Schröder, Riester, Müntefering: Die Demontage der Rente

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Schröder, Riester, Müntefering: Die Demontage der Rente
von Martin Staiger

Seit Andrea Nahles, die neue Bundesministerin für Arbeit und Soziales, vor kurzem
ihr Rentenpaket der Öffentlichkeit vorgestellt hat, wird über die Altersversorgung
wieder breit diskutiert. Die Vorschläge gehen zumindest zum Teil in die richtige
Richtung: Die Erhöhung des Rehabudgets und die Verbesserungen bei der
Erwerbsminderungsrente sind für Erwerbstätige mit Rehabilitationsbedarf und für
Menschen, die dauerhaft nicht oder nicht mehr vollschichtig arbeiten können, ein
echter Gewinn. Auch die Verbesserungen bei den Kindererziehungszeiten für
Eltern mit vor 1992 geborenen Kindern waren schon lange fällig – auch wenn sie
zu niedrig ausfallen. Da sie jedoch aus der Rentenkasse und damit aus dem
falschen Topf finanziert werden, wird das Vertrauen in die Verlässlichkeit der
Rentenpolitik weiter beschädigt.

Eindeutig zu kurz greift jedoch die Rente mit 63. Wer 45 Beitragsjahre auf dem
Buckel hat, soll demnächst mit 63 Jahren eine abschlagsfreie Rente erhalten.
Nahles will damit diejenigen belohnen, „die sich reingehängt und angestrengt
haben“. Es gibt jedoch Millionen anderer, die das auch gerne getan hätten. Es war
ihnen aber nicht vergönnt, da sie körperlich oder seelisch dazu nicht in der Lage
waren, da sie in einer Region mit hoher Arbeitslosigkeit lebten oder da sie aufgrund
einer Insolvenz ihres Arbeitgebers im höheren Alter ihren Job verloren und keinen
neuen gefunden hatten. Für sie ändert sich nichts. Gute Sozialpolitik sieht anders
aus.

Betrachtet man die Rentenpolitik über einen längeren Zeitraum, ist das neue
Rentenpaket lediglich ein Sammelsurium von „Notreparaturen“. Diese
Notreparaturen können nur notdürftig die Beschädigungen verdecken, die der
gesetzlichen Rentenversicherung durch die große Rentenreform des ersten rot-
grünen Kabinetts unter Gerhard Schröder, die heute verkürzt unter dem Namen
„Riesterrentenreform“ firmiert, zugefügt wurden.

Als im Herbst 1998 nach 16 Jahren Kohl-Ära das erste rot-grüne Kabinett seine
Arbeit aufnahm, sah es zunächst nach einer Renaissance in der Sozialpolitik aus.
So vereinbarten die beiden Partner, dass sie „den Sozialstaat sichern und erneuern“,
„die solidarische Gesellschaft stärken“ sowie „den Generationenvertrag erneuern
und auf eine neue Grundlage stellen“ würden. So steht es in der schon recht
vergilbten Koalitionsvereinbarung aus dem Jahr 1998. In ihrem rentenpolitischen
Teil wurde „ein bezahlbares Rentensystem, das den Menschen im Alter einen
angemessenen Lebensstandard garantiert“, angekündigt. Besonderes Augenmerk
wollten die Koalitionäre darauf legen, unstete Erwerbsverläufe, Teilzeitarbeit und
schlecht bezahlte Jobs rentenrechtlich abzusichern. Zur langfristigen Finanzierung
der Altersvorsorge wurde vereinbart, neben der gesetzlichen Rentenversicherung –
von der es hieß, sie werde „auch in Zukunft die entscheidende Säule der
Altersvorsorge bleiben“ – die betriebliche und die private Rente zu stärken und
noch eine vierte Säule in die Altersversorgung einzubeziehen. Die vierte Säule
sollte durch „eine stärkere Beteiligung der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer
am Produktivkapital und am Gewinn der Unternehmen“ gebildet werden.

Im Dezember 1998 wurde mit dem Rentenkorrekturgesetz als erster Maßnahme ein
großer Teil des noch unter der Regierung Kohl beschlossenen
Rentenreformgesetzes ausgesetzt. Infolge dieses Rentenkorrekturgesetzes lag im
Jahr darauf zum ersten Mal seit vier Jahren der Rentenanstieg in Ost und West über
der Teuerungsrate. Dies war ein wichtiges Signal an die Rentnerinnen und Rentner,
die nun wieder etwas mehr Geld in der Tasche hatten, was die Inlandsnachfrage
stärkte. Durch weitere Reformen wurde die Einnahmeseite der gesetzlichen
Rentenversicherung gestärkt, ohne die sozialversicherungspflichtig Beschäftigten
zu belasten. So konnte durch das 630-Mark-Gesetz der in den Jahren davor zu
beobachtende       Trend,     „geringfügige“     Beschäftigung      auf    Kosten
sozialversicherungspflichtiger Beschäftigung auszudehnen, gedreht werden. Dies
gelang vor allem dadurch, dass Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber „geringfügig
Beschäftigter“ verpflichtet wurden, für diese eine Pauschale an die Kranken- und
Rentenversicherung zu zahlen. Es wurde somit für Arbeitgeberinnen und
Arbeitgeber      unattraktiver,     Minijobs     zu     schaffen,      was     die
sozialversicherungspflichtige Beschäftigung stärkte und die Einnahmen der
Sozialkassen erhöhte. Durch das Rentenkorrekturgesetz wurde außerdem der Bund
verpflichtet, Bundessteuermittel für Kindererziehungszeiten und für die Kosten der
deutschen Einheit, die die Vorgängerregierung allein der Rentenkasse aufgebürdet
hatte, an die Rentenkasse zu überweisen.

Der Effekt dieser Rentenpolitik, die durch eine auf die gesamtwirtschaftliche
Nachfrage ausgerichtete Steuerpolitik ergänzt wurde, konnte sich sehen lassen: Die
Wirtschaft wuchs, die Zahl der Arbeitslosen ging zurück, die Löhne und Renten
stiegen und die Beiträge zur Sozialversicherung ließen sich sogar senken – obwohl,
oder genauer gesagt: weil man das soziale Netz wieder etwas dichter geknüpft
hatte. Denn endlich wurde wieder eine Wirtschafts- und Sozialpolitik gemacht, die
sich nicht einseitig auf die Verbesserung der Angebotsbedingungen konzentrierte,
sondern die Stärkung der Inlandsnachfrage in den Mittelpunkt stellte.

Warum Rot-Grün diese erfolgreiche Politik nicht fortgesetzt hat, sondern zum
Entsetzen vieler Wählerinnen und Wähler bereits vor der Jahresmitte 1999 und vor
allem in den Folgejahren durch eine diametral konträre Politik ersetzte – darüber
streiten sich die Gelehrten. Es deutet einiges darauf hin, dass der sich dann bald in
Armani-Anzügen als „Genosse der Bosse“ gerierende Gerhard Schröder den
Wechsel hin zu einer den Sozialstaat weiter einschränkenden Politik schon vor der
Wahl geplant hatte. Der Rücktritt des kurzzeitigen Finanzministers Oskar
Lafontaine, der das linke Lager in der SPD nachhaltig schwächte und die
sogenannten Modernisierer stärkte, erleichterte ihm sein Vorhaben wesentlich.
Inzwischen hatte Schröder auch den englischen Premierminister Tony Blair besser
kennengelernt und sich mit ihm zusammen zu einer Art sozialdemokratischen
Avantgarde aufgeschwungen. Die beiden Regierungschefs hatten es sich zum Ziel
gesetzt, die europäische Sozialdemokratie aus ihrer „traditionellen“ Vergangenheit
in eine „moderne“ Zukunft zu führen. In der Schrift „Ein Weg nach vorne für
Europas Sozialdemokraten. Ein Vorschlag von Gerhard Schröder und Tony Blair“,
die als Schröder-Blair-Papier bekannt werden sollte, beschrieben die beiden, was
sie sich unter moderner Sozialdemokratie vorstellten: „Mehr Flexibilität“, „ein
gestrafftes und modernisiertes Steuer- und Sozialleistungssystem“ und eine
Umwandlung des „Sicherheitsnetz[es] aus Ansprüchen in ein Sprungbrett in die
Eigenverantwortung“. Rückenwind bekam Schröder durch den neoliberalen
Zeitgeist, der inzwischen auch in den meisten Medien Einzug gehalten hatte. Man
schrieb und redete vom „überbordenden Sozialstaat“, der zum „Rundum-sorglos-
Paket“ geworden sei und zum Abhängen in der „sozialen Hängematte“ geradezu
einlade.

Teilprivatisierung der gesetzlichen Altersvorsorge

Den Rest erledigten die Lobbyistinnen und Lobbyisten der Finanzbranche und der
an einem niedrigen Rentenversicherungsbeitrag interessierten Arbeitgeberverbände
sowie die für die weiteren Reformen entscheidenden Ministerien. Das waren das
seit    Oskar    Lafontaines      Rücktritt    von    Hans      Eichel   geführte
Bundesfinanzministerium und das Ministerium für Arbeit und Sozialordnung unter
Walter Riester. Im Bundesfinanzministerium, zu dem die Finanzbranche enge
Verbindungen pflegte, wurden zentrale Elemente der später als Riester-Rente
bekannt gewordenen Teilprivatisierung der Alterssicherung ausgearbeitet. Der
„eiserne Hans“, der vom Ehrgeiz getrieben war, einen ausgeglichenen
Bundeshaushalt vorzulegen, war an der Teilprivatisierung der Rente schon
deswegen sehr interessiert, weil so der Rentenversicherungsbeitrag und damit auch
der Steueranteil sinken konnte, den er an die Rentenkasse überweisen musste.
Außerdem versprach sich Eichel „von der steuerlichen Förderung aktienbasierter
Vorsorgeformen primär eine ‚Belebung’ des deutschen Finanzmarktes“.

Und Walter Riester? Der wackere Gewerkschafter spielte in der Phase, in der die
Rentenreformen auf den Weg gebracht wurden, nicht die allein entscheidende
Rolle, die ihm heute gewöhnlich zugeschrieben wird. Riester hatte sich zwar schon
zu seiner Zeit als stellvertretender Vorsitzender der IG Metall dafür ausgesprochen,
die Alterssicherung auf mehrere Säulen zu stellen; er hatte sich jedoch für das in
der Koalitionsvereinbarung festgeschriebene Viersäulenmodell starkgemacht. Die
vierte Säule, die eine stärkere Beteiligung der Arbeitnehmerinnen und
Arbeitnehmer am Produktivkapital und am Gewinn der Unternehmen vorsah,
wurde jedoch im Laufe der Verhandlungen sang- und klanglos beerdigt. Ganz
Parteisoldat, beugte sich Riester sehr schnell der von oben vorgegebenen Linie.
Inzwischen ist er von „seiner“ Reform felsenfest überzeugt und macht seit Jahren
als gefragter Vortragsredner bei Banken und Versicherungen unverdrossen und gut
bezahlt Werbung für den Abschluss weiterer Riester-Renten.

Das alles überragende Ziel der rot-grünen Rentenreform war die kurzfristige
Senkung und langfristige Stabilisierung des Beitragssatzes zur Rentenversicherung.
Die Stabilisierung des Beitragssatzes wurde erreicht, indem man in die
Rentenformel zwei sogenannte Dämpfungsfaktoren einfügte, für die man die wenig
aufschlussreichen Namen Riester-Faktor und Nachhaltigkeitsfaktor erfand. Beide
Faktoren sollten den Anstieg der Renten dämpfen, aber natürlich nur ein bisschen –
so schlimm würde es schon nicht kommen. Und außerdem gab „der Staat“ zum
Ausgleich der Dämpfungen Zuschüsse zum Aufbau von privaten und
Betriebsrenten, die dann – so der wirklich geglaubte oder zumindest überzeugend
vorgetragene Gedanke – dank hoher Renditen am Kapitalmarkt zu einem
sorgenfreien Alter führen würden. Seit 2002 gibt es für einen Vertrag über eine
Riester-Rente direkte Zulagen aus dem Steuersäckel. Einzahlungen in eine als
Entgeltumwandlung bezeichnete Betriebsrente werden seitdem steuer- und
sozialabgabenfrei gestellt.

Private Vorsorge: Gut für Gutverdiener, schlecht für die Sozialkassen

Aus der Sicht von gut verdienenden Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern hatten
die Rentenreformen zunächst durchaus positive Effekte. Durch den sinkenden
Rentenversicherungsbeitrag blieb mehr Netto vom Brutto, und die aus den
Sozialkassen und durch den Fiskus subventionierte Altersvorsorge durch
Entgeltumwandlung wirkte sich beim Einzelnen lange positiv aus. So gibt es nicht
wenige gut verdienende Arbeitnehmer, die von der neuen Gesetzgebung tatsächlich
profitierten. Für den Fiskus und die Sozialkassen waren und sind die Reformen
jedoch teuer. Die Zulagen und Steuererleichterungen für die Riester-Rente
summieren sich bisher auf rund 17 Mrd. Euro. Allein die Einnahmeausfälle der
Sozialkassen durch Entgeltumwandlung dürften etwa in gut doppelter Höhe liegen.
Obwohl es um sehr viel Geld geht, ist die Datenlage extrem lückenhaft. Es gibt
lediglich Schätzungen der Bundesregierung aus den Jahren 2006 und 2007, als die
Sozialabgabenfreiheit der Beiträge zur Entgeltumwandlung breit diskutiert wurde.
Die völlig unsinnige Subventionierung dieser Form der betrieblichen
Altersvorsorge zulasten der Sozialkassen sollte nämlich 2008 auslaufen. Die
damals regierende Große Koalition verlängerte sie jedoch bis zum Sankt-
Nimmerleins-Tag – unter einhelligem Beifall von Versicherungswirtschaft,
Arbeitgeberlobby und selbst aus den Reihen der Gewerkschaften. Die
Gelackmeierten waren und sind die Sozialkassen. Durch Entgeltumwandlung
werden der Kranken-, der Renten-, der Pflege- und der Arbeitslosenversicherung
Jahr für Jahr mehrere Milliarden Euro entzogen. Diese Milliarden wandern zu den
Banken und Versicherungskonzernen und spielen im weltweiten Anlageroulette
mit – und sie tragen ihren Teil zu der bis heute nicht ausgestandenen, fälschlich als
Staatsschuldenkrise bezeichneten Krise des Weltfinanzsystems bei.

Dass die Dämpfungsfaktoren nicht so harmlos sind, wie der Begriff Dämpfung
zunächst suggerierte, zeigte sich rasch. Mehrere Nullrunden und weitere
Rentenreformen schickten die Renten auf Talfahrt. Allein zwischen 2003 und 2005
ergab sich eine reale Rentenkürzung von fünf Prozent, und seitdem sind die Renten
mit lediglich zwei Ausnahmen stets hinter der Teuerungsrate zurückgeblieben.
Diese Entwicklung hatte und hat selbstverständlich auch Auswirkungen auf die
Inlandsnachfrage. Die vielen Milliarden, die den Rentnerinnen und Rentnern durch
die Reformen entzogen werden, fehlen in den Kassen der Konsumgüterindustrie,
des Einzelhandels, der Handwerksbetriebe, der Gastronomie und anderer
Dienstleistungsbetriebe. Nicht erst seit heute wird über die mangelnde
Binnennachfrage geklagt – was auch mit den Rentenkürzungen zusammenhängt.

Die Teilprivatisierung der Altersvorsorge fällt in die große Zeit des Neuen Marktes,
als kleine Softwareschmieden innerhalb kürzester Zeit einen völlig realitätsfernen
Börsenwert in Millionen- oder gar Milliardenhöhe erreichen konnten. Man war
geradezu besoffen von den Möglichkeiten des Kapitalmarktes und den lockenden
Renditen, die die Rendite der biederen gesetzlichen Rentenversicherung angeblich
weit in den Schatten stellten. Es war die Zeit, als der Schlachtruf von Margaret
Thatcher mit einiger Verspätung auch diesseits des Ärmelkanals plötzlich in aller
Munde war: „Es gibt keine Alternative“, tönte es von allen Seiten, was nicht nur in
diesem, sondern auch in allen anderen Zusammenhängen falsch ist. Es gibt immer
Alternativen. Man wollte aber die Alternativen nicht prüfen. Und Walter Riester
verstieg sich, nachdem die „Jahrhundertreform“ in trockenen Tüchern war, sogar zu
der Aussage: „Jede Rentnerin und jeder Rentner wird jetzt und in Zukunft mehr
Renten erhalten als nach altem Recht.“ Dass mit der Krise des Neuen Marktes
damals die erste Hoffnungsblase bereits geplatzt war, focht ihn nicht an.

Einwände gegen diese Rentenpolitik verhallten weitgehend ungehört. So
protestierte der schon damals vermutlich beste Kenner der Materie, der langjährige
Vorsitzende des Sozialbeirates, Winfried Schmähl, scharf gegen die
Teilprivatisierung der Rente. Schmähl hatte schon damals vorausgesehen, was dann
später eintreten sollte, und davor gewarnt, die Akzeptanz des Rentensystems zu
verspielen und die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer einseitig zu belasten.
Aber anstatt ihm ernsthaft zuzuhören, setzte Riester ihn kurzerhand vor die Tür.
Typen wie Schmähl, die nicht in erster Linie betriebs-, sondern volkswirtschaftlich
dachten, passten nicht mehr in die neue und vermeintlich bessere Zeit, in der selbst
Vertreter des Staates den neoliberalen Neusprech à la „privat ist besser als
staatlich“, „der Staat kann es nicht“ etc. pflegten. Schmähls Posten im Sozialbeirat
wurde dann mit Bert Rürup besetzt, der beste Beziehungen zur
Versicherungswirtschaft pflegte und an der Erfindung einer weiteren
kapitalgedeckten Rentenform, die dann später als Rürup-Rente bekannt werden
sollte, maßgeblich beteiligt war.

Die Hartz-Reformen: Es geht den Einnahmen an den Kragen

Die Teilprivatisierung der gesetzlichen Rentenversicherung war kaum durchgesetzt,
da kamen die Hartz-Reformen, die auf den ersten Blick nichts, auf den zweiten
jedoch sehr viel mit der Rentenversicherung zu tun hatten. Mit den Hartz-Gesetzen,
die zwischen 2003 und 2005 in Kraft traten, hatte Deutschland nämlich, so Gerhard
Schröder am 28. Januar 2005 in einer Rede vor dem World Economic Forum in
Davos, „einen der besten Niedriglohnsektoren aufgebaut, den es in Europa gibt“.
Mit Hartz I fielen einige bis dahin geltende Beschränkungen für Leiharbeit weg,
was dazu führte, dass die Zahl der Leiharbeitsplätze stark anstieg. Viele dieser
Arbeitsplätze entstanden jedoch nicht zusätzlich, sondern wurden auf Kosten bisher
bestehender besser bezahlter Arbeitsplätze geschaffen. Mit Hartz II wurde dann die
Lohngrenze für Minijobs deutlich auf damals 400 Euro (heute: 450 Euro) pro
Monat angehoben. Außerdem wurde die Arbeitszeitbeschränkung von bis dahin
15 Stunden pro Woche abgeschafft, was dem Lohndumping im Bereich der
Minijobs Tor und Tür öffnete. Mit Hartz II wurde außerdem der Midijob erfunden.
Midijobs sind Arbeitsverhältnisse mit einem monatlichen Bruttolohn von bisher
über 400 bis 800, seit 2013 zwischen über 450 und 850 Euro. Für Midijobs muss
seit Hartz II ein geringerer Prozentsatz des Einkommens an die
Sozialversicherungen abgeführt werden als für besser bezahlte Beschäftigungen. In
vielen Branchen, zum Beispiel im Einzelhandel oder in der Gastronomie, wurden
ab 2003 viele Vollzeitstellen in mehrere Midi- oder Minijobs aufgespalten. Da
Mini- und Midijobbern außerdem oft ein deutlich geringerer Stundenlohn bezahlt
wird als Vollzeitkräften, spart der Arbeitgeber doppelt. Leidtragende sind die
Beschäftigten – und die Sozialversicherung.

2005 wurde mit der Zusammenlegung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe zur
„Grundsicherung für Arbeitssuchende“ der Schlussstein in das Niedriglohngebäude
eingefügt. Wer auf Hartz IV angewiesen ist, muss so gut wie jeden Job zu beinahe
jedem Lohn annehmen. Hartz IV gab damit dem Wachstum des Niedriglohnsektors
einen weiteren Schub. Inzwischen arbeitet fast ein Viertel der Beschäftigten für
einen Bruttostundenlohn von unter 9,15 Euro.

Aus Minilöhnen werden jedoch nicht nur Minirenten, sondern auch
Minirentenversicherungsbeiträge. So fehlt der gesetzlichen Rentenversicherung
durch die Ausweitung des Niedriglohnsektors bereits heute sehr viel Geld – und
über die Rentenformel, nach der sich die Höhe der Renten berechnet, drücken die
niedrigen Löhne bereits die heutigen Renten.

Kaum waren die ersten beiden Hartz-Gesetze in Kraft, veränderte sich die Relation
zwischen den beiden Einkommensarten, die in der volkswirtschaftlichen
Gesamtrechnung zusammen das Volkseinkommen bilden, dramatisch. Seit Anfang
der 90er Jahre war das Verhältnis zwischen dem zum Großteil
rentenversicherungspflichtigen Arbeitnehmereinkommen und dem – von
Ausnahmen abgesehen – nicht rentenversicherungspflichtigen Unternehmens- und
Vermögenseinkommen relativ stabil. Zwischen 2003 und 2007 stiegen die
Unternehmens- und Vermögenseinkommen dann um mehr als 220 Mrd. Euro an,
während die Arbeitnehmereinkommen im gleichen Zeitraum um nicht einmal
50 Mrd. Euro nach oben gingen – was inflationsbereinigt ein deutliches Minus bei
den Arbeitnehmereinkommen ergab. Für die Rentenversicherung bedeutete diese
Entwicklung Mindereinnahmen in Milliardenhöhe. Und so wurde trotz mehrerer
Nullrunden bei den Renten, die zu realen Rentenkürzungen führten, der
Rentenversicherungsbeitrag sogar angehoben.
Zusätzlich zur politisch gewollten Schwächung der Arbeitnehmereinkommen
entzogen einige weitere Entscheidungen der gesetzlichen Rentenversicherung viele
Milliarden    Euro.    So     wurden     die    Rentenversicherungsbeiträge     für
Langzeitarbeitslose in mehreren Schritten bis auf null herabgesetzt: Noch bis 1996
wurden für Langzeitarbeitslose, die die damalige Arbeitslosenhilfe erhielten,
Beiträge auf der Basis von 80 Prozent ihres letzten Lohnes in die
Rentenversicherung eingezahlt. Für die gesetzliche Rentenversicherung führte diese
Regelung zu jährlichen Einnahmen in Höhe von mehreren Milliarden Euro, die aus
dem allgemeinen Steueraufkommen finanziert wurden; für die Langzeitarbeitslosen
der 90er Jahre bedeutete sie die Aussicht auf eine einigermaßen passable Rente. In
den Jahren 1997, 2000 und 2007 wurden die Beiträge immer weiter gesenkt, bis sie
2011 gänzlich abgeschafft wurden: Seitdem werden für Bezieherinnen und
Bezieher     von      Leistungen     nach     Sozialgesetzbuch II     gar     keine
Rentenversicherungsbeiträge mehr eingezahlt.

„Mehr Netto vom Brutto“ – der falsche Lockruf

An dieser Reformkette zeigt sich schlaglichtartig ein Paradigmenwechsel der
Sozialpolitik. Der bis Mitte der 90er Jahre bestehende Konsens, auch
Langzeitarbeitslose rentenrechtlich abzusichern, bröckelte nach und nach, bis
davon nichts mehr übrig blieb. Diese Entwicklung liegt in der Logik eines anderen
Blicks auf langzeitarbeitslose Menschen. Wurde früher Langzeitarbeitslosigkeit
hauptsächlich auf Wirtschaftskrisen, Missmanagement bei insolventen Betrieben
und den Strukturwandel von der Industrie- zur Dienstleistungsgesellschaft
zurückgeführt, hat sich dieser Blick komplett gewandelt. Langzeitarbeitslosigkeit
gilt heute bei der Mehrheit – zumindest bei der Mehrheit der Medien, die unsere
Einstellung wahrscheinlich wesentlich stärker prägen, als uns lieb ist – als
größtenteils individuell verschuldet. Innerhalb einer solchen Logik sind
Rentenversicherungsbeiträge      für   Langzeitarbeitslose     rausgeschmissenes
Steuergeld.

Die jahrelange Desavouierung der gesetzlichen Rentenversicherung und darüber
hinaus des ganzen Sozialstaates hatte jedoch noch andere Folgen. Viele Menschen,
insbesondere viele junge, haben den Glauben an die Funktionsfähigkeit der
sozialen Sicherungssysteme weitgehend verloren. Nicht nur für viele
Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber, sondern auch für viele abhängig Beschäftigte
sind die Sozialversicherungsbeiträge inzwischen ein Ärgernis. Die große
Gehirnwäsche hat funktioniert. Warum sollte man sozialversicherungspflichtig
arbeiten, wenn die Rente sowieso nicht sicher ist? Klingt da nicht „mehr Netto vom
Brutto“ viel verlockender? In diesem Klima entstand in den letzten Jahren eine
ganze Reihe von sozialversicherungsfreien „Arbeitsverhältnissen“, von denen
manche legal, manche am Rand der Legalität und manche jenseits dieses Randes
angesiedelt sind.

Eine beliebte Möglichkeit, die Zahlung von Sozialversicherungsbeiträgen zu
umgehen, ist die Beschäftigung „auf Honorarbasis“. Wer auf Honorarbasis
beschäftigt ist, erhält für seine Tätigkeit ein Honorar, für das der Auftraggeber
keine Sozialversicherungsbeiträge und keine Lohnsteuer abführt. So gibt es zum
Beispiel Sozialberatungsstellen, bei denen einige Stunden pro Woche auf
Honorarbasis beschäftigte Psychologinnen oder Sozialarbeiter Beratungszeiten
abdecken, die von den „regulär“ Beschäftigten nicht geleistet werden können. Da in
diesen Fällen die auf Honorarbasis Beschäftigten in die Arbeitsorganisation ihres
Auftraggebers eingegliedert sind, müssten sie jedoch nach den Bestimmungen des
Sozialgesetzbuches IV sozialversicherungspflichtig angestellt werden – was für den
„Arbeitgeber“ oder die „Arbeitgeberin“ deutlich teurer wäre als die Beschäftigung
auf Honorarbasis. Auch der oder die Beschäftigte hätte in manchen Fällen weniger
Netto vom Brutto, aber mehr soziale Sicherheit. Diese wird jedoch nicht nur auf
Arbeitgeberseite, sondern auch – siehe oben – immer häufiger von
Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern eher geringer geschätzt. Die vermeintliche
Win-win-Situation ist aber bei genauem Hinsehen eine Win-lose-lose-Situation.
Gewinnerinnen und Gewinner sind die Auftraggeberinnen und Auftraggeber,
Verliererinnen und Verlierer sind die Beschäftigten – und die Sozialversicherung.
Viele dieser Konstruktionen sind sozialrechtlich äußerst fragwürdig. Man ist
geneigt, in dem einen oder anderen Fall von Sozialversicherungsbetrug zu
sprechen. Dennoch gibt es diese Konstruktionen – nicht zuletzt zum Schaden der
gesetzlichen Rentenversicherung.

Eine weitere Möglichkeit für Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber, die
Sozialversicherungspflicht zu umgehen, ist der Abschluss von Werkverträgen.
Nach einer Umfrage der Gewerkschaft Nahrung-Genuss-Gaststätten ist diese Form
von Beschäftigung insbesondere in der Getränkeindustrie, der Milchwirtschaft
sowie der Brot- und Backwarenindustrie stark auf dem Vormarsch. In
Schlachthöfen oder auch im Bereich der Paketzustellung gibt es schon länger
Werkverträge. Wer auf der Basis eines Werkvertrages arbeitet, bekommt keinen
Stundenlohn, sondern wird nach abgeschlossenen „Werken“ bezahlt – pro
geschlachtetem Tier, pro zugestelltem Paket, pro eingeräumtem Regal oder pro
gebackenem Brot. Der Vorteil für den „Arbeitgeber“ liegt auf der Hand: Die
Bezahlung unproduktiver Zeiten wie Krankheit oder Urlaub fällt ebenso weg wie
der Kündigungsschutz oder die Bezahlung von Sozialversicherungsbeiträgen. Das
Nachsehen haben auch hier die Beschäftigten und die Sozialversicherung.

Eine Möglichkeit, ganz legal Sozialversicherungsbeiträge zu sparen, bieten die
Sozialversicherungsverordnung und das Einkommensteuergesetz. Sehr beliebt sind
Benzingutscheine, die bis zu einem Wert von 44 Euro pro Monat für den
Arbeitnehmer steuer- und sozialversicherungsfrei sind. Es gibt jedoch noch andere
Möglichkeiten: So lässt sich zum Beispiel ein Teil des Lohnes steuer- und
sozialabgabenfrei    als   Essensgeld,    als    Internetpauschale     oder   als
„Erholungsbeihilfe“    auszahlen    –    ganz    legal. Das        Geschäft   der
Lohnoptimierungsbranche boomt. Nach einem Bericht von „Welt Online“ hat
allein die Bocholter Unternehmensberatung „praemium“ rund 280 Unternehmen
mit mehr als 10 000 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern zur Senkung der
Lohnnebenkosten verholfen. Von den meisten Belegschaften ist gegen ein solches
Gebaren kaum Widerstand zu erwarten – im Gegenteil: Mehr Netto vom Brutto
nimmt jeder gern.

Die Ehrlichen sind die Dummen

Die Ausbreitung der verschiedenen Spielarten von nicht oder nur zum Teil
sozialversicherungspflichtiger Beschäftigung führt auch zu negativen
Zweitrundeneffekten. Denn Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber, die ihre
Beschäftigten voll sozialversicherungspflichtig anstellen, erleiden gegenüber
denjenigen, die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter nicht oder nur zum Teil
sozialversichert    beschäftigen,    Wettbewerbsnachteile.       Da     in     vielen
Dienstleistungsberufen wie zum Beispiel im Einzelhandel die Höhe der Lohnkosten
ein entscheidender Faktor für die Wettbewerbsfähigkeit ist, können diese
Wettbewerbsnachteile so groß werden, dass den Arbeitgeberinnen und
Arbeitgebern, die ihre Beschäftigten voll sozialversicherungspflichtig anstellen, nur
noch zwei Möglichkeiten bleiben: mitmachen oder aufgeben.

Mini- und Midijobs, Honorarjobs, Werkverträge, unbezahlte oder schlecht bezahlte
Praktika und die sozialversicherungsfreie Auszahlung von Lohnbestandteilen haben
eines gemeinsam: Sie führen zu keinen oder nur zu geringen Einzahlungen in die
gesetzliche Rentenversicherung, der damit weitere Milliarden fehlen. Und für die
Betroffenen, die vielleicht in manchen Fällen nicht einmal ungern in einem solchen
„Arbeitsverhältnis“ arbeiten, kommt das böse Erwachen im Rentenalter, da es für
nicht sozialversicherungspflichtige Bezüge auch keine Rente gibt.

Obwohl sie mit der Einführung der Riester-Rente und den weiteren Reformen
schon sehr viel mehr bekommen, als sie vermutlich zu hoffen gewagt hatten, gaben
die Lobbyistinnen und Lobbyisten keine Ruhe. Wegen der – im
Versicherungsdeutsch wenig charmant „Langlebigkeitsrisiko“ genannten –
 gestiegenen Lebenserwartung sollten die Leute doch bitte gefälligst auch länger
arbeiten,   so    argumentierten   die    Versicherungswirtschaft     und    die
Arbeitgeberverbände. Und sie stießen damit bei der ab Herbst 2005 regierenden
Großen Koalition auf offene Ohren.

Die Rente mit 67

Ist die Teilprivatisierung der Rente mit dem Namen Walter Riester verknüpft, lässt
sich die Rente mit 67 nicht von Franz Müntefering trennen. Der Arbeits- und
Sozialminister, der damals just selbst 67 wurde, setzte 2007 zum Entsetzen vieler
seiner Genossinnen und Genossen mit großer Zähigkeit diese bisher letzte große
Rentenreform durch. Diesmal protestierte nicht nur die Linkspartei, auch aus dem
Lager der Gewerkschaften, die den vorhergehenden Rentenreformen nicht sehr
viele Steine in den Weg gelegt hatten, war heftiger Widerstand zu vernehmen. Der
Protest nutzte jedoch nichts; die Rentenreform wurde mit überwältigender Mehrheit
vom Parlament beschlossen. Das Renteneintrittsalter steigt nun schrittweise an, bis
die Jahrgänge 1964 und jünger erst mit 67 eine volle Altersrente erhalten können.
Die Ausnahme für langjährig Beschäftigte mit mindestens 45 Versicherungsjahren,
die mit 65 Jahren abschlagfrei in Rente gehen konnten, soll nun schon ab 63 Jahren
greifen. Davon profitieren jedoch nur wenige ältere Arbeitnehmerinnen und
Arbeitnehmer. Viele Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber sind nach wie vor kaum
bereit, über Fünfzigjährige einzustellen. So ist zu erwarten, dass auch in Zukunft
viele Beschäftigte nicht bis zum Renteneintrittsalter sozialversicherungspflichtig
arbeiten werden. Die Zahl der rentennahen Jahrgänge, die Arbeit haben, steigt zwar
seit Jahren leicht an, was von den Befürworterinnen und Befürwortern der Rente
mit 67 als Erfolg gewertet wird. Sozialversicherungspflichtig arbeitet jedoch nach
wie vor nur eine kleine Minderheit der Älteren.

Es ist absehbar, dass die schrittweise Anhebung des Renteneintrittsalters für viele
Rentnerinnen und Rentner der Zukunft neben all den anderen Kürzungen zur
weiteren Verminderung ihrer Altersbezüge führt. Schon seit Jahren gehen rund 50
Prozent der Neurentnerinnen und Neurentner vor dem gesetzlichen Eintrittsalter in
Rente, was zu Abschlägen führt. Wer heute beispielsweise bereits mit 62 in Rente
geht, muss mit mehr als elf Prozent Rentenabschlag rechnen. Die
durchschnittlichen Abschläge liegen seit Jahren stabil bei etwas über hundert Euro
pro Monat. Und eine Änderung ist nicht in Sicht – daran werden auch die jüngsten
Vorschläge der neuen Arbeitsministerin nichts ändern.

* Der Beitrag basiert auf dem jüngsten Buch des Autors, Rettet die Rente, das 2013 in der Publik-Forum
Verlagsgesesellschaft mbH, Oberursel, erschienen ist (Bestellnummer 3024, auch als E-Book erhältlich).
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