Schatzhaus und Labor - Stadt Kleve

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Schatzhaus und Labor - Stadt Kleve
Schatzhaus
und Labor
Schatzhaus und Labor - Stadt Kleve
12    John            Akomfrah                                        Schatzhaus
18    Carl            Andre                                       und Labor
      24      Stephan          Balkenhol
      30      Lucas            Blalock
      36      Birgit           Brenner                       25 Jahre
40    Ulrich          Erben                                  Museum Kurhaus
      46      Pia              Fries                         Kleve
      54      Katharina        Fritsch
60    Isa             Genzken
64    Yann            Gerstberger              1997 – 2022
68    Franz           Gertsch
      72      Franka           Hörnschemeyer
      76      Axel             Hütte
82    Cristina        Iglesias
86    Robert          Indiana
      92      Via              Lewandowsky
      96      Richard          Long
102   Mario           Merz
108   Ragen           Moss
      112     Giuseppe         Penone
      118     Stephen          Prina
124   Thomas          Ruff
      130     Michael          Sailstorfer
      136     Pietro           Sanguineti
      140     Andreas          Schmitten
      146     Gregor           Schneider
      152     Thomas           Schütte
      158     Haim             Steinbach
164   Paloma          Varga Weisz
170           Johannes         Wald
Schatzhaus und Labor - Stadt Kleve
Bekanntlich bilden Jubiläen und Jahrestage seit jeher und in allen
                                          Lebenslagen den willkommenen Anlass für üppige Bilanzen und zu-
                                          kunftsfrohe Ausblicke. Das ist bei Museen nicht anders als bei Men-
                                          schen, und deshalb erklärt es sich gewissermaßen von selbst, dass das
                                          Museum Kurhaus Kleve im 25. Jahr seines Bestehens mit einer groß
                                          angelegten Ausstellung aufwartet, die dem Publikum die Spitzen des
                                          bisher beschrittenen Weges gleichermaßen wie künftige Horizonte
                                          vor Augen führen möchte. Der dafür gewählte Titel »Schatzhaus und
                                          Labor. 25 Jahre Museum Kurhaus Kleve« zielt denn auch genau auf
                                          diese doppelte Ausrichtung: zum einen nämlich, ein Ort des Sam-
                                          melns, Bewahrens und Erforschens zu sein, und zum anderen, aktiv
                                          teilzuhaben am produktiven und diskursiven Gestus der Gegenwart.
                                          Aus dieser Disposition heraus entwickelte sich dann im Zusammen-
                                          wirken eines kuratorischen Dreigestirns ein Ausstellungskonzept,
                                          dessen Konturen und Hintergründe im Folgenden kurz erläutert
                                          werden, über dessen Einlösung aber wie immer erst die tatsächliche
                                          Wahrnehmung der künstlerischen Arbeiten vor Ort entscheiden wird.
Schatzhaus und Labor.                 5
                                                    Zunächst stellte sich die Frage der zeitlich-inhaltlichen Be-
                                          zugnahme. Zwar ist es völlig unstrittig, dass das Museum Kurhaus
      25 Jahre Museum Kurhaus Kleve       Kleve – Ewald Mataré-Sammlung im April 1997 eröffnet wurde, aber
                                          schon ein summarischer Blick auf seine exemplarischen Bestände
                                          und die damit verbundenen Provenienzen macht deutlich, dass die
                                          historischen Wurzeln viel tiefer reichen. Ohne hier ins Detail zu ge-
                                          hen, seien Pars pro Toto erwähnt: die singulären Werke spätgotischer
                                          Skulptur, die reichen Bestände barocker Zeichnung und Graphik, der
                                          essenzielle und namensstiftende künstlerische Nachlass von Ewald
                                          Mataré oder das fragile Frühwerk von Joseph Beuys. Das alles hätte
                                          mit Fug und Recht in einer Jubiläumsausstellung gezeigt werden
                                          können, und die begleitenden Sammlungskontexte etwa der Grafen
                                          und Herzöge von Kleve, des brandenburgischen Statthalters Johann
                                          Moritz von Nassau-Siegen oder des Städtischen Museums Haus Koek-
                                          koek als unmittelbare Vorgängereinrichtung hätten eine stupende
                                          Materialfülle im Sinne von Fundamenten für das heutige Museum
                                          Kurhaus Kleve bilden können. Gleichwohl wurde davon program-
                                          matisch Abstand genommen; zum einen, weil sich bereits vorange-
                                          gangene Ausstellungsprojekte diesen Themen gewidmet haben, zum
                                          anderen aber und vor allem, weil die erstrebte Wechselwirkung zwi-
Harald Kunde                              schen Vergangenem und Gegenwärtigem, ja Kommendem zweifellos
Schatzhaus und Labor - Stadt Kleve
nur in den Arbeiten heute lebender Künstlerinnen und Künstler reali-           zu zeigen, um solcherart auch den Radius der jeweiligen Künstlerper-
    siert werden kann. Von dieser Gewissheit ausgehend, entwickelte sich           sönlichkeit anzudeuten und einen fulminanten Fundus produktiver
    eine Wunschliste von 25 Positionen, die dem Haus während seines                Biographien zu versammeln. Dass zudem gerade die speziell für kon-
    25-jährigen Bestehens durch gewichtige Ausstellungen oder Erwer-               krete Räume geschaffenen Skulpturen und Installationen den Labor-
    bungen besonders eng verbunden waren und noch sind, sowie eine                 Charakter der Gegenwart atmen, war gewollt und wirkt einer falsch
    weitere Liste von fünf Positionen, deren Arbeiten speziell für diesen          verstandenen Musealisierung erfrischend entgegen.
    Anlass produziert beziehungsweise ausgewählt wurden. Das bedeutet                         Gemeinhin bieten Jubiläen wie diese, jedenfalls bisher, den
    auch, dass viele andere Positionen leider nicht berücksichtigt werden          Anlass zu ungetrübter Freude. Seit aber nun sogar in der Politik von
    konnten und dass die letztlich getroffene Auswahl, von subjektiven             einer Zeitenwende gesprochen wird, bestätigt sich das unabweisbare
    und pragmatischen Aspekten einmal abgesehen, bei aller Vielschich-             Gespür für die Endzeitlichkeit der anthropozänen Epoche, das wa-
    tigkeit doch immer nur als momentgeprägter Bruchteil der Totalität             che Künstlerinnen und Künstler seit Langem umtreibt. Das Wissen
    des Möglichen zu verstehen ist.                                                um die Fragilität der menschlichen Existenz angesichts von sozia-
               Die Ausstellung »Schatzhaus und Labor« umfasst also ins-            len, kriegerischen, ökologischen, pandemischen Katastrophen grun-
    gesamt 30 Künstlerinnen und Künstler, die ihre Ideen, Irritationen             diert deshalb mehr oder weniger auch jede der gezeigten Arbeiten
    und Energien zu einem Parcours vereinen, der brachial und verhal-              mit der Patina der Reflexion. Das schließt Zuversicht keineswegs aus
    ten, vielschichtig und berührend zugleich von den Schönheiten und              und mündet bestenfalls in dem klugen Ausspruch Gerhard Richters,
    den Zumutungen heutigen In-der-Welt-Seins erzählt. Es sind viele               die Produktion von Kunst sei die höchste Form der Hoffnung. Aber
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    berühmte Namen darunter und neue Entdeckungen, alte Meister und            7
                                                                                   es schließt Fanatismus, Intoleranz und Dominanz-Gebaren jeglicher
    junge Genien, öffentlich Lehrende und Atelier-Eremiten, Weltnoma-              Couleur ebenso entschieden aus wie einen ignoranten Optimismus
    den und sesshaft Besitzende. Wer sich die Namensliste genauer an-              des Immer-Weiter-So. Insofern verstehen sich die hier versammelten
    schaut, wird unschwer noch immer ein Übergewicht an männlichen                 Künstlerinnen und Künstler durchaus als Mutmacher in finsterer Zeit,
    Positionen bemerken. Das ist der Geschichte der vergangenen Aus-               deren Haltungen und Potenziale uns alle daran erinnern, weshalb es
    stellungspraxis ebenso geschuldet wie dem Umstand, dass viele jün-             Kunst – und vielleicht auch Museen – überhaupt gibt. In ihrem viel-
    gere weibliche Positionen gerade in den letzten Jahren zwar gezeigt            stimmigen Zusammentreffen lassen sie uns teilhaben an der Kraft ih-
    wurden, aber sehr oft im Rahmen von thematischen Gruppenausstel-               rer Erzählungen, Erinnerungen und Entwürfe, und sie artikulieren
    lungen, deren vergleichsweise hohe Teilnehmerzahl das jetzige Kon-             bei aller gebotenen Skepsis die Hoffnung auf doch noch mögliche Al-
    zept von 25 plus 5 gesprengt hätte. Ebenso ins Auge fällt bei der Aus-         ternativen zur Barbarei.
    wahl die starke Dominanz europäischer Künstlerinnen und Künstler,                         Damit ein solch wichtiges Jubiläumsprojekt realisiert wer-
    was keineswegs der Ignoranz gegenüber dem »Globalen Süden« ge-                 den kann, bedarf es der Mithilfe, Förderung und Unterstützung von
    schuldet ist, sondern auch diesmal als Spiegel des Selbstverständnis-          Menschen und Institutionen aus sehr unterschiedlichen Bereichen.
    ses fungiert: Das Museum Kurhaus Kleve konnte und kann auch künf-              Da wäre zuerst der Kunstbereich im engeren Sinne zu nennen: Alle
    tig nicht mit dem Anspruch etwa einer documenta, einer Manifesta               angefragten Künstlerinnen und Künstler sowie die mit ihnen koope-
    oder der zahlreichen Biennalen konkurrieren, sondern es bleibt ein             rierenden Galerien und Sammlungen haben das Unterfangen von Be-
    städtisches Haus mit internationaler Ausrichtung und regionaler Ver-           ginn an mit großem Enthusiasmus und zielführender Professiona-
    ankerung. Eingedenk dieser Prämissen war klar, dass die letztliche             lität unterstützt und getragen; dafür geht ein riesengroßer Dank an
    Auswahl sich grundsätzlich am Vermögen höchster künstlerischer In-             alle Beteiligten. Finanziell ermöglicht wurden Ausstellung und Ka-
    tensität und radikaler Ausdrucks-Präzision orientiert. Darüber hin-            talog durch die großzügige Förderung des Ministeriums für Wissen-
    aus ging das Bestreben dahin, wo immer möglich aktuelle Arbeiten               schaft und Kunst des Landes NRW, durch den verlässlichen Haushalt

                                                        Schatzhaus und Labor
Schatzhaus und Labor - Stadt Kleve
der Stadt Kleve und durch die bewährte Unterstützung des Freundes-            Blick vom Barockgarten auf das Museum Kurhaus Kleve
    kreises der Klever Museen. Dafür geht ein ebenso umfassender Dank
    an alle Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in den Entscheidungsgre-
    mien, in der Verwaltung und im ehrenamtlichen Vorstand des Freun-
    deskreises. Das gesamte Team des Museum Kurhaus Kleve hat auch bei
    diesem Projekt Außerordentliches geleistet und einmal mehr den her-
    vorragenden Ruf unter Beweis gestellt, der in den zurückliegenden
    25 Jahren erworben werden konnte und der auch künftig als verpflich-
    tender Anspruch gilt. Namentlich erwähnt seien hier die Kuratorin-
    nen Susanne Figner und Valentina Vlašić , die neben den enormen
    Herausforderungen der Organisation Kraft und Zeit für die Textar-
    beit fanden und so im Zusammenwirken mit Gründungsdirektor
    Guido de Werd und mir dafür sorgten, dass ein facettenreiches Kom-
    pendium in Buchform die Ausstellung begleitet. Ebenso sei an dieser
    Stelle der wissenschaftlichen Volontärin Julia Moebus-Puck für ihren
    zweijährigen Einsatz in Bezug auf das Richard-Long-Archiv gedankt,
    das von ihr akribisch erforscht wurde und das nun als spezieller As-
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    pekt im Rahmen von »Schatzhaus und Labor« als living archive präsen-      9
    tiert werden kann. Ein großer Dank geht wie immer an die technische
    Abteilung von Wilhelm Dückerhoff und Norbert van Appeldorn, an
    die logistische Zentrale des Sekretariats von Hiltrud Gorissen sowie
    an alle Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter im Empfangsbereich, bei
    den Aufsichten und bei den externen Aufbauhelfern. Ohne ihr enga-
    giertes und teamorientiertes Zusammenwirken gäbe es weder die-
    se Ausstellung noch das Haus selbst: auch hier ein herzlicher Dank
    an alle! Abschließend sei noch auf die Katalog-Gestaltung von Ingo
    Offermanns, die Lithographie von Henning Krause und das Lektorat
    von Ines Dickmann verwiesen. Durch ihre beglückende Professiona-
    lität konnte eine Publikation realisiert werden, die der Ausstellung
    weit über ihre eigentliche Laufzeit hinaus eine profunde Anschaulich-
    keit verleiht und die vielleicht einmal dem 50. Jubiläum des MKK als
    legendäre Referenz dienen könnte.

                                                       Schatzhaus und Labor
Schatzhaus und Labor - Stadt Kleve
Michael Sailstorfer, Mückenhaus, 2012   [97]

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Schatzhaus und Labor - Stadt Kleve
Installationsansicht mkk Purple, 2017   [98]        gungen, die aus Found-Footage-Material         tiven. Dass damit immer auch der kultu-
                                                                                                              montiert wurden, trafen auf epische Land-      relle Reichtum, die Magie und Mythologie
                                                                                                              schaftspanoramen etwa des arktischen           der indigenen und afrikanischen Diaspo-
                                                                                                              Grönland oder der polynesischen Marque-        ra thematisiert werden, gehört bei Akom-
                                                                                                              sas-Inseln. Überschwemmungen, Orkane,          frah als einem Gründungsmitglied des ein-
                                                                                                              Feuersbrünste wurden mit Ballettszenen,        flussreichen Black Audio Film Collectives
                                                                                                              Kammermusik und singenden Kindern              (seit 1982 in London, gemeinsam mit Da-
                                                                                                              kontrastiert, Laborversuche und Massen-        vid Lawson und Lina Gopaul) von Beginn
                                                                                                              tierhaltung trafen unvermittelt auf vor-       an zur Programmatik.
                                                                                                              überziehende Vogelschwärme und weite                  In der Ausstellung »Schatzhaus und
                                                                                                              Himmel, umjubelte Politikerparaden stie-       Labor. 25 Jahre Museum Kurhaus Kleve« ist
                                                                                                              ßen auf Bikini-Atoll-Atompilze und ma-         John Akomfrah mit der medienreflexiven
                                                                                                              rodierende Kriegstruppen. Kurzum: Das          3-Kanal-Video-Installation Psyche (2012) ver-
                                                                                                              Prinzip der simultanen Montage und der         treten. Diese eröffnet signifikante Einbli-
                                                                                                              harten Schnitte erwies sich einmal mehr        cke in sein persönliches Referenzsystem
                                                                                                              als probates Mittel, um den Wahnsinn und       und montiert filmische Fragmente etwa
                                                                                                              die Spannbreite heutiger Welterfahrung         von Kenneth Macphersons Arbeit Border-
                                                                                                              zur Anschauung zu bringen. Das Ergeb-          line (1930), Carl Theodor Dreyers The Pas-
                                                                                                              nis war geprägt von kaleidoskopischem          sion of Joan of Arc (1928) oder von Sergei Ei-
                                                                                                              Weitblick, der die Begrenztheit der indivi-    sensteins Panzerkreuzer Potemkin (1930) zu
                                                                                                              duellen Erinnerung aufbricht zugunsten         einem Archiv der seither verfolgten Stra-
                                                                                                              einer Totalität gleichberechtigter Perspek-    tegien und Paradigmen. Besonderes Ge-

12                                                                                                       13                                                 Installationsansicht mkk Purple, 2017   [98]

John Akomfrah
            Die Arbeiten des britischen Künstlers, Fil-    Video-Projektion Purple (2017, zu sehen vom
            memachers und Autors John Akomfrah             13. März bis 6. September 2020). Er entwi-
            (*1957 in Accra / Ghana) zeichnen sich         ckelte dabei einen Bild-Sog, der in ein-
            durch bildmächtige Recherchen zum Post-        dringlichen Sequenzen und hypnotischen
            kolonialismus, zu Erfahrungen im Um-           Soundschleifen Aspekte des Klimawandels
            feld globaler Migration und durch Medita-      und dessen Auswirkungen auf mensch-
            tionen über die weltweite ökologische Zer-     liche Gesellschaften untersuchte. Im Sinne
            störung aus. Sie weisen komplexe simulta-      eines audiovisuellen Assoziationsstroms
            ne Erzählstrukturen auf, die den Fundus        wurde die Geschichte der Industrialisie-
            kollektiver Erinnerungen befragen und in       rung der Moderne mit qualmenden Fabrik-
            der schichtweisen Überblendung von Ar-         schloten, schuftenden Bergarbeitern und
            chivmaterial, eigenen Aufnahmen, Natur-        rasender Fließbandproduktion ebenso vor
            panoramen und strukturierendem Sound           Augen geführt wie die damit verbundenen
            höchste Wahrnehmungsintensitäten erzeu-        Errungenschaften für größere Schichten
            gen. Sie sind gleichermaßen von suggesti-      der westlichen weißen Bevölkerung. Im
            ver Schönheit und von tiefer Melancholie       Modus des reflektierenden Schauens wur-
            geprägt und verstehen sich als filmische       de zugleich auf die Verheerungen, Vergif-
            Antworten auf die Epoche des Anthro-           tungen und Verseuchungen verwiesen, de-
            pozäns.                                        nen Meere, Landschaften und Städte in
                  Im Museum Kurhaus Kleve zeigte           rasant steigendem Maße ausgesetzt sind.
            John Akomfrah im ersten Jahr der Corona-       Menschliche Grunderfahrungen wie Ge-
            Pandemie 2020 die einstündige 6-Kanal-         burtsszenen, Krankenpflege und Beerdi-
Schatzhaus und Labor - Stadt Kleve
wicht wird dabei auf die Ausdruckskraft
des menschlichen Gesichts gelegt, das als
Spiegel seelischer Seins-Zustände ebenso
fungiert wie als Metapher historischer Zu-
spitzungen. So gelten beispielsweise die
zerschossenen Brillengläser der Kranken-
schwester auf der Freitreppe von Odessa
weithin als filmischer Kulminationspunkt
des damaligen Matrosenaufstandes der
Potemkin gegen die zaristischen Macht-
verhältnisse, und genau nach solchen sin-
gulären Bild-Verdichtungen fahndet John
Akomfrah in dieser Hommage an seine An-
reger, um sie letztlich in seine eigenen spä-
teren Erzählungen produktiv zu transfor-
mieren. [HK]

14                                              15   Installationsansicht mkk Purple, 2017   [98]
Schatzhaus und Labor - Stadt Kleve
Psyche, 2012   [1]
Schatzhaus und Labor - Stadt Kleve
Installationsansicht mkk Inner Piece, 1983   [99]         schrift spürbar. Später sollte er diese flache   gesetzt hat. Schon bald galt Andre als einer
                                                                                                              Bodenarbeiten Zones nennen. 75 Jahre, nach-      der wichtigsten Künstler seiner Generation
                                                                                                              dem August Rodin seine Bürger von Calais         und der Minimal Art.
                                                                                                              ohne Sockel auf den Boden stellte, revo-                In Andres Einzelausstellung im Mu-
                                                                                                              lutionierte Andre noch einmal den Begriff        seum Kurhaus Kleve 2011 besetzte die mehr
                                                                                                              von Skulptur.                                    als dreißig Meter lange Arbeit Thrones
                                                                                                                      Carl Andre fand erst spät zur Kunst.     (1978) aus alternativ horizontal und ver-
                                                                                                              Durch die Vorbildung seiner Mutter gin-          tikal aufgestellten Bohlen aus Douglasie
                                                                                                              gen seine Interessen zunächst in die Rich-       (jede 30 · 30 · 91 cm) die Wandelhalle und
                                                                                                              tung der Dichtkunst. Es entstanden Ge-           machte auf eindrucksvolle Weise das Spezi-
                                                                                                              dichte, die als serielle Wortanordnungen         fische des Raumes spürbar. Die Installation
                                                                                                              angelegt waren, mit denen er sich zeitle-        wirkte wie für die Wandelhalle gemacht.
                                                                                                              bens beschäftigte und die einen wichtigen        Tatsächlich handelte es sich um eine mehr
                                                                                                              Beitrag zur Minimal-Poesie bilden. Von           als dreißig Jahre alte, ursprünglich für
                                                                                                              hier aus war der Schritt zur Skulptur nicht      eine Ausstellung in Chicago entstandene
                                                                                                              weit, 1967 entstanden seine ersten lock-         Arbeit. Carl Andre betrachtete seine Kunst-
                                                                                                              pieces, Skulpturen, die aus Einzelteilen zu-     werke als Schnitt in den Raum. Er wurde
                                                                                                              sammengebaut werden konnten, wobei es            zu zahllosen Ausstellungen eingeladen
                                                                                                              sich meistens um Kleinplastiken aus Holz         und schuf Werke, die nach Maß, Größe
                                                                                                              handelte. Deutlich wird hier der Einfluss        und Umfang für den jeweiligen Ort kon-
                                                                                                              von Constantin Brancusi, mit dessen »End-        zipiert waren, für Innenräume ebenso wie
                                                                                                              loser Säule« Andre sich lange auseinander-       für Außenräume. So schuf er für die docu-

18                                                                                                       19                                         Installationsansicht mkk Copper Ribbon, 1969   [100]

Carl Andre
             In seinem Ausstellungsprogramm hat das       dorfer Neubrückstraße 12, änderte Andre
             Museum Kurhaus Kleve dem Werk von            seine Pläne und entwarf mit dem Titel
             Carl Andre (*1935 Quincy, Mass. / USA),      Ontologische Plastik eine Bodenskulptur,
             dem Pionier der Minimal Art, zwei Mal        die aus fünf Reihen von zwanzig quadra-
             große Aufmerksamkeit gewidmet: zum           tischen Stahlplatten bestand, die zu einer
             ersten Mal 2010 bei »Von Carl Andre bis      Fläche zusammengelegt wurden: Altstadt
             Gregor Schneider. Dorothee und Konrad        Rectangle. Gäste der Vernissage fragten sich
             Fischer: Archiv einer Haltung« und da-       verwundert, wo sich denn das Exponat von
             nach 2011 in einer großen Einzelausstel-     Andre befand, als sie, ohne es zu bemerken,
             lung, die von den deutschen Kunstkriti-      über die flache, nur einen Zentimeter hohe
             kern der AICA als »besondere Ausstellung     Bodenskulptur aus quadratischen Platten
             des Jahres 2011« ausgezeichnet wurde.        gingen. In dieser Arbeit waren bereits alle
                   Mit dem Werk von Carl Andre hatte      Aspekte der Kunst Carl Andres intendiert:
             Konrad Fischer im November 1967 seine        Die Skulptur war auf Zeit angelegt, sie
             legendäre Galerie eröffnet. Fischer und      war anonym, ohne jede Handschrift. Besu-
             Andre wurden durch diese Ausstellung         cher*innen konnten diese ohne Bedenken
             schlagartig bekannt. Als Andre mit dem       betreten. Spuren des Gehens fügten sich
             Flugzeug anreiste, hatte er nur eine Skiz-   in das Werk ein, Verschleiß und Vergäng-
             ze des Grundrisses der Galerie bei sich      lichkeit waren von Andre mitgedacht. Au-
             und stellte sich vor, eine Arbeit entlang    ßerdem erreichte der Künstler durch die
             der Wände zu installieren. Vor Ort, in dem   vorgefertigten Stahlplatten eine völlige
             schmalen Raum der Galerie in der Düssel-     Anonymität. Nirgendwo ist seine Hand-
menta 7 1982 die Arbeit Steel peneplain / Exo-   die Handschrift eines Künstlers wohl nicht                                                       Installationsansicht mkk 44 Roaring Forties, 2000   [102]
dierende Stahlfläche, eine Bodenarbeit von       vermitteln als in dieser Arbeit mit Gasbe-
300 Kupferplatten von 100 · 100 · 1 cm, ge-      tonblöcken, einem preiswerten und leich-
legt in vier Reihen mit einer Länge von 75       ten Baumaterial. In solchen Arbeiten zeigt
Metern. Er verarbeitete für seine Skulptu-       Carl Andre, was seine Plastik ist: nüchtern,
ren industriell vorgefertigte Materialien        leise, und präsent. [GdW]
wie Ziegelsteine, Granitblöcke, Holzboh-
len, Kreidestücke, aber auch Stahl-, Kup-
fer-, Aluminium-, Blei-, Zink und Magnesi-
umplatten sowie dreidimensionale Blöcke.
       In der Ausstellung »Schatzhaus und
Labor. 25 Jahre Museum Kurhaus Kleve«
ist Andre mit der Arbeit Outer Piece (Dijon,
1983) vertreten. Sie wurde bereits in Andres
Einzelausstellung 2011 zusammen mit Inner
Piece (Dijon 1983) gezeigt und kehrt nun
nach Kleve zurück. Sie besteht aus 61 Gas-
betonblöcken von jeweils 20 · 20 · 75 cm.
Die Skulptur ist zwei Quadrate breit und
sieben tief, an den Ecken sind die Blöcke je-
weils vertikal aufgestellt. Insgesamt misst
sie 75 · 210 · 685 cm. Anonymer lässt sich

20                                                                                          Installationsansicht mkk Thrones, 1978   [101]   21
Outer Piece, 1983   [2]
Kaum eine Künstlerin oder ein Künstler           logisierenden Intention und sind »ohne                               Installationsansicht mkk Drei Hühner auf einer Schraube, 1997   [104]
             prägt das direkte Umfeld des Museum Kur-         oberflächliche Geschwätzigkeit«, wie es
             haus Kleve mehr als Stephan Balkenhol            der Künstler selbst von ihnen sagt.
             (*1957 in Fritzlar), dessen Neuer Eiserner              Heute ist Balkenhol ein fester Be-
             Mann den an das Kurhaus angrenzenden             griff in der deutschen Kunstszene. Seit Jah-
             Barockgarten seit 2004 maßgeblich defi-          ren unterrichtet er an der Akademie der
             niert. Stephan Balkenhol gehört zu den           Bildenden Künste in Karlsruhe. Damals –
             angesehensten deutschen Bildhauern der           kurz nach der Eröffnung des Museum Kur-
             Gegenwart, dessen Werke allerorten ver-          haus Kleve am 18. April 1997 – stand er am
             treten sind. Zu erwähnen seien nur bei-          Anfang seiner Karriere. 1998 zeigte das Kle-
             spielhaft sein Großer Mann mit kleinem           ver Museum in Kooperation mit dem Von
             Mann (1997) im Palais am Pariser Platz in        der Heydt-Museum in Wuppertal die Aus-
             Berlin, seine Männer auf Bojen (1993/2021)       stellung »Stephan Balkenhol: Skulpturen«,
             in den Hamburger Alster Kanälen, seine           die sowohl in Deutschland als auch in den
             Sphaera (2007) in Salzburg oder sein Tor-        Niederlanden großen Anklang fand und
             so Sempre più (2009) im Caesarenforum in         den Beginn einer intensiven Beschäfti-
             Rom. Seine Figuren sind Faszinosa: Wie           gung des Museums mit seinem Werk bil-
             zufällig tauchen sie an Kunst- und Nicht-        dete. In einer Zeit, als die abstrakte mini-
             Kunstorten auf und erscheinen alltäglich,        malistische Skulptur unter anderen seines
             aber lässig, trivial, aber angenehm neu-         Lehrers Ulrich Rückriem dem Zeitgeist
             tral, stets nichts-, aber doch vielsagend. Sie   entsprach, eröffnete Balkenhol mit seinen
             folgen keiner erzählerischen oder psycho-        leger wirkenden, aus dem Alltag herausge-

Stephan Balkenhol                                                                                      24

                                                                        Neuer Eiserner Mann, 2004   [103]

                                                                                                             griffenen Menschenbildern neue Wege in          zeichnete nackte Frauen von den Wän-
                                                                                                             der Kunst. Die Verwendung des traditions-       den auf nackte Männer im Saal herunter-
                                                                                                             reichen Materials Holz und die schnelle,        blicken.
                                                                                                             geradezu impressionistisch wirkende Ober-              Anlässlich des 400. Geburtstags des
                                                                                                             flächenbehandlung seiner Skulpturen, an         Schöpfers der Klever Gartenanlagen, Jo-
                                                                                                             der stets der schnelle Arbeitsvorgang ables-    hann Moritz von Nassau-Siegen (1604–
                                                                                                             bar ist, waren Ende der 1990er-Jahre gleich-    1679), wurde Stephan Balkenhol abermals
                                                                                                             zeitig eine Rückbesinnung, aber auch eine       angesprochen und schließlich vom Freun-
                                                                                                             Erneuerung.                                     deskreis Museum Kurhaus und Koekkoek-
                                                                                                                    Die Vier Männerakte auf Stämmen          Haus Kleve e.V. beauftragt, das histori-
                                                                                                             (1998) stehen beispielhaft für sein Früh-       sche, 1794 zerstörte Denkmal Eiserner Mann
                                                                                                             werk. Die imposante Installation gelang-        durch eine Neuinterpretation zu ersetzen.
                                                                                                             te 1998 als Schenkung aus Privatbesitz                 Johann Moritz von Nassau-Siegen,
                                                                                                             in die Sammlung des Museum Kurhaus              der 1648 vom Großen Kurfürsten zum
                                                                                                             Kleve und war seither immer wieder in           Statthalter von Kleve berufen wurde, mach-
                                                                                                             wechselnden Präsentationen zu sehen. In         te aus der Stadt eine Prachtresidenz mit
                                                                                                             der Ausstellung 1998 in Kleve kombi-            imposanten Gartenanlagen, in denen er
                                                                                                             nierte Balkenhol persönlich eine zweite         als Zeichen des Friedens altes Kriegsgerät
                                                                                                             Arbeit, Ohne Titel (1994; 4 mal 4 Tafelzeich-   in Kunstwerke umwandeln ließ. So stand
                                                                                                             nungen auf Holz; ebenfalls eine Schen-          in der Achse des sogenannten Amphithea-
                                                                                                             kung aus Privatbesitz), zu einem faszi-         ters auf einer hohen Säule eine Rüstung
                                                                                                             nierenden neuen Ensemble, bei dem ge-           mit Gesicht und einem Morgenstern in
Installationsansicht mkk, vorne Vier Männerakte auf Stämmen, 1998   [105]   Installationsansicht mkk, hinten Ohne Titel, 1994   [106]

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der Hand, ein Verweis auf den Kriegsgott     plastiken, einen Mann in weißem Hemd
Mars oder Ares, der als Hüter der barocken   und schwarzer Hose, der nun als Zeichen
Anlage gedacht war. Auf ihrem erhobenen      der Wehrhaftigkeit lässig ein Schwert in
Standpunkt außerhalb des Gartens blick-      der rechten Hand hält. Damit ist der histo-
te sie auf die ihr zugewandte Marmorfigur    rische Zusammenhang wiederhergestellt
der Göttin Minerva oder Pallas Athene des    und gleichzeitig ein Wahrzeichen Kleves
bedeutenden niederländischen Bildhau-        entstanden.
ers Artus Quellinus d. Ä. (1609–1668), die          Das eindrucksvolle Relief mit vier Män-
1653 als Geschenk der Stadt Amsterdam        nern, das 2022 aus Anlass der Jubiläumsaus-
nach Kleve gelangte und als Schmuck für      stellung »Schatzhaus und Labor. 25 Jahre
die Gärten gedacht war.                      Museum Kurhaus Kleve« von der Samm-
        Solange sich Mann und Frau als       lung Viehof in Mönchengladbach geliehen
Äquivalent für Krieg und Weisheit ent-       wird und ebensolche typischen Balkenhol-
gegenblicken, so die barocke Vorstellung,    Männer mit Hemd und Hose zeigt, ist eine
sollte Frieden herrschen. Doch 1794 zer-     perfekte Hommage an die Geschichte des
störten französische Truppen bei ihrem       Künstlers vor Ort in Kleve. [VV]
Einmarsch in Kleve den Eisernen Mann. Ste-
phan Balkenhol schuf in der Tradition die-
ses barocken Denkmals eine Neuinterpre-
tation, den Neuen Eisernen Mann. Anstelle
der Figur in einer Rüstung platzierte er
eine seiner charakteristischen Männer-
Relief mit vier Männern, 2015   [3]
Installationsansicht mkk Descending, 2014   [107]   Untitled, 2014   [108]             als Kettenraucher, das an die Malerei Phi-     schichtet, indem zum Beispiel ein Ausstel-
                                                                                                                     lip Gustons erinnert; eine braune Tür, die     lungstitel »Ketchup as a Vegetable« heißt
                                                                                                                     sich auf Ed Ruschas Schokoladenraum be-        und damit auf einen absurden Skandal aus
                                                                                                                     zieht; ein Stillleben, das an Paul Cézannes    der amerikanischen Politik der Reagan-Ära
                                                                                                                     paradigmatische Inszenierung von Äpfeln        verweist. Um die Ausgaben für Mittagessen
                                                                                                                     erinnert. Ein Bild muss dabei nicht not-       an öffentlichen Schulen zu reduzieren,
                                                                                                                     wendigerweise digital bearbeitet werden,       wurde vorgeschlagen, Ketchup als Gemüse
                                                                                                                     so ist die Arbeit The Chocolate Door (2013)    zu definieren, womit man gleichzeitig die
                                                                                                                     ein »objet trouvé« – Blalock hat es genau-     vorgegebenen Nahrungsstandards hätte
                                                                                                                     so übernommen, wie er es vorgefunden hat.      einhalten können und dennoch Kosten ge-
                                                                                                                           Nicht ohne Humor bedient sich Bla-       spart hätte. Mit dieser Geschichte verweist
                                                                                                                     lock bei zentralen Vorreitern aus der Kunst-   Blalock auf die ständige Ausnutzung der
                                                                                                                     geschichte, um auf ihr notwendiges Schei-      ärmsten Schichten Amerikas zugunsten
                                                                                                                     tern als Vertreter der Avantgarden hinzu-      profitabler Renditen. Eine Tatsache, wel-
                                                                                                                     weisen. Blalock veranschaulicht, dass ihr      cher er nicht mit dem moralischen Zeige-
                                                                                                                     Erfolg zwangsweise auch das Gegenteil mit      finger begegnet, sondern deren Absurdität
                                                                                                                     sich bringt: Anstelle sich gegen die Insti-    er durch eine wörtliche Auslegung und da-
                                                                                                                     tutionalisierung und Kommerzialisierung        raus resultierender tragisch-komischer In-
                                                                                                                     von Kunst zu richten, werden die bekann-       szenierung vor Augen führt.
                                                                                                                     ten avantgardistischen Positionen zum                Theatralische Mittel werden nicht
                                                                                                                     Inbegriff von beidem. Generell sind politi-    nur in den Bildkompositionen eingesetzt
                                                                                                                     sche Aspekte subtil über die Tableaux ge-      mittels surrealistischer Objekte und ihrer

30                                                                                                              31                                          Installationsansicht mkk The Smoker, 2014   [109]

Lucas Blalock
                Das Museum Kurhaus Kleve richtete 2019         schräge Tableaus, die an das Zusammen-
                die erste europäische Einzelausstellung        treffen von Nähmaschine und Regenschirm
                des in New York lebenden Künstlers Lucas       auf dem Seziertisch des Comte de Lautréa-
                Blalock aus (*1978 in Asheville, North Ca-     mont erinnern. Das surrealistische Voka-
                rolina / USA). Blalock, der damals in Euro-    bular wiederum setzt Blalock in Montagen
                pa noch nahezu unbekannt war und in den        ein, die sich an die Arbeit von Bertolt Brecht
                Vereinigten Staaten gerade entdeckt wurde,     anlehnen. Brecht entwickelte für seine Ver-
                gilt als Vertreter einer neuen innovativen     fremdungseffekte verschiedene Hilfsmittel,
                Photographie.                                  um die theatralische Illusion zu brechen
                       In seinem Werk inszeniert der Künst-    und die Aufmerksamkeit des Publikums
                ler Stillleben mit Hilfe von Esswaren, Plas-   auf die sozialen und politischen Implika-
                tikflaschen und Handschuhen, die er pho-       tionen seiner Stücke zu lenken. Blalock ar-
                tographiert und im Anschluss digital ma-       beitet mit ähnlichen Strategien, indem er
                nipuliert. Dabei wird der Mechanismus          die Konstruktion seiner Bilder offenlegt
                der virtuellen Intervention nicht vertuscht,   und damit tragisch-komische Kompositio-
                sondern als bildnerische Komponente in         nen schafft, die sich auf die Geschichte der
                seine Arbeiten integriert: Stempeln, klo-      Kunst genauso beziehen wie auf die ameri-
                nen und retuschieren verwandeln seine Ar-      kanische Konsumkultur und Politik. Seine
                rangements in Bilder, in denen analoge und     Stillleben zeigen Ramsch aus Billigläden,
                digitale Elemente als gleichwertige Akteu-     es sind Tiefpunkte der Warenwelt, mit de-
                re auftreten und interagieren. So schafft      nen er die missratenen Seiten des Kapitalis-
                der Künstler mit einfachen Alltagsobjekten     mus in den Fokus rückt. Ein Selbstporträt
Montage, sondern sind auch zentraler           Kurhaus Kleve« handelt es sich um eine
                                                                                           Teil seiner Installationen im Ausstellungs-    Auswahl von drei Bildern aus einer Rei-
                                                                                           raum. Die Photographie wird von Blalock        he von insgesamt fünf Selbstporträts, die
                                                                                           nicht als flaches Bild verstanden, sondern     in kurzer Abfolge photographiert wurden.
                                                                                           als ein Objekt mit Vorder- und Rückseite,      Der Künstler zeigt sich als Schattenboxer,
                                                                                           welches im Ausstellungsraum eine Posi-         der mit einer Reihe von Vorgängern zu rin-
                                                                                           tion und Pose einnehmen kann. So stehen        gen scheint: Francis Bacon, Fischli/Weiss
                                                                                           Bilder lapidar auf dem Boden, als ob sie       und Alexander Calder tauchen aus der
                                                                                           noch auf ihre definitive Hängung warten        Vergangenheit auf und verweisen gleicher-
                                                                                           würden. Oder sie werden so an einer Alu-       maßen sowohl auf visuelle Möglichkei-
                                                                                           miniumstellwand gehängt, dass ihre Rück-       ten der physischen Verfremdung als auch
                                                                                           seiten zu sehen sind, auf welchen sich wie-    auf das Hervorheben von Eigenheiten mit-
                                                                                           derum eigene Bilder in kleinerem Format        tels Reduktion auf wesentliche körperliche
                                                                                           befinden. Blalock nimmt für sich also eine     Eigenschaften. [SF]
                                                                                           Position der Solidarität mit den Avantgar-
                                                                                           den ein, gleichwohl er sich der Problematik
                                                                                           derselben bewusst ist. Die einzig mögliche
                                                                                           Lösung ist für ihn in der Folge, das eigene,
                                                                                           zwangsweise Scheitern zu seiner Inszenie-
                                                                                           rung zu machen.
                                                                                                  Bei den Werken in der Ausstellung
                                                                                           »Schatzraum und Labor. 25 Jahre Museum

32   Installationsansicht mkk Grand Dame, 2019   [110]   Grand Attack, 2019   [111]   33                                                                    Grand Man, 2019   [112]
## 2 The Orphan (Darko), 2019   [6]   # 11 Fox (Trapper), 2019   [5]
»Kunst ist dazu da, Sachen auszudenken           machen einfach immer weiter und tun so,                                   Installationsansicht mkk Eines Tages wird es soweit sein, 2010   [113]
                 und nicht Wohnungen zu füllen«, sagt Bir-        als würde um uns herum nichts passieren«,
                 git Brenner (*1964 in Ulm), die wahrheits-       sagt Brenner.
                 gemäß bekennt, sich nicht mit dekorativen              Mit ihren Kunstwerken thematisiert
                 oder grundsätzlich positiven Themen be-          Birgit Brenner unangenehme Universal-
                 schäftigen zu wollen. Ihre Kunstwerke ent-       themen wie gesellschaftliche und private
                 stehen nah am Leben und handeln über ge-         Zu- und Missstände, alltägliche Tristessen,
                 sellschaftliche Beobachtungen. Die großen        abstruse Selbstoptimierungszwänge oder
                 Probleme unserer Zeit kommentiert sie            durch Gefühle oder Ängste hervorgerufene,
                 mit radikalen Werken voll beißender Iro-         negativ konnotierte Assoziationsketten.
                 nie. Ihre Bildsprache ist einfach, unmittel-     Immer wieder geht es in ihren Arbeiten um
                 bar und frech. Sie selbst sagt, dass sie »Bil-   zwischenmenschliche Beziehungen bzw.
                 der in die Welt wirft«, um die Konformität       um Probleme zwischen Frauen und Män-
                 und Eintönigkeit zu kommentieren. Dass           nern. Diese interessieren sie nicht vorran-
                 diese Bilder Veränderungen hervorrufen           gig, ergeben sich jedoch automatisch aus
                 können, daran glaubt sie aufrichtig. Dass        den geltenden Machtverhältnissen. Dabei
                 diese das Verhalten der Menschen nachhal-        spielen antrainierte Verhaltensmuster eine
                 tig verändern können, jedoch nicht. »Das         Rolle, wie die Unterschätzung von Frauen
                 wäre Sozialromantik«, kommentiert sie            und Selbstüberschätzung von Männern.
                 lakonisch. Die Gegenwart – mit ihrer Ober-             2013 nahm Birgit Brenner mit Eines
                 flächlichkeit und Konsumbesessenheit,            Tages wird es soweit sein (2010) an der Ausstel-
                 mit der sie hadert – sieht sie kritisch. »Wir    lung »The Present Order is the Disorder of

Birgit Brenner                                                                                                36

                                         Installationsansicht mkk Eines Tages wird es soweit sein, 2010   [113]

                                                                                                                     the Future« im Museum Kurhaus Kleve            text informierte über den durch eine Schei-
                                                                                                                     teil. Zu sehen war ein ca. sechs Meter hohes   dung bedingten sozialen Abstieg, der erst
                                                                                                                     Storyboard aus mehreren Ebenen und             in gewalttätigen Neurosen und letztlich
                                                                                                                     Materialien (u. a. mit Packband verklebte      im Untergang des männlichen Protagonis-
                                                                                                                     Pappen und Photographien), das wie ab-         ten mündete.
                                                                                                                     gestellt an die Wand gelehnt war. Zentral             In einer Datei mit dem Titel Schöne
                                                                                                                     war das riesenhafte Bild eines Rehs, das als   Sätze sammelt Brenner markige Sprü-
                                                                                                                     Zeichen der Unschuld fungierte, dicht ge-      che, die sie im Alltag findet und die für
                                                                                                                     folgt von der Abbildung einer gigantischen     ihr Œuvre wichtig sind. Darin finden sich
                                                                                                                     Rückseite eines nackten Mannes. Rätsel-        Worte wie zum Beispiel »Schäm Dich«,
                                                                                                                     hafte Motive und Slogans reihten sich an-      »Selbst Schuld« oder »Übermüdung und
                                                                                                                     einander, unter anderem die Wiedergabe         Überdruss«, die wie Vorwürfe oder Resü-
                                                                                                                     einer Waffensammlung, eines Ehepaars in        mees klingen. Sie spielen auch in Standard
                                                                                                                     einer Schaukel oder eines Pudels auf dem       Run (2022) eine Rolle, ein mit Stop-Motion-
                                                                                                                     Schoß eines Mannes. Sozialkritische Aus-       Technik aus unzähligen Zeichnungen ani-
                                                                                                                     sagen wie »Das Haus soll die Bank nicht        miertes Video, das Brenner für die Aus-
                                                                                                                     bekommen«, »Bank Owned«, immer wie-            stellung »Schatzhaus und Labor. 25 Jahre
                                                                                                                     der »Ich verstehe nicht« sowie zuletzt         Museum Kurhaus Kleve« beigesteuert hat.
                                                                                                                     »Mehr Sieg war nicht drin« ließen bei Be-      Filme sind Brenners jüngste Ausdrucks-
                                                                                                                     trachter*innen nichts Gutes erahnen und        form, die sie erst seit 2019 erstellt und bei
                                                                                                                     lösten multiple Gedankenspiele aus. Ein        denen sie alles selbst fabriziert, von den
                                                                                                                     abseits der Installation angebrachter Kurz-    Zeichnungen über den Schnitt bis hin zum
Stop-Motion-Film Standard Run, 2022   [8]

                                                                                                                                          Stop-Motion-Film Standard Run, 2022   [8]

38                                                                                                                                   39

                                                                                                                                          Stop-Motion-Film Standard Run, 2022   [8]

Klang. Standard Run ist ein knapp 10-minü-   In schnellen Schnitten aufeinander fol-
tiges, aber intensives Panoptikum der Ge-    gend werden Menschen gezeigt, weiblich
genwart, das mit psychedelischem, spä-       oder männlich, jung oder alt, die zum
ter milderen Sound unterlegt ist, der eine   Beispiel schauen oder schlafen (bzw. tot
traurige Komponente hervorruft. Zu sehen     sind?). Danach wieder Botschaften wie
sind präzise gemalte, rasant hintereinan-    GELD , LOB , MACHT , anschließend WARE ,
der geschnittene Aquarelle, die Menschen,    MEHR , DINGE , schließlich ERSCHÖP-
Umwelt und Botschaften zeigen. Filmisch      FUNG , SPEKTAKEL , EREIGNIS . Die Wor-
getrennt werden sie durch blutrote oder      te BUY und EAT montieren sich, begleitet
giftgrüne Einblendungen, die nur Milli-      von einer hellen weiblichen Singstimme,
sekunden zu sehen sind und die Konzen-       zu BEAUTY . Pflanzen wachsen aus Töpfen
trationskraft der Betrachter*innen bün-      und verwelken. Zigaretten, Prostituierte,
deln. Der Film beginnt mit einer Autofahrt   industrielle Lebensmittel werden schnell
zwischen einem Mann und einer Frau, die      ein- und wieder ausgeblendet, begleitet
sich nichts mehr zu sagen haben und teil-    von unterschiedlichsten Menschen, die im-
nahmslos nebeneinandersitzen. Der Mann       mer wieder in die Hände klatschen – wohl
weint blutrote Tränen. Entweder bild-        angesichts des ausweglosen Kreislaufs, in
füllend oder in comicartigen Sprechbla-      dem sie sich befinden. [VV]
sen erscheinen dicht aufeinander folgend
vielsagende Mitteilungen: ROHSTOFFE ,
PRODUKTION , BEVÖLKERUNG , NAH-
RUNG , MÜLL – danach brennt ein Haus.
Installationsansicht mkk Ohne Titel, beide 2010   [114]   Membran, 2008   [115]   Damaskus, 2009   [116]                 seine Erfahrungen mit dem Licht und der       phorisches Äquivalent für architektoni-
                                                                                                                                 Landschaft während seiner Reisen durch        sche Formen und natürliche Gegebenhei-
                                                                                                                                 die Wüste in Syrien. Nie waren die Farbfel-   ten aus, so thematisiert Erben hier etwas
                                                                                                                                 der leichter und immaterieller, die Farb-     an sich Unerreichbares, die optische Erfas-
                                                                                                                                 verläufe in den Randzonen ungreifbarer.       sung von sich verflüchtigenden Flächen
                                                                                                                                 Die Farbfelder brillieren mit einer Leich-    mit leicht changierenden Farben, deren
                                                                                                                                 tigkeit und scheinen sich vor dem Grund       Grenzen sich aufzulösen scheinen und nur
                                                                                                                                 kaum sichtbar zu bewegen. Die Bilder wer-     durch eine sehr konzentrierte und intensi-
                                                                                                                                 den bestimmt von einer neuartigen Pa-         ve Beobachtung registriert werden können.
                                                                                                                                 lette zarter Farbtöne, die sich in geome-            In den beiden Bildern Linear I. und
                                                                                                                                 trischen Formen begegnen und deren            Linear II. (2022), mit denen Erben in der Aus-
                                                                                                                                 Nuancen kaum wahrnehmbar sind, so-            stellung »Schatzhaus und Labor. 25 Jahre
                                                                                                                                 wie der erschöpfte, durstige Wanderer in      Museum Kurhaus Kleve« vertreten ist, glie-
                                                                                                                                 der syrischen Wüste seine Umgebung sich       dert eine exakt gezogene schwarze Linie das
                                                                                                                                 verflüchtigen sieht, das Licht in Wellen      Bild jeweils in zwei gleiche Hälften. Hier-
                                                                                                                                 vibrierend.                                   durch entstehen zwei identisch große Bild-
                                                                                                                                       Vor sieben Jahren begann Ulrich Er-     räume, zwei Ebenen, eine untere und eine
                                                                                                                                 ben eine neue Werkgruppe mit dem Titel        obere. Anders als die mit dem Menschen-
                                                                                                                                 »Festlegung des Unbegrenzten«. Drückten       auge wahrgenommene Linie des Horizonts,
                                                                                                                                 die Bilder der »Farben der Erinnerung«        die Land oder Wasser und Himmel trennt
                                                                                                                                 noch das Spezifische einer Landschaft, sei-   und an keiner Stelle exakt ist und sich mit
                                                                                                                                 ner Farbigkeit und Stimmung als meta-         dem Standpunkt der Betrachter*innen ver-

40                                                                                                                    41

                                                                                                                           Installationsansicht mkk »Ulrich Erben: SIRIA . Erscheinung und Bewegung«, 2010   [117–121]

Ulrich Erben
                         In insgesamt vier Einzelausstellungen –      Keine Künstlerin oder Künstler ist dem
                         zwei im Haus Koekkoek, 1978 »Felder« und     Klever Museum mehr und über einen län-
                         1988 »Klever Raum«, und zwei im Kurhaus,     geren Zeitraum verbunden als er. Ulrich
                         1999 »Was ich sehe: Bilder aus Italien«      Erben stand an der Quelle, als eine Ent-
                         und 2010 »SIRIA « – wurden unterschied-      scheidung über den Planer des Umbaus
                         liche Etappen des Œuvre von Ulrich Er-       des Kurhauses getroffen werden musste
                         ben (*1940 in Düsseldorf) umfassend prä-     und ebenso, als Simone und Heinz Acker-
                         sentiert. Die Auseinandersetzung mit dem     mans sich entschieden, ihre Sammlung
                         Salon im Haus Koekkoek führte zu einem       dem Museum Kurhaus Kleve als Leihgabe
                         Farbfeldpanorama, das er in zwei Varian-     zu überlassen. Auch in der Sammlung des
                         ten erprobte (1988). Die Fassung, für die    Museums ist er mit zahlreichen und be-
                         er sich entschied, sollte das Fundament      deutenden Arbeiten vertreten. Die frühes-
                         bilden für die eindrucksvolle Werkreihe      te Arbeit Ohne Titel / Weißes Bild stammt aus
                         streng geometrisch strukturierter Bilder     dem Jahr 1969, die spätesten sind drei Bil-
                         unter der Klammer »Farben der Erinne-        der aus der Serie Stratos (2003). Einen Hö-
                         rung«. In diesen Bildern gehen die Farben    hepunkt bilden die beiden Fassungen des
                         einen Dialog ein, basierend auf dem spe-     Klever Raums (1988), die von 1997 bis 2013 in
                         zifischen Klang eines Ortes, der sich in     den beiden spiegelbildlichen Balkonräu-
                         der Erinnerung festsetzt und das Einma-      men des Friedrich-Wilhelm-Bades instal-
                         lige und Spezifische eines Ortes genauso     liert waren.
                         zu verkörpern vermag wie aus der Realität           In der 2009 bis 2010 entstandenen
                         entnommene Architekturformen.                Werkgruppe »SIRIA« verarbeitete Erben
schiebt, teilt diese kalkulierte Linie das Bild   Zonen des leichten Ockers verbinden sich
in zwei unbewegliche Hälften. Die Linie als       optisch zum Hintergrund, und die beiden
Element einer horizontalen Gliederung             nur einmal präsenten Streifen, eine graue
findet sich in allen Phasen und Variatio-         und eine orangefarbene, scheinen sich vor
nen in Erbens Œuvre. Manchmal handelt             diesem Grund zu bewegen. Die beiden
es sich um eine mit der Hand gezogene Li-         Bilder belegen einmal mehr Erbens uner-
nie, oft um eine perfekte, mechanisch ge-         schöpfliche Kraft, die Malerei in den engen
zogene Linie, die auf unterschiedliche            Grenzen von Linie und Farbe, von »Lust
Weise die Bildwahrnehmung beeinflusst.            und Kalkül«, wie er es selbst einmal nann-
       In Linear I. werden die beiden wie         te, zu erneuern und weiterzuentwickeln.
durchgehend grau wirkenden Bildhälf-              Die horizontale Veranlagung dieser Bilder
ten mit jeweils gleich breiten horizonta-         hat seine Voraussetzungen in Bildern aus
len Farbstreifen besetzt, die untere Rost-        den 1970er-Jahren, ohne dass von einem
rot, die obere Veroneser Grün. Die graue,         Rückgriff gesprochen werden kann. Aus
nach oben dunkler werdende Fläche wird            diesen Bildern sprechen eine Selbstver-
wie ein durchgehender Hintergrund wahr-           ständlichkeit und Lässigkeit, die nur aus
genommen. Die rostroten und Veroneser-            einem Verständnis des Wesentlichen her-
grünen Felder wirken wie Streifen, die sich       vorgehen kann. [GdW]
wie endlose Riegel auch über die Grenzen
der Bildfläche fortsetzen.
       In Linear II. sind alle Farbfelder im
oberen wie im unteren gleich groß. Die vier

42                                                                                              43   Installationsansicht mkk Klever Raum II., 1988   [122]
Linear II., 2022   [10]   Linear I., 2022   [9]
Installationsansicht mkk dizöt, 1996   [123]                      2017/18 kehrte Pia Fries schließlich in das      es sich um eine Reihe vom Himmel her-
                                                                                                                          Museum Kurhaus Kleve zurück, um ihre             abfallender Figuren, deren Motiv des Fal-
                                                                                                                          neuesten Werke in einer Doppelpräsenta-          lens durch wirbelnde Abwärtsbewegun-
                                                                                                                          tion zu zeigen, »Hendrick Goltzius & Pia         gen Pia Fries mit den Mitteln der Malerei
                                                                                                                          Fries: Proteus & Polymorphia«. Dabei wur-        und durch Aussparung und Beschränkung
                                                                                                                          den die Werke des Altmeisters Hendrick           steigert. Goltzius’ Körper hat sie dabei
                                                                                                                          Goltzius (1558–1617) mit den zeitgenössi-        nur partiell übertragen und mit Male-
                                                                                                                          schen Malereien von Pia Fries erstmals ge-       rei kombiniert. Einzelne Bereiche hat sie
                                                                                                                          genübergestellt. Goltzius gilt als der wich-     zu gänzlich neuen Bildfindungen entwi-
                                                                                                                          tigste Kupferstecher der Niederlande und         ckelt, Körperteile bildfüllend vergrößert
                                                                                                                          als Wegbereiter des Goldenen Jahrhun-            oder zur Nebensache verkleinert. Wäh-
                                                                                                                          derts. Pia Fries zitiert, adaptiert und extra-   rend Goltzius’ Figuren offensichtlich gen
                                                                                                                          hiert aus Werken der Kunstgeschichte wie         Boden stürzen, befinden sich Pia Fries’ Fal-
                                                                                                                          beispielsweise von Maria Sibylla Merian,         lende in einem schwebenden Zustand, in
                                                                                                                          Stefano della Bella und Hendrick Goltzius.       einem geradezu luftleeren Raum, ohne die
                                                                                                                          Mit Hilfe des Siebdrucks integriert sie          Aussicht, jemals einen Boden zu erreichen.
                                                                                                                          Fragmente von Goltzius’ Kupferstichen auf        Die Bildelemente sind mehrfach überein-
                                                                                                                          ihren Bildträgern und hinterfragt und ak-        andergelegt, um 45 oder 90 Grad in oder
                                                                                                                          tualisiert gleichermaßen seine Bildaussage.      gegen die eigene Achse gedreht, sie prallen
                                                                                                                                 Goltzius’ Werkgruppe der Himmels-         gegen einen Bildrand oder verschwinden
                                                                                                                          stürmer (1588) widmete Pia Fries einen gan-      unter dickflüssigen Blöcken von Farbe. Aus
                                                                                                                          zen Zyklus von Gemälden. Dabei handelt           dieser Reihe war es dem Freundeskreis Mu-

46                                 Installationsansicht mkk rabius & riein (dizöt), beide 1996   [124]   47

                                                                                                              Installationsansicht mkk »Hendrick Goltzius & Pia Fries: Proteus & Polymorphia«, 2017/18   [125–129]

Pia Fries
            Eine Mischung aus kontrolliertem Puris-     Zerlegungen und erneute Zusammensetz-
            mus und wuchernden Kräften begegnet         ungen formieren sich zu komplexen Bild-
            uns in den Werken von Pia Fries (*1955 in   inhalten.
            Beromünster / Schweiz). Mit den Mitteln            Pia Fries ist mit dem Museum Kur-
            der Malerei betreibt Pia Fries eine immer   haus Kleve weit über dessen Bestehen hin-
            wiederkehrende Reflexion und Erneue-        aus verbunden. Sie stellte bereits im Städti-
            rung der zweidimensionalen Fläche und       schen Museum in Kleve aus, als dieses noch
            des Eigenwerts der Farbe. Farbe model-      im Haus Koekkoek (heute Stiftung Mu-
            liert sie in dicken Strängen mit Messern,   seum B.C. Koekkoek-Haus) untergebracht
            Spachteln, Schabern, Rollen oder ande-      war. Dort war sie 1992 Teil der Gruppen-
            ren Werkzeugen zu einer geradezu relief-    ausstellung »Der Teppich des Lebens«, an
            artigen Landschaft aus Höhen und Tiefen.    der unter anderen auch Katharina Fritsch
            Proportionen und Rhythmen, Harmonien        und Hans Brändli teilgenommen haben.
            und zeitgleiche Disharmonien der Ver-              Kurz nach der Eröffnung des Mu-
            hältnisse bestimmen ihre Bilder. Diese      seum Kurhaus Kleve 1997 erhielt sie mit
            sind konzeptuell, aber keine ›Konzept-      »Pia Fries: Malerei« als erste Künstlerin
            kunst‹; abstrakt, aber keine ›abstrakte     eine Einzelausstellung, die im Anschluss
            Kunst‹, da die Künstlerin ihre Motive aus   auch im Kunstverein Freiburg und im Aar-
            gegenständlichen Kontexten heraus ent-      gauer Kunsthaus zu sehen war. 1999 prä-
            wickelt. Ihre Bilder besitzen mehrere Be-   sentierte Harald Szeemann ihre Werke in
            deutungsebenen mit mehrschichtigen in-      der Ausstellung »dAPERTutto« auf der
            haltlichen Referenzen. Fragmentierungen,    48. Biennale von Venedig.
Installationsansicht mkk corpus transludi A10, 2017   [130]   quintopylon 1, 2020   [11]

48

seum Kurhaus und Koekkoek-Haus Kleve            immer gleich ist. Einzig die langen Beine
e.V. 2018 möglich, das Diptychon nemen /        des mythologischen Helden erinnern an
justis für die Sammlung des Museum Kur-         die Vorlage. Pia Fries kreiert visuell anre-
haus Kleve zu erwerben.                         gende Bildschöpfungen, die Lebendigkeit,
       Für »Schatzhaus und Labor. 25 Jahre      Frische und Modernität besitzen und ganz
Museum Kurhaus Kleve« 2022 stellt Pia           im Hier und Jetzt verankert sind. [VV]
Fries schließlich die fünfteilige Serie quin-
topylon zur Verfügung, die einen der be-
rühmtesten Kupferstiche von Goltzius zum
Thema hat, den Herkules Farnese (1592). Da-
bei vermeidet sie eine ganzfigurige Über-
nahme im Maßstab 1:1, sondern konzen-
triert sich ausschließlich auf den vermeint-
lichen Schwerpunkt des mythologischen
Heroen – die seitliche Stütze, über die er
sein Löwenfell ablegt und seinen massi-
gen Körper in der Achsel abstützt. Immer
wieder löst sie diesen Ankerpunkt aus dem
Rest des Bildes und ordnet ihn vertikal
oder horizontal auf der Bildfläche an, um
ihn schließlich mit Malerei zu verändern,
wodurch er verfremdet wirkt, obwohl er
quintopylon 2, 2020   [12]   quintopylon 3, 2020   [13]
quintopylon 4, 2020   [14]   quintopylon 5, 2020   [15]
Die Skulpturen von Katharina Fritsch             ven Vandalismus hervor, sodass ihre Arbeit                                                   Installationsansicht mkk Elefant, 1987   [132]
              (*1956 in Essen) sind präzise, aufwendig         noch vor der Eröffnung der Ausstellung
              und symbolisch eindringlich, und sie ent-        zerstört und durch einen Steinguss ersetzt
              stehen – nicht ohne eine Prise Humor und         werden musste (der kurze Zeit später eben-
              Ironie – immer am Puls der Zeit. Ihre            falls beschädigt wurde). Das kleinformati-
              machtvollen Werke sowohl voller Über-            ge Multiple dieser Arbeit (Madonnenfigur)
              zeugungskraft als auch nüchterner Reali-         befindet sich in der Sammlung des Muse-
              tät, die alle ansprechen und auf einer alltäg-   um Kurhaus Kleve, wie auch weitere Mul-
              lichen, universalen Ebene funktionieren,         tiples – unter anderem Pudel, Maus, Katze
              lösen beim Publikum eine Fülle von Asso-         oder Gehirn. Die Werke fungieren wie uni-
              ziationen und Reaktionen aus.                    versell verständliche Urbilder, die den In-
                     Ein Beispiel dafür ist Madonna von        tellekt ebenso wie das Gefühl der Betrach-
              1987, die gelbe Replik einer klassischen Ma-     ter*innen ansprechen. Dementsprechend
              donnenfigur aus Lourdes, die Fritsch im          hat Fritsch die Farbgebung der Skulptu-
              Rahmen ihrer Teilnahme an den »skulptur          ren angepasst, die ebenfalls klar und deut-
              projekten münster« in einer Einkaufsstra-        lich ist und ihren Arbeiten zusätzlich die
              ße in Münster platzierte – zwischen einem        Anmutung von Zeichen verleiht. Dafür re-
              Kaufhaus und einer Kirche. Die quietsch-         präsentativ ist ihr Weißes Bild in der Samm-
              gelbe lebensgroße Skulptur rief, in Kombi-       lung des Museum Kurhaus Kleve, das zu
              nation mit dem provokanten Standort, der         ihrer zweiten Serie der Bilder in acht Farben
              den Durchschnittsbürger*innen Kommerz            gehört (1999–2002). Es zeigt beispielhaft
              und Kitsch augenscheinlich machte, massi-        das Bestreben der Künstlerin, einen visuel-

Katharina Fritsch                                                                                         54

                           Weißes Bild, aus der zweiten Serie Acht Bilder mit acht Farben, 1999 –2002   [131]

                                                                                                                len Eindruck so sehr zu klären und zu ver-      der eine überdimensionale schwarze Maus
                                                                                                                einfachen, dass er sich unauslöschlich ins      auf der Brust eines in einem Bett liegenden,
                                                                                                                Bewusstsein der Betrachtenden einbrennt.        ganz in Weiß gehaltenen Mannes sitzt,
                                                                                                                »Das Publikum«, sagt Fritsch, »sollte alle      eine alptraumhafte Horrorvision.
                                                                                                                umfassen. Alle sollten sich meine Bilder an-          Katharina Fritsch war bereits 1992 an
                                                                                                                sehen können, und ich glaube, dass sie auch     der Gruppenausstellung »Der Teppich des
                                                                                                                von allen verstanden werden können.«            Lebens« im Städtischen Museum in Kleve
                                                                                                                       Fritsch’ Skulpturen sind zugleich        beteiligt, als dieses noch im Haus Koekkoek
                                                                                                                klar und nüchtern wie irritierend, humo-        untergebracht war und sich das Museum
                                                                                                                ristisch wie auch beängstigend. Sie weisen      Kurhaus Kleve noch im Entstehen befand.
                                                                                                                stets eine Verbindung des Emblematischen        Sie kuratierte die Ausstellung, zu deren
                                                                                                                mit dem Enigmatischen auf. Ihr schwarzer        Titel sie sich von einem Gedicht von Ste-
                                                                                                                Pudel (1995) ist ein offensichtlich kleinbür-   fan George inspirieren ließ. Vier Jahre lang,
                                                                                                                gerliches Parademotiv, das lustig und des-      von der Eröffnung 1997 bis 2001, war ihr
                                                                                                                pektierlich wirkt, in der Installation Kind     grüner Elefant (1987) im Klever Museum zu
                                                                                                                mit Pudeln (1995/96), das eine kreisrunde       sehen. Dabei handelte es sich um die Abfor-
                                                                                                                Zusammenrottung von 224 Exemplaren              mung eines mächtigen lebensgroßen Ele-
                                                                                                                schwarzer Hunde um ein in der Mitte lie-        fanten im Museum König in Bonn. Fritsch
                                                                                                                gendes weißes Baby zeigt, jedoch höchst         platzierte das Objekt auf einem hohen
                                                                                                                bedrohlich wirkt. Ihre Maus (1991–98) ist       ovalen Sockel, von dem aus er regungslos
                                                                                                                putzig und niedlich, in der monumenta-          und majestätisch auf Besucher*innen her-
                                                                                                                len Installation Mann und Maus (1992), bei      abblickte. Nachdem das Kunstwerk viele
Jahre lang eingelagert war, bildet es 2022      Gebäude in Basel, das am internationalen        Installationsansicht mkk Madonnenfigur, 1982   [133]
auf der 59. Biennale von Venedig einen Hö-      Frauentag 2021 von Vandal*innen mit rosa
hepunkt.                                        Farbe besprüht wurde, um sie ihrer Vulva-
       In der Ausstellung »Schatzhaus und       Symbolik näherzubringen. Fritsch hatte ur-
Labor. 25 Jahre Museum Kurhaus Kleve«           sprünglich Rosa als Farbe vorgesehen, um
sind zwei Werke der Künstlerin zu sehen:        die erotische Konnotation zu unterstrei-
Figur (schwarzer Kopf ) (2021) und Totenkopf    chen. Da das vom Architekten jedoch abge-
(1997/98). Die eindrucksvolle elegante Ar-      lehnt wurde, entschied sie sich letztlich für
beit Figur (schwarzer Kopf ) ist unten zylin-   Giftgrün. Farben besitzen bei Fritsch einen
drisch und nach oben hin gehend kegel-          aussagekräftigen Charakter. Demzufolge
förmig aufgebaut und besteht unter ande-        kann die schwarzweiße Farbe bei Figur
rem aus Kunststoff und Aluminium. 170           (schwarzer Kopf ) als versteckter Kommentar
Zentimeter hoch und zusätzlich beeinflusst      zu aktuellen Debatten wie beispielsweise
durch den Titel, mutet sie an wie die Me-       stereotypen Alltagsrassismus in Deutsch-
tapher für einen Menschen mit Kopf und          land gedeutet werden. [VV]
Körper. Den Abschluss bildet eine schwarz-
weiße Kaurischnecke (die auch Kaurimu-
schel genannt wird), die Fritsch in ihren
Arbeiten bereits öfters eingesetzt hat, zum
Beispiel in Frau mit Hund (2004) oder Mu-
schel (hellgrün) (2015), einer ca. drei Meter
großen Installation an einem öffentlichen

56
Totenkopf, 1997–98   [17]   Figur (schwarzer Kopf ), 2021   [16]

                      58
Basic Research, 1990   [134]        miert die Abformung zum »Werk«. Nicht         ter*innen mannigfaltigste Assoziationen
                                                                                                                  der eigene kreative Akt wird zum Refe-        hervorrufen (wie z. B. bei ihrer Installation
                                                                                                                  renzpunkt ihrer Arbeit, sondern die vor-      bei den »skulptur projekten münster«
                                                                                                                  handenen, zum Teil winzigsten Spuren,         2007). Der Einsatz unterschiedlicher Ma-
                                                                                                                  die vom Boden auf ihre Leinwand gelan-        terialien charakterisiert ihr Werk, dessen
                                                                                                                  gen. Die Frottage ist für sie das techni-     Wahl durch seine Verfügbarkeit bestimmt
                                                                                                                  sche Mittel, um die eigene kreative Gestal-   wird sowie durch dessen Aufkommen und
                                                                                                                  tung zu reduzieren. Indem sie Strukturen      Prägung in der Welt.
                                                                                                                  des Bodens übernimmt, kann sie nur ein-              In der Ausstellung »Schatzhaus und
                                                                                                                  geschränkt Einfluss auf das Ergebnis ih-      Labor. 25 Jahre Museum Kurhaus Kleve«
                                                                                                                  rer Bilder nehmen. Für sie vordergründig      wird von Isa Genzken die Skulptur Dedicat-
                                                                                                                  ausschlaggebend ist das Gegebene und ar-      ed to the Statue of Liberty (2015) aus der Mön-
                                                                                                                  chitektonisch Vorhandene, wodurch die         chengladbacher Sammlung Viehof gezeigt,
                                                                                                                  Werkgruppe Basic Research gewissermaßen       die aus Gips, Farbe, Spiegelfolie, Kunst-
                                                                                                                  von ihrer Einflussnahme abgekoppelt au-       stoff und MDF besteht und eine eindrück-
                                                                                                                  tomatisiert entsteht.                         liche Präsenz besitzt. Nicht ohne Sarkas-
                                                                                                                        Isa Genzken analysiert Orte und Be-     mus präsentiert uns Isa Genzken hier ihre
                                                                                                                  gebenheiten, um Konsumgüter und Ge-           Version der Freiheitsstatue, die als perfor-
                                                                                                                  genstände des alltäglichen Gebrauchs zu       mative Skulptur und Stellvertreterin für
                                                                                                                  teils waghalsigen Konstellationen zu ar-      die mit ihr assoziierten Werte und Ideo-
                                                                                                                  rangieren und dadurch mit einer Neuco-        logien fungiert. Die Arbeit ist auf eine rol-
                                                                                                                  dierung zu hinterlegen, die bei Betrach-      lende Unterlage montiert, wodurch sie,

60                                                                                                           61

                                                                                                                                                                                  Basic Research, 1990   [134]

Isa Genzken
              Mit ihrem radikalen Erfindungsreichtum          in Wahrheit den Boden ihres Ateliers. Da-
              und ihren komplexen Werken, die am Puls         für breitete die Künstlerin eine grundierte
              der Zeit agieren, gehört Isa Genzken (*1948     Leinwand auf dem Untergrund aus, die sie
              in Bad Oldesloe) zu den unkonventionells-       anschließend auf der Rückseite mit einer
              ten Künstlerinnen der Gegenwart. Sie ig-        Rakel bearbeitete, wodurch ein Abdruck
              noriert klassische Gattungen und kre-           der Bodenfläche mitsamt ihrer Unebenhei-
              iert mit Fragen zum Verhältnis von Raum,        ten und Strukturen entstand. Erst im An-
              Standort und Betrachtung neue Sinnzu-           schluss spannte sie den Malgrund auf, wo-
              sammenhänge. Ihre einzige Kontinuität           durch die aufgetragene Ölfarbe verlief und
              ist es, nie auf Linearität zu setzen und ihre   mitunter über die Kanten floss. Mit diesen
              künstlerische Praxis regelmäßig zu verän-       simplen Mitteln der Frottage erstellte sie
              dern. Im Jahr 2000 erwarb der damalige          ein monochromes Motiv, das bei Betrach-
              Direktor des Museum Kurhaus Kleve, Gui-         ter*innen regelmäßig unterschiedlichs-
              do de Werd, für die Sammlung die beiden         te Assoziationen hervorruft, die von nah-
              eindrucksvollen Werke Basic Research (1990),    ansichtigen Gewebestrukturen bis hin zu
              die seither fester Bestandteil nahezu jeder     monumentalen Oberflächen einer Mond-
              Sammlungspräsentation sind.                     landschaft reichen.
                      Mit der Serie Basic Research beschäf-         Durch die Einbeziehung ihres Ate-
              tigte sich die Künstlerin intensiv zwischen     lierbodens thematisiert Isa Genzken das
              den Jahren 1988 und 1993. Auf den ers-          Verhältnis von Vorlage und Abdruck. Da-
              ten Blick wie Photographien eines frem-         bei betreibt sie keine bloße Reproduktion
              den Planeten anmutend, zeigen die Werke         einer konkreten Fläche, sondern transfor-
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