliche Identität
Abschnitt der Straße erhellt (vgl. S.53).   zu produzieren, in dieser Produktion
Dieser begrenzte Blick unterscheidet        aber ein Subjekt zu sein, dass von
sich allerdings signifi kant von einem       Sprache und Gesellschaft produziert
weitreichenden, detaillierten Blick auf     wird. Der Film ist nicht nur ein spiele-
die geografischen Details der Stadt im       risches Potpourri der vielen von einem
parallel veröffentlichten Manga und          weiblichen Star verkörperten Rollen,
zeigt auch die Limitationen der gra-        die Satoshi Kon scheinbar zentrums-
phischen Gestaltung im Anime auf. Im        los aneinanderreiht, sondern stellt auch
Anime offenbart sich der Verlust von         die Künstlichkeit dieser stereotypen
Orientierung, im Manga ist die Ver-         Bilder als Produkte der japanischen
ortung der Figuren und der Lesenden         Kultur und Gesellschaft heraus (vgl.
möglich (vgl. S.53). Ein Oszillieren,       S.188f).
das analog zum grundsätzlichen Oszil-          Es spricht für die Stringenz des
lieren des Anime zwischen Immersion         Zuganges von Bolton, dass er den
und Distanz ist, findet Bolton in jedem      Band mit der Interpretation von Howl‘s
der interpretierten Werke wieder: Pat-      Moving Castle von Hayao Miyazaki
labor 2 (1993) wird Vivian Sobchack         enden lässt. Miyazakis Abgrenzung
folgend als Oszillieren zwischen dem        vom Anime, den dieser vorwiegend
cinematischen, körperlichen und dem         mit billigen Fernsehproduktionen und
elektronischen, körperlosen Blick gele-     der limitierten Animation assoziiert,
sen (vgl. S.60 und 66). Dass Patlabor       führe auch dazu, dass es in diesem (und
2 diesen Unterschied auch in seiner         anderen) Filmen von ihm auch nicht
Ästhetik ref lektiert, wird an einer        das Wechselspiel zwischen Immer-
Reihe von Einstellungen gezeigt,            sion und den künstlichen, reflexiven
die den Blick eines Mediums imitie-         Momenten gibt, die dieses Unterbre-
ren, wenn wir etwa durch das Auge           chen bietet. Stattdessen fordern sie von
einer Überwachungskamera auf eine           den Zuschauenden eher eine komplette
Szene zu blicken scheinen (vgl. S.88).      Immersion in die von ihm gebauten
In Ghost in the Shell identifi ziert er      Welten (S.238). Bolton betont hier eine
ein Wechselspiel von Emotion und            Besonderheit, aber auch eine Limita-
Künstlichkeit im Zusammenhang               tion von Miyazakis Filmen, die ihn von
mit der Hauptfi gur eines weiblichen         den anderen besprochenen Anime und
Cyborgs, die auch das klassische japa-      der von ihnen ermöglichten Distanz
nische Puppentheater Bunraku aus-           unterscheidet. Miyazakis Hang zur
zeichnet (vgl. S.124), was Bolton als       Immersion manifestiert sich in seiner
Kommentar zum Cyborg-Feminismus             Adaption eines Kinderbuches unter
von Donna Haraway versteht. Millen-         anderem darin, dass er konsequent
nium Actress wiederum liest sich wie        alle selbstreflexiven Aspekte der litera-
ein Kommentar zu Judith Butlers             rischen Vorlage weglässt und umdeutet.
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   So beweist Christopher Bolton        den Blick des Anime besser zu ver-
ähnlich wie  omas Lamarre, dass        stehen und ihnen Bedeutung zu
der Anime sich bestens dafür eignet,    geben, und nicht etwa nur  eorien
über Effekte der Medienkultur, über      zu gebrauchen, um einen Anime les-
Geschlechterpolitiken und nicht zu-     bar zu machen, der dieses Lesbarma-
letzt auch über wissenschaftliche e-   chen heute schon längst nicht mehr
orie nachzudenken. Denn bei beiden      braucht.
wird dankenswerterweise auch die
Möglichkeit genutzt, eorien durch               Herbert Schwaab (Regensburg)
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