Seelsorge und digitale Kommunikation

 
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Seelsorge und digitale Kommunikation
                                                                                                                 Dynamiken sozialer Interaktion und ihre Auswirkungen auf Poimenik

                                                                                                                                         Annette Haußmann, Caroline Teschmer,
                                                                                                                                         Christoph Wiesinger und Golde Wissner
Wege zum Menschen downloaded from www.vr-elibrary.de by Universitätsbibliothek Heidelberg on July, 26 2021

                                                                                                                Zusammenfassung: Digitalisierung boomt. Neue Möglichkeiten für Seelsorge werden drin-
                                                                                                             gend gesucht. Der Beitrag zeigt anhand empirischer Beispiele, wie in sozialen Medien inter-
                                                                                                             agiert wird. Die Dynamiken digitaler Kommunikation werden anhand medientheoretischer
                                                                                                             Konzepte dargestellt. Der Beitrag plädiert für eine Wiederentdeckung der öffentlichen Dimen-
                                                                                                             sion von Seelsorge und eine differenzierte poimenische Grundlegung für den digitalen Bereich.
                                                                                                                Abstract: Digitisation is booming. New opportunities for pastoral care are urgently sought.
                                                                                                             This article shows empirical examples of how people interact in social media. The dynamics of
                                                                                                             digital communication are illustrated using media theory concepts. This contribution pleads for
                                                                                                             a rediscovery of the public dimension of pastoral care and a differentiated poimenic foundation
                                                                                                             for the digital field.
                                     For personal use only.

                                                                                                                                           1 Digitale Seelsorge in sozialen Medien?

                                                                                                             Seit Januar 2019 ist Theresa Brückner Pfarrerin für Kirche im digitalen Raum.
                                                                                                             Sie postet auf Instagram, Twitter, Facebook und YouTube unter dem Namen
                                                                                                             @theresaliebt Fotos, Texte und Videos. Sie spricht über ihren Alltag als Pfar-
                                                                                                             rerin und Mutter, über Glauben, Religion, Spiritualität und Theologie. Ihr
                                                                                                             Auftreten ist locker, modern, ihre Sprache eingänglich. Mit ihren über 17.000
                                                                                                             Follower*innen diskutiert sie die großen und kleinen Fragen des Lebens. The-
                                                                                                             resa spricht über Fragen, die häufig an sie herangetragen werden und die Seele
                                                                                                             berühren. Sie eröffnet durch Mitteilung über ihre eigenen Themen und Ge-
                                                                                                             fühle einen Raum dafür, dass andere sich darin wiederfinden und mitteilen
                                                                                                             können. Zum Thema Muttertag postet @theresaliebt, dass dieser Tag nicht für
                                                                                                             alle einfach ist und thematisiert Kinderwunsch und ungewollte Kinderlosig-
                                                                                                             keit, zerbrochene und konfliktbehaftete Beziehungen. Ein Kommentar einer
                                                                                                             Followerin darauf:
                                                                                                                „Für mich sind solche Ehrentage schrecklich. Sie erinnern mich daran, was für ein
                                                                                                                Leid ich erlebt habe. Ich mag diesen Tag nicht. Vor vielen Jahren hat meine Mutter
                                                                                                                mich ins Heim gegeben und auch geschlagen. Das habe ich bis heute nicht verkraftet.
                                                                                                                Dadurch habe ich sie vergessen. Ich bin trotzdem gerührt, wenn ich deinen Post lese.
                                                                                                                Denn oft sieht man das heile. Was man nicht sieht, ist das Leid von vielen Frauen.“
                                                                                                             Theresa antwortete darauf: „Das tut mir wahnsinnig leid. Viel Kraft für heute“,
                                                                                                             dahinter drei Emoji-Herzen. Andere Follower*innen beschreiben, wie sie bei
                                                                                                             diesem Muttertag-Post seit langem wieder weinen konnten, oder erzählen

                                                                                                             Wege zum Menschen, 73. Jg., 5–18, ISSN: 0043-2040 (print), 2196-8284 (online)
                                                                                                             © 2021 Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen
6       Annette Haußmann, Caroline Teschmer, Christoph Wiesinger und Golde Wissner

                                                                                                             von Fehlgeburten und häuslicher Gewalt. Solche Sequenzen digitaler Kom-
                                                                                                             munikation sind kein Einzelfall – und sie regen zum Nachdenken über die
                                                                                                             Möglichkeiten von Seelsorge in digitaler Kommunikation an.

                                                                                                                  2 Seelsorge digital neu denken: Chancen durch aktuelle Entwicklungen

                                                                                                             Die Corona-Krise hat der Digitalisierung einen enormen Schub gegeben und
                                                                                                             ins Bewusstsein gerückt, wie wichtig Kommunikation für das menschliche Zu-
                                                                                                             sammenleben ist. Der Abbruch von seelsorglichen kopräsenten Kontakten1 ließ
Wege zum Menschen downloaded from www.vr-elibrary.de by Universitätsbibliothek Heidelberg on July, 26 2021

                                                                                                             neue seelsorgliche Angebote entstehen2 und stärkte das öffentliche Bewusst-
                                                                                                             sein für die Relevanz von Seelsorge.3 Neben bewährtem Rückgriff auf Tele-
                                                                                                             fon und Email nutzen Seelsorgende aktuell verstärkt auch soziale Medien wie
                                                                                                             YouTube, Facebook, WhatsApp und Instagram.4 Sie stellen Gottesdienste und
                                                                                                             Andachten ins Netz, diskutieren online gemeindeübergreifend über Glaubens-
                                                                                                             inhalte, die Anknüpfungsmöglichkeiten für seelsorgliche Kontakte bieten.5
                                                                                                                Die digitale Kommunikation stellt die Seelsorgetheorie und ihre Konzep-
                                                                                                             te vor neue Herausforderungen und macht Reflexionen notwendig.6 Bisherige
                                                                                                             1 Dieses Phänomen ist weltweit zu beobachten, besonders bedrückend in Bereichen der Spezial-
                                                                                                               seelsorge etwa im Krankenhaus und hebt das Bedürfnis nach Seelsorge und Spiritual Care neu
                                     For personal use only.

                                                                                                               ins Bewusstsein, vgl. z. B. Betty R. Ferrell u. a., The Urgency of Spiritual Care: COVID-19 and the
                                                                                                               Critical Need for Whole-Person Palliation, in: Journal of Pain and Symptom Management 60/3
                                                                                                               (2020), e7–e11; David A Drummond/Lindsay B. Carey, Chaplaincy and Spiritual Care Response
                                                                                                               to COVID-19: An Australian Case Study – The McKellar Centre, in: HSCC 8/2 (2020), 165–179.
                                                                                                             2 Eigene Internetseiten wurden eingerichtet, z. B. https://corona-seelsorge.de/; https://www.
                                                                                                               notfallseelsorge-berlin.de/corona-seelsorge; letzter Zugriff am 15.7.2020.
                                                                                                             3 So wurden viele Artikel auch in Tageszeitungen zur Seelsorge veröffentlicht, z. B. https://www.
                                                                                                               swr.de/swr1/seelsorge-in-corona-zeiten-100.html; https://www.faz.net/aktuell/gesellschaft/
                                                                                                               gesundheit/coronavirus/wie-seelsorge-in-der-corona-krise-funktioniert-16710733.html;
                                                                                                               letzter Zugriff am 15.7.2020. Vgl. zur Reflexion von Seelsorge und Öffentlichkeit Kristin
                                                                                                               Merle, Seelsorge als öffentlichkeitsrelevante Funktion der Kirche. Erinnerung an eine poi-
                                                                                                               menische Grundbestimmung im Zuge der Digitalisierung, in: WzM 72/3 (2020), 203–215.
                                                                                                             4 Das ergaben erste Untersuchungen einer online-Befragung zur Zeit der Kontaktbe­schrän­
                                                                                                               kungen Annette Haußmann/Birthe Fritz, Seelsorge und COVID-19-Pandemie – erste Erkennt-
                                                                                                               nisse, 2020, https://www.researchgate.net/publication/346491607_Seelsorge_und_COVID-19-
                                                                                                               Pandemie_-_erste_Erkenntnisse; letzter Zugriff am 09.12.2020.
                                                                                                             5 81 % der Gemeinden boten digitale Verkündigungsformate an, 78 % sagten, sie seien durch die
                                                                                                               Corona-Krise „digitalisiert“ worden. 72 % gaben an, digitale Formate fortführen zu wollen,
                                                                                                               https://www.ekd.de/midi-studie-ergebnisse-kirche-digital-corona-56563.html; letzter Zugriff
                                                                                                               am 16.07.2020. Im Spezialseelsorgefeld Krankenhaus wurden digitale Kommunikationsformate
                                                                                                               erprobt, verstärkt videounterstützte Telefonkontakte, vgl. Michael J. Byrne/Daniel R. Nuzum,
                                                                                                               Pastoral Closeness in Physical Distancing: The Use of Technology in Pastoral Ministry during
                                                                                                               COVID-19, in: HSCC 8/2 (2020), 206–217; Isabelle Noth, „Teleseelsorge“ – Fernseelsorge ganz
                                                                                                               nah: Virtuelle Lösungen für Spezial- und Gemeindeseelsorge zu Coronazeiten, in: WzM 72/3
                                                                                                               (2020), 271–275. Auch Hybridformen sind angedacht, vgl. Werner Greulich, Auf die Begegnung
                                                                                                               kommt es an. Klinikseelsorge und Soziale Medien, in: WzM 72/3 (2020), 229–243.
                                                                                                             6 Jedes Feld der Seelsorge bedarf einer eigenen Definition und Reflexion der Kontexte und
                                                                                                               entwickelt einen differenzierten Seelsorgebegriff. Vgl. Sabine Kast-Streib/Wolfgang Drechsel
                                                                                                               (Hg.), Seelsorgefelder. Annäherung an die Vielgestaltigkeit von Seelsorge, Leipzig 2017.

                                                                                                             Wege zum Menschen, 73. Jg., 5–18, ISSN: 0043-2040 (print), 2196-8284 (online)
                                                                                                             © 2021 Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen
Seelsorge und digitale Kommunikation                         7

                                                                                                             Publikationen benennen häufig den Verlust gegenüber der kopräsenten Be-
                                                                                                             gegnung unter dem Stichwort „Kanalreduktion“, indem sie davon ausgehen,
                                                                                                             dass Kommunikationsformen wie Chat oder Email unter einer Reduktion von
                                                                                                             Kommunikationsinhalten leiden, da sie lediglich auf geschriebene Sprache
                                                                                                             zurückgreifen können.7 Begonnen von der Einführung von Emojis und Ab-
                                                                                                             kürzungen8 wurden Kommunikationsmöglichkeiten schrittweise ausgeweitet
                                                                                                             und schließen heute mehr visuelle Elemente ein. Eine Betrachtung der Seelsorge
                                                                                                             im digitalen Raum als eine textbasierte „Art moderner Briefseelsorge“,9 wie sie
                                                                                                             in Chats und Email vorliegt, muss weitergedacht werden als eine digitale Form
                                                                                                             der Seelsorge, deren Eigenlogiken, Bedingungen und Kontexte differenziert be-
Wege zum Menschen downloaded from www.vr-elibrary.de by Universitätsbibliothek Heidelberg on July, 26 2021

                                                                                                             trachtet werden müssen. Dass die Poimenik sich zunehmend mit diesen Fragen
                                                                                                             befasst und gerade die Krise neu dazu aufgefordert hat, zeigen jüngste Beiträge
                                                                                                             zum Diskurs.10 Aus verschiedenen Forschungsperspektiven wird gegenwärtig
                                                                                                             untersucht, wie sich Kommunikation im digitalen Raum vollzieht, welchen
                                                                                                             Prinzipien sie dabei unterliegt und welchen Einfluss diese Prozesse auf die so-
                                                                                                             ziale Interaktion haben. Welche Anknüpfungspunkte diese Phänomene für
                                                                                                             seelsorgliche Kommunikation bieten, ist bislang noch wenig untersucht. Dieser
                                                                                                             Aufsatz will nicht nur Beispiele dafür aufzeigen, wie facettenreich Seelsorge im
                                                                                                             Netz bereits stattfindet, sondern auch ein Plädoyer dafür sein, den Seelsorge-
                                                                                                             begriff aufgrund der beschriebenen Prozesse neu zu reflektieren. Im Zentrum
                                                                                                             stehen soziale Medien, die hinsichtlich der Chancen und Herausforderungen
                                     For personal use only.

                                                                                                             von Merkmalen digitaler Interaktion im Rahmen einer öffentlichen Seelsorge
                                                                                                             und der dadurch angeregten seelsorglichen Kommunikation befragt werden.

                                                                                                                                       3 Interveillance: Sehen und gesehen werden

                                                                                                             Das Prinzip der interveillance ist im Zusammenhang einer kulturellen Trans-
                                                                                                             formation von Medien als Kennzeichen individualisierter Gesellschaften von
                                                                                                             André Jansson stark gemacht worden.11 Er beschreibt damit einen Zusammen-
                                                                                                             hang von ständiger gegenseitiger Beobachtung durch das Teilen des Alltäg-

                                                                                                              7 Vgl. Birgit Knatz, Handbuch Internetseelsorge. Grundlagen – Formen – Praxis, Gütersloh
                                                                                                                2013.
                                                                                                              8 Vgl. zur vielfältigen Funktion von Emojis: Steffen Pappert, Zu kommunikativen Funktionen
                                                                                                                von Emojis in der WhatsApp-Kommunikation, in: Michael Beißwenger (Hg.), Empirische
                                                                                                                Erforschung internetbasierter Kommunikation, Berlin/Boston 2017, 175–212.
                                                                                                              9 Vgl. Knatz, Internetseelsorge, 13.
                                                                                                             10 Vgl. das Themenheft von Wege zu Menschen „Online durch die Krise? Mediatisierte Seelsorge
                                                                                                                (nicht nur) in Zeiten von COVID-19“, WzM 72/3 (2020); Thomas Schlag, Seelsorgliche Kirche
                                                                                                                in viralen Krisen-Zeiten … und darüber hinaus, in: Spiritual Care 9/3 (2020); 265–272. Achim
                                                                                                                Blackstein, Landeskirchlicher Beauftragter für digitale Seelsorge und Beratung am Zentrum
                                                                                                                für Seelsorge der Ev.-luth. Landeskirche Hannover veröffentlichte während der Corona-Krise
                                                                                                                Impulse zur digitalen Seelsorge, etwa durch Apps zur Selbsthilfe und stellte Leitsätze für eine
                                                                                                                digitale Seelsorge vor, https://achim-blackstein.de/; letzter Zugriff am 21.7.2020.
                                                                                                             11 Vgl. André Jansson, Interveillance: A New Culture of Recognition and Mediatization, in:
                                                                                                                Media and Communication 3/3 (2015), 81–90.

                                                                                                             Wege zum Menschen, 73. Jg., 5–18, ISSN: 0043-2040 (print), 2196-8284 (online)
                                                                                                             © 2021 Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen
8       Annette Haußmann, Caroline Teschmer, Christoph Wiesinger und Golde Wissner

                                                                                                             lichen, die sich auf die eigene Selbstbeobachtung auswirkt, durch soziale Me-
                                                                                                             dien forciert wird und so Identität durch mediale Präsenz neu generiert und
                                                                                                             expressiv konstruiert wird. Sie entspringt als Praxis der Rezeption und Teilhabe
                                                                                                             intimisierter öffentlicher Information aus einem Bedürfnis nach Mitteilung
                                                                                                             und Anerkennung. Besonders deutlich wird dies am Medium Instagram, das
                                                                                                             durch eine bestimmte Bildästhetik und Körperpräsentation die Wahrnehmung
                                                                                                             auf ein gelingendes, positives Lebensgefühl lenkt. Das Medium selbst gibt eine
                                                                                                             bestimmte Nutzungsweise und Normierung des contents vor, indem beispiels-
                                                                                                             weise bunte Farben, Glitzeranimationen, lustige Emoticons und komisch-ver-
                                                                                                             zerrte Gesichtsdarstellungen als Gestaltungsmöglichkeiten angeboten und in-
Wege zum Menschen downloaded from www.vr-elibrary.de by Universitätsbibliothek Heidelberg on July, 26 2021

                                                                                                             tensiv genutzt werden. Obwohl also das Medium prinzipiell für alle möglichen
                                                                                                             Nutzungsformen offen wäre, ist die gängige Nutzungspraxis der Rahmen-
                                                                                                             bedingungen zur „Selbstdarstellung“, die das Medium selbst schafft, bereits in
                                                                                                             einen engen Korridor gefasst. Influencer*innen im Beauty-, Gesundheits- und
                                                                                                             Lifestyle-Bereich tun ihr Übriges, diese Normen zu festigen. Die Inhalte werden
                                                                                                             also durch die technischen Möglichkeiten des Mediums geprägt. Diese Ent-
                                                                                                             wicklung stellt auch an Seelsorge neue Herausforderungen: Durch den krea-
                                                                                                             tiven Selbstkonstruktionsprozess werden Rekonstruktionen und Konstruktio-
                                                                                                             nen von Lebensgeschichte angeregt, wie sie schon früher von verschiedenen
                                                                                                             Seelsorgeansätzen als Chance der Selbstdeutung im Rahmen der Lebens- und
                                                                                                             Glaubensgeschichte hervorgehoben wurden.12 Im digitalen Setting aber sind
                                     For personal use only.

                                                                                                             solche Prozesse noch wesentlich erweiterbar durch Prozesse der bildlichen und
                                                                                                             emotionalen Selbstdarstellung, der Möglichkeit pluraler Identitäten, sowie der
                                                                                                             ausgeprägten sozialen Rezeptionsprozesse durch likes und Kommentare.13
                                                                                                                Auch wenn die mediale Ausformung durch soziale Netzwerke neu ist, so ist
                                                                                                             die Mechanik des gegenseitigen Beobachtens und Vergleichens keine völlig neue.
                                                                                                             Was heute likes auf Instagram sind, waren früher Blicke vom Balkon oder An-
                                                                                                             erkennungsbekundungen in alltäglichen Begegnungen. Auch diese hatten schon
                                                                                                             immer eine selbstwertfördernde, anerkennende aber auch eine belastende bis zer-
                                                                                                             störerische Dynamik. Die Mechanismen verschieben sich und verschränken sich
                                                                                                             zunehmend mit der digitalen Sphäre. Man hat es nun mit vielfältigeren Orten
                                                                                                             und Gelegenheiten zu tun, von denen Selbst- und Fremdbeobachtung als ex-
                                                                                                             plorative Selbstexpression erst in flexiblerem Maße möglich wird.14 Digitale und
                                                                                                             soziale Gemeinschaften überlappen und beeinflussen sich dabei. Über nicht öf-
                                                                                                             fentliche Netzwerke wie WhatsApp und Facebook, wo in geschlosseneren Grup-

                                                                                                             12 Vgl. Wolfgang Drechsel, Lebensgeschichte und Lebens-Geschichten, Gütersloh 2000; Wil-
                                                                                                                helm Gräb, Lebensgeschichten, Lebensentwürfe, Sinndeutungen. Eine praktische Theologie
                                                                                                                gelebter Religion, Gütersloh 1998; Albrecht Grözinger, Seelsorge als Rekonstruktion von
                                                                                                                Lebensgeschichte, in: WzM 38 (1986), 178–188.
                                                                                                             13 Aus pastoralanthropologischer Perspektive beleuchtet dies Viera Pirker für Jugendliche und
                                                                                                                ihre Nutzung von Instagram. Viera Pirker, Fragilitätssensible Pastoralanthropologie: Im-
                                                                                                                pulse aus Praktiken der (Selbst-)Inszenierung in Social Media, in: ZPTh 39/1 (2019), 43–58.
                                                                                                             14 Kristin Merle, Öffentlich aushandeln, was gelten soll. Onlinebasierte Interaktion als Me-
                                                                                                                dium weltanschaulicher Selbstbestimmung, in: Loccumer Pelikan 29/1 (2019), 16–20.

                                                                                                             Wege zum Menschen, 73. Jg., 5–18, ISSN: 0043-2040 (print), 2196-8284 (online)
                                                                                                             © 2021 Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen
Seelsorge und digitale Kommunikation                       9

                                                                                                             pen kommuniziert wird, sind die handelnden Akteur*innen oft diejenigen, die
                                                                                                             sich auch sonst abseits der digitalen Welt begegnen oder ein Stück gemeinsame
                                                                                                             Lebensgeschichte teilen. Instagram bildet eine Hybridform, da es zwar inhärent
                                                                                                             angelegt ist, möglichst viele Follower*innen zu generieren, diese aber bestätigt
                                                                                                             werden müssen. Twitter hingegen ist ganz öffentlich zugänglich, was sich aus sei-
                                                                                                             ner ursprünglichen Intention als Nachrichtenmedium ableitet. So werden auch
                                                                                                             unterschiedliche Gegenüber verdichtet, in deren virtuellen Augen sich die Ak-
                                                                                                             teur*innen spiegeln, in aller konstruktiven als auch destruktiven Ambivalenz.
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                                                                                                                               4 Interpassivität: Emotionen teilen und Anteil nehmen

                                                                                                             Diese virtuellen Gegenüber, als bekannte und anonyme Gruppen und Massen,
                                                                                                             sind nicht nur Beobachtende, sie können auch praktische Aufgaben stellver-
                                                                                                             tretend für andere übernehmen. Zunächst mag ein zielloses Surfen durch die In-
                                                                                                             halte sozialer Medien als passive Rezeption gelten. Doch indem wir uns ansehen,
                                                                                                             wie andere sich gegenseitig kommentieren und an ihrem Leben gegenseitig par-
                                                                                                             tizipieren, ist es möglich, an einer virtuellen Unterhaltung teilzunehmen, ohne
                                                                                                             selbst aktiv sein zu müssen. Die Aktivität wird an andere delegiert, und dennoch
                                                                                                             fühlt es sich so an, als hätte man selbst daran teilgenommen. Das Phänomen
                                                                                                             ist aus der Alltagswelt schon länger bekannt, etwa bei Kochshows im Medium
                                     For personal use only.

                                                                                                             Fernsehen. Was andere kochen, löst allein durch das Betrachten ein Wohlgefühl
                                                                                                             aus, als hätten wir selbst etwas Wunderbares auf den Tisch gezaubert – und
                                                                                                             das ganz ohne das Gericht aktiv nachzukochen. Man könnte mit Robert Pfaller
                                                                                                             sogar noch einen weiteren Schritt gehen und fragen, ob nicht nur Aktivität, son-
                                                                                                             dern sogar Passivität und Genießen delegiert wird, im Fall sozialer Medien an
                                                                                                             die (digitale) Gemeinschaft. Bekannt wurde das Phänomen der Interpassivität
                                                                                                             durch das „Dosengelächter“ in Sitcoms: Als Zuschauer*in vor dem Fernseher
                                                                                                             partizipieren wir am Lachen anderer und fühlen uns als hätten wir selbst ge-
                                                                                                             lacht. Könnte dieses Phänomen nicht zugleich Aspekte digitaler seelsorglicher
                                                                                                             Kommunikation beschreiben? Etwa, wenn andere über ihre Verluste trauern,
                                                                                                             ihre Kinderlosigkeit beweinen oder ihre Alltagssorgen teilen, bietet dies emo-
                                                                                                             tionale Strukturen an, in denen sich andere wiederfinden und Anteil nehmen
                                                                                                             können. Durch die Auslagerung in andere Akteur*innen entsteht sowohl eine
                                                                                                             Distanzierung, als auch eine Annäherung an sich selbst – und damit ein seel-
                                                                                                             sorglich höchst relevanter Prozess, wie ihn Pfaller beschreibt:
                                                                                                                „Gefühle, Gedanken und Überzeugungen […] [können] in fremden Agenten (in
                                                                                                                anderen Personen oder sogar in Maschinen) angesiedelt sein und dennoch unse-
                                                                                                                re Gefühle, Gedanken, Überzeugungen bleiben, selbst wenn wir nichts davon be-
                                                                                                                merken. Eine Fernsehkomödie kann für mich lachen, Klageweiber können an mei-
                                                                                                                ner Stelle trauern, eine tibetanische Gebetsmühle für mich beten“15

                                                                                                             15 Robert Pfaller (Hg.), Interpassivität: Studien über delegiertes Genießen (Ästhetik und Natur-
                                                                                                                wissenschaften/Bildende Wissenschaften – Zivilisierung der Kulturen), Wien/New York
                                                                                                                2000, 1 f.

                                                                                                             Wege zum Menschen, 73. Jg., 5–18, ISSN: 0043-2040 (print), 2196-8284 (online)
                                                                                                             © 2021 Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen
10      Annette Haußmann, Caroline Teschmer, Christoph Wiesinger und Golde Wissner

                                                                                                             Auch der Bereich von Seelsorge und Spiritualität wäre in dieser Hinsicht zu
                                                                                                             bedenken: Etwa, wenn auch selbst nicht (mehr) geglaubt wird, herrscht mit-
                                                                                                             unter dennoch ein (nicht zu geringes) Interesse daran, am Glauben anderer
                                                                                                             zu partizipieren. Dem, der Glauben delegiert, kommt dabei eine doppelte
                                                                                                             Position zu. Er oder sie will positiv am Glauben anderer mitglauben und er
                                                                                                             oder sie will sich vom Glauben anderer distanzieren. Beides kann in der Be-
                                                                                                             obachterrolle mitunter sogar gleichzeitig geschehen. Die Person, die ihren
                                                                                                             Glauben an die virtuelle Community delegiert, die ihre Auseinandersetzung
                                                                                                             mit dem Glauben über andere Akteur*innen aushandeln lässt, könnte darin
                                                                                                             das Streitgespräch führen, die Glaubenserfahrung machen, die ihr anders
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                                                                                                             nicht zugänglich wären. Eine Aufgabe digitaler Seelsorge wäre demnach,
                                                                                                             diese Verhältnisse und Beziehungsstrukturen im Blick zu behalten und zu ge-
                                                                                                             stalten. Etwa in der Anteilnahme an Emotionen anderer oder im vermeintlich
                                                                                                             passiven Rezipieren gegenseitigen digitalen Trostes – ohne, dass dieser innere
                                                                                                             Prozess je durch likes oder Kommentare sichtbar geworden wäre. Ein digitales
                                                                                                             Gespräch mit einer Person, ist ein Gespräch mit vielen, die daran partizipie-
                                                                                                             ren und ihre eigenen Erfahrungen damit machen. Welchen Effekt das haben
                                                                                                             kann, lässt sich an einer Nachricht zeigen, die @theresaliebt erhalten hat:
                                                                                                                  „Hallo Theresa, ich wollte dir für deine Videos danken. Ich bin selbst vor ein paar
                                                                                                                  Jahren aus der Kirche ausgetreten, weil ich mich in meiner alten Gemeinde miss-
                                     For personal use only.

                                                                                                                  verstanden und nicht geborgen gefühlt habe. Durch dich habe ich wieder einen
                                                                                                                  Weg gefunden meinen Glauben, auf meine ganz persönliche Weise ausleben zu
                                                                                                                  können. Nach einem Gespräch mit der hiesigen Pfarrerin X bin ich zum Entschluss
                                                                                                                  gekommen wieder einzutreten und auch meinen Sohn evangelisch taufen zu las-
                                                                                                                  sen. Vielen Dank, für mich (und bestimmt viele andere) sind deine Videos sehr
                                                                                                                  inspirierend … das wollte ich einfach mal loswerden.“

                                                                                                             Digitale Formate schaffen insofern neue Möglichkeiten der Anteilnahme:
                                                                                                             Durch das Lesen von posts, in denen anteilgenommen wird am Leben und
                                                                                                             Lebensschicksal anderer inmitten des Alltags. Dadurch geschieht auch etwas
                                                                                                             mit mir, das über das reine Beobachten anderer hinausgeht. Ein Teilen in
                                                                                                             sozialen Netzwerken wird zur Mit-Teilung, schafft ein Mit-Leiden und Mit-
                                                                                                             Fühlen. Die Distanz der digitalen Welt eröffnet die Möglichkeit, am Leben
                                                                                                             und Glauben anderer partizipieren zu können, mitunter andere (für mich)
                                                                                                             glauben lassen zu können und damit den eigenen Glauben zu transformieren,
                                                                                                             ohne dass damit gesagt ist, wie er sich dadurch verändert. Es zeigt sich aber
                                                                                                             eben auch jene Möglichkeit im Hintergrund bleiben zu können, aber in die-
                                                                                                             sem Hintergrund verweilend, neue Gedanken zu denken, neue Beziehungen
                                                                                                             zu knüpfen, neue Glaubenserfahrungen zu machen. Gerade ein Glaube, der in
                                                                                                             etablierten und internalisierten Alltagsstrukturen unangenehm empfunden
                                                                                                             wird, kann durch den Vorgang der Delegation durch andere bearbeitet und
                                                                                                             so ein neuer Zugang gefunden werden. Es zeigt sich damit eine seelsorgliche
                                                                                                             Dimension interpassiven Glaubensvollzugs, der durch distanzierte digitale
                                                                                                             Formate erst möglich wird. Es stellt sich die Frage, wie Seelsorge im digitalen

                                                                                                             Wege zum Menschen, 73. Jg., 5–18, ISSN: 0043-2040 (print), 2196-8284 (online)
                                                                                                             © 2021 Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen
Seelsorge und digitale Kommunikation                       11

                                                                                                             Raum aussehen kann, die diese Interaktionsprozesse im Blick hat und zu ge-
                                                                                                             stalten vermag?

                                                                                                                   5 Visualität und Emotionalität: Licht und Schatten der digitalen Welt

                                                                                                             Andererseits offenbaren die Praktiken digitaler Kommunikation aber Schatten-
                                                                                                             seiten, die beispielsweise im Bereich der (psychischen) Gesundheit unter-
                                                                                                             sucht worden sind: Durch die Praxis der gegenseitigen Beobachtung und des
                                                                                                             Vergleichens entstehen neue Normen der Selbstdarstellung, die ebenfalls be-
Wege zum Menschen downloaded from www.vr-elibrary.de by Universitätsbibliothek Heidelberg on July, 26 2021

                                                                                                             lastend im Blick auf die Selbstwahrnehmung sein können. Kreative befreiende
                                                                                                             Gestaltungschancen und selbstzerstörerisches Potenzial liegen also eng bei-
                                                                                                             sammen und müssen auch für die seelsorgliche Reflexion bedacht werden.
                                                                                                                Durch das Teilen von Videos und Fotos sowie anderer visueller und audi-
                                                                                                             tiver Daten sind neue Möglichkeiten der (Selbst)Mitteilung entstanden. So-
                                                                                                             ziale Medien werden in ihrer Alltäglichkeit besonders durch ihre Bindung
                                                                                                             an den Augenblick und die Gegenwart erkennbar, denn gepostet werden ver-
                                                                                                             mehrt Begebenheiten des Tages oder des Moments. Darin spielen Gefühle
                                                                                                             mit ihrer Aktualität und Vergänglichkeit eine besondere Rolle. Das Medium
                                                                                                             sozialer Interaktion setzt voraus, dass sich die Akteur*innen öffnen und
                                                                                                             etwas von ihrem Alltag preisgeben. Die visuellen Kommunikationsformen
                                     For personal use only.

                                                                                                             schaffen neue Möglichkeiten der Selbstmitteilung, sodass Bilder und Videos
                                                                                                             die Interaktion maßgeblich bestimmen. Instagram und vor allem Snapchat
                                                                                                             und TikTok basieren beinahe vollständig auf visueller Kommunikation und
                                                                                                             geschriebene Sprache rückt in den Hintergrund. Durch Visualität werden
                                                                                                             Emotionen hervorgerufen und verstärkt.16 Dabei treten ambivalente Wirkun-
                                                                                                             gen auf. Einerseits wird die Selbstdarstellung zum großen Teil auf den ge-
                                                                                                             nannten sozialen Netzwerken über Bilder wichtiger, damit auch die Wichtig-
                                                                                                             keit „sich in gutes Licht zu rücken“, was wiederum einen eigenen Typus der
                                                                                                             medial bestimmten Bildästhetik generiert.17 Müssen und können sich alle
                                                                                                             Seelsorger*innen auf sozialen Medien ähnlich selbstbewusst und medien-
                                                                                                             kompetent darstellen und damit Kontakte pflegen? Wie steht es um die
                                                                                                             Herausforderungen, die diese Kommunikationsplattformen mit sich brin-
                                                                                                             gen und welche Schwierigkeiten sind zu bedenken? Wie in anderen Kontex-
                                                                                                             ten der Interaktion sind soziale Netzwerke nicht frei von Problemen. Durch
                                                                                                             Anonymität im Netz eröffnet sich einerseits eine seelsorgliche Chance, weil

                                                                                                             16 Vgl. die kritische soziologische Analyse, Rainer Mühlhoff/Anja Breljak/Jan Slaby, Affekt
                                                                                                                Macht Netz. Auf dem Weg zu einer Sozialtheorie der Digitalen Gesellschaft, Bielefeld 2019.
                                                                                                             17 Diese auch künstlich geschaffene Ästhetik ist in ihrer Vielschichtigkeit auch für die qualita-
                                                                                                                tive Analyse eine Herausforderung, weshalb neue empirische Instrumente notwendig sind.
                                                                                                                Maria Schreiber/Michaela Kramer, „Verdammt schön“. Methodologische und methodische
                                                                                                                Herausforderungen der Rekonstruktion von Bildpraktiken auf Instagram, in: Zeitschrift für
                                                                                                                Qualitative Forschung 17/1–2 (2016), 81–106; Giorgia Aiello/Katy Parry, Visual communica-
                                                                                                                tion. Understanding images in media culture, Los Angeles u. a. 2020.

                                                                                                             Wege zum Menschen, 73. Jg., 5–18, ISSN: 0043-2040 (print), 2196-8284 (online)
                                                                                                             © 2021 Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen
12      Annette Haußmann, Caroline Teschmer, Christoph Wiesinger und Golde Wissner

                                                                                                             Selbstmitteilung leichter fällt, niedrigschwellige Kontaktflächen geschaffen
                                                                                                             werden und persönliche Schamgrenzen gewahrt bleiben können. Anderer-
                                                                                                             seits ist für die Seelsorger*innen mit der relativ offenen Selbstmitteilung
                                                                                                             eine nicht mehr zu trennende Vermischung zwischen Privatheit und Beruf
                                                                                                             entstanden, wie sie an anderer Stelle auch als konstitutiv für den Pfarrberuf
                                                                                                             beschrieben wird.18 Die Grenzen zwischen Seelsorge, Selbstmitteilung, Ver-
                                                                                                             kündigung und Privatleben sind fließend. Durch die Anonymität können
                                                                                                             im Netz auch Botschaften vermittelt werden, die das Gegenteil von Mit-
                                                                                                             gefühl, Trost und Anteilnahme kommunizieren: Hassbotschaften, Cyber-
                                                                                                             mobbing, Shitstorms, Bodyshaming und persönliche Angriffe sind auch
Wege zum Menschen downloaded from www.vr-elibrary.de by Universitätsbibliothek Heidelberg on July, 26 2021

                                                                                                             Phänomene des digitalen Kommunikationsraums, die besonders für Kinder
                                                                                                             und Jugendliche Leid und psychische Probleme mit sich bringen können.19
                                                                                                             Diese Realitäten fordern wiederum auch die Seelsorge heraus und machen
                                                                                                             ihren beratenden, krisenbezogenen Aspekt, der sich an alltägliche Wider-
                                                                                                             fahrnisse anschließt, besonders bedeutsam. Durch ihre Aktivität bringen
                                                                                                             sich Seelsorger*innen auf sozialen Medien auch gesellschaftsrelevant in die
                                                                                                             Gestaltung und die Reflektion der Kommunikation auf diesen Kanälen ein.
                                                                                                             Wenn Theresa Brückner offen über die Anfeindungen spricht, die sie als Re-
                                                                                                             aktionen auf ihre Posts erlebt, schafft sie damit eine Möglichkeit, dass sich
                                                                                                             andere über diese Erfahrungen austauschen können. Wenn sich andere
                                                                                                             gegen die glitzernden Bildwelten20 wenden und etwas von ihrer alltäglichen
                                     For personal use only.

                                                                                                             auch problembehafteten Realität teilen, wird implizit Medienkritik sichtbar
                                                                                                             und dadurch digitale Kommunikation (mit-)gestaltet.
                                                                                                                Emotionen spielen eine große Rolle in Medien wie Instagram und wer-
                                                                                                             den von den Seelsorger*innen häufig adressiert und kommuniziert. Sowohl
                                                                                                             die postenden Personen als auch ihre Follower*innen gehen mit ihren Ge-
                                                                                                             fühlen ungehemmt um.21 Es ist selbstverständlich, dass Themen, Meinungen,
                                                                                                             Erfahrungen auf Instagram mit Gefühlen unterschiedlichster Couleur ein-

                                                                                                             18 Z. B. Ulrike Wagner-Rau, Die personale Dimension im Pfarrberuf, in: Bernd Schröder (Hg.),
                                                                                                                Pfarrer oder Pfarrerin werden und sein. Herausforderungen für Beruf und theologische Bil-
                                                                                                                dung in Studium, Vikariat und Fortbildung, Leipzig 2020, 113–126.
                                                                                                             19 Vgl. Jennifer Eickelmann, „Hate Speech“ und Verletzbarkeit im digitalen Zeitalter. Phäno-
                                                                                                                mene mediatisierter Missachtung aus Perspektive der Gender Media Studies, Bielefeld 2017;
                                                                                                                Elke Wagner, Intimisierte Öffentlichkeiten. Pöbeleien, Shitstorms und Emotionen auf Face-
                                                                                                                book, Bielefeld 2019; Konstanze Marx, Von Schafen im Wolfspelz – Shitstorms als Sympto-
                                                                                                                me einer medialen Emotionskultur, in: Stefan Hauser/Martin Luginbühl/Susanne Tienken
                                                                                                                (Hg.), Mediale Emotionskulturen, Bern/Berlin 2019, 135–154.
                                                                                                             20 Katja Gunkel, Der Instagram-Effekt. Wie ikonische Kommunikation in den Social Media
                                                                                                                unsere visuelle Kultur prägt, Bielefeld 2018.
                                                                                                             21 Dies lässt sich durch die Modalitäten des Mediums erklären, die Emotionalität erst hervor-
                                                                                                                bringen. Dieses Phänomen wird z. B. auch in Internetforen erkennbar, die durch Anonymi-
                                                                                                                tät und Nicknames zusätzlich zu einer emotionalen Öffnung durch kommunikative Ent-
                                                                                                                hemmungsprozesse führen und durch den Bezug auf einen gemeinsamen Gegenstand auch
                                                                                                                eine Form des „Wir-Gefühls“ generieren. Vgl. Sandra Reimann, Emotionskulturen im Netz
                                                                                                                am Beispiel der Selbsthilfeplattform, in: Stefan Hauser/Martin Luginbühl/Susanne Tienken
                                                                                                                (Hg.), Mediale Emotionskulturen, Bern/Berlin 2019, 201–218.

                                                                                                             Wege zum Menschen, 73. Jg., 5–18, ISSN: 0043-2040 (print), 2196-8284 (online)
                                                                                                             © 2021 Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen
Seelsorge und digitale Kommunikation                      13

                                                                                                             gefärbt werden. Das verstärkt zugleich die persönliche Nähe zwischen den
                                                                                                             Akteuren, aber auch zwischen dem vermeintlich passiven22 unsichtbaren Re-
                                                                                                             zipienten und Seelsorgenden.
                                                                                                                Theresa schreibt in der Zeit der Corona-Beschränkungen:
                                                                                                                „Die Zahlen der Infizierten, die Zahlen der Toten, die Bilder aus Italien und Spa-
                                                                                                                nien, die häusliche Gewalt, die geschlossenen Geschäfte, die Existenzängste … All
                                                                                                                die Nachrichten und Berichte lassen mich manchmal nachts wach liegen. Deshalb
                                                                                                                gibt es heute für Euch von mir ein Gebet […] Zeige uns, dass Du da bist. Hier ist
                                                                                                                schon einiges zerbrochen. Und ich bin mir sicher es wird noch mehr zerbrechen.
Wege zum Menschen downloaded from www.vr-elibrary.de by Universitätsbibliothek Heidelberg on July, 26 2021

                                                                                                                Bleib spürbar da. Wenn es dunkel wird. Wenn die Angst hochkriecht. Wenn die
                                                                                                                Hoffnung zerbricht. In dieser Zeit bist Du da. Bis zum Ende. Amen.“
                                                                                                             Darauf eine der Reaktionen:
                                                                                                                „Ich gehe momentan mit meinem 14jährigen Sohn durch schwere Zeiten, der leider
                                                                                                                nicht einsieht immer das Haus zu hüten und dann will er Freunde treffen und rau-
                                                                                                                chen … neben den schulischen Anforderungen die täglichen Konflikte … manch-
                                                                                                                mal fehlt mir die Kraft und wenn ich dann so einen tollen Text lese, fühle ich mich
                                                                                                                verstanden und aufgefangen. Danke“
                                                                                                             Vor allem fällt die Verflechtung der eigenen emotionalen Selbstöffnung mit
                                                                                                             einer pastoraltheologischen Grundierung auf, die sich mit der Spiritualität der
                                                                                                             Theolog*innen verbindet und eine Umgangsform mit den mitunter schwieri-
                                     For personal use only.

                                                                                                             gen Gefühlen eröffnet. In diesem Raum werden emotionale Reaktionen und
                                                                                                             Anknüpfungspunkte an die Lebensgeschichte der Follower*innen hervor-
                                                                                                             gerufen, die posts und stories bieten aber zugleich Trost, ein Gefühl des „ver-
                                                                                                             standen- und aufgefangen-Werdens“.
                                                                                                                Die rasante Entwicklung der medialen Kommunikation schafft für die Seel-
                                                                                                             sorge neue Herausforderungen. Denn sie hebt schärfer hervor, dass Körper-
                                                                                                             lichkeit und Gefühle nicht zu den Standardthemen der Poimenik gehören,
                                                                                                             aber dringend einer neuen Reflexion bedürfen.23
                                                                                                                Geteilt werden in sozialen Medien nicht nur verbale Emotionsäußerungen.
                                                                                                             Durch Emojis einerseits, aber auch durch Körperlichkeit werden Gefühle
                                                                                                             transportiert. Der Körper ist zugleich Kommunikationsmittel, Ausdrucks-
                                                                                                             und Erkenntnismedium und Gegenstand von Projektion. Auffallend prä-
                                                                                                             sentieren sich die Seelsorger*innen auch durch Portraits und Videos ihrer

                                                                                                             22 Vgl. dazu Abschnitt 4, Interpassivität.
                                                                                                             23 Vgl. zur recht jungen Diskussion um Gefühle in der Praktischen Theologie und Poimenik:
                                                                                                                Elisabeth Naurath, Perspektiven einer Praktischen Theologie der Gefühle, in: Roderich
                                                                                                                Barth/Christopher Zarnow (Hg.), Theologie der Gefühle, Berlin/Boston 2015, 207–223; Wil-
                                                                                                                fried Engemann, Das Lebensgefühl im Blickpunkt der Seelsorge. Zum seelsorgerlichen Um-
                                                                                                                gang mit Emotionen, in: WzM 61 (2009), 271–286; Annette Haußmann, Mensch ärgre dich
                                                                                                                nicht!, in: dies./Peter Schüz/Niklas Schleicher (Hg.), Die Entdeckung der inneren Welt, Tü-
                                                                                                                bingen (im Erscheinen). Vgl. zur Körperlichkeit bzw. Leiblichkeit in der Seelsorge: Elisabeth
                                                                                                                Naurath, Seelsorge als Leibsorge, Stuttgart 2000; Christoffer H. Grundmann, Wir sind Leib!
                                                                                                                Plädoyer für eine Hermeneutik des Leibes zur anthropologischen Neuorientierung ärzt-
                                                                                                                licher, krankenpflegerischer und seelsorgerlicher Tätigkeit, in: WzM 67/4 (2015), 309–320.

                                                                                                             Wege zum Menschen, 73. Jg., 5–18, ISSN: 0043-2040 (print), 2196-8284 (online)
                                                                                                             © 2021 Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen
14      Annette Haußmann, Caroline Teschmer, Christoph Wiesinger und Golde Wissner

                                                                                                             selbst, in denen sie zu den Follower*innen sprechen, mal weinen, mal lachen,
                                                                                                             sich auch bewusst von ihren „unschönen“ Seite zeigen. Dadurch wird eine
                                                                                                             neue Facette der seelsorglichen Interaktion sichtbar. Denn Mitgefühl zeigen
                                                                                                             nicht nur die Seelsorgenden, sondern auch die Follower*innen. Es geht um
                                                                                                             ein Mitfühlen als Dynamik eines gegenseitigen Beziehungsgeschehens durch
                                                                                                             das Teilen und Mitteilen von Gefühlen. Die mediale Distanz ermöglicht zu-
                                                                                                             gleich Nähe und empathisches Einfühlen. Dadurch hat das Konzept der Inter-
                                                                                                             passivität eine gewisse Nähe zur aus der systemischen Seelsorge und Thera-
                                                                                                             pie bekannten Interpathie,24 geht jedoch noch darüber hinaus. Denn es wird
                                                                                                             nicht nur von einer Beobachtung der zwischen anderen ablaufenden Inter-
Wege zum Menschen downloaded from www.vr-elibrary.de by Universitätsbibliothek Heidelberg on July, 26 2021

                                                                                                             aktionen ausgegangen, vielmehr sind die Beobachtenden mit ihren eigenen
                                                                                                             Gefühlen, Gedanken und ihrer Lebensgeschichte zutiefst in diesen Prozess
                                                                                                             des Austauschens hineingenommen. Den Akteur*innen erfahren durch ihre
                                                                                                             Aktivität auf sozialen Kanälen Mitgefühl, Mitleiden, Trost und Aufmerksam-
                                                                                                             keit und geben selbes durch eigene Aktivität weiter an andere.
                                                                                                                Auch die Follower*innen schreiben sehr oft Aufmunterndes: Freundliche
                                                                                                             Emojis werden beispielsweise gesetzt, wenn beschrieben wird, dass eine Situa-
                                                                                                             tion als schwer empfunden wird. Gleichzeitig regen solche posts dazu an, von
                                                                                                             eigenen ähnlichen Erfahrungen zu berichten. Theresa schreibt und zeigt dazu
                                                                                                             ein Bild von sich selbst, in dem sie müde und mit verschmierter Wimpern-
                                                                                                             tusche in die Kamera blickt:
                                     For personal use only.

                                                                                                                  „Nach #Beerdigungen bin ich immer wirklich kaputt. Voller Trauer, voller Hoff-
                                                                                                                  nung, voller Mitgefühl, voller Erinnerungen, voller Schmerz. Ich brauche danach
                                                                                                                  immer Zeit um selbst nochmal zu weinen. Denn die Tränen der Angehörigen und
                                                                                                                  Freunde lassen mich nie kalt, sie berühren mich immer sehr und ich trauere mit.
                                                                                                                  Das braucht danach Raum. Das gehört zu meinem Beruf dazu“
                                                                                                             Dafür bekommt sie viel Zuspruch. Eine Person schreibt: „wow … ich mag Deins
                                                                                                             lesen … ist mir nahe … danke“. So wird aus Seelsorge sichtbar eine gefühls-
                                                                                                             bezogene Interaktion, die zeigt, dass digital kommunizierte Seelsorge keine
                                                                                                             einseitige Angelegenheit sein muss. Wenn also im digitalen Raum Emotionen
                                                                                                             eine derart zentrale Stellung einnehmen und zudem verstärkt unbewegte und
                                                                                                             bewegte emotional aufgeladene Bilder als ihre Transportgrundlage nutzen,
                                                                                                             stellt sich die Herausforderung, Emotionen im poimenischen Kontext neu
                                                                                                             theoretisch zu bedenken.

                                                                                                             24 Unter Interpathie wird in der systemischen Seelsorge verstanden: „Seelsorgende fühlen sich
                                                                                                                auch in das hinein, was transaktionell unter den beteiligten Personen geschieht“, Christoph
                                                                                                                Morgenthaler, Systemische Seelsorge. Impulse der Familien- und Systemtherapie für die
                                                                                                                kirchliche Praxis, Stuttgart 2019, 138.

                                                                                                             Wege zum Menschen, 73. Jg., 5–18, ISSN: 0043-2040 (print), 2196-8284 (online)
                                                                                                             © 2021 Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen
Seelsorge und digitale Kommunikation                    15

                                                                                                                                           6 Kommunikation in Alltag und Krise:
                                                                                                                                            Öffentlichkeit und Seelsorgegeheimnis

                                                                                                             Es gibt gute Gründe, warum die Seelsorge im digitalen Raum bislang vor-
                                                                                                             wiegend in Form von Emails und Chats realisiert wurde.25 Das Seelsorge-
                                                                                                             geheimnis, das für die Seelsorge ein hohes Gut und auch gesetzlich relevant
                                                                                                             ist, muss bei dezidierten Seelsorgesituationen gewahrt bleiben.26 Dennoch
                                                                                                             gibt es über die cura animarum specialis, der beratenden Einzelseelsorge, die
                                                                                                             sich im Bereich der digitalen Welt als online-Beratung beschreiben lässt,27
                                                                                                             hinaus noch weitere seelsorgliche Zusammenhänge, die ebenso bedeutsam
Wege zum Menschen downloaded from www.vr-elibrary.de by Universitätsbibliothek Heidelberg on July, 26 2021

                                                                                                             sind, aber leicht übersehen werden. In der Seelsorgetheorie ist immer auch
                                                                                                             die Breite des Alltags, die Dimension der Seelsorge in anderen Handlungs-
                                                                                                             feldern wie der Diakonie28 oder der Predigt29 als cura animarum generalis
                                                                                                             hervorgehoben worden. In solchen Kontexten ist Seelsorge ein der Öffentlich-
                                                                                                             keit zugängliches Geschehen, dass sich der Sorge um ein gegenseitiges see-
                                                                                                             lisches Wohlbefinden bemüht. Solche Überlegungen zu einem öffentlichen
                                                                                                             Sorgeverständnis artikuliert sich im diakonischen Bereich etwa in Form von
                                                                                                             sorgenden Gemeinschaften30 oder in der Spiritual Care als Sorge um das spi-
                                                                                                             rituelle Wohlbefinden.31 Eine dritte Anschlussmöglichkeit hierzu ergibt sich,
                                                                                                             betrachtet man religiöse Kommunikation in der digitalen Öffentlichkeit.32
                                                                                                             Es scheint also nur folgerichtig, auch für den digitalen Raum zu überlegen,
                                     For personal use only.

                                                                                                             wie sich eine Form der öffentlichen, generellen Seelsorge im Spannungsfeld
                                                                                                             von Seelsorgegeheimnis und gegenseitiger Sorge vollziehen kann und wel-
                                                                                                             chen Herausforderungen, Anforderungen und Chancen sie in diesem Setting
                                                                                                             unterliegt.33 In der Spannbreite zwischen einer beratenden Einzelseelsorge
                                                                                                             und einer öffentlichen generellen Seelsorge ist es im digitalen Setting mit
                                                                                                             25 Vgl. Norbert Ellinger, Die Zukunft der Seelsorge in einer digitalen Welt, in: Leidfaden 9/1
                                                                                                                (2020), 39–43.
                                                                                                             26 Evangelische Kirche in Deutschland: Kirchengesetz der Evangelischen Kirche in Deutsch-
                                                                                                                land zum Schutz des Seelsorgegeheimnisses (Seelsorgegeheimnisgesetz – SeelGG).
                                                                                                             27 Vgl. Ellinger, Zukunft.
                                                                                                             28 Vgl. Henning Luther, Diakonische Seelsorge, in: WzM 40/8 (1988), 475–484.
                                                                                                             29 Z. B. Michael Klessmann, Predigt als Lebensdeutung. Pastoralpsychologische Überlegungen
                                                                                                                zu einem offenen homiletischen Problem, in: PTh 85 (1996), 425–441.
                                                                                                             30 Vgl. Thomas Klie, Wen kümmern die Alten? Auf dem Weg in eine sorgende Gesellschaft,
                                                                                                                München 2014; auch das Projekt „Sorgende Gemeinde“ der EKD, das Seelsorge als Aspekt
                                                                                                                der gegenseitigen Sorge integriert, https://www.ekd.de/eafa/sorgende_gemeinde_werden.
                                                                                                                html (letzter Zugriff am 21.7.2020).
                                                                                                             31 Vgl. Traugott Roser, Spiritual Care. Der Beitrag von Seelsorge zum Gesundheitswesen, Stutt-
                                                                                                                gart 2017.
                                                                                                             32 Vgl. Kristin Merle, Religion in der Öffentlichkeit. Digitalisierung als Herausforderung für
                                                                                                                kirchliche Kommunikationskulturen, Berlin/Boston 2019; Ilona Nord/Kristin Merle (Hg.),
                                                                                                                Mediatisierung religiöser Kultur. Praktisch-theologische Standortbestimmungen im inter-
                                                                                                                disziplinären Kontext, Leipzig 2020.
                                                                                                             33 Als Anregung könnten die Gruppenseelsorge und Gruppensupervision dienen, in deren
                                                                                                                Kontext schon immer die Frage nach dem Umgang mit dem Seelsorgegeheimnis unter Be-
                                                                                                                teiligung mehrerer Personen verhandelt wurde.

                                                                                                             Wege zum Menschen, 73. Jg., 5–18, ISSN: 0043-2040 (print), 2196-8284 (online)
                                                                                                             © 2021 Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen
16      Annette Haußmann, Caroline Teschmer, Christoph Wiesinger und Golde Wissner

                                                                                                             einer einfachen Übertragung der Gegebenheiten der kopräsenten Begegnung
                                                                                                             ins Digitale nicht getan. Gerade für den geschützten digitalen Bereich unter
                                                                                                             dem Seelsorgegeheimnis besteht noch Nachholbedarf.34 Denn sowohl in all-
                                                                                                             täglichen als auch in krisenhaften Kommunikationskontexten sollten ent-
                                                                                                             sprechende Seelsorgeoptionen zur Verfügung stehen: Dies ist bislang für ge-
                                                                                                             schützte Seelsorgeräume nur bedingt der Fall.35

                                                                                                                  7 Digitale Seelsorge: ein Ausblick mit Chancen und Herausforderungen
Wege zum Menschen downloaded from www.vr-elibrary.de by Universitätsbibliothek Heidelberg on July, 26 2021

                                                                                                             Theresa Brückner postet einen Gedanken zum Muttertag und eine Person
                                                                                                             kommentiert durch die Mitteilung sehr persönlicher Erfahrungen. In der
                                                                                                             direkten Seelsorgebegegnung würde man vermutlich dazu tendieren, auf die
                                                                                                             Äußerungen eingehen zu wollen, Begegnung ermöglichen, Lebensgeschichte
                                                                                                             erzählen lassen, Gefühle ausloten, Trost anbieten. Dass aber eine Person durch
                                                                                                             die Mitteilung von @theresaliebt in dieser Weise zu einer Darstellung eines
                                                                                                             Stücks eigener leidvoller Lebensgeschichte angeregt wurde, und dies in Ver-
                                                                                                             bindung setzt zur Situation anderer, zeigt doch: Hier geschieht Interaktion mit
                                                                                                             Seelsorgerelevanz. Eine Weitung des Seelsorgebegriffs im digitalen Raum ist
                                                                                                             notwendig, wobei nonverbale und verbale, visuelle, emotionale, symbolische,
                                                                                                             körperliche und bildliche Kommunikationsformen im Blick bleiben müssen.
                                     For personal use only.

                                                                                                             Die jeweiligen Medien bestimmen die Prinzipien der Interaktion maßgeblich
                                                                                                             mit und Möglichkeiten und Grenzen der Seelsorge müssen daher sehr diffe-
                                                                                                             renziert betrachtet werden. Auch der Inhalt der Seelsorge kann nicht voraus-
                                                                                                             gehend fixiert werden: nicht nur „das Religiöse“, das Gespräch über Sinn und
                                                                                                             Kontingenz, ist Seelsorge. Darüber hinaus kann alles, was auch Inhalt von
                                                                                                             Alltagsgesprächen ist, zur Seelsorge werden, weshalb sich eine scharfe Tren-
                                                                                                             nung von Alltags- und Krisenseelsorge gerade nicht nahelegt. Und schließlich
                                                                                                             werden Rollen, Selbstdarstellung und Selbstwahrnehmung durch Digitalisie-
                                                                                                             rung und soziale Medien fluider. Seelsorgende wechseln zwischen Öffnung
                                                                                                             ihres Alltags und Erhalt von Zuspruch zu Anteilnehmenden und spirituellen
                                                                                                             Impulsen – mitunter im Verlauf eines einzigen digitalen Gesprächsgangs.
                                                                                                               Letztlich ist für eine Gewährleistung von Seelsorgemöglichkeiten dort, wo
                                                                                                             Menschen miteinander in Kontakt treten, eine Flexibilität an Angeboten nötig.
                                                                                                             Demnach muss es keinen Ausschluss zwischen kopräsenter Begegnung und di-
                                                                                                             34 Etwa im Rahmen der Chat- und Emailseelsorge, sowie der Krisen-Kompass-App der Tele-
                                                                                                                fonseelsorge.
                                                                                                             35 Im Rahmen der Gemeindeseelsorge etwa kann bislang auf solche Optionen nur verwiesen
                                                                                                                werden (Telefon- und Emailseelsorge), dabei hat die stürmische Rezeption digitaler An-
                                                                                                                gebote im Verkündigungsbereich die Frage laut werden lassen, ob solche Angebote nicht auch
                                                                                                                in der Seelsorge Anklang fänden. Ein Hinweis findet sich im zügig wieder abgebrochenen
                                                                                                                Projekt eines bayerischen Pfarrers, der einen Seelsorgekanal auf Whatsapp schaltete, und so
                                                                                                                viel Zulauf erhielt, dass er dem Ansturm nicht mehr gewachsen war, vgl. Ralf Peter Reimann,
                                                                                                                Digitalisierung als Herausforderung für die seelsorgliche Kommunikation. Veränderungen
                                                                                                                in der Seelsorge durch Social Media, in: WzM 72 (2020), 216–228.

                                                                                                             Wege zum Menschen, 73. Jg., 5–18, ISSN: 0043-2040 (print), 2196-8284 (online)
                                                                                                             © 2021 Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen
Seelsorge und digitale Kommunikation                   17

                                                                                                             gitaler Welt geben: In der Online-Beratung gibt es das Paradigma des blended
                                                                                                             counseling bzw. therapy36, das von ineinander übergreifenden Kommunikations-
                                                                                                             settings ausgeht. So können etwa face-to-face Kontakte zusätzlich zu Emailbe-
                                                                                                             ratung oder Chatkontakten stattfinden. Eine Realität, die auf Kommunikation
                                                                                                             generell zutrifft: Medien ergänzen sich gegenseitig und es finden parallele und
                                                                                                             sich ergänzende Kommunikationsstränge statt. Ebenso bewegt sich Seelsorge
                                                                                                             im Spektrum der Begegnungs-, Begleitungs-, und Beratungssettings, die in-
                                                                                                             einander übergehen können, sich ergänzen und auch auf verschiedene Perso-
                                                                                                             nen verteilt sein können – ganz im Sinne einer sich gegenseitig umsorgenden
                                                                                                             Gemeinschaft.37 So vernetzen sich etwa Jugendliche gleichzeitig sowohl auf
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                                                                                                             Instagram, vereinbaren über WhatsApp Termine und schreiben sich, suchen
                                                                                                             in Krisen das persönliche Gespräch und brauchen beispielsweise im Fall von
                                                                                                             Suizidalität professionelle Beratung – diese Realität muss stärker auch seelsorg-
                                                                                                             lich wahrgenommen werden. Eine Perspektive auf digitale Seelsorge, an die sich
                                                                                                             in dieser Hinsicht anknüpfen ließe, liefert Wolfgang Beck:
                                                                                                                „Digitale Kommunikationsformate werden jedoch auch zum Instrument der seel-
                                                                                                                sorglichen Begleitung, wo Menschen beispielsweise existenzielle Krisenerfahrungen
                                                                                                                in Blogs literarisch verarbeiten und dabei ein Forum für Menschen mit ähnlichen
                                                                                                                Lebenserfahrungen bieten oder einfach in Familienblogs ihre Alltagserfahrungen
                                                                                                                miteinander teilen. Seelsorge fungiert hier weniger als ein professionalisiertes An-
                                                                                                                gebot als vielmehr in der Weite einer relationalen Bestimmung. Es ist ‚Seelsorge im
                                     For personal use only.

                                                                                                                Miteinander‘ […] Dabei ist zu würdigen, dass alle Menschen an- und füreinander
                                                                                                                seelsorglich wirken.“38
                                                                                                             Die Herausforderungen und Fragen, die ein solcher Neuansatz digitaler
                                                                                                             Seelsorge mit sich bringt, sind vielfältig. Wie verhält es sich mit der Daten-
                                                                                                             speicherung und dem Datenschutz, insbesondere angesichts des Seelsorge-
                                                                                                             geheimnisses? Wie verhält es sich mit den ethischen Herausforderungen, dem
                                                                                                             Zusammenhang zu Marktinteressen und finanziellen Aspekten?39 Wie kön-
                                                                                                             nen Haupt- und Ehrenamtliche eine digitale Präsenz gewährleisten, wie lässt
                                                                                                             sich vermitteln zwischen Amt, Rolle und Person, Privatsphäre und beruflicher
                                                                                                             Tätigkeit, und wie können Seelsorgende geschützt werden vor anonymisierten
                                                                                                             Angriffen auf ihre Person durch Hassbotschaften, Cybermobbing oder Body­
                                                                                                             shaming?
                                                                                                                Eine Theoriebildung, die sich aus der empirischen Beobachtung und Er-
                                                                                                             forschung medialer Praktiken und aus der Erfahrung derer speist, die im
                                                                                                             digitalen Bereich seelsorglich aktiv sind, greift bestehende kommunikative
                                                                                                             Mechanismen auf, nimmt sie wahr und reflektiert diese für die Seelsorge-

                                                                                                             36 Emily M. Engelhardt, Lehrbuch Onlineberatung, Göttingen 2018, 127–136.
                                                                                                             37 Vgl. den Vorschlag einer blended spiritual care von Wolfgang Greulich, Auf die Begegnung
                                                                                                                kommt es an. Klinikseelsorge und Soziale Medien, in: WzM 72/3 (2020), 229–243.
                                                                                                             38 Wolfgang Beck, Erinnern und Deuten im Zentrum einer Theologie der Digitalität. Zur Be-
                                                                                                                deutung eines Kulturwandels für Selbstverständnis und seelsorgliche Praxis der Kirche, in:
                                                                                                                WzM 72/3 (2020), 191–202.
                                                                                                             39 Vgl. Peter Seele/Lucas Zapf, Die Rückseite der Cloud, Berlin/Heidelberg 2017.

                                                                                                             Wege zum Menschen, 73. Jg., 5–18, ISSN: 0043-2040 (print), 2196-8284 (online)
                                                                                                             © 2021 Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen
18      Annette Haußmann, Caroline Teschmer, Christoph Wiesinger und Golde Wissner

                                                                                                             praxis. Eine fundierte Theorie der digitalen Seelsorge ist notwendig, damit
                                                                                                             eine Sensibilisierung für die Relevanz digitaler Seelsorgekommunikation
                                                                                                             stattfindet, eine Übertragung der theoretischen Erkenntnisse in die Praxis
                                                                                                             gut gelingt und Menschen dort Unterstützung und Seelsorge zukommt, wo
                                                                                                             sie gebraucht wird.

                                                                                                             Jun.-Prof. Dr. Annette Haußmann, Professur für Praktische Theologie mit dem
                                                                                                             Schwerpunkt Seelsorgetheorie, Theologische Fakultät der Ruprecht-Karls-
                                                                                                             Universität Heidelberg, Psychotherapeutin für Kognitive Verhaltenstherapie,
                                                                                                             Kisselgasse 1, 69117 Heidelberg;
Wege zum Menschen downloaded from www.vr-elibrary.de by Universitätsbibliothek Heidelberg on July, 26 2021

                                                                                                             E-Mail: annette.haussmann@ts.uni-heidelberg.de
                                                                                                             Dr. Caroline Teschmer, Vertretungsprofessorin für Religionspädagogik und
                                                                                                             Didaktik des Religionsunterrichts, Fakultät für Erziehungswissenschaft der
                                                                                                             Universität Hamburg, Von-Melle-Park 8, 20146 Hamburg;
                                                                                                             E-Mail: caroline.teschmer@uni-hamburg.de
                                                                                                             Golde Wissner, Diplom-Psychologin und Pfarrerin, wissenschaftliche Mitarbeit
                                                                                                             am EIBOR (Evangelisches Institut für Berufsorientierte Religionspädagogik)
                                                                                                             an der Universität Tübingen, Liebermeisterstraße 12, 72076 Tübingen; E-Mail:
                                                                                                             golde.wissner@uni-tuebingen.de
                                     For personal use only.

                                                                                                             Dr. Christoph Wiesinger, Akademischer Rat auf Zeit am Lehrstuhl für Prak-
                                                                                                             tische Theologie mit Schwerpunkt Religionspädagogik, Theologische Fakultät
                                                                                                             der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg, Kisselgasse 1, 69117 Heidelberg;
                                                                                                             E-Mail: christoph.wiesinger@ts.uni-heidelberg.de

                                                                                                             Wege zum Menschen, 73. Jg., 5–18, ISSN: 0043-2040 (print), 2196-8284 (online)
                                                                                                             © 2021 Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen
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