Schatzhaus und Labor - Stadt Kleve
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12 John Akomfrah Schatzhaus 18 Carl Andre und Labor 24 Stephan Balkenhol 30 Lucas Blalock 36 Birgit Brenner 25 Jahre 40 Ulrich Erben Museum Kurhaus 46 Pia Fries Kleve 54 Katharina Fritsch 60 Isa Genzken 64 Yann Gerstberger 1997 – 2022 68 Franz Gertsch 72 Franka Hörnschemeyer 76 Axel Hütte 82 Cristina Iglesias 86 Robert Indiana 92 Via Lewandowsky 96 Richard Long 102 Mario Merz 108 Ragen Moss 112 Giuseppe Penone 118 Stephen Prina 124 Thomas Ruff 130 Michael Sailstorfer 136 Pietro Sanguineti 140 Andreas Schmitten 146 Gregor Schneider 152 Thomas Schütte 158 Haim Steinbach 164 Paloma Varga Weisz 170 Johannes Wald
Bekanntlich bilden Jubiläen und Jahrestage seit jeher und in allen Lebenslagen den willkommenen Anlass für üppige Bilanzen und zu- kunftsfrohe Ausblicke. Das ist bei Museen nicht anders als bei Men- schen, und deshalb erklärt es sich gewissermaßen von selbst, dass das Museum Kurhaus Kleve im 25. Jahr seines Bestehens mit einer groß angelegten Ausstellung aufwartet, die dem Publikum die Spitzen des bisher beschrittenen Weges gleichermaßen wie künftige Horizonte vor Augen führen möchte. Der dafür gewählte Titel »Schatzhaus und Labor. 25 Jahre Museum Kurhaus Kleve« zielt denn auch genau auf diese doppelte Ausrichtung: zum einen nämlich, ein Ort des Sam- melns, Bewahrens und Erforschens zu sein, und zum anderen, aktiv teilzuhaben am produktiven und diskursiven Gestus der Gegenwart. Aus dieser Disposition heraus entwickelte sich dann im Zusammen- wirken eines kuratorischen Dreigestirns ein Ausstellungskonzept, dessen Konturen und Hintergründe im Folgenden kurz erläutert werden, über dessen Einlösung aber wie immer erst die tatsächliche Wahrnehmung der künstlerischen Arbeiten vor Ort entscheiden wird. Schatzhaus und Labor. 5 Zunächst stellte sich die Frage der zeitlich-inhaltlichen Be- zugnahme. Zwar ist es völlig unstrittig, dass das Museum Kurhaus 25 Jahre Museum Kurhaus Kleve Kleve – Ewald Mataré-Sammlung im April 1997 eröffnet wurde, aber schon ein summarischer Blick auf seine exemplarischen Bestände und die damit verbundenen Provenienzen macht deutlich, dass die historischen Wurzeln viel tiefer reichen. Ohne hier ins Detail zu ge- hen, seien Pars pro Toto erwähnt: die singulären Werke spätgotischer Skulptur, die reichen Bestände barocker Zeichnung und Graphik, der essenzielle und namensstiftende künstlerische Nachlass von Ewald Mataré oder das fragile Frühwerk von Joseph Beuys. Das alles hätte mit Fug und Recht in einer Jubiläumsausstellung gezeigt werden können, und die begleitenden Sammlungskontexte etwa der Grafen und Herzöge von Kleve, des brandenburgischen Statthalters Johann Moritz von Nassau-Siegen oder des Städtischen Museums Haus Koek- koek als unmittelbare Vorgängereinrichtung hätten eine stupende Materialfülle im Sinne von Fundamenten für das heutige Museum Kurhaus Kleve bilden können. Gleichwohl wurde davon program- matisch Abstand genommen; zum einen, weil sich bereits vorange- gangene Ausstellungsprojekte diesen Themen gewidmet haben, zum anderen aber und vor allem, weil die erstrebte Wechselwirkung zwi- Harald Kunde schen Vergangenem und Gegenwärtigem, ja Kommendem zweifellos
nur in den Arbeiten heute lebender Künstlerinnen und Künstler reali- zu zeigen, um solcherart auch den Radius der jeweiligen Künstlerper- siert werden kann. Von dieser Gewissheit ausgehend, entwickelte sich sönlichkeit anzudeuten und einen fulminanten Fundus produktiver eine Wunschliste von 25 Positionen, die dem Haus während seines Biographien zu versammeln. Dass zudem gerade die speziell für kon- 25-jährigen Bestehens durch gewichtige Ausstellungen oder Erwer- krete Räume geschaffenen Skulpturen und Installationen den Labor- bungen besonders eng verbunden waren und noch sind, sowie eine Charakter der Gegenwart atmen, war gewollt und wirkt einer falsch weitere Liste von fünf Positionen, deren Arbeiten speziell für diesen verstandenen Musealisierung erfrischend entgegen. Anlass produziert beziehungsweise ausgewählt wurden. Das bedeutet Gemeinhin bieten Jubiläen wie diese, jedenfalls bisher, den auch, dass viele andere Positionen leider nicht berücksichtigt werden Anlass zu ungetrübter Freude. Seit aber nun sogar in der Politik von konnten und dass die letztlich getroffene Auswahl, von subjektiven einer Zeitenwende gesprochen wird, bestätigt sich das unabweisbare und pragmatischen Aspekten einmal abgesehen, bei aller Vielschich- Gespür für die Endzeitlichkeit der anthropozänen Epoche, das wa- tigkeit doch immer nur als momentgeprägter Bruchteil der Totalität che Künstlerinnen und Künstler seit Langem umtreibt. Das Wissen des Möglichen zu verstehen ist. um die Fragilität der menschlichen Existenz angesichts von sozia- Die Ausstellung »Schatzhaus und Labor« umfasst also ins- len, kriegerischen, ökologischen, pandemischen Katastrophen grun- gesamt 30 Künstlerinnen und Künstler, die ihre Ideen, Irritationen diert deshalb mehr oder weniger auch jede der gezeigten Arbeiten und Energien zu einem Parcours vereinen, der brachial und verhal- mit der Patina der Reflexion. Das schließt Zuversicht keineswegs aus ten, vielschichtig und berührend zugleich von den Schönheiten und und mündet bestenfalls in dem klugen Ausspruch Gerhard Richters, den Zumutungen heutigen In-der-Welt-Seins erzählt. Es sind viele die Produktion von Kunst sei die höchste Form der Hoffnung. Aber 6 berühmte Namen darunter und neue Entdeckungen, alte Meister und 7 es schließt Fanatismus, Intoleranz und Dominanz-Gebaren jeglicher junge Genien, öffentlich Lehrende und Atelier-Eremiten, Weltnoma- Couleur ebenso entschieden aus wie einen ignoranten Optimismus den und sesshaft Besitzende. Wer sich die Namensliste genauer an- des Immer-Weiter-So. Insofern verstehen sich die hier versammelten schaut, wird unschwer noch immer ein Übergewicht an männlichen Künstlerinnen und Künstler durchaus als Mutmacher in finsterer Zeit, Positionen bemerken. Das ist der Geschichte der vergangenen Aus- deren Haltungen und Potenziale uns alle daran erinnern, weshalb es stellungspraxis ebenso geschuldet wie dem Umstand, dass viele jün- Kunst – und vielleicht auch Museen – überhaupt gibt. In ihrem viel- gere weibliche Positionen gerade in den letzten Jahren zwar gezeigt stimmigen Zusammentreffen lassen sie uns teilhaben an der Kraft ih- wurden, aber sehr oft im Rahmen von thematischen Gruppenausstel- rer Erzählungen, Erinnerungen und Entwürfe, und sie artikulieren lungen, deren vergleichsweise hohe Teilnehmerzahl das jetzige Kon- bei aller gebotenen Skepsis die Hoffnung auf doch noch mögliche Al- zept von 25 plus 5 gesprengt hätte. Ebenso ins Auge fällt bei der Aus- ternativen zur Barbarei. wahl die starke Dominanz europäischer Künstlerinnen und Künstler, Damit ein solch wichtiges Jubiläumsprojekt realisiert wer- was keineswegs der Ignoranz gegenüber dem »Globalen Süden« ge- den kann, bedarf es der Mithilfe, Förderung und Unterstützung von schuldet ist, sondern auch diesmal als Spiegel des Selbstverständnis- Menschen und Institutionen aus sehr unterschiedlichen Bereichen. ses fungiert: Das Museum Kurhaus Kleve konnte und kann auch künf- Da wäre zuerst der Kunstbereich im engeren Sinne zu nennen: Alle tig nicht mit dem Anspruch etwa einer documenta, einer Manifesta angefragten Künstlerinnen und Künstler sowie die mit ihnen koope- oder der zahlreichen Biennalen konkurrieren, sondern es bleibt ein rierenden Galerien und Sammlungen haben das Unterfangen von Be- städtisches Haus mit internationaler Ausrichtung und regionaler Ver- ginn an mit großem Enthusiasmus und zielführender Professiona- ankerung. Eingedenk dieser Prämissen war klar, dass die letztliche lität unterstützt und getragen; dafür geht ein riesengroßer Dank an Auswahl sich grundsätzlich am Vermögen höchster künstlerischer In- alle Beteiligten. Finanziell ermöglicht wurden Ausstellung und Ka- tensität und radikaler Ausdrucks-Präzision orientiert. Darüber hin- talog durch die großzügige Förderung des Ministeriums für Wissen- aus ging das Bestreben dahin, wo immer möglich aktuelle Arbeiten schaft und Kunst des Landes NRW, durch den verlässlichen Haushalt Schatzhaus und Labor
der Stadt Kleve und durch die bewährte Unterstützung des Freundes- Blick vom Barockgarten auf das Museum Kurhaus Kleve kreises der Klever Museen. Dafür geht ein ebenso umfassender Dank an alle Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in den Entscheidungsgre- mien, in der Verwaltung und im ehrenamtlichen Vorstand des Freun- deskreises. Das gesamte Team des Museum Kurhaus Kleve hat auch bei diesem Projekt Außerordentliches geleistet und einmal mehr den her- vorragenden Ruf unter Beweis gestellt, der in den zurückliegenden 25 Jahren erworben werden konnte und der auch künftig als verpflich- tender Anspruch gilt. Namentlich erwähnt seien hier die Kuratorin- nen Susanne Figner und Valentina Vlašić , die neben den enormen Herausforderungen der Organisation Kraft und Zeit für die Textar- beit fanden und so im Zusammenwirken mit Gründungsdirektor Guido de Werd und mir dafür sorgten, dass ein facettenreiches Kom- pendium in Buchform die Ausstellung begleitet. Ebenso sei an dieser Stelle der wissenschaftlichen Volontärin Julia Moebus-Puck für ihren zweijährigen Einsatz in Bezug auf das Richard-Long-Archiv gedankt, das von ihr akribisch erforscht wurde und das nun als spezieller As- 8 pekt im Rahmen von »Schatzhaus und Labor« als living archive präsen- 9 tiert werden kann. Ein großer Dank geht wie immer an die technische Abteilung von Wilhelm Dückerhoff und Norbert van Appeldorn, an die logistische Zentrale des Sekretariats von Hiltrud Gorissen sowie an alle Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter im Empfangsbereich, bei den Aufsichten und bei den externen Aufbauhelfern. Ohne ihr enga- giertes und teamorientiertes Zusammenwirken gäbe es weder die- se Ausstellung noch das Haus selbst: auch hier ein herzlicher Dank an alle! Abschließend sei noch auf die Katalog-Gestaltung von Ingo Offermanns, die Lithographie von Henning Krause und das Lektorat von Ines Dickmann verwiesen. Durch ihre beglückende Professiona- lität konnte eine Publikation realisiert werden, die der Ausstellung weit über ihre eigentliche Laufzeit hinaus eine profunde Anschaulich- keit verleiht und die vielleicht einmal dem 50. Jubiläum des MKK als legendäre Referenz dienen könnte. Schatzhaus und Labor
Installationsansicht mkk Purple, 2017 [98] gungen, die aus Found-Footage-Material tiven. Dass damit immer auch der kultu- montiert wurden, trafen auf epische Land- relle Reichtum, die Magie und Mythologie schaftspanoramen etwa des arktischen der indigenen und afrikanischen Diaspo- Grönland oder der polynesischen Marque- ra thematisiert werden, gehört bei Akom- sas-Inseln. Überschwemmungen, Orkane, frah als einem Gründungsmitglied des ein- Feuersbrünste wurden mit Ballettszenen, flussreichen Black Audio Film Collectives Kammermusik und singenden Kindern (seit 1982 in London, gemeinsam mit Da- kontrastiert, Laborversuche und Massen- vid Lawson und Lina Gopaul) von Beginn tierhaltung trafen unvermittelt auf vor- an zur Programmatik. überziehende Vogelschwärme und weite In der Ausstellung »Schatzhaus und Himmel, umjubelte Politikerparaden stie- Labor. 25 Jahre Museum Kurhaus Kleve« ist ßen auf Bikini-Atoll-Atompilze und ma- John Akomfrah mit der medienreflexiven rodierende Kriegstruppen. Kurzum: Das 3-Kanal-Video-Installation Psyche (2012) ver- Prinzip der simultanen Montage und der treten. Diese eröffnet signifikante Einbli- harten Schnitte erwies sich einmal mehr cke in sein persönliches Referenzsystem als probates Mittel, um den Wahnsinn und und montiert filmische Fragmente etwa die Spannbreite heutiger Welterfahrung von Kenneth Macphersons Arbeit Border- zur Anschauung zu bringen. Das Ergeb- line (1930), Carl Theodor Dreyers The Pas- nis war geprägt von kaleidoskopischem sion of Joan of Arc (1928) oder von Sergei Ei- Weitblick, der die Begrenztheit der indivi- sensteins Panzerkreuzer Potemkin (1930) zu duellen Erinnerung aufbricht zugunsten einem Archiv der seither verfolgten Stra- einer Totalität gleichberechtigter Perspek- tegien und Paradigmen. Besonderes Ge- 12 13 Installationsansicht mkk Purple, 2017 [98] John Akomfrah Die Arbeiten des britischen Künstlers, Fil- Video-Projektion Purple (2017, zu sehen vom memachers und Autors John Akomfrah 13. März bis 6. September 2020). Er entwi- (*1957 in Accra / Ghana) zeichnen sich ckelte dabei einen Bild-Sog, der in ein- durch bildmächtige Recherchen zum Post- dringlichen Sequenzen und hypnotischen kolonialismus, zu Erfahrungen im Um- Soundschleifen Aspekte des Klimawandels feld globaler Migration und durch Medita- und dessen Auswirkungen auf mensch- tionen über die weltweite ökologische Zer- liche Gesellschaften untersuchte. Im Sinne störung aus. Sie weisen komplexe simulta- eines audiovisuellen Assoziationsstroms ne Erzählstrukturen auf, die den Fundus wurde die Geschichte der Industrialisie- kollektiver Erinnerungen befragen und in rung der Moderne mit qualmenden Fabrik- der schichtweisen Überblendung von Ar- schloten, schuftenden Bergarbeitern und chivmaterial, eigenen Aufnahmen, Natur- rasender Fließbandproduktion ebenso vor panoramen und strukturierendem Sound Augen geführt wie die damit verbundenen höchste Wahrnehmungsintensitäten erzeu- Errungenschaften für größere Schichten gen. Sie sind gleichermaßen von suggesti- der westlichen weißen Bevölkerung. Im ver Schönheit und von tiefer Melancholie Modus des reflektierenden Schauens wur- geprägt und verstehen sich als filmische de zugleich auf die Verheerungen, Vergif- Antworten auf die Epoche des Anthro- tungen und Verseuchungen verwiesen, de- pozäns. nen Meere, Landschaften und Städte in Im Museum Kurhaus Kleve zeigte rasant steigendem Maße ausgesetzt sind. John Akomfrah im ersten Jahr der Corona- Menschliche Grunderfahrungen wie Ge- Pandemie 2020 die einstündige 6-Kanal- burtsszenen, Krankenpflege und Beerdi-
wicht wird dabei auf die Ausdruckskraft des menschlichen Gesichts gelegt, das als Spiegel seelischer Seins-Zustände ebenso fungiert wie als Metapher historischer Zu- spitzungen. So gelten beispielsweise die zerschossenen Brillengläser der Kranken- schwester auf der Freitreppe von Odessa weithin als filmischer Kulminationspunkt des damaligen Matrosenaufstandes der Potemkin gegen die zaristischen Macht- verhältnisse, und genau nach solchen sin- gulären Bild-Verdichtungen fahndet John Akomfrah in dieser Hommage an seine An- reger, um sie letztlich in seine eigenen spä- teren Erzählungen produktiv zu transfor- mieren. [HK] 14 15 Installationsansicht mkk Purple, 2017 [98]
Installationsansicht mkk Inner Piece, 1983 [99] schrift spürbar. Später sollte er diese flache gesetzt hat. Schon bald galt Andre als einer Bodenarbeiten Zones nennen. 75 Jahre, nach- der wichtigsten Künstler seiner Generation dem August Rodin seine Bürger von Calais und der Minimal Art. ohne Sockel auf den Boden stellte, revo- In Andres Einzelausstellung im Mu- lutionierte Andre noch einmal den Begriff seum Kurhaus Kleve 2011 besetzte die mehr von Skulptur. als dreißig Meter lange Arbeit Thrones Carl Andre fand erst spät zur Kunst. (1978) aus alternativ horizontal und ver- Durch die Vorbildung seiner Mutter gin- tikal aufgestellten Bohlen aus Douglasie gen seine Interessen zunächst in die Rich- (jede 30 · 30 · 91 cm) die Wandelhalle und tung der Dichtkunst. Es entstanden Ge- machte auf eindrucksvolle Weise das Spezi- dichte, die als serielle Wortanordnungen fische des Raumes spürbar. Die Installation angelegt waren, mit denen er sich zeitle- wirkte wie für die Wandelhalle gemacht. bens beschäftigte und die einen wichtigen Tatsächlich handelte es sich um eine mehr Beitrag zur Minimal-Poesie bilden. Von als dreißig Jahre alte, ursprünglich für hier aus war der Schritt zur Skulptur nicht eine Ausstellung in Chicago entstandene weit, 1967 entstanden seine ersten lock- Arbeit. Carl Andre betrachtete seine Kunst- pieces, Skulpturen, die aus Einzelteilen zu- werke als Schnitt in den Raum. Er wurde sammengebaut werden konnten, wobei es zu zahllosen Ausstellungen eingeladen sich meistens um Kleinplastiken aus Holz und schuf Werke, die nach Maß, Größe handelte. Deutlich wird hier der Einfluss und Umfang für den jeweiligen Ort kon- von Constantin Brancusi, mit dessen »End- zipiert waren, für Innenräume ebenso wie loser Säule« Andre sich lange auseinander- für Außenräume. So schuf er für die docu- 18 19 Installationsansicht mkk Copper Ribbon, 1969 [100] Carl Andre In seinem Ausstellungsprogramm hat das dorfer Neubrückstraße 12, änderte Andre Museum Kurhaus Kleve dem Werk von seine Pläne und entwarf mit dem Titel Carl Andre (*1935 Quincy, Mass. / USA), Ontologische Plastik eine Bodenskulptur, dem Pionier der Minimal Art, zwei Mal die aus fünf Reihen von zwanzig quadra- große Aufmerksamkeit gewidmet: zum tischen Stahlplatten bestand, die zu einer ersten Mal 2010 bei »Von Carl Andre bis Fläche zusammengelegt wurden: Altstadt Gregor Schneider. Dorothee und Konrad Rectangle. Gäste der Vernissage fragten sich Fischer: Archiv einer Haltung« und da- verwundert, wo sich denn das Exponat von nach 2011 in einer großen Einzelausstel- Andre befand, als sie, ohne es zu bemerken, lung, die von den deutschen Kunstkriti- über die flache, nur einen Zentimeter hohe kern der AICA als »besondere Ausstellung Bodenskulptur aus quadratischen Platten des Jahres 2011« ausgezeichnet wurde. gingen. In dieser Arbeit waren bereits alle Mit dem Werk von Carl Andre hatte Aspekte der Kunst Carl Andres intendiert: Konrad Fischer im November 1967 seine Die Skulptur war auf Zeit angelegt, sie legendäre Galerie eröffnet. Fischer und war anonym, ohne jede Handschrift. Besu- Andre wurden durch diese Ausstellung cher*innen konnten diese ohne Bedenken schlagartig bekannt. Als Andre mit dem betreten. Spuren des Gehens fügten sich Flugzeug anreiste, hatte er nur eine Skiz- in das Werk ein, Verschleiß und Vergäng- ze des Grundrisses der Galerie bei sich lichkeit waren von Andre mitgedacht. Au- und stellte sich vor, eine Arbeit entlang ßerdem erreichte der Künstler durch die der Wände zu installieren. Vor Ort, in dem vorgefertigten Stahlplatten eine völlige schmalen Raum der Galerie in der Düssel- Anonymität. Nirgendwo ist seine Hand-
menta 7 1982 die Arbeit Steel peneplain / Exo- die Handschrift eines Künstlers wohl nicht Installationsansicht mkk 44 Roaring Forties, 2000 [102] dierende Stahlfläche, eine Bodenarbeit von vermitteln als in dieser Arbeit mit Gasbe- 300 Kupferplatten von 100 · 100 · 1 cm, ge- tonblöcken, einem preiswerten und leich- legt in vier Reihen mit einer Länge von 75 ten Baumaterial. In solchen Arbeiten zeigt Metern. Er verarbeitete für seine Skulptu- Carl Andre, was seine Plastik ist: nüchtern, ren industriell vorgefertigte Materialien leise, und präsent. [GdW] wie Ziegelsteine, Granitblöcke, Holzboh- len, Kreidestücke, aber auch Stahl-, Kup- fer-, Aluminium-, Blei-, Zink und Magnesi- umplatten sowie dreidimensionale Blöcke. In der Ausstellung »Schatzhaus und Labor. 25 Jahre Museum Kurhaus Kleve« ist Andre mit der Arbeit Outer Piece (Dijon, 1983) vertreten. Sie wurde bereits in Andres Einzelausstellung 2011 zusammen mit Inner Piece (Dijon 1983) gezeigt und kehrt nun nach Kleve zurück. Sie besteht aus 61 Gas- betonblöcken von jeweils 20 · 20 · 75 cm. Die Skulptur ist zwei Quadrate breit und sieben tief, an den Ecken sind die Blöcke je- weils vertikal aufgestellt. Insgesamt misst sie 75 · 210 · 685 cm. Anonymer lässt sich 20 Installationsansicht mkk Thrones, 1978 [101] 21
Outer Piece, 1983 [2]
Kaum eine Künstlerin oder ein Künstler logisierenden Intention und sind »ohne Installationsansicht mkk Drei Hühner auf einer Schraube, 1997 [104] prägt das direkte Umfeld des Museum Kur- oberflächliche Geschwätzigkeit«, wie es haus Kleve mehr als Stephan Balkenhol der Künstler selbst von ihnen sagt. (*1957 in Fritzlar), dessen Neuer Eiserner Heute ist Balkenhol ein fester Be- Mann den an das Kurhaus angrenzenden griff in der deutschen Kunstszene. Seit Jah- Barockgarten seit 2004 maßgeblich defi- ren unterrichtet er an der Akademie der niert. Stephan Balkenhol gehört zu den Bildenden Künste in Karlsruhe. Damals – angesehensten deutschen Bildhauern der kurz nach der Eröffnung des Museum Kur- Gegenwart, dessen Werke allerorten ver- haus Kleve am 18. April 1997 – stand er am treten sind. Zu erwähnen seien nur bei- Anfang seiner Karriere. 1998 zeigte das Kle- spielhaft sein Großer Mann mit kleinem ver Museum in Kooperation mit dem Von Mann (1997) im Palais am Pariser Platz in der Heydt-Museum in Wuppertal die Aus- Berlin, seine Männer auf Bojen (1993/2021) stellung »Stephan Balkenhol: Skulpturen«, in den Hamburger Alster Kanälen, seine die sowohl in Deutschland als auch in den Sphaera (2007) in Salzburg oder sein Tor- Niederlanden großen Anklang fand und so Sempre più (2009) im Caesarenforum in den Beginn einer intensiven Beschäfti- Rom. Seine Figuren sind Faszinosa: Wie gung des Museums mit seinem Werk bil- zufällig tauchen sie an Kunst- und Nicht- dete. In einer Zeit, als die abstrakte mini- Kunstorten auf und erscheinen alltäglich, malistische Skulptur unter anderen seines aber lässig, trivial, aber angenehm neu- Lehrers Ulrich Rückriem dem Zeitgeist tral, stets nichts-, aber doch vielsagend. Sie entsprach, eröffnete Balkenhol mit seinen folgen keiner erzählerischen oder psycho- leger wirkenden, aus dem Alltag herausge- Stephan Balkenhol 24 Neuer Eiserner Mann, 2004 [103] griffenen Menschenbildern neue Wege in zeichnete nackte Frauen von den Wän- der Kunst. Die Verwendung des traditions- den auf nackte Männer im Saal herunter- reichen Materials Holz und die schnelle, blicken. geradezu impressionistisch wirkende Ober- Anlässlich des 400. Geburtstags des flächenbehandlung seiner Skulpturen, an Schöpfers der Klever Gartenanlagen, Jo- der stets der schnelle Arbeitsvorgang ables- hann Moritz von Nassau-Siegen (1604– bar ist, waren Ende der 1990er-Jahre gleich- 1679), wurde Stephan Balkenhol abermals zeitig eine Rückbesinnung, aber auch eine angesprochen und schließlich vom Freun- Erneuerung. deskreis Museum Kurhaus und Koekkoek- Die Vier Männerakte auf Stämmen Haus Kleve e.V. beauftragt, das histori- (1998) stehen beispielhaft für sein Früh- sche, 1794 zerstörte Denkmal Eiserner Mann werk. Die imposante Installation gelang- durch eine Neuinterpretation zu ersetzen. te 1998 als Schenkung aus Privatbesitz Johann Moritz von Nassau-Siegen, in die Sammlung des Museum Kurhaus der 1648 vom Großen Kurfürsten zum Kleve und war seither immer wieder in Statthalter von Kleve berufen wurde, mach- wechselnden Präsentationen zu sehen. In te aus der Stadt eine Prachtresidenz mit der Ausstellung 1998 in Kleve kombi- imposanten Gartenanlagen, in denen er nierte Balkenhol persönlich eine zweite als Zeichen des Friedens altes Kriegsgerät Arbeit, Ohne Titel (1994; 4 mal 4 Tafelzeich- in Kunstwerke umwandeln ließ. So stand nungen auf Holz; ebenfalls eine Schen- in der Achse des sogenannten Amphithea- kung aus Privatbesitz), zu einem faszi- ters auf einer hohen Säule eine Rüstung nierenden neuen Ensemble, bei dem ge- mit Gesicht und einem Morgenstern in
Installationsansicht mkk, vorne Vier Männerakte auf Stämmen, 1998 [105] Installationsansicht mkk, hinten Ohne Titel, 1994 [106] 26 der Hand, ein Verweis auf den Kriegsgott plastiken, einen Mann in weißem Hemd Mars oder Ares, der als Hüter der barocken und schwarzer Hose, der nun als Zeichen Anlage gedacht war. Auf ihrem erhobenen der Wehrhaftigkeit lässig ein Schwert in Standpunkt außerhalb des Gartens blick- der rechten Hand hält. Damit ist der histo- te sie auf die ihr zugewandte Marmorfigur rische Zusammenhang wiederhergestellt der Göttin Minerva oder Pallas Athene des und gleichzeitig ein Wahrzeichen Kleves bedeutenden niederländischen Bildhau- entstanden. ers Artus Quellinus d. Ä. (1609–1668), die Das eindrucksvolle Relief mit vier Män- 1653 als Geschenk der Stadt Amsterdam nern, das 2022 aus Anlass der Jubiläumsaus- nach Kleve gelangte und als Schmuck für stellung »Schatzhaus und Labor. 25 Jahre die Gärten gedacht war. Museum Kurhaus Kleve« von der Samm- Solange sich Mann und Frau als lung Viehof in Mönchengladbach geliehen Äquivalent für Krieg und Weisheit ent- wird und ebensolche typischen Balkenhol- gegenblicken, so die barocke Vorstellung, Männer mit Hemd und Hose zeigt, ist eine sollte Frieden herrschen. Doch 1794 zer- perfekte Hommage an die Geschichte des störten französische Truppen bei ihrem Künstlers vor Ort in Kleve. [VV] Einmarsch in Kleve den Eisernen Mann. Ste- phan Balkenhol schuf in der Tradition die- ses barocken Denkmals eine Neuinterpre- tation, den Neuen Eisernen Mann. Anstelle der Figur in einer Rüstung platzierte er eine seiner charakteristischen Männer-
Relief mit vier Männern, 2015 [3]
Installationsansicht mkk Descending, 2014 [107] Untitled, 2014 [108] als Kettenraucher, das an die Malerei Phi- schichtet, indem zum Beispiel ein Ausstel- lip Gustons erinnert; eine braune Tür, die lungstitel »Ketchup as a Vegetable« heißt sich auf Ed Ruschas Schokoladenraum be- und damit auf einen absurden Skandal aus zieht; ein Stillleben, das an Paul Cézannes der amerikanischen Politik der Reagan-Ära paradigmatische Inszenierung von Äpfeln verweist. Um die Ausgaben für Mittagessen erinnert. Ein Bild muss dabei nicht not- an öffentlichen Schulen zu reduzieren, wendigerweise digital bearbeitet werden, wurde vorgeschlagen, Ketchup als Gemüse so ist die Arbeit The Chocolate Door (2013) zu definieren, womit man gleichzeitig die ein »objet trouvé« – Blalock hat es genau- vorgegebenen Nahrungsstandards hätte so übernommen, wie er es vorgefunden hat. einhalten können und dennoch Kosten ge- Nicht ohne Humor bedient sich Bla- spart hätte. Mit dieser Geschichte verweist lock bei zentralen Vorreitern aus der Kunst- Blalock auf die ständige Ausnutzung der geschichte, um auf ihr notwendiges Schei- ärmsten Schichten Amerikas zugunsten tern als Vertreter der Avantgarden hinzu- profitabler Renditen. Eine Tatsache, wel- weisen. Blalock veranschaulicht, dass ihr cher er nicht mit dem moralischen Zeige- Erfolg zwangsweise auch das Gegenteil mit finger begegnet, sondern deren Absurdität sich bringt: Anstelle sich gegen die Insti- er durch eine wörtliche Auslegung und da- tutionalisierung und Kommerzialisierung raus resultierender tragisch-komischer In- von Kunst zu richten, werden die bekann- szenierung vor Augen führt. ten avantgardistischen Positionen zum Theatralische Mittel werden nicht Inbegriff von beidem. Generell sind politi- nur in den Bildkompositionen eingesetzt sche Aspekte subtil über die Tableaux ge- mittels surrealistischer Objekte und ihrer 30 31 Installationsansicht mkk The Smoker, 2014 [109] Lucas Blalock Das Museum Kurhaus Kleve richtete 2019 schräge Tableaus, die an das Zusammen- die erste europäische Einzelausstellung treffen von Nähmaschine und Regenschirm des in New York lebenden Künstlers Lucas auf dem Seziertisch des Comte de Lautréa- Blalock aus (*1978 in Asheville, North Ca- mont erinnern. Das surrealistische Voka- rolina / USA). Blalock, der damals in Euro- bular wiederum setzt Blalock in Montagen pa noch nahezu unbekannt war und in den ein, die sich an die Arbeit von Bertolt Brecht Vereinigten Staaten gerade entdeckt wurde, anlehnen. Brecht entwickelte für seine Ver- gilt als Vertreter einer neuen innovativen fremdungseffekte verschiedene Hilfsmittel, Photographie. um die theatralische Illusion zu brechen In seinem Werk inszeniert der Künst- und die Aufmerksamkeit des Publikums ler Stillleben mit Hilfe von Esswaren, Plas- auf die sozialen und politischen Implika- tikflaschen und Handschuhen, die er pho- tionen seiner Stücke zu lenken. Blalock ar- tographiert und im Anschluss digital ma- beitet mit ähnlichen Strategien, indem er nipuliert. Dabei wird der Mechanismus die Konstruktion seiner Bilder offenlegt der virtuellen Intervention nicht vertuscht, und damit tragisch-komische Kompositio- sondern als bildnerische Komponente in nen schafft, die sich auf die Geschichte der seine Arbeiten integriert: Stempeln, klo- Kunst genauso beziehen wie auf die ameri- nen und retuschieren verwandeln seine Ar- kanische Konsumkultur und Politik. Seine rangements in Bilder, in denen analoge und Stillleben zeigen Ramsch aus Billigläden, digitale Elemente als gleichwertige Akteu- es sind Tiefpunkte der Warenwelt, mit de- re auftreten und interagieren. So schafft nen er die missratenen Seiten des Kapitalis- der Künstler mit einfachen Alltagsobjekten mus in den Fokus rückt. Ein Selbstporträt
Montage, sondern sind auch zentraler Kurhaus Kleve« handelt es sich um eine Teil seiner Installationen im Ausstellungs- Auswahl von drei Bildern aus einer Rei- raum. Die Photographie wird von Blalock he von insgesamt fünf Selbstporträts, die nicht als flaches Bild verstanden, sondern in kurzer Abfolge photographiert wurden. als ein Objekt mit Vorder- und Rückseite, Der Künstler zeigt sich als Schattenboxer, welches im Ausstellungsraum eine Posi- der mit einer Reihe von Vorgängern zu rin- tion und Pose einnehmen kann. So stehen gen scheint: Francis Bacon, Fischli/Weiss Bilder lapidar auf dem Boden, als ob sie und Alexander Calder tauchen aus der noch auf ihre definitive Hängung warten Vergangenheit auf und verweisen gleicher- würden. Oder sie werden so an einer Alu- maßen sowohl auf visuelle Möglichkei- miniumstellwand gehängt, dass ihre Rück- ten der physischen Verfremdung als auch seiten zu sehen sind, auf welchen sich wie- auf das Hervorheben von Eigenheiten mit- derum eigene Bilder in kleinerem Format tels Reduktion auf wesentliche körperliche befinden. Blalock nimmt für sich also eine Eigenschaften. [SF] Position der Solidarität mit den Avantgar- den ein, gleichwohl er sich der Problematik derselben bewusst ist. Die einzig mögliche Lösung ist für ihn in der Folge, das eigene, zwangsweise Scheitern zu seiner Inszenie- rung zu machen. Bei den Werken in der Ausstellung »Schatzraum und Labor. 25 Jahre Museum 32 Installationsansicht mkk Grand Dame, 2019 [110] Grand Attack, 2019 [111] 33 Grand Man, 2019 [112]
## 2 The Orphan (Darko), 2019 [6] # 11 Fox (Trapper), 2019 [5]
»Kunst ist dazu da, Sachen auszudenken machen einfach immer weiter und tun so, Installationsansicht mkk Eines Tages wird es soweit sein, 2010 [113] und nicht Wohnungen zu füllen«, sagt Bir- als würde um uns herum nichts passieren«, git Brenner (*1964 in Ulm), die wahrheits- sagt Brenner. gemäß bekennt, sich nicht mit dekorativen Mit ihren Kunstwerken thematisiert oder grundsätzlich positiven Themen be- Birgit Brenner unangenehme Universal- schäftigen zu wollen. Ihre Kunstwerke ent- themen wie gesellschaftliche und private stehen nah am Leben und handeln über ge- Zu- und Missstände, alltägliche Tristessen, sellschaftliche Beobachtungen. Die großen abstruse Selbstoptimierungszwänge oder Probleme unserer Zeit kommentiert sie durch Gefühle oder Ängste hervorgerufene, mit radikalen Werken voll beißender Iro- negativ konnotierte Assoziationsketten. nie. Ihre Bildsprache ist einfach, unmittel- Immer wieder geht es in ihren Arbeiten um bar und frech. Sie selbst sagt, dass sie »Bil- zwischenmenschliche Beziehungen bzw. der in die Welt wirft«, um die Konformität um Probleme zwischen Frauen und Män- und Eintönigkeit zu kommentieren. Dass nern. Diese interessieren sie nicht vorran- diese Bilder Veränderungen hervorrufen gig, ergeben sich jedoch automatisch aus können, daran glaubt sie aufrichtig. Dass den geltenden Machtverhältnissen. Dabei diese das Verhalten der Menschen nachhal- spielen antrainierte Verhaltensmuster eine tig verändern können, jedoch nicht. »Das Rolle, wie die Unterschätzung von Frauen wäre Sozialromantik«, kommentiert sie und Selbstüberschätzung von Männern. lakonisch. Die Gegenwart – mit ihrer Ober- 2013 nahm Birgit Brenner mit Eines flächlichkeit und Konsumbesessenheit, Tages wird es soweit sein (2010) an der Ausstel- mit der sie hadert – sieht sie kritisch. »Wir lung »The Present Order is the Disorder of Birgit Brenner 36 Installationsansicht mkk Eines Tages wird es soweit sein, 2010 [113] the Future« im Museum Kurhaus Kleve text informierte über den durch eine Schei- teil. Zu sehen war ein ca. sechs Meter hohes dung bedingten sozialen Abstieg, der erst Storyboard aus mehreren Ebenen und in gewalttätigen Neurosen und letztlich Materialien (u. a. mit Packband verklebte im Untergang des männlichen Protagonis- Pappen und Photographien), das wie ab- ten mündete. gestellt an die Wand gelehnt war. Zentral In einer Datei mit dem Titel Schöne war das riesenhafte Bild eines Rehs, das als Sätze sammelt Brenner markige Sprü- Zeichen der Unschuld fungierte, dicht ge- che, die sie im Alltag findet und die für folgt von der Abbildung einer gigantischen ihr Œuvre wichtig sind. Darin finden sich Rückseite eines nackten Mannes. Rätsel- Worte wie zum Beispiel »Schäm Dich«, hafte Motive und Slogans reihten sich an- »Selbst Schuld« oder »Übermüdung und einander, unter anderem die Wiedergabe Überdruss«, die wie Vorwürfe oder Resü- einer Waffensammlung, eines Ehepaars in mees klingen. Sie spielen auch in Standard einer Schaukel oder eines Pudels auf dem Run (2022) eine Rolle, ein mit Stop-Motion- Schoß eines Mannes. Sozialkritische Aus- Technik aus unzähligen Zeichnungen ani- sagen wie »Das Haus soll die Bank nicht miertes Video, das Brenner für die Aus- bekommen«, »Bank Owned«, immer wie- stellung »Schatzhaus und Labor. 25 Jahre der »Ich verstehe nicht« sowie zuletzt Museum Kurhaus Kleve« beigesteuert hat. »Mehr Sieg war nicht drin« ließen bei Be- Filme sind Brenners jüngste Ausdrucks- trachter*innen nichts Gutes erahnen und form, die sie erst seit 2019 erstellt und bei lösten multiple Gedankenspiele aus. Ein denen sie alles selbst fabriziert, von den abseits der Installation angebrachter Kurz- Zeichnungen über den Schnitt bis hin zum
Stop-Motion-Film Standard Run, 2022 [8] Stop-Motion-Film Standard Run, 2022 [8] 38 39 Stop-Motion-Film Standard Run, 2022 [8] Klang. Standard Run ist ein knapp 10-minü- In schnellen Schnitten aufeinander fol- tiges, aber intensives Panoptikum der Ge- gend werden Menschen gezeigt, weiblich genwart, das mit psychedelischem, spä- oder männlich, jung oder alt, die zum ter milderen Sound unterlegt ist, der eine Beispiel schauen oder schlafen (bzw. tot traurige Komponente hervorruft. Zu sehen sind?). Danach wieder Botschaften wie sind präzise gemalte, rasant hintereinan- GELD , LOB , MACHT , anschließend WARE , der geschnittene Aquarelle, die Menschen, MEHR , DINGE , schließlich ERSCHÖP- Umwelt und Botschaften zeigen. Filmisch FUNG , SPEKTAKEL , EREIGNIS . Die Wor- getrennt werden sie durch blutrote oder te BUY und EAT montieren sich, begleitet giftgrüne Einblendungen, die nur Milli- von einer hellen weiblichen Singstimme, sekunden zu sehen sind und die Konzen- zu BEAUTY . Pflanzen wachsen aus Töpfen trationskraft der Betrachter*innen bün- und verwelken. Zigaretten, Prostituierte, deln. Der Film beginnt mit einer Autofahrt industrielle Lebensmittel werden schnell zwischen einem Mann und einer Frau, die ein- und wieder ausgeblendet, begleitet sich nichts mehr zu sagen haben und teil- von unterschiedlichsten Menschen, die im- nahmslos nebeneinandersitzen. Der Mann mer wieder in die Hände klatschen – wohl weint blutrote Tränen. Entweder bild- angesichts des ausweglosen Kreislaufs, in füllend oder in comicartigen Sprechbla- dem sie sich befinden. [VV] sen erscheinen dicht aufeinander folgend vielsagende Mitteilungen: ROHSTOFFE , PRODUKTION , BEVÖLKERUNG , NAH- RUNG , MÜLL – danach brennt ein Haus.
Installationsansicht mkk Ohne Titel, beide 2010 [114] Membran, 2008 [115] Damaskus, 2009 [116] seine Erfahrungen mit dem Licht und der phorisches Äquivalent für architektoni- Landschaft während seiner Reisen durch sche Formen und natürliche Gegebenhei- die Wüste in Syrien. Nie waren die Farbfel- ten aus, so thematisiert Erben hier etwas der leichter und immaterieller, die Farb- an sich Unerreichbares, die optische Erfas- verläufe in den Randzonen ungreifbarer. sung von sich verflüchtigenden Flächen Die Farbfelder brillieren mit einer Leich- mit leicht changierenden Farben, deren tigkeit und scheinen sich vor dem Grund Grenzen sich aufzulösen scheinen und nur kaum sichtbar zu bewegen. Die Bilder wer- durch eine sehr konzentrierte und intensi- den bestimmt von einer neuartigen Pa- ve Beobachtung registriert werden können. lette zarter Farbtöne, die sich in geome- In den beiden Bildern Linear I. und trischen Formen begegnen und deren Linear II. (2022), mit denen Erben in der Aus- Nuancen kaum wahrnehmbar sind, so- stellung »Schatzhaus und Labor. 25 Jahre wie der erschöpfte, durstige Wanderer in Museum Kurhaus Kleve« vertreten ist, glie- der syrischen Wüste seine Umgebung sich dert eine exakt gezogene schwarze Linie das verflüchtigen sieht, das Licht in Wellen Bild jeweils in zwei gleiche Hälften. Hier- vibrierend. durch entstehen zwei identisch große Bild- Vor sieben Jahren begann Ulrich Er- räume, zwei Ebenen, eine untere und eine ben eine neue Werkgruppe mit dem Titel obere. Anders als die mit dem Menschen- »Festlegung des Unbegrenzten«. Drückten auge wahrgenommene Linie des Horizonts, die Bilder der »Farben der Erinnerung« die Land oder Wasser und Himmel trennt noch das Spezifische einer Landschaft, sei- und an keiner Stelle exakt ist und sich mit ner Farbigkeit und Stimmung als meta- dem Standpunkt der Betrachter*innen ver- 40 41 Installationsansicht mkk »Ulrich Erben: SIRIA . Erscheinung und Bewegung«, 2010 [117–121] Ulrich Erben In insgesamt vier Einzelausstellungen – Keine Künstlerin oder Künstler ist dem zwei im Haus Koekkoek, 1978 »Felder« und Klever Museum mehr und über einen län- 1988 »Klever Raum«, und zwei im Kurhaus, geren Zeitraum verbunden als er. Ulrich 1999 »Was ich sehe: Bilder aus Italien« Erben stand an der Quelle, als eine Ent- und 2010 »SIRIA « – wurden unterschied- scheidung über den Planer des Umbaus liche Etappen des Œuvre von Ulrich Er- des Kurhauses getroffen werden musste ben (*1940 in Düsseldorf) umfassend prä- und ebenso, als Simone und Heinz Acker- sentiert. Die Auseinandersetzung mit dem mans sich entschieden, ihre Sammlung Salon im Haus Koekkoek führte zu einem dem Museum Kurhaus Kleve als Leihgabe Farbfeldpanorama, das er in zwei Varian- zu überlassen. Auch in der Sammlung des ten erprobte (1988). Die Fassung, für die Museums ist er mit zahlreichen und be- er sich entschied, sollte das Fundament deutenden Arbeiten vertreten. Die frühes- bilden für die eindrucksvolle Werkreihe te Arbeit Ohne Titel / Weißes Bild stammt aus streng geometrisch strukturierter Bilder dem Jahr 1969, die spätesten sind drei Bil- unter der Klammer »Farben der Erinne- der aus der Serie Stratos (2003). Einen Hö- rung«. In diesen Bildern gehen die Farben hepunkt bilden die beiden Fassungen des einen Dialog ein, basierend auf dem spe- Klever Raums (1988), die von 1997 bis 2013 in zifischen Klang eines Ortes, der sich in den beiden spiegelbildlichen Balkonräu- der Erinnerung festsetzt und das Einma- men des Friedrich-Wilhelm-Bades instal- lige und Spezifische eines Ortes genauso liert waren. zu verkörpern vermag wie aus der Realität In der 2009 bis 2010 entstandenen entnommene Architekturformen. Werkgruppe »SIRIA« verarbeitete Erben
schiebt, teilt diese kalkulierte Linie das Bild Zonen des leichten Ockers verbinden sich in zwei unbewegliche Hälften. Die Linie als optisch zum Hintergrund, und die beiden Element einer horizontalen Gliederung nur einmal präsenten Streifen, eine graue findet sich in allen Phasen und Variatio- und eine orangefarbene, scheinen sich vor nen in Erbens Œuvre. Manchmal handelt diesem Grund zu bewegen. Die beiden es sich um eine mit der Hand gezogene Li- Bilder belegen einmal mehr Erbens uner- nie, oft um eine perfekte, mechanisch ge- schöpfliche Kraft, die Malerei in den engen zogene Linie, die auf unterschiedliche Grenzen von Linie und Farbe, von »Lust Weise die Bildwahrnehmung beeinflusst. und Kalkül«, wie er es selbst einmal nann- In Linear I. werden die beiden wie te, zu erneuern und weiterzuentwickeln. durchgehend grau wirkenden Bildhälf- Die horizontale Veranlagung dieser Bilder ten mit jeweils gleich breiten horizonta- hat seine Voraussetzungen in Bildern aus len Farbstreifen besetzt, die untere Rost- den 1970er-Jahren, ohne dass von einem rot, die obere Veroneser Grün. Die graue, Rückgriff gesprochen werden kann. Aus nach oben dunkler werdende Fläche wird diesen Bildern sprechen eine Selbstver- wie ein durchgehender Hintergrund wahr- ständlichkeit und Lässigkeit, die nur aus genommen. Die rostroten und Veroneser- einem Verständnis des Wesentlichen her- grünen Felder wirken wie Streifen, die sich vorgehen kann. [GdW] wie endlose Riegel auch über die Grenzen der Bildfläche fortsetzen. In Linear II. sind alle Farbfelder im oberen wie im unteren gleich groß. Die vier 42 43 Installationsansicht mkk Klever Raum II., 1988 [122]
Linear II., 2022 [10] Linear I., 2022 [9]
Installationsansicht mkk dizöt, 1996 [123] 2017/18 kehrte Pia Fries schließlich in das es sich um eine Reihe vom Himmel her- Museum Kurhaus Kleve zurück, um ihre abfallender Figuren, deren Motiv des Fal- neuesten Werke in einer Doppelpräsenta- lens durch wirbelnde Abwärtsbewegun- tion zu zeigen, »Hendrick Goltzius & Pia gen Pia Fries mit den Mitteln der Malerei Fries: Proteus & Polymorphia«. Dabei wur- und durch Aussparung und Beschränkung den die Werke des Altmeisters Hendrick steigert. Goltzius’ Körper hat sie dabei Goltzius (1558–1617) mit den zeitgenössi- nur partiell übertragen und mit Male- schen Malereien von Pia Fries erstmals ge- rei kombiniert. Einzelne Bereiche hat sie genübergestellt. Goltzius gilt als der wich- zu gänzlich neuen Bildfindungen entwi- tigste Kupferstecher der Niederlande und ckelt, Körperteile bildfüllend vergrößert als Wegbereiter des Goldenen Jahrhun- oder zur Nebensache verkleinert. Wäh- derts. Pia Fries zitiert, adaptiert und extra- rend Goltzius’ Figuren offensichtlich gen hiert aus Werken der Kunstgeschichte wie Boden stürzen, befinden sich Pia Fries’ Fal- beispielsweise von Maria Sibylla Merian, lende in einem schwebenden Zustand, in Stefano della Bella und Hendrick Goltzius. einem geradezu luftleeren Raum, ohne die Mit Hilfe des Siebdrucks integriert sie Aussicht, jemals einen Boden zu erreichen. Fragmente von Goltzius’ Kupferstichen auf Die Bildelemente sind mehrfach überein- ihren Bildträgern und hinterfragt und ak- andergelegt, um 45 oder 90 Grad in oder tualisiert gleichermaßen seine Bildaussage. gegen die eigene Achse gedreht, sie prallen Goltzius’ Werkgruppe der Himmels- gegen einen Bildrand oder verschwinden stürmer (1588) widmete Pia Fries einen gan- unter dickflüssigen Blöcken von Farbe. Aus zen Zyklus von Gemälden. Dabei handelt dieser Reihe war es dem Freundeskreis Mu- 46 Installationsansicht mkk rabius & riein (dizöt), beide 1996 [124] 47 Installationsansicht mkk »Hendrick Goltzius & Pia Fries: Proteus & Polymorphia«, 2017/18 [125–129] Pia Fries Eine Mischung aus kontrolliertem Puris- Zerlegungen und erneute Zusammensetz- mus und wuchernden Kräften begegnet ungen formieren sich zu komplexen Bild- uns in den Werken von Pia Fries (*1955 in inhalten. Beromünster / Schweiz). Mit den Mitteln Pia Fries ist mit dem Museum Kur- der Malerei betreibt Pia Fries eine immer haus Kleve weit über dessen Bestehen hin- wiederkehrende Reflexion und Erneue- aus verbunden. Sie stellte bereits im Städti- rung der zweidimensionalen Fläche und schen Museum in Kleve aus, als dieses noch des Eigenwerts der Farbe. Farbe model- im Haus Koekkoek (heute Stiftung Mu- liert sie in dicken Strängen mit Messern, seum B.C. Koekkoek-Haus) untergebracht Spachteln, Schabern, Rollen oder ande- war. Dort war sie 1992 Teil der Gruppen- ren Werkzeugen zu einer geradezu relief- ausstellung »Der Teppich des Lebens«, an artigen Landschaft aus Höhen und Tiefen. der unter anderen auch Katharina Fritsch Proportionen und Rhythmen, Harmonien und Hans Brändli teilgenommen haben. und zeitgleiche Disharmonien der Ver- Kurz nach der Eröffnung des Mu- hältnisse bestimmen ihre Bilder. Diese seum Kurhaus Kleve 1997 erhielt sie mit sind konzeptuell, aber keine ›Konzept- »Pia Fries: Malerei« als erste Künstlerin kunst‹; abstrakt, aber keine ›abstrakte eine Einzelausstellung, die im Anschluss Kunst‹, da die Künstlerin ihre Motive aus auch im Kunstverein Freiburg und im Aar- gegenständlichen Kontexten heraus ent- gauer Kunsthaus zu sehen war. 1999 prä- wickelt. Ihre Bilder besitzen mehrere Be- sentierte Harald Szeemann ihre Werke in deutungsebenen mit mehrschichtigen in- der Ausstellung »dAPERTutto« auf der haltlichen Referenzen. Fragmentierungen, 48. Biennale von Venedig.
Installationsansicht mkk corpus transludi A10, 2017 [130] quintopylon 1, 2020 [11] 48 seum Kurhaus und Koekkoek-Haus Kleve immer gleich ist. Einzig die langen Beine e.V. 2018 möglich, das Diptychon nemen / des mythologischen Helden erinnern an justis für die Sammlung des Museum Kur- die Vorlage. Pia Fries kreiert visuell anre- haus Kleve zu erwerben. gende Bildschöpfungen, die Lebendigkeit, Für »Schatzhaus und Labor. 25 Jahre Frische und Modernität besitzen und ganz Museum Kurhaus Kleve« 2022 stellt Pia im Hier und Jetzt verankert sind. [VV] Fries schließlich die fünfteilige Serie quin- topylon zur Verfügung, die einen der be- rühmtesten Kupferstiche von Goltzius zum Thema hat, den Herkules Farnese (1592). Da- bei vermeidet sie eine ganzfigurige Über- nahme im Maßstab 1:1, sondern konzen- triert sich ausschließlich auf den vermeint- lichen Schwerpunkt des mythologischen Heroen – die seitliche Stütze, über die er sein Löwenfell ablegt und seinen massi- gen Körper in der Achsel abstützt. Immer wieder löst sie diesen Ankerpunkt aus dem Rest des Bildes und ordnet ihn vertikal oder horizontal auf der Bildfläche an, um ihn schließlich mit Malerei zu verändern, wodurch er verfremdet wirkt, obwohl er
quintopylon 2, 2020 [12] quintopylon 3, 2020 [13]
quintopylon 4, 2020 [14] quintopylon 5, 2020 [15]
Die Skulpturen von Katharina Fritsch ven Vandalismus hervor, sodass ihre Arbeit Installationsansicht mkk Elefant, 1987 [132] (*1956 in Essen) sind präzise, aufwendig noch vor der Eröffnung der Ausstellung und symbolisch eindringlich, und sie ent- zerstört und durch einen Steinguss ersetzt stehen – nicht ohne eine Prise Humor und werden musste (der kurze Zeit später eben- Ironie – immer am Puls der Zeit. Ihre falls beschädigt wurde). Das kleinformati- machtvollen Werke sowohl voller Über- ge Multiple dieser Arbeit (Madonnenfigur) zeugungskraft als auch nüchterner Reali- befindet sich in der Sammlung des Muse- tät, die alle ansprechen und auf einer alltäg- um Kurhaus Kleve, wie auch weitere Mul- lichen, universalen Ebene funktionieren, tiples – unter anderem Pudel, Maus, Katze lösen beim Publikum eine Fülle von Asso- oder Gehirn. Die Werke fungieren wie uni- ziationen und Reaktionen aus. versell verständliche Urbilder, die den In- Ein Beispiel dafür ist Madonna von tellekt ebenso wie das Gefühl der Betrach- 1987, die gelbe Replik einer klassischen Ma- ter*innen ansprechen. Dementsprechend donnenfigur aus Lourdes, die Fritsch im hat Fritsch die Farbgebung der Skulptu- Rahmen ihrer Teilnahme an den »skulptur ren angepasst, die ebenfalls klar und deut- projekten münster« in einer Einkaufsstra- lich ist und ihren Arbeiten zusätzlich die ße in Münster platzierte – zwischen einem Anmutung von Zeichen verleiht. Dafür re- Kaufhaus und einer Kirche. Die quietsch- präsentativ ist ihr Weißes Bild in der Samm- gelbe lebensgroße Skulptur rief, in Kombi- lung des Museum Kurhaus Kleve, das zu nation mit dem provokanten Standort, der ihrer zweiten Serie der Bilder in acht Farben den Durchschnittsbürger*innen Kommerz gehört (1999–2002). Es zeigt beispielhaft und Kitsch augenscheinlich machte, massi- das Bestreben der Künstlerin, einen visuel- Katharina Fritsch 54 Weißes Bild, aus der zweiten Serie Acht Bilder mit acht Farben, 1999 –2002 [131] len Eindruck so sehr zu klären und zu ver- der eine überdimensionale schwarze Maus einfachen, dass er sich unauslöschlich ins auf der Brust eines in einem Bett liegenden, Bewusstsein der Betrachtenden einbrennt. ganz in Weiß gehaltenen Mannes sitzt, »Das Publikum«, sagt Fritsch, »sollte alle eine alptraumhafte Horrorvision. umfassen. Alle sollten sich meine Bilder an- Katharina Fritsch war bereits 1992 an sehen können, und ich glaube, dass sie auch der Gruppenausstellung »Der Teppich des von allen verstanden werden können.« Lebens« im Städtischen Museum in Kleve Fritsch’ Skulpturen sind zugleich beteiligt, als dieses noch im Haus Koekkoek klar und nüchtern wie irritierend, humo- untergebracht war und sich das Museum ristisch wie auch beängstigend. Sie weisen Kurhaus Kleve noch im Entstehen befand. stets eine Verbindung des Emblematischen Sie kuratierte die Ausstellung, zu deren mit dem Enigmatischen auf. Ihr schwarzer Titel sie sich von einem Gedicht von Ste- Pudel (1995) ist ein offensichtlich kleinbür- fan George inspirieren ließ. Vier Jahre lang, gerliches Parademotiv, das lustig und des- von der Eröffnung 1997 bis 2001, war ihr pektierlich wirkt, in der Installation Kind grüner Elefant (1987) im Klever Museum zu mit Pudeln (1995/96), das eine kreisrunde sehen. Dabei handelte es sich um die Abfor- Zusammenrottung von 224 Exemplaren mung eines mächtigen lebensgroßen Ele- schwarzer Hunde um ein in der Mitte lie- fanten im Museum König in Bonn. Fritsch gendes weißes Baby zeigt, jedoch höchst platzierte das Objekt auf einem hohen bedrohlich wirkt. Ihre Maus (1991–98) ist ovalen Sockel, von dem aus er regungslos putzig und niedlich, in der monumenta- und majestätisch auf Besucher*innen her- len Installation Mann und Maus (1992), bei abblickte. Nachdem das Kunstwerk viele
Jahre lang eingelagert war, bildet es 2022 Gebäude in Basel, das am internationalen Installationsansicht mkk Madonnenfigur, 1982 [133] auf der 59. Biennale von Venedig einen Hö- Frauentag 2021 von Vandal*innen mit rosa hepunkt. Farbe besprüht wurde, um sie ihrer Vulva- In der Ausstellung »Schatzhaus und Symbolik näherzubringen. Fritsch hatte ur- Labor. 25 Jahre Museum Kurhaus Kleve« sprünglich Rosa als Farbe vorgesehen, um sind zwei Werke der Künstlerin zu sehen: die erotische Konnotation zu unterstrei- Figur (schwarzer Kopf ) (2021) und Totenkopf chen. Da das vom Architekten jedoch abge- (1997/98). Die eindrucksvolle elegante Ar- lehnt wurde, entschied sie sich letztlich für beit Figur (schwarzer Kopf ) ist unten zylin- Giftgrün. Farben besitzen bei Fritsch einen drisch und nach oben hin gehend kegel- aussagekräftigen Charakter. Demzufolge förmig aufgebaut und besteht unter ande- kann die schwarzweiße Farbe bei Figur rem aus Kunststoff und Aluminium. 170 (schwarzer Kopf ) als versteckter Kommentar Zentimeter hoch und zusätzlich beeinflusst zu aktuellen Debatten wie beispielsweise durch den Titel, mutet sie an wie die Me- stereotypen Alltagsrassismus in Deutsch- tapher für einen Menschen mit Kopf und land gedeutet werden. [VV] Körper. Den Abschluss bildet eine schwarz- weiße Kaurischnecke (die auch Kaurimu- schel genannt wird), die Fritsch in ihren Arbeiten bereits öfters eingesetzt hat, zum Beispiel in Frau mit Hund (2004) oder Mu- schel (hellgrün) (2015), einer ca. drei Meter großen Installation an einem öffentlichen 56
Totenkopf, 1997–98 [17] Figur (schwarzer Kopf ), 2021 [16] 58
Basic Research, 1990 [134] miert die Abformung zum »Werk«. Nicht ter*innen mannigfaltigste Assoziationen der eigene kreative Akt wird zum Refe- hervorrufen (wie z. B. bei ihrer Installation renzpunkt ihrer Arbeit, sondern die vor- bei den »skulptur projekten münster« handenen, zum Teil winzigsten Spuren, 2007). Der Einsatz unterschiedlicher Ma- die vom Boden auf ihre Leinwand gelan- terialien charakterisiert ihr Werk, dessen gen. Die Frottage ist für sie das techni- Wahl durch seine Verfügbarkeit bestimmt sche Mittel, um die eigene kreative Gestal- wird sowie durch dessen Aufkommen und tung zu reduzieren. Indem sie Strukturen Prägung in der Welt. des Bodens übernimmt, kann sie nur ein- In der Ausstellung »Schatzhaus und geschränkt Einfluss auf das Ergebnis ih- Labor. 25 Jahre Museum Kurhaus Kleve« rer Bilder nehmen. Für sie vordergründig wird von Isa Genzken die Skulptur Dedicat- ausschlaggebend ist das Gegebene und ar- ed to the Statue of Liberty (2015) aus der Mön- chitektonisch Vorhandene, wodurch die chengladbacher Sammlung Viehof gezeigt, Werkgruppe Basic Research gewissermaßen die aus Gips, Farbe, Spiegelfolie, Kunst- von ihrer Einflussnahme abgekoppelt au- stoff und MDF besteht und eine eindrück- tomatisiert entsteht. liche Präsenz besitzt. Nicht ohne Sarkas- Isa Genzken analysiert Orte und Be- mus präsentiert uns Isa Genzken hier ihre gebenheiten, um Konsumgüter und Ge- Version der Freiheitsstatue, die als perfor- genstände des alltäglichen Gebrauchs zu mative Skulptur und Stellvertreterin für teils waghalsigen Konstellationen zu ar- die mit ihr assoziierten Werte und Ideo- rangieren und dadurch mit einer Neuco- logien fungiert. Die Arbeit ist auf eine rol- dierung zu hinterlegen, die bei Betrach- lende Unterlage montiert, wodurch sie, 60 61 Basic Research, 1990 [134] Isa Genzken Mit ihrem radikalen Erfindungsreichtum in Wahrheit den Boden ihres Ateliers. Da- und ihren komplexen Werken, die am Puls für breitete die Künstlerin eine grundierte der Zeit agieren, gehört Isa Genzken (*1948 Leinwand auf dem Untergrund aus, die sie in Bad Oldesloe) zu den unkonventionells- anschließend auf der Rückseite mit einer ten Künstlerinnen der Gegenwart. Sie ig- Rakel bearbeitete, wodurch ein Abdruck noriert klassische Gattungen und kre- der Bodenfläche mitsamt ihrer Unebenhei- iert mit Fragen zum Verhältnis von Raum, ten und Strukturen entstand. Erst im An- Standort und Betrachtung neue Sinnzu- schluss spannte sie den Malgrund auf, wo- sammenhänge. Ihre einzige Kontinuität durch die aufgetragene Ölfarbe verlief und ist es, nie auf Linearität zu setzen und ihre mitunter über die Kanten floss. Mit diesen künstlerische Praxis regelmäßig zu verän- simplen Mitteln der Frottage erstellte sie dern. Im Jahr 2000 erwarb der damalige ein monochromes Motiv, das bei Betrach- Direktor des Museum Kurhaus Kleve, Gui- ter*innen regelmäßig unterschiedlichs- do de Werd, für die Sammlung die beiden te Assoziationen hervorruft, die von nah- eindrucksvollen Werke Basic Research (1990), ansichtigen Gewebestrukturen bis hin zu die seither fester Bestandteil nahezu jeder monumentalen Oberflächen einer Mond- Sammlungspräsentation sind. landschaft reichen. Mit der Serie Basic Research beschäf- Durch die Einbeziehung ihres Ate- tigte sich die Künstlerin intensiv zwischen lierbodens thematisiert Isa Genzken das den Jahren 1988 und 1993. Auf den ers- Verhältnis von Vorlage und Abdruck. Da- ten Blick wie Photographien eines frem- bei betreibt sie keine bloße Reproduktion den Planeten anmutend, zeigen die Werke einer konkreten Fläche, sondern transfor-
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