Schutzhandeln bei Hochwasser, Hitze und Co - Umweltpsychologische Theorien für die Naturrisikenforschung - Universität ...
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Schwerpunkt Schutzhandeln bei Hochwasser, Hitze und Co. – Umweltpsychologische Theorien für die Naturrisikenforschung Anna Heidenreich, Sabrina Köhler, Sebastian Seebauer & Torsten Masson Anna Heidenreich Sebastian Seebauer ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am ist wissenschaftlicher Mitarbeiter bei Institut für Umweltwissenschaften und der JOANNEUM RESEARCH Forschungs- Geographie an der Universität Potsdam. Im Kontext Naturrisiken gesellschaft. Seine Forschungsschwerpunkte sind private Anpas- befasst sie sich insbesondere mit Risikokommunikation, Risiko- sung an Naturgefahren und die Nutzung energieeffizienter Tech- wahrnehmung und Vorsorgeverhalten. Nach dem Psychologiestu- nologien in Wohnen und Mobilität. Frühere Tätigkeiten u.a. an dium in Jena, Budapest und Magdeburg war sie an der Fachhoch- der Universität Graz, den Technischen Universitäten Wien und schule Bielefeld tätig. Graz sowie als selbständiger Marktforscher. Sabrina Köhler Torsten Masson ist Doktorandin am Lehrstuhl für Sozi- arbeitet als wissenschaftlicher Mitar- alpsychologie an der Universität Leip- beiter am Lehrstuhl für Sozialpsycho- zig. Sie befasst sich mit Themen der Umweltpsychologie, insbe- logie an der Universität Leipzig. Er forscht zu sozialem Einfluss in sondere mit dem Einfluss sozialer Identität auf kollektives Gruppen und motivierter sozialer Kognition, vor allem im Kontext Schutz- und Hilfeverhalten im Bedrohungskontext. umweltschonenden Handelns. Davor war er u.a. an der Fachhoch- schule Bielefeld und am Helmholtz-Zentrum für Umweltforschung - UFZ tätig. 92 Umweltpsychologie, 24. Jg., Heft 2, 2020, 92-109 Dieses Dokument ist lizenziert für Humboldt Universität zu Berlin, ui38621A. Alle Rechte vorbehalten. © Umweltpsychologie. Download vom 04.01.2021 17:56 von www.wiso-net.de.
Zusammenfassung Abstract In den vergangenen Jahrzehnten haben ganz Protective action against flooding, heat etc. Europa und im speziellen Deutschland zahlrei- – Theories from Environmental Psychology che Wetterextreme erlebt, die finanzielle Schä- for Natural Hazards Research den in Milliardenhöhe verursacht und zehntau- In the past decades, we have experienced nu- sende Todesopfer gefordert haben. Naturgefah- merous weather extremes that caused large fi- ren wie Hochwasser, Starkregen und Hitzewel- nancial damage and killed ten thousands of len können durch den fortschreitenden Klima- people across Europe and Germany in particu- wandel häufiger und stärker auftreten. Durch lar. Natural hazards such as flooding, heavy rain- Vorsorgemaßnahmen kann das Schadensausmaß fall and heat waves are likely to occur more fre- gemindert und die Gesundheit der Bevölkerung quently and more intense as a result of climate geschützt werden. Es ist jedoch nicht nur staat-change. Protection measures can reduce damage liche Vorsorge geboten, wie der Bau von Dei- and improve public health. However, not only chen und Spundwänden. Die Bürger*innen public protection is needed, such as the con- sind auch gefordert, selbst vorzusorgen. struction of dykes and sheet pile walls. Citizens are also responsible to take up private precau- In der aktuellen Risikoforschung werden ver- tion. schiedene psychologische Theorien angewandt, um privates Schutzhandeln zu erklären.Wir stel- In current risk research various theories are ap- len die Protection Motivation Theory (PMT), plied to explain private protection behaviour. das Protective Action Decision Model (PADM) We introduce the Protection Motivation Theo- und das Risk Information Seeking and Proces- ry (PMT), the Protective Action Decision sing Model (RISP) vor, vergleichen deren Er- Model (PADM) and the Risk Seeking and Pro- klärungskraft und praktische Bedeutung und cessing Model (RISP), compare their explana- schlagen Anpassungen und Erweiterungen der tory power and practical significance, and pro- bestehenden Theorieangebote für die zukünf- pose theoretical adaptations and extensions for tige Naturrisikoforschung vor. future research on natural hazards. Wir empfehlen, kollektives Schutzhandeln stär- We recommend a stronger focus on collective ker in den Fokus zu rücken, Schutzhandeln als action in protection behaviour. Furthermore, Prozess zu untersuchen und das Raumerleben protective action should be explored as a grad- im Kontext von Naturrisiken zu erforschen. ual learning and adaptation process. Finally, we Etablierte Forschungsansätze aus der Umwelt- describe how methods like cognitive mapping psychologie und anderen Disziplinen können can be applied in natural hazards research. This auf die Naturrisikenforschung übertragen wer- article serves as an overview on expertise from den. Der Artikel dient als Überblick über die environmental psychology for practitioners of umweltpsychologische Expertise und gibt Prak- disaster risk management. tiker*innen Anknüpfungspunkte für die Unter- stützung des Risikomanagements, insbesondere Keywords: Natural hazards, self-provision, com- die Risikokommunikation. parison of models, climate change adaptation, environmental behaviour Schlüsselwörter: Naturgefahren, Eigenvorsorge, Modellvergleich, Klimawandelanpassung, Um- weltverhalten Heidenreich, Köhler, Seebauer & Masson 93 Dieses Dokument ist lizenziert für Humboldt Universität zu Berlin, ui38621A. Alle Rechte vorbehalten. © Umweltpsychologie. Download vom 04.01.2021 17:56 von www.wiso-net.de.
Schwerpunkt mit dem Ziel, sich selbst vor Schäden durch eine (mögliche oder aktuelle) Naturgefahr zu schüt- 1 Schutz vor klimabedingten zen, ergriffen werden können. Das schließt so- Naturgefahren wohl Bauvorsorge, also bauliche Maßnahmen, die direkt am eigenen Haus bzw. der eigenen Durch den anthropogenen Klimawandel ereig- Wohnung durchgeführt werden, als auch Ver- nen sich unterschiedliche Extremwetterereig- haltensvorsorge mit ein, also eine Anpassung nisse vielerorts zum Teil häufiger oder in stärke- und Ergänzung der alltäglichen Handlungen. rer Intensität als in der Vergangenheit und es ist Bei Bauvorsorge handelt es sich zumeist um wahrscheinlich, dass sich dieser Trend fortsetzen Maßnahmen, die einmalig durchgeführt werden und verstärken wird (IPCC, 2012, 2014; Blun- und häufig eine kostspielige Investition darstel- den & Arndt, 2019). Hitzewellen, Hochwasser, len (z. B. wasserdichte Fenster einbauen, den Starkregen, Stürme und andere Extremereignis- Öltank gegen Aufschwimmen sichern, eine se treten für viele Betroffene oft überraschend Markise zur Verschattung der Wohnung anbrin- auf und können dadurch starke, teils lebensbe- gen). Maßnahmen der Verhaltensvorsorge sind drohliche Auswirkungen annehmen. So kam es oft mit geringeren oder keinen monetären Kos- beispielsweise in den Jahren 2002 und 2013 ent- ten verbunden, entfalten ihren vollen Nutzen lang der Elbe und Donau zu extremen Hoch- aber zumeist nur, wenn sie routiniert im Alltag wassern, die Schäden von insgesamt über 17 durchgeführt werden. Regelmäßiges Abrufen Milliarden Euro verursachten und 35 Men- der aktuellen Warnlage, Absprachen mit der Fa- schenleben forderten (DKKV, 2015). Mit dem milie oder Hausgemeinschaft zu Maßnahmen Hitzesommer 2003 werden in ganz Europa im Ernstfall und das Bereitstellen (und regelmä- 70.000 Todesfälle in Verbindung gebracht (Ro- ßige Kontrollieren) eines „Notfallkoffers” fallen bine, Cheung, Le Roy,Van Oyen, Griffiths, Mi- in diesen Bereich. chel & Herrmann, 2008); den gehäuften Hitze- tagen im Sommer 2018 werden allein in Berlin Privates Schutzhandeln ist eine wichtige Ergän- 490 Todesfälle zugeschrieben (an der Heiden, zung zu staatlichen Schutzmaßnahmen. Jedoch Buchholz & Uphoff, 2019). konnten Befragungen aufzeigen, dass die Mehr- heit der Menschen, die zum Beispiel in hoch- Oft kommt es zu diesen Verlusten sowie im- wassergefährdeten Gebieten leben, weder über mensen monetären, physischen und psychischen ihr Hochwasserrisiko nachdenkt noch sich für Schäden wegen unzureichendem oder ausge- ihren Hochwasserschutz verantwortlich fühlt bliebenem Anpassungsverhalten (IPCC, 2014). (Terpstra, 2010) oder Eigenvorsorgemaßnah- Jede Naturgefahr fordert selbstredend unter- men umgesetzt hat (Krasovskaia, Gottschalk, schiedliche Vorsorgemaßnahmen, welche zum Skiple Ibrekk & Berg, 2007). Ein Anliegen der Teil von staatlicher Seite ergriffen werden, wie Naturrisikenforschung ist es daher, Faktoren zu beispielsweise den Bau von Deichen (Hochwas- identifizieren, die privates Schutzhandeln för- ser) und das Aufstellen von Trinkbrunnen (Hit- dern können. ze), aber auch von Privatpersonen und -haus- halten umgesetzt werden können. Dieser Artikel Anfänglich wurden vor allem Bedingungen der fokussiert auf privates Schutzhandeln - dazu ge- Risikowahrnehmung erforscht (z.B. Slovic, hören sowohl die präventive Eigenvorsorge als 1987). Wie der ingenieurstechnische Risikobe- auch die unmittelbare Reaktion auf ein akut griff wird auch in der sozialwissenschaftlichen eintretendes Ereignis. Schutzhandeln umfasst Naturrisikenforschung Risiko als die Kombina- alle Maßnahmen, die von einer Privatperson tion aus Auftrittswahrscheinlichkeit des Gefah- 94 Schutzhandeln bei Hochwasser, Hitze und Co. Dieses Dokument ist lizenziert für Humboldt Universität zu Berlin, ui38621A. Alle Rechte vorbehalten. © Umweltpsychologie. Download vom 04.01.2021 17:56 von www.wiso-net.de.
renprozesses, Exposition und Verletzlichkeit ei- öffentliche Behörden, Ingenieur*innen und nes Haushalts verstanden (siehe auch Birkmann, Hilfsorganisationen wollen Privatpersonen zum 2008). Risikowahrnehmungen unterscheiden richtigen Umgang mit Naturrisiken anregen. sich zwischen den verschiedenen Naturrisiken: Die einfache Informationsgabe mittels Risiko- Hitze wird beispielsweise zumeist nur als lästig, kommunikation und Warnungen genügt jedoch nicht aber als ernsthafte Bedrohung betrachtet, in der Regel nicht, um Schutzhandeln zu moti- obwohl sie in Europa statistisch betrachtet die vieren (Kellens, Terpstra & De Maeyer, 2013; meisten Todesopfer fordert (Forzieri, Cescatti, e O’Sullivan, Bradford, Bonaiuto, Dominics, Rot- Silva & Feyen, 2017). Die Wahrnehmung, von ko, Aaltonen, Waylen & Langan, 2012). Wir den Folgen eines Extremwetterereignisses be- möchten mit diesem Artikel aufzeigen, welchen droht zu sein, ist jedoch nur einer von mehreren theoretischen Beitrag umweltpsychologische Faktoren, die Schutzhandeln beeinflussen. Neu- Expertise zum Risikomanagement leisten kann ere Handlungsmodelle der Naturrisikenfor- und einen Überblick für Praktiker*innen und schung beziehen daher weitere psychologische Fachleute anderer Disziplinen geben.Wir stellen Einflussfaktoren mit ein. drei etablierte Handlungsmodelle vor und be- schreiben ihre Anwendungsbereiche und Lü- Bisher ist die Umweltpsychologie in der Natur- cken; anschließend diskutieren wir Konzepte, risikenforschung unterrepräsentiert, obwohl die sich in anderen umweltpsychologischen sich hier das umweltpsychologische Kernthema Forschungsfeldern bewährt haben, aber noch der Mensch-Umwelt-Interaktion deutlich dar- nicht von der Naturrisikenforschung aufgegrif- stellt: Naturgefahrenprozesse treffen auf men- fen wurden. schengemachte Siedlungsstrukturen und Schutzmaßnahmen, die ihrerseits den Verlauf 2 Etablierte Handlungsmodelle dieser Prozesse beeinflussen. Angesichts zuneh- der Naturrisikenforschung mender Risiken stoßen klassische technische Maßnahmen an ihre Grenzen, und private Ei- 2.1 Protection Motivation Theory genvorsorge wird politisch zunehmend einge- fordert (Kuhlicke, Seebauer, Hudson, Begg, Bu- Die Protection Motivation Theory (PMT) nach beck, Dittmer, Grothmann, Heidenreich, Rogers (1975, 1983) basiert auf der Annahme, Kreibich, Lorenz, Masson, Reiter,Thaler,Thieke dass Furchtappelle zu erhöhten Verhaltensinten- &, Bamberg, 2020). tionen (hier: Schutzmotivati- on) führen. Die Grundidee Protection Motivation Das Wasserhaushaltsgesetz (§ 5 Abs. 2 WHG) re- entspricht einer Erwartungs- Theory – eine der gelt seit 2005, dass jede Person in Deutschland mal-Wert-Überlegung: Die zentralen Theorien zur selbst „im Rahmen des ihr Möglichen und Zumutba- Einzelperson wägt die eigene Erklärung von Schutz- ren“ Vorsorge gegen Hochwasser treffen muss. Bedrohung und die persönli- handeln In Österreich hingegen haben Bürger*innen che Bewältigungsfähigkeit ab. keinen rechtlichen Anspruch auf öffentlichen Die Bedrohungseinschätzung (siehe Abbildung Schutz gegen Naturrisiken, sind aber auch nicht 1) ergibt sich aus der Verwundbarkeit (Betrof- zur Eigenvorsorge verpflichtet. Staatliche Vorga- fenheit) und dem wahrgenommenen Schwere- ben zur Eigenvorsorge sind nur im Bewilli- grad der potenziellen Auswirkungen. Beides gungsverfahren von Neubauten möglich (Rau- wird von der Furcht beeinflusst, die auch einen ter, Schindelegger, Fuchs & Thaler, 2019). direkten Effekt auf die Schutzmotivation hat. Verschiedene Institutionen und Disziplinen wie Die Bewältigungseinschätzung setzt sich zusam- z.B. meteorologische Dienste, Versicherungen, men aus der Handlungswirksamkeit, also der Heidenreich, Köhler, Seebauer & Masson 95 Dieses Dokument ist lizenziert für Humboldt Universität zu Berlin, ui38621A. Alle Rechte vorbehalten. © Umweltpsychologie. Download vom 04.01.2021 17:56 von www.wiso-net.de.
Schwerpunkt 2000; Milne, Sheeran & Orbell, 2000). Groth- mann und Reusswig (2006) wandten die PMT wahrgenommenen Wirksamkeit von Schutz- zum ersten Mal im deutschsprachigen Raum im handlungen, der Selbstwirksamkeit, also der Kontext der Hochwasservorsorge an; darauf Überzeugung, Schutzhandeln erfolgreich um- folgte eine Reihe von u.a. europäischen Studien setzen zu können, und den Handlungskosten. (Bubeck, Botzen, Kreibich & Aerts, 2013; Dit- Bei gleichzeitig hoher Bedrohungs- und Bewäl- trich, Wreford, Butler & Moran, 2016; Richert, tigungseinschätzung steigt die Schutzmotivation Erdlenbruch & Figuières, 2017; Zaalberg, Mid- und damit auch die Wahrscheinlichkeit für akti- den, Meijnders & McCalley, 2009). Die PMT ves Schutzhandeln (z.B. Umsetzung baulicher wurde aber auch in Bezug auf andere Naturge- Schutzmaßnahmen am eigenen Haus). Wenn fahren genutzt, wie z.B. Dürren (Truelove, Car- eine hohe Bedrohungs- auf eine niedrige Be- rico & Thabrew, 2015), Erdbeben (Mulilis & wältigungseinschätzung trifft, wird die daraus Lippa, 1990), Vulkanausbrüche (Paton, Smith & entstehende Dissonanz durch problemabge- Johnston, 2000) und Tornados (Weinstein, Lyon, wandte Bewältigungsstrategien verringert, wie Rothman & Cuite, 2000). z.B. Verdrängen und Leugnen („Es wird hier si- cher nicht (nochmal) zu einem Hochwasser kom- Die Metaanalyse von Bamberg, Masson, Brewitt men.”, „Uns wird es schon nicht treffen.” usw.), und Nemetschek (2017) fasst 35 Studien zur oder fatalistischen Glauben an höhere Mächte PMT im Kontext der Hochwasservorsorge zu- („So Gott will...”, „Hochwasser ist eine unkontrol- sammen. Es fanden sich signifikante bivariate lierbare Naturgewalt.”). Korrelationen sowohl der Bewältigungs- (r = .25) als auch der Bedrohungseinschätzung Die PMT hat ihren Ursprung in der Gesund- (r = .23) mit der Schutzmotivation. Es wird heitspsychologie und besitzt in der Erklärung deutlich, dass beide Faktoren bedeutsam für die gesundheitsrelevanten Verhaltens, wie z.B. Rau- Erklärung von Schutzmotivation und Vorsorge- cherentwöhnung, Krankheitsprävention und verhalten sind. Darüber hinaus zeigen Bamberg Gewichtsabnahme, eine gute Evidenzlage (Me- et al. (2017) Effekte von hochwasserbezogenen taanalysen von Floyd, Prentice-Dunn & Rogers, Emotionen (r= .17) und Hochwassererfahrun- Abbildung 1. Eigene Darstellung der Protection Motivation Theory (PMT) nach Rogers (1983) 96 Schutzhandeln bei Hochwasser, Hitze und Co. Dieses Dokument ist lizenziert für Humboldt Universität zu Berlin, ui38621A. Alle Rechte vorbehalten. © Umweltpsychologie. Download vom 04.01.2021 17:56 von www.wiso-net.de.
gen (r= .15) auf die Schutzmotivation. Die Me- hungseinschätzung, die Einschätzung von taanalyse zeigt auch die Grenzen der PMT auf: Schutzhandeln und die Einschätzung von rele- Insgesamt können nur rund 13% der Varianz des vanten Stakeholdern. Letztere sind beispiels- Risikovorsorgeverhaltens erklärt werden. weise Behörden, Regierungen, Medien, Arbeit- geber*innen, Hilfsorganisationen und andere 2.2 Protective Action Decision Model Privatpersonen. Diese Einschätzungen formen wiederum die Basis dafür, wie man auf unmit- Das Protective Action Decision Model (PADM) von telbare oder langfristige Bedrohungen reagiert: Lindell und Perry (2004, 2012) enthält die Es kommt zur Entscheidungsfindung über Konstrukte der PMT in leicht abweichenden Schutzhandeln. Das Ergebnis dieses Entschei- Bezeichnungen; hinzu kommen Elemente der dungsfindungsprozesses leitet in Verbindung mit Risikokommunikation, des sozialen Umfelds möglichen situativen Vermittlern und Hürden und relevanter Stakeholder. das Verhalten ein, welches sich als aktives Schutzhandeln, als Informationssuche oder als Gemäß PADM durchläuft eine Person typi- emotionsbasierte Bewältigung äußern kann. scherweise auf dem Weg zu einem konkreten Über eine zusätzliche Feedbackschleife kann Schutzhandeln mehrere Stufen (Abbildung 2). der Prozess erneut beginnen und neue Um- An erster Stelle wird der Kontext der Person welt- und soziale Reize einbeziehen. betrachtet. Es wird berücksichtigt, welche In- formationen die Umwelt und das soziale Um- Das PADM wurde entwickelt, um Prozesse der feld bereitstellen, welche Informationsquellen Risiko- und Krisenkommunikation erforschen zugänglich sind und genutzt werden, welche und verbessern zu können (Lindell & Perry, Warnungen es gibt und welche Eigenschaften 2004). Seinen großen Mehr- den Empfänger oder die Empfängerin auszeich- wert machen die Integration PADM als Rahmenkon- nen. Die nächste Stufe beinhaltet Vorentschei- von Kommunikationselemen- zept für Risikokommu- dungsprozesse: Es geht um die Exposition und ten sowie die Wahrnehmung nikation und Gefahren- die Aufmerksamkeit gegenüber einer Warnung von anderen Akteuren aus. Es warnungen und das Verständnis der Bedrohung. Ist eine Per- gibt bereits mehrere empiri- son der konkreten Warnung ausgesetzt, nimmt sche Untersuchungen, die das PADM als theo- diese wahr und interpretiert sie korrekt, werden retische Grundlage nutzen. Oft behandeln sie drei Einschätzungen eingeleitet: Die Bedro- die Evakuierungsbereitschaft bei Naturrisiken Abbildung 2. Eigene Darstellung des Protective Action Decision Model (PADM) nach Lindell und Perry (2004, 2012) Heidenreich, Köhler, Seebauer & Masson 97 Dieses Dokument ist lizenziert für Humboldt Universität zu Berlin, ui38621A. Alle Rechte vorbehalten. © Umweltpsychologie. Download vom 04.01.2021 17:56 von www.wiso-net.de.
Schwerpunkt toren zu erklären, welche die Suche oder Such- vermeidung sowie die Verarbeitung von Risiko- (z.B. Terpstra & Lindell, 2012) oder den Um- informationen bestimmen. Die Informations- gang mit technischen Risiken, wie z.B. im Um- suche bzw. -vermeidung kann dabei habituell kreis von Chemie- oder Kraftwerken (z.B. He- oder nicht habituell erfolgen und die Informa- ath, Lee, Palenchar & Lemon, 2018). Die tionsverarbeitung kann heuristischer oder syste- Anwendung des PADM wurde unseres Wissens matischer Natur sein. bisher nicht metaanalytisch zusammengefasst. Das Modell postuliert, dass sieben Faktoren das 2.3 Risk Information Seeking and Ausmaß der Informationsbeschaffung und die Processing Model Verarbeitung von Risikoinformationen beein- flussen (Abbildung 3). Basierend auf dem Suffi- Ein weiterer wichtiger theoretischer Impuls zienzprinzip des Heuristic-Systematic Model of In- wird durch das Risk Information Seeking and Pro- formation Processing (HSM; Eagly & Chaiken, cessing Model gegeben (RISP; Griffin, Dunwoo- 1993) und der Theory of Planned Behavior (TPB; dy & Neuwirth, 1999). Während die PMT und Ajzen, 1991) nimmt das RISP an, dass Men- das PADM vor allem relevant für die Erklärung schen, die sich intensiver mit der Suche und Ver- und die Vorhersage von Risikovorsorgeverhal- arbeitung von Informationen beschäftigen, eher ten sind, zielt das RISP darauf ab, die sozialen, risikobezogene Kognitionen, Einstellungen und psychologischen und kommunikativen Fak- Verhaltensweisen entwickeln. Der zentrale Aus- Abbildung 3. Eigene Darstellung des Risk Information Seeking and Processing Models (RISP) nach Griffin et al. (1999) und Yang, Aloe et al. (2014) 98 Schutzhandeln bei Hochwasser, Hitze und Co. Dieses Dokument ist lizenziert für Humboldt Universität zu Berlin, ui38621A. Alle Rechte vorbehalten. © Umweltpsychologie. Download vom 04.01.2021 17:56 von www.wiso-net.de.
gangspunkt des Modells ist die wahrgenomme- Eine Metaanalyse von Yang, Aloe und Feeley ne Diskrepanz zwischen dem eigenen aktuellen (2014) fasst Ergebnisse von 13 Informationsstand und dem Informationsbe- Studien zusammen und belegt RISP beschreibt die dürfnis. Demnach sind Menschen bemüht, In- seine konzeptionelle Rele- Suche und Verarbeitung formationen zu suchen und zu verarbeiten, bis vanz. Gemäß Yang et al. (ebd.) von Risikoinformation eine bestimmte Bedarfsschwelle erreicht ist, ab erklären insbesondere zwei der sie sich ausreichend informiert fühlen, um Variablen, und zwar der aktuelle Informations- mit einem Risiko gut umgehen zu können. Die stand und die subjektiven Informationsnormen, Höhe der Schwelle wird zum einen von subjek- einen Großteil der Varianz im Informations- tiven Informationsnormen, also dem empfun- such- und -verarbeitungsverhalten. denen sozialen Druck, welche Informationen man besitzen sollte, beeinflusst. Zum anderen 2.4 Zwischenfazit wird sie von emotionalen Reaktionen auf das Risiko, welchen eine kognitive Einschätzung Die drei beschriebenen Modelle bieten unter- des Risikos vorausgeht, bedingt. Neben dem In- schiedliche Ansatzpunkte zur Erklärung priva- formationsbedürfnis spielen die wahrgenom- ten Schutzhandelns bei Naturgefahren. Es gibt mene Fähigkeit zum Sammeln von Informatio- einige konzeptionelle Überlappungen, bei- nen und die wahrgenommenen Eigenschaften spielsweise zwischen der Bewältigungseinschät- des Medienangebots eine Rolle für das Infor- zung in der PMT und der Bewertung von mationsverhalten. Hintergrundfaktoren im Mo- Schutzhandeln im PADM. Die PMT ist das äl- dell sind die individuellen Charakteristika der teste und am weitesten verbreitete der drei vor- Suchenden, wie zum Beispiel die Erfahrungen gestellten Modelle. Allerdings hat die PMT nur mit der Bedrohung und soziodemografische geringe prädiktive Validität zur Vorhersage von Merkmale. Schutzhandeln (Bamberg et al., 2017); für das PADM und das RISP existieren bisher keine Eine sorgfältige Informationsverarbeitung führt vergleichbar umfassenden Metaanalysen in der dem RISP zufolge zu einer stärkeren Beachtung Naturrisikenforschung. Das PADM hat seinen der in Risikomeldungen kommunizierten Nutzen in der Konzeption und Evaluation von Empfehlungen. In der Kommunikation von Risikokommunikationsstrategien und der Er- Naturrisiken ist diese Betrachtung wichtig, forschung von Evakuationsbereitschaft. Das denn die bloße Verfügbarkeit von Informatio- RISP bietet eine Grundlage zur Erklärung von nen über Naturrisiken und die Zunahme von risikobezogener Informationssuche. PADM und Extremwetterereignissen führt nicht notwendi- RISP sind vergleichsweise neu und empirisch gerweise zu mehr oder besserem Wissen über weniger überprüft. Es gibt bereits mehrere An- die Thematik (Leiserowitz, Smith & Marlon, sätze zur Ergänzung der PMT (Bamberg et al., 2010). Obwohl Informationen verfügbar sind, 2017; Botzen, Kunreuther, Czajkowski & Moel, beachten Menschen diese möglicherweise nicht 2019) und des RISP (Kahlor, 2010) um weitere oder meiden diese aktiv. Einflussfaktoren. Das PADM stellt bereits den Versuch einer theoretischen Integration der Genau wie die PMT stammt das RISP aus der PMT und anderer Konzepte dar, in der For- Gesundheitsforschung, wurde jedoch bereits schung und Praxis muss sich das Modell aber mehrfach im Naturrisikenkontext (siehe Yang, noch bewähren. Rickard, Harrison & Seo, 2014) und ebenso speziell in Bezug auf Hochwasserrisiken ange- Mehrere systematische Übersichtsarbeiten un- wandt (Kellens, Zaalberg & De Maeyer, 2012). tersuchen die Beziehung zwischen potenziellen Heidenreich, Köhler, Seebauer & Masson 99 Dieses Dokument ist lizenziert für Humboldt Universität zu Berlin, ui38621A. Alle Rechte vorbehalten. © Umweltpsychologie. Download vom 04.01.2021 17:56 von www.wiso-net.de.
Schwerpunkt Die drei Modelle wurden bisher vorrangig zur Erklärung von Handeln eingesetzt, aber kaum Einflussfaktoren und Schutzhandeln (Bubeck, zur Erklärung von problemabgewandter Bewäl- Botzen & Aerts, 2012; Kellens et al., 2013, Bu- tigung, also Nicht-Handeln oder Fehlhandeln. beck, Botzen, Laudan, Aerts & Thieken, 2018). Hohes Vertrauen in öffentliche Schutzmaßnah- Van Valkengoed und Steg (2019) identifizierten men kann etwa Privatpersonen von Eigenvor- in ihrer Metaanalyse 13 Faktoren, die mit Kli- sorge abhalten (Richert et al., 2017). Fehl- oder maanpassungsverhalten in verschiedenen Ge- maladaptives Handeln stellt individuelle Vorteile fahrenkontexten assoziiert sind. Die Ergebnisse vor die Kosten für die Allgemeinheit und um- zeigen, dass negativer Affekt (Furcht), Selbst- fasst kurzfristige Lösungen, die langfristige wirksamkeit, Handlungswirksamkeit und soziale Nachteile mit sich bringen (IPCC, 2014). Ein Normen mitunter den stärksten Effekt auf ver- plakatives Beispiel ist die Anschaffung einer mit schiedene Arten von Schutzhandeln haben. Ri- Kohlestrom betriebenen Klimaanlage, um Hit- sikowahrnehmung wirkt besonders auf Verhal- zewellen bewältigen zu können. Problemabge- tensabsichten. Dagegen scheinen Erfahrung, wandte Bewältigungsstrategien in der PMT und Wissen, Ortsverbundenheit und Vertrauen eine Informationsvermeidung im RISP bilden As- schwächere Rolle zu spielen. pekte von Nicht-Handeln ab; erstere sind je- doch in der PMT-Forschung bisher weitgehend Die Ergebnisse von van Valkengoed und Steg unterrepräsentiert (Babcicky & Seebauer, 2019). (2019) stützen die Relevanz vieler, aber nicht Wenn Betroffene mit unsicheren, durch indivi- aller in PMT, PADM und RISP enthaltener duelles Handeln kaum ausschließbaren Natur- Faktoren. Furcht (negativer Affekt) und Risiko- risiken konfrontiert sind, sind problemabge- wahrnehmung sind Kernelemente in allen drei wandte Bewältigungsstrategien ebenso zu Modellen. Selbst- und Handlungswirksamkeit erwarten wie Schutzhandeln. Dennoch hat die sind in PMT und PADM enthalten. Charakte- umweltpsychologische Naturrisikenforschung ristische Elemente des PADM (z.B. Informatio- bisher kaum untersucht, wie weit die etablierten nen der Umwelt und des sozialen Umfelds, Handlungsmodelle auf Nicht- und Fehlhandeln Wahrnehmung von Stakeholdern) oder des übertragbar sind. RISP (z.B. Informationsbedürfnis) wurden in der Metaanalyse hingegen nicht berücksichtigt. 3 Weitere Konzepte für die Am deutlichsten ist die Diskrepanz zwischen umweltpsychologische etablierten Handlungsmodellen einerseits und empirischer Relevanz andererseits bei sozialen Naturrisikenforschung Normen:Während soziale Normen in der PMT Die im Folgenden skizzierten Ansätze greifen gar nicht, im PADM lediglich als Quelle der Be- auf etablierte Theorien der (Sozial-)Psychologie drohungswahrnehmung und im RISP nur als zurück, sie werden in der umweltpsychologi- Auslöser von Informationsbedürfnis enthalten schen Forschung genutzt und finden insbeson- sind, verdeutlichen die metaanalytischen Ergeb- dere in der Erklärung umweltfreundlichen Ver- nisse die Relevanz sozialer Normen für die Er- haltens Anwendung. Wir wollen damit bisher klärung des Umgangs mit Naturrisiken. Dies weniger berücksichtigte relevante Faktoren ins unterstreicht einen „blinden Fleck” bisheriger Blickfeld rücken und die umweltpsychologi- Theorien in der Naturrisikenforschung hin- sche Naturrisikenforschung weiter in Richtung sichtlich sozialer und kollektiver Prozesse. qualitativer Methoden öffnen. 100 Schutzhandeln bei Hochwasser, Hitze und Co. Dieses Dokument ist lizenziert für Humboldt Universität zu Berlin, ui38621A. Alle Rechte vorbehalten. © Umweltpsychologie. Download vom 04.01.2021 17:56 von www.wiso-net.de.
3.1 Kollektives Handeln im Umgang mit tion), die mit sozialen Identitäten verknüpften Naturrisiken Normen und Ziele (Gruppennormen) und die Wahrnehmung sozialer Gruppen als handlungs- Die bisherige (psychologische) Forschung zum wirksame Akteure (kollektive Wirksamkeit; Umgang mit Naturrisiken berücksichtigt vor Fritsche, Barth, Jugert, Masson & Reese, 2018b). allem individuelle Faktoren bei der Erklärung Studien zum Umweltverhalten zeigen z.B., dass von Schutzhandeln, etwa den Einfluss individu- Versuchspersonen eine höhere Bereitschaft zum eller Selbstwirksamkeitsüberzeugungen („Ich Kauf von Bio-Lebensmitteln angaben, wenn die kann mich schützen“) oder der Abwägung indivi- Normen einer für sie bedeutsamen Eigengrup- dueller Verhaltenskosten und -nutzen. Weniger pe dies nahelegten (Masson & Fritsche, 2014). Aufmerksamkeit erhielten dagegen kollektive Übertragen auf den Kontext von Naturrisiken Faktoren, beispielsweise kollektive Wirksam- kann eine erhöhte Bereitschaft zu kollektivem keitsüberzeugungen („Wir können uns schützen“) Schutzhandeln, d.h. Schutzhandeln auf Basis sa- oder die Identifikation mit einer lokalen Ge- lienter sozialer Identität, vor allem dann erwar- meinschaft (Wilson, Herziger, Hamilton & tet werden, wenn 1) die Beteiligten sich stark Brooks, 2020). Das heißt, Schutzhandeln wird mit der betreffenden Eigengruppe, z.B. den Ein- vorrangig als persönliches Wahrnehmungs- und wohner*innen ihres Wohnorts, identifizieren, 2) Entscheidungsproblem konzipiert. Naturrisiken die Normen der Gruppe Schutzhandeln nahe- sind jedoch meist kollektive Herausforderun- legen, und 3) die Gruppe als effektiv bei der Er- gen, deren Bewältigung jenseits individueller reichung ihrer Ziele wahrgenommen wird. Bemühungen auch der Mobilisierung kollekti- ver Ressourcen bedarf. Eine umfassend infor- Wichtig ist dabei, dass kollektives Schutzhan- mierte Psychologie des Umgangs mit Naturrisi- deln im Sinne der SIT nicht allein auf gemein- ken sollte daher ebenfalls die kollektive schaftliches Handeln als ‘collective action‘ be- Dimension von Schutzhandeln in den Blick schränkt ist (z.B. Beteiligung an lokaler nehmen und gezielte Interventionen zur Etab- Wasserwehr), sondern auch Maßnahmen der lierung und Stärkung gemeinschaftlich-solidari- privaten Eigenvorsorge umfassen kann. Hierbei scher Vorsorgekonzepte entwickeln. sind es vor allem die Normen und Ziele der sozialen Identität, d.h. die Erwartungen und das Einen theoretischen Rahmen für den kollekti- Verhalten anderer Mitglieder der Eigengruppe, ven Umgang mit Naturrisiken bietet die Theo- die die Wahrscheinlichkeit bestimmen, ob ein rie der sozialen Identität (SIT; Tajfel & Turner, bestimmtes Schutzverhalten ausgeführt wird 1979). Die SIT nimmt an, dass Menschen ihre oder nicht. Es ist also die Salienz sozialer Identi- Identität in vielen Alltagssituationen über ihre tät, die individuelles Vorsorgeverhalten in kol- Zugehörigkeit zu sozialen Gruppen definieren lektives Schutzhandeln (im Sinne der Gruppe) (z.B. Identifikation als Frau, Angehörige der verwandelt, und es sind die Normen und Ziele jungen Generation), die, sind sie aktiviert (d.h. der salienten Gruppe, die bestimmen, ob und salient), unser Denken, Fühlen und Verhalten welches Schutzhandeln ausgeführt wird. leiten (für eine weiterführende Beschreibung der SIT siehe Fritsche, Barth, Jugert, Masson & Eine systematische Übertragung der kollektiven Reese, 2018a). Bisherige Forschung zeigt, dass Perspektive auf den Bereich der Naturrisiken- vor allem drei kollektive Variablen Einfluss auf forschung steht noch aus. Bisherige Arbeiten unser Verhalten auch über individuelle Faktoren geben jedoch Hinweise auf die Relevanz kol- hinaus ausüben: die Wichtigkeit sozialer Identi- lektiver Faktoren für die Erklärung des Um- täten für das Selbst (psychologische Identifika- gangs mit Naturrisiken. So konnte zum Beispiel Heidenreich, Köhler, Seebauer & Masson 101 Dieses Dokument ist lizenziert für Humboldt Universität zu Berlin, ui38621A. Alle Rechte vorbehalten. © Umweltpsychologie. Download vom 04.01.2021 17:56 von www.wiso-net.de.
Schwerpunkt men häufig schrittweise ausprobiert, angepasst und aufgegeben werden, weil die Betroffenen gezeigt werden, dass individuelle Evakuierungs- Erfahrungen sammeln (Terpstra, 2011), weil die entscheidungen durch das Evakuierungsverhal- Risikoeinschätzung mit wachsendem zeitlichen ten der Nachbar*innen beeinflusst werden Abstand zu einem konkreten erlebten Extrem- (Huang, Lindell, Prater, Wu & Siebeneck, 2012; wetterereignis abnimmt (Bubeck et al., 2012), Stein, Dueñas‐Osorio & Subramanian, 2010), weil sich Haushaltsstruktur und Wohnbedürf- oder dass die Bereitschaft zum Abschluss einer nisse ändern (Wilson, Pettifor & Chryssochoidis, Hochwasserschutzversicherung steigt, wenn da- 2018) oder weil regelmäßige Notfallübungen von ausgegangen wird, dass andere Haushalte und Instandhaltungsarbeiten unterbleiben (Sco- ebenfalls eine solche Versicherung abgeschlossen lobig, Prior, Schröter, Jörin & Patt, 2015). Auch haben (Lo, 2013). In einer Studie von Bubeck et aus hydrologisch-ingenieurstechnischer Sicht al. (2018) konnte gezeigt werden, dass soziale kann es sinnvoll sein, das Schutzniveau von Normen und Netzwerke Einfluss auf den in der Maßnahmen allmählich nachzujustieren, weil PMT verankerten Pfad der Bewältigungsein- etwa das kleinräumige Abflussgeschehen bei ei- schätzung nehmen und daher eine wichtige nem bestimmten Gebäude schwer prognosti- Rolle bei der Hochwasservorsorge spielen. An- zierbar ist und damit kein exaktes Bemessungs- dere empirische Arbeiten deuten darauf hin, ereignis für die Dimensionierung von dass kollektive Wirksamkeitsüberzeugungen ei- Schutzmaßnahmen festgelegt werden kann nen Einfluss auf die Bereitschaft zur individuel- (Nordbeck, Steurer & Löschner, 2019). len Erdbebenvorsorge in Japan und Neuseeland (Paton, 2008; Paton, Bajek, Okada & McIvor, In anderen Bereichen der Umweltpsychologie 2010) sowie auf individuelles und kommunales werden bereits Stufenmodelle der Verhaltensän- (kollektives) Anpassungsverhalten an Trinkwas- derung eingesetzt (Bamberg, 2013). Beispiele serknappheit in Indien haben (Thaker, Maibach, sind das Model of Action Phases (Gollwitzer, Leiserowitz, Zhao & Howe, 2016). 1990), das Motivation-Intention-Volition Model (Martens & Rost, 1998) oder der Health Action Diese Beispiele verdeutlichen, dass kollektive Process Approach (Schwarzer, 2008). Schutzhan- Faktoren für Vorsorgeverhalten in der Naturrisi- deln wird als Abfolge mehrerer Phasen be- kenforschung durchaus rezipiert werden, zu be- schrieben: (1) in der Motivationsphase wird die mängeln ist jedoch die bisher noch unzurei- Bedrohung wahrgenommen und als persönlich chende theoretische Einbettung dieser Faktoren relevant bewertet; (2) in der Intentionsphase in etablierte Handlungsmodelle (Solberg, Ross- werden verschiedene Handlungsmöglichkeiten etto & Joffe, 2010). hinsichtlich erwarteter Schutzwirkung, Auf- wand und Selbstwirksamkeit verglichen; (3) in 3.2 Schutzhandeln als Prozess der Volitionsphase wird die gebildete Intention in manifestes Schutzhandeln umgesetzt, abhän- Bisherige Theorien betrachten Schutzhandeln gig von situativen Einflüssen, Barrieren und als einmaliges, momentanes Ereignis. Die Um- Selbstkontrollstrategien. Bisher wurden Stufen- setzungsbereitschaft für eine private Schutz- modelle der Verhaltensänderung im Kontext maßnahme wird durch das zeitgleiche Vorhan- von Naturrisiken noch nicht empirisch ange- densein motivationaler Faktoren erklärt, etwa wandt (Rohland, Pfurtscheller & Seebauer, durch statistische Zusammenhänge in Quer- 2016). schnittsuntersuchungen. Eine realistischere Sichtweise berücksichtigt aber, dass Maßnah- 102 Schutzhandeln bei Hochwasser, Hitze und Co. Dieses Dokument ist lizenziert für Humboldt Universität zu Berlin, ui38621A. Alle Rechte vorbehalten. © Umweltpsychologie. Download vom 04.01.2021 17:56 von www.wiso-net.de.
Diese Stufenmodelle sollten als konzeptionelle sich jedoch oft nur teilweise mit den subjektiven Heuristik für die notwendigen Schritte bis zur Risikokonstruktionen seitens der allgemeinen Realisierung von Schutzhandeln verstanden Bevölkerung. Naturgefahren und Schutzgüter werden, nicht als zwingende unidirektionale sind räumlich verortet; ebenso werden Risiko- Abfolge. Bei individuellen Verläufen der Verhal- und Vulnerabilitätswahrnehmungen in Bezug tensänderung können Haushalte in frühere Stu- auf die räumliche Umgebung konstruiert (Pe- fen zurückfallen oder einzelne Stufen über- trucci & Pasqua, 2012; Ruin, Gaillard & Lutoff, springen (Klöckner, 2014; Pettifor, Wilson & 2007). Chryssochoidis, 2015). Erfahrungen nach einem Naturgefahrenereignis können zu einer Neube- Kognitive Karten (Mental Maps) sind eine etab- wertung der Bedrohung führen oder können lierte umweltpsychologische Methode, um die zeigen, dass die vorhandenen Schutzmaßnah- Wahrnehmung und Nutzung der persönlichen men unzureichend sind (Kellens et al., 2013). Lebensumgebung qualitativ zu erfassen (Deinet, Hier besteht Forschungsbedarf, wie Erlebnisse 2009; Lynch, 1960), etwa den Aktionsradius und oder veränderter Kontext den Fort- oder Rück- bedeutsame Orte von Schulkindern (Flade, schritt zwischen den Stufen der Verhaltensände- 1996).Trotz ihrer hohen Anwendungsnähe wer- rung beeinflussen. den kognitive Karten aber bisher kaum einge- setzt, um Risikowahrnehmung im räumlichen Rekursive und stufenweise Prozesse spielen Kontext darzustellen (Ruin et al., 2007; O’Neill, auch in den bisher etablierten Theorien eine Brennan, Brereton & Shahumyan, 2015). Sub- Rolle. In der PMT wirken problemabgewandte jektive und objektive Risiken in gemeinsamen Bewältigungsstrategien auf die Bedrohungsein- Karten zu georeferenzieren, kann wechselseitige schätzung zurück; im PADM kann Vorsorgever- Lernprozesse zwischen Bürger*innen und Risi- halten zu neuen Umwelt- und sozialen Reizen komanager*innen anstoßen, etwa indem orts- hinführen. PADM und RISP sehen stufenweise bezogenes Laienwissen für verbesserte Exper- Abfolgen kognitiver Schritte der Entschei- tenbewertungen nutzbar gemacht wird (Lidskog, dungsfindung und Informationsverarbeitung Uggla & Soneryd 2011; O’Neill et al., 2015). vor. Da es aber so gut wie keine Längsschnitt- untersuchungen zu Naturrisiken gibt (Hudson, Die Frage nach der räumlichen Anordnung Thieken & Bubeck, 2019), sind diese dynami- wahrgenommener Risiken schließt an das Ele- schen Prozesse noch nicht empirisch bestätigt. ment der Umweltreize im PADM an. Altein- gesessene Bewohner*innen in Risikogebieten 3.3 Risikowahrnehmung im sind oft mit dem Prozessge- räumlichen Kontext schehen in ihrer unmittelba- Objektive Gefahren- und ren Wohnumgebung sehr ver- Risikokarten in Bezie- Im Risikomanagement werden mit hohem Auf- traut und können an kleinen hung zu subjektiver wand objektive Gefahren- und Risikokarten für Umweltveränderungen er- Verortung von wahrge- Hochwasser, Lawinen und andere Naturgefah- kennen, aus welcher Richtung nommenen Risiken ren erstellt, um regulatorische und verwaltungs- welche Gefahr kommt (z.B. setzen technische Entscheidungen zu unterstützen eine Bodensenke füllt sich mit (Meyer, Kuhlicke, Luther, Fuchs, Priest, Dorner, Wasser, ein Bach ändert die Fließrichtung; Bot- Serrhini, Pardoe, McCarthy, Seidel, Palka, Un- zen, Aerts & Van Den Bergh, 2009; Siegrist & nerstall, Viavatenne & Scheuer, 2012; Fuchs, Gutscher, 2006). Kognitive Karten sind ein be- Spachinger, Dorner, Rochman & Serrhini, währtes Instrument in der Stadtplanung und der 2009). Diese objektive Risikoinformation deckt Sozial- und Humangeografie. Hier besteht gro- Heidenreich, Köhler, Seebauer & Masson 103 Dieses Dokument ist lizenziert für Humboldt Universität zu Berlin, ui38621A. Alle Rechte vorbehalten. © Umweltpsychologie. Download vom 04.01.2021 17:56 von www.wiso-net.de.
Schwerpunkt nung von Risikokommunikationsstrategien. Der Mangel an empirischer Evidenz für PADM ßes Potenzial für eine interdisziplinäre Erweite- und RISP ist aber auch darauf zurückzuführen, rung der umweltpsychologischen Forschung, dass diese beiden Modelle wegen ihres jüngeren um wahrgenommene Risiken nicht als abstrakte Alters bisher weniger stark beforscht wurden Angaben auf Ratingskalen zu Wahrscheinlich- und die höhere Komplexität dieser Prozessmo- keit und Schaden zu erfassen, sondern im Erle- delle deutlich höhere Anforderungen an die ben und Nutzen der Wohnumgebung zu ver- Operationalisierung der Modellelemente stellt, orten. bis hin zu Längsschnittstudien. Wir skizzierten mögliche Schritte für die weite- 4 Schlussfolgerungen und re umweltpsychologische und interdisziplinäre Ausblick Naturrisikoforschung. Zentral ist hierbei die Das Verständnis des Schutzhandelns von Privat- Untersuchung kollektiven Schutzhandelns, da personen ist ein wichtiger Baustein im Risiko- eine Naturgefahr zumeist Auswirkungen auf management. Die Umweltpsychologie steht in eine Gruppe hat und individuelles Schutzhan- der Verantwortung, hier ihren Beitrag zu leisten. deln meist nicht genügt, um Risiken zu reduzie- Privates Schutzhandeln und die zugrundelie- ren.Wie in der Diskussion rund um PADM und genden Motivationen gilt es besser zu untersu- RISP aufgezeigt, sind Längsschnittstudien von- chen, förderliche und hemmende Faktoren zu nöten, um Schutzhandeln als dynamischen Pro- identifizieren, um somit Risikomanager*innen zess zu erfassen und untersuchen zu können. konkrete Hinweise zur Förderung von Eigen- Weitere Möglichkeiten ergeben sich, wenn das vorsorge anbieten zu können. Raumerleben im Zusammenhang mit Schutz- handeln in Betracht gezogen wird. Mittels qua- Wir stellten drei zentrale Modelle der psycho- litativer Methoden, wie insbesondere kognitiver logischen Naturrisikenforschung vor. Die PMT Karten, welche über die umweltpsychologische ist am besten etabliert; sie wurde in den 1970ern Forschung hinaus Anwendung finden, ließen in der Gesundheitsforschung entwickelt und sich räumliche Facetten des Erlebens von Na- wird seit ca. 15 Jahren bei Naturgefahren ange- turgefahren und -risiken beleuchten. Diese wandt. Dennoch hat sie eingeschränkte Erklä- Ansatzpunkte sind bewährte Konzepte der Um- rungskraft (Bamberg et al., 2017) und lässt re- weltpsychologie und könnten auf die Natur- levante Einflussfaktoren außer Acht (van risikenforschung übertragen werden. Valkengoed & Steg, 2019). Zu beachten ist zu- dem, dass bei der bisherigen Forschung zur Maßnahmen der Risikokommunikation und PMT problemabgewandte Bewältigung bisher konkrete Warnungen werden zumeist von Be- meist vernachlässigt wurde. PADM und RISP hörden, Versicherungen, meteorologischen sind als Prozessmodelle mit komplexeren Wir- Diensten, Ingenieur*innen und Hilfsorganisati- kungsbeziehungen zwischen Einflussfaktoren onen herausgegeben. Diese bringen eine große konzipiert. Beide Modelle wurden allerdings praktische Expertise im Umgang mit Naturge- noch nicht in ihrer vollständigen Struktur un- fahren mit. Oft bewirken informative Risiko- tersucht; stattdessen überprüfen bisherige empi- kommunikationsmittel und aktuelle Warnungen rische Studien nur Zusammenhänge zwischen aber nicht die gewünschte Reaktion. Die vor- einzelnen Modellelementen. Zum jetzigen gestellten Modelle können als Checkliste für die Stand der Forschung bieten PADM und RISP Entwicklung von Kommunikationskampagnen eher einen heuristischen Rahmen für die Pla- dienen: So zeichnen die PMT und das PADM 104 Schutzhandeln bei Hochwasser, Hitze und Co. Dieses Dokument ist lizenziert für Humboldt Universität zu Berlin, ui38621A. Alle Rechte vorbehalten. © Umweltpsychologie. Download vom 04.01.2021 17:56 von www.wiso-net.de.
nach, über welche Faktoren aktives Schutzhan- den Blick genommen, um Bewältigungskapazi- deln begünstigt werden kann, und das RISP täten bzgl. Naturgefahren zu erklären (Kuhlicke verdeutlicht, wie die Informationssuche und et al., 2020). Eine engere Zusammenarbeit mit -verarbeitung typischerweise funktioniert. Das anderen Disziplinen kann neue Impulse für die Erleben und Verhalten der Betroffenen spielen umweltpsychologische Theorieentwicklung eine große Rolle beim Umgang mit (Natur-) bringen. So bringen z. B. die (Umwelt-)Sozio- Risiken. Das Risiko von Hochwasser, Hitzewel- logie, Humangeographie und Politikwissen- len und anderen Naturgefahren wird von Pri- schaften auch die Perspektive qualitativer For- vatpersonen nicht so objektiv-rational bewertet schungsmethoden ein,die in der psychologischen wie von Expert*innen – beide Perspektiven, die Naturrisikenforschung bisher eine untergeord- der Laien und die der Expert*innen, sollten da- nete Rolle spielen, und öffnen den Fokus auf her beim Risikomanagement Beachtung finden. kollektives Schutzhandeln. Umweltmedizini- sche und ökonomische Untersuchungen brin- Es bleibt zu klären, ob sich die vorgestellten gen Erkenntnisse über die Wirksamkeit von Handlungsmodelle synonym auf verschiedene Schutzmaßnahmen, welche wiederum für eine Naturgefahren und Bevölkerungsgruppen an- fundierte Risikokommunikation genutzt wer- wenden lassen. Erdrutsche haben etwa eine an- den. dere Charakteristik als Flusshochwasser (mini- male Vorwarnzeit und Bedrohung von Der Schwerpunkt der bisherigen psychologi- Menschenleben versus bis zu mehreren Tagen schen Naturrisikenforschung liegt auf der (Wei- Vorwarnzeit und Bedrohung von Sachgütern), ter-)Entwicklung von Theorien hin zu besserer was unterschiedliche Bedrohungswahrnehmun- Erklärungskraft und detaillierteren Wirkungsbe- gen und Bewältigungskapazitäten nahelegt. Ein ziehungen zwischen Einflussfaktoren. Die hier systematischer Vergleich der Einflussstärken ver- vorgestellten Handlungsmodelle werden ver- schiedener Modellelemente je nach Naturge- wendet, um post-hoc zu erklären, warum be- fahr könnte ein besseres Verständnis der zugrun- stimmte Eigenvorsorgemaßnahmen umgesetzt deliegenden kognitiven Prozesse ermöglichen. wurden (z.B. warum sich eine Hochwasser-Bür- Verletzlichkeit und Bewältigungskapazitäten gerinitiative formiert hat oder warum gefährde- variieren zwischen Bevölkerungsgruppen: Im te Haushalte lokalen Objektschutz errichtet Fall von Hitzewellen stellen das Alter (Kleinkin- haben). Offen bleibt jedoch, diese Modelle für der und Ältere sind besonders betroffen), aber das Design von gezielten Interventionen im Ri- auch bestimmte medizinische Einschränkungen sikomanagement anzuwenden. Der Transfer der (u. a. bestimmte Krankheitsbilder, starke Medi- Handlungsmodelle in die praktische Anwen- kamenteneinnahme, Über- und Untergewicht dung könnte Impulse für die oder Drogenabhängigkeit) Risikofaktoren dar Theorienentwicklung brin- Umweltpsychologische (Koppe, Kovats, Jendritzky & Menne, 2004; gen, etwa indem evaluiert Theorien auf verschie- Schuster, Honold, Lauf & Lakes, 2017). Die wird, inwieweit die theore- dene Naturgefahren, Gruppenzugehörigkeit kann möglicherweise tisch postulierten Wirkungs- Bevölkerungsgruppen die Einflussstärke einzelner Faktoren in den be- beziehungen zwischen Mo- und Interventionen schriebenen Modellen moderieren. Daher sollte dellelementen auch im Feld anwenden und verglei- die Heterogenität der potenziell Betroffenen nachgewiesen werden kön- chen nicht aus den Augen verloren werden. Soziode- nen. mografische Variablen wie Alter, Geschlecht, Religion und Einkommen werden von sozial- Darüber hinaus sehen wir bei den diskutierten wissenschaftlichen Nachbardisziplinen längst in Forschungsansätzen um Naturrisiken ein großes Heidenreich, Köhler, Seebauer & Masson 105 Dieses Dokument ist lizenziert für Humboldt Universität zu Berlin, ui38621A. Alle Rechte vorbehalten. © Umweltpsychologie. Download vom 04.01.2021 17:56 von www.wiso-net.de.
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