Seelsorge und digitale Kommunikation
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Seelsorge und digitale Kommunikation Dynamiken sozialer Interaktion und ihre Auswirkungen auf Poimenik Annette Haußmann, Caroline Teschmer, Christoph Wiesinger und Golde Wissner Wege zum Menschen downloaded from www.vr-elibrary.de by Universitätsbibliothek Heidelberg on July, 26 2021 Zusammenfassung: Digitalisierung boomt. Neue Möglichkeiten für Seelsorge werden drin- gend gesucht. Der Beitrag zeigt anhand empirischer Beispiele, wie in sozialen Medien inter- agiert wird. Die Dynamiken digitaler Kommunikation werden anhand medientheoretischer Konzepte dargestellt. Der Beitrag plädiert für eine Wiederentdeckung der öffentlichen Dimen- sion von Seelsorge und eine differenzierte poimenische Grundlegung für den digitalen Bereich. Abstract: Digitisation is booming. New opportunities for pastoral care are urgently sought. This article shows empirical examples of how people interact in social media. The dynamics of digital communication are illustrated using media theory concepts. This contribution pleads for a rediscovery of the public dimension of pastoral care and a differentiated poimenic foundation for the digital field. For personal use only. 1 Digitale Seelsorge in sozialen Medien? Seit Januar 2019 ist Theresa Brückner Pfarrerin für Kirche im digitalen Raum. Sie postet auf Instagram, Twitter, Facebook und YouTube unter dem Namen @theresaliebt Fotos, Texte und Videos. Sie spricht über ihren Alltag als Pfar- rerin und Mutter, über Glauben, Religion, Spiritualität und Theologie. Ihr Auftreten ist locker, modern, ihre Sprache eingänglich. Mit ihren über 17.000 Follower*innen diskutiert sie die großen und kleinen Fragen des Lebens. The- resa spricht über Fragen, die häufig an sie herangetragen werden und die Seele berühren. Sie eröffnet durch Mitteilung über ihre eigenen Themen und Ge- fühle einen Raum dafür, dass andere sich darin wiederfinden und mitteilen können. Zum Thema Muttertag postet @theresaliebt, dass dieser Tag nicht für alle einfach ist und thematisiert Kinderwunsch und ungewollte Kinderlosig- keit, zerbrochene und konfliktbehaftete Beziehungen. Ein Kommentar einer Followerin darauf: „Für mich sind solche Ehrentage schrecklich. Sie erinnern mich daran, was für ein Leid ich erlebt habe. Ich mag diesen Tag nicht. Vor vielen Jahren hat meine Mutter mich ins Heim gegeben und auch geschlagen. Das habe ich bis heute nicht verkraftet. Dadurch habe ich sie vergessen. Ich bin trotzdem gerührt, wenn ich deinen Post lese. Denn oft sieht man das heile. Was man nicht sieht, ist das Leid von vielen Frauen.“ Theresa antwortete darauf: „Das tut mir wahnsinnig leid. Viel Kraft für heute“, dahinter drei Emoji-Herzen. Andere Follower*innen beschreiben, wie sie bei diesem Muttertag-Post seit langem wieder weinen konnten, oder erzählen Wege zum Menschen, 73. Jg., 5–18, ISSN: 0043-2040 (print), 2196-8284 (online) © 2021 Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen
6 Annette Haußmann, Caroline Teschmer, Christoph Wiesinger und Golde Wissner von Fehlgeburten und häuslicher Gewalt. Solche Sequenzen digitaler Kom- munikation sind kein Einzelfall – und sie regen zum Nachdenken über die Möglichkeiten von Seelsorge in digitaler Kommunikation an. 2 Seelsorge digital neu denken: Chancen durch aktuelle Entwicklungen Die Corona-Krise hat der Digitalisierung einen enormen Schub gegeben und ins Bewusstsein gerückt, wie wichtig Kommunikation für das menschliche Zu- sammenleben ist. Der Abbruch von seelsorglichen kopräsenten Kontakten1 ließ Wege zum Menschen downloaded from www.vr-elibrary.de by Universitätsbibliothek Heidelberg on July, 26 2021 neue seelsorgliche Angebote entstehen2 und stärkte das öffentliche Bewusst- sein für die Relevanz von Seelsorge.3 Neben bewährtem Rückgriff auf Tele- fon und Email nutzen Seelsorgende aktuell verstärkt auch soziale Medien wie YouTube, Facebook, WhatsApp und Instagram.4 Sie stellen Gottesdienste und Andachten ins Netz, diskutieren online gemeindeübergreifend über Glaubens- inhalte, die Anknüpfungsmöglichkeiten für seelsorgliche Kontakte bieten.5 Die digitale Kommunikation stellt die Seelsorgetheorie und ihre Konzep- te vor neue Herausforderungen und macht Reflexionen notwendig.6 Bisherige 1 Dieses Phänomen ist weltweit zu beobachten, besonders bedrückend in Bereichen der Spezial- seelsorge etwa im Krankenhaus und hebt das Bedürfnis nach Seelsorge und Spiritual Care neu For personal use only. ins Bewusstsein, vgl. z. B. Betty R. Ferrell u. a., The Urgency of Spiritual Care: COVID-19 and the Critical Need for Whole-Person Palliation, in: Journal of Pain and Symptom Management 60/3 (2020), e7–e11; David A Drummond/Lindsay B. Carey, Chaplaincy and Spiritual Care Response to COVID-19: An Australian Case Study – The McKellar Centre, in: HSCC 8/2 (2020), 165–179. 2 Eigene Internetseiten wurden eingerichtet, z. B. https://corona-seelsorge.de/; https://www. notfallseelsorge-berlin.de/corona-seelsorge; letzter Zugriff am 15.7.2020. 3 So wurden viele Artikel auch in Tageszeitungen zur Seelsorge veröffentlicht, z. B. https://www. swr.de/swr1/seelsorge-in-corona-zeiten-100.html; https://www.faz.net/aktuell/gesellschaft/ gesundheit/coronavirus/wie-seelsorge-in-der-corona-krise-funktioniert-16710733.html; letzter Zugriff am 15.7.2020. Vgl. zur Reflexion von Seelsorge und Öffentlichkeit Kristin Merle, Seelsorge als öffentlichkeitsrelevante Funktion der Kirche. Erinnerung an eine poi- menische Grundbestimmung im Zuge der Digitalisierung, in: WzM 72/3 (2020), 203–215. 4 Das ergaben erste Untersuchungen einer online-Befragung zur Zeit der Kontaktbeschrän kungen Annette Haußmann/Birthe Fritz, Seelsorge und COVID-19-Pandemie – erste Erkennt- nisse, 2020, https://www.researchgate.net/publication/346491607_Seelsorge_und_COVID-19- Pandemie_-_erste_Erkenntnisse; letzter Zugriff am 09.12.2020. 5 81 % der Gemeinden boten digitale Verkündigungsformate an, 78 % sagten, sie seien durch die Corona-Krise „digitalisiert“ worden. 72 % gaben an, digitale Formate fortführen zu wollen, https://www.ekd.de/midi-studie-ergebnisse-kirche-digital-corona-56563.html; letzter Zugriff am 16.07.2020. Im Spezialseelsorgefeld Krankenhaus wurden digitale Kommunikationsformate erprobt, verstärkt videounterstützte Telefonkontakte, vgl. Michael J. Byrne/Daniel R. Nuzum, Pastoral Closeness in Physical Distancing: The Use of Technology in Pastoral Ministry during COVID-19, in: HSCC 8/2 (2020), 206–217; Isabelle Noth, „Teleseelsorge“ – Fernseelsorge ganz nah: Virtuelle Lösungen für Spezial- und Gemeindeseelsorge zu Coronazeiten, in: WzM 72/3 (2020), 271–275. Auch Hybridformen sind angedacht, vgl. Werner Greulich, Auf die Begegnung kommt es an. Klinikseelsorge und Soziale Medien, in: WzM 72/3 (2020), 229–243. 6 Jedes Feld der Seelsorge bedarf einer eigenen Definition und Reflexion der Kontexte und entwickelt einen differenzierten Seelsorgebegriff. Vgl. Sabine Kast-Streib/Wolfgang Drechsel (Hg.), Seelsorgefelder. Annäherung an die Vielgestaltigkeit von Seelsorge, Leipzig 2017. Wege zum Menschen, 73. Jg., 5–18, ISSN: 0043-2040 (print), 2196-8284 (online) © 2021 Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen
Seelsorge und digitale Kommunikation 7 Publikationen benennen häufig den Verlust gegenüber der kopräsenten Be- gegnung unter dem Stichwort „Kanalreduktion“, indem sie davon ausgehen, dass Kommunikationsformen wie Chat oder Email unter einer Reduktion von Kommunikationsinhalten leiden, da sie lediglich auf geschriebene Sprache zurückgreifen können.7 Begonnen von der Einführung von Emojis und Ab- kürzungen8 wurden Kommunikationsmöglichkeiten schrittweise ausgeweitet und schließen heute mehr visuelle Elemente ein. Eine Betrachtung der Seelsorge im digitalen Raum als eine textbasierte „Art moderner Briefseelsorge“,9 wie sie in Chats und Email vorliegt, muss weitergedacht werden als eine digitale Form der Seelsorge, deren Eigenlogiken, Bedingungen und Kontexte differenziert be- Wege zum Menschen downloaded from www.vr-elibrary.de by Universitätsbibliothek Heidelberg on July, 26 2021 trachtet werden müssen. Dass die Poimenik sich zunehmend mit diesen Fragen befasst und gerade die Krise neu dazu aufgefordert hat, zeigen jüngste Beiträge zum Diskurs.10 Aus verschiedenen Forschungsperspektiven wird gegenwärtig untersucht, wie sich Kommunikation im digitalen Raum vollzieht, welchen Prinzipien sie dabei unterliegt und welchen Einfluss diese Prozesse auf die so- ziale Interaktion haben. Welche Anknüpfungspunkte diese Phänomene für seelsorgliche Kommunikation bieten, ist bislang noch wenig untersucht. Dieser Aufsatz will nicht nur Beispiele dafür aufzeigen, wie facettenreich Seelsorge im Netz bereits stattfindet, sondern auch ein Plädoyer dafür sein, den Seelsorge- begriff aufgrund der beschriebenen Prozesse neu zu reflektieren. Im Zentrum stehen soziale Medien, die hinsichtlich der Chancen und Herausforderungen For personal use only. von Merkmalen digitaler Interaktion im Rahmen einer öffentlichen Seelsorge und der dadurch angeregten seelsorglichen Kommunikation befragt werden. 3 Interveillance: Sehen und gesehen werden Das Prinzip der interveillance ist im Zusammenhang einer kulturellen Trans- formation von Medien als Kennzeichen individualisierter Gesellschaften von André Jansson stark gemacht worden.11 Er beschreibt damit einen Zusammen- hang von ständiger gegenseitiger Beobachtung durch das Teilen des Alltäg- 7 Vgl. Birgit Knatz, Handbuch Internetseelsorge. Grundlagen – Formen – Praxis, Gütersloh 2013. 8 Vgl. zur vielfältigen Funktion von Emojis: Steffen Pappert, Zu kommunikativen Funktionen von Emojis in der WhatsApp-Kommunikation, in: Michael Beißwenger (Hg.), Empirische Erforschung internetbasierter Kommunikation, Berlin/Boston 2017, 175–212. 9 Vgl. Knatz, Internetseelsorge, 13. 10 Vgl. das Themenheft von Wege zu Menschen „Online durch die Krise? Mediatisierte Seelsorge (nicht nur) in Zeiten von COVID-19“, WzM 72/3 (2020); Thomas Schlag, Seelsorgliche Kirche in viralen Krisen-Zeiten … und darüber hinaus, in: Spiritual Care 9/3 (2020); 265–272. Achim Blackstein, Landeskirchlicher Beauftragter für digitale Seelsorge und Beratung am Zentrum für Seelsorge der Ev.-luth. Landeskirche Hannover veröffentlichte während der Corona-Krise Impulse zur digitalen Seelsorge, etwa durch Apps zur Selbsthilfe und stellte Leitsätze für eine digitale Seelsorge vor, https://achim-blackstein.de/; letzter Zugriff am 21.7.2020. 11 Vgl. André Jansson, Interveillance: A New Culture of Recognition and Mediatization, in: Media and Communication 3/3 (2015), 81–90. Wege zum Menschen, 73. Jg., 5–18, ISSN: 0043-2040 (print), 2196-8284 (online) © 2021 Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen
8 Annette Haußmann, Caroline Teschmer, Christoph Wiesinger und Golde Wissner lichen, die sich auf die eigene Selbstbeobachtung auswirkt, durch soziale Me- dien forciert wird und so Identität durch mediale Präsenz neu generiert und expressiv konstruiert wird. Sie entspringt als Praxis der Rezeption und Teilhabe intimisierter öffentlicher Information aus einem Bedürfnis nach Mitteilung und Anerkennung. Besonders deutlich wird dies am Medium Instagram, das durch eine bestimmte Bildästhetik und Körperpräsentation die Wahrnehmung auf ein gelingendes, positives Lebensgefühl lenkt. Das Medium selbst gibt eine bestimmte Nutzungsweise und Normierung des contents vor, indem beispiels- weise bunte Farben, Glitzeranimationen, lustige Emoticons und komisch-ver- zerrte Gesichtsdarstellungen als Gestaltungsmöglichkeiten angeboten und in- Wege zum Menschen downloaded from www.vr-elibrary.de by Universitätsbibliothek Heidelberg on July, 26 2021 tensiv genutzt werden. Obwohl also das Medium prinzipiell für alle möglichen Nutzungsformen offen wäre, ist die gängige Nutzungspraxis der Rahmen- bedingungen zur „Selbstdarstellung“, die das Medium selbst schafft, bereits in einen engen Korridor gefasst. Influencer*innen im Beauty-, Gesundheits- und Lifestyle-Bereich tun ihr Übriges, diese Normen zu festigen. Die Inhalte werden also durch die technischen Möglichkeiten des Mediums geprägt. Diese Ent- wicklung stellt auch an Seelsorge neue Herausforderungen: Durch den krea- tiven Selbstkonstruktionsprozess werden Rekonstruktionen und Konstruktio- nen von Lebensgeschichte angeregt, wie sie schon früher von verschiedenen Seelsorgeansätzen als Chance der Selbstdeutung im Rahmen der Lebens- und Glaubensgeschichte hervorgehoben wurden.12 Im digitalen Setting aber sind For personal use only. solche Prozesse noch wesentlich erweiterbar durch Prozesse der bildlichen und emotionalen Selbstdarstellung, der Möglichkeit pluraler Identitäten, sowie der ausgeprägten sozialen Rezeptionsprozesse durch likes und Kommentare.13 Auch wenn die mediale Ausformung durch soziale Netzwerke neu ist, so ist die Mechanik des gegenseitigen Beobachtens und Vergleichens keine völlig neue. Was heute likes auf Instagram sind, waren früher Blicke vom Balkon oder An- erkennungsbekundungen in alltäglichen Begegnungen. Auch diese hatten schon immer eine selbstwertfördernde, anerkennende aber auch eine belastende bis zer- störerische Dynamik. Die Mechanismen verschieben sich und verschränken sich zunehmend mit der digitalen Sphäre. Man hat es nun mit vielfältigeren Orten und Gelegenheiten zu tun, von denen Selbst- und Fremdbeobachtung als ex- plorative Selbstexpression erst in flexiblerem Maße möglich wird.14 Digitale und soziale Gemeinschaften überlappen und beeinflussen sich dabei. Über nicht öf- fentliche Netzwerke wie WhatsApp und Facebook, wo in geschlosseneren Grup- 12 Vgl. Wolfgang Drechsel, Lebensgeschichte und Lebens-Geschichten, Gütersloh 2000; Wil- helm Gräb, Lebensgeschichten, Lebensentwürfe, Sinndeutungen. Eine praktische Theologie gelebter Religion, Gütersloh 1998; Albrecht Grözinger, Seelsorge als Rekonstruktion von Lebensgeschichte, in: WzM 38 (1986), 178–188. 13 Aus pastoralanthropologischer Perspektive beleuchtet dies Viera Pirker für Jugendliche und ihre Nutzung von Instagram. Viera Pirker, Fragilitätssensible Pastoralanthropologie: Im- pulse aus Praktiken der (Selbst-)Inszenierung in Social Media, in: ZPTh 39/1 (2019), 43–58. 14 Kristin Merle, Öffentlich aushandeln, was gelten soll. Onlinebasierte Interaktion als Me- dium weltanschaulicher Selbstbestimmung, in: Loccumer Pelikan 29/1 (2019), 16–20. Wege zum Menschen, 73. Jg., 5–18, ISSN: 0043-2040 (print), 2196-8284 (online) © 2021 Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen
Seelsorge und digitale Kommunikation 9 pen kommuniziert wird, sind die handelnden Akteur*innen oft diejenigen, die sich auch sonst abseits der digitalen Welt begegnen oder ein Stück gemeinsame Lebensgeschichte teilen. Instagram bildet eine Hybridform, da es zwar inhärent angelegt ist, möglichst viele Follower*innen zu generieren, diese aber bestätigt werden müssen. Twitter hingegen ist ganz öffentlich zugänglich, was sich aus sei- ner ursprünglichen Intention als Nachrichtenmedium ableitet. So werden auch unterschiedliche Gegenüber verdichtet, in deren virtuellen Augen sich die Ak- teur*innen spiegeln, in aller konstruktiven als auch destruktiven Ambivalenz. Wege zum Menschen downloaded from www.vr-elibrary.de by Universitätsbibliothek Heidelberg on July, 26 2021 4 Interpassivität: Emotionen teilen und Anteil nehmen Diese virtuellen Gegenüber, als bekannte und anonyme Gruppen und Massen, sind nicht nur Beobachtende, sie können auch praktische Aufgaben stellver- tretend für andere übernehmen. Zunächst mag ein zielloses Surfen durch die In- halte sozialer Medien als passive Rezeption gelten. Doch indem wir uns ansehen, wie andere sich gegenseitig kommentieren und an ihrem Leben gegenseitig par- tizipieren, ist es möglich, an einer virtuellen Unterhaltung teilzunehmen, ohne selbst aktiv sein zu müssen. Die Aktivität wird an andere delegiert, und dennoch fühlt es sich so an, als hätte man selbst daran teilgenommen. Das Phänomen ist aus der Alltagswelt schon länger bekannt, etwa bei Kochshows im Medium For personal use only. Fernsehen. Was andere kochen, löst allein durch das Betrachten ein Wohlgefühl aus, als hätten wir selbst etwas Wunderbares auf den Tisch gezaubert – und das ganz ohne das Gericht aktiv nachzukochen. Man könnte mit Robert Pfaller sogar noch einen weiteren Schritt gehen und fragen, ob nicht nur Aktivität, son- dern sogar Passivität und Genießen delegiert wird, im Fall sozialer Medien an die (digitale) Gemeinschaft. Bekannt wurde das Phänomen der Interpassivität durch das „Dosengelächter“ in Sitcoms: Als Zuschauer*in vor dem Fernseher partizipieren wir am Lachen anderer und fühlen uns als hätten wir selbst ge- lacht. Könnte dieses Phänomen nicht zugleich Aspekte digitaler seelsorglicher Kommunikation beschreiben? Etwa, wenn andere über ihre Verluste trauern, ihre Kinderlosigkeit beweinen oder ihre Alltagssorgen teilen, bietet dies emo- tionale Strukturen an, in denen sich andere wiederfinden und Anteil nehmen können. Durch die Auslagerung in andere Akteur*innen entsteht sowohl eine Distanzierung, als auch eine Annäherung an sich selbst – und damit ein seel- sorglich höchst relevanter Prozess, wie ihn Pfaller beschreibt: „Gefühle, Gedanken und Überzeugungen […] [können] in fremden Agenten (in anderen Personen oder sogar in Maschinen) angesiedelt sein und dennoch unse- re Gefühle, Gedanken, Überzeugungen bleiben, selbst wenn wir nichts davon be- merken. Eine Fernsehkomödie kann für mich lachen, Klageweiber können an mei- ner Stelle trauern, eine tibetanische Gebetsmühle für mich beten“15 15 Robert Pfaller (Hg.), Interpassivität: Studien über delegiertes Genießen (Ästhetik und Natur- wissenschaften/Bildende Wissenschaften – Zivilisierung der Kulturen), Wien/New York 2000, 1 f. Wege zum Menschen, 73. Jg., 5–18, ISSN: 0043-2040 (print), 2196-8284 (online) © 2021 Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen
10 Annette Haußmann, Caroline Teschmer, Christoph Wiesinger und Golde Wissner Auch der Bereich von Seelsorge und Spiritualität wäre in dieser Hinsicht zu bedenken: Etwa, wenn auch selbst nicht (mehr) geglaubt wird, herrscht mit- unter dennoch ein (nicht zu geringes) Interesse daran, am Glauben anderer zu partizipieren. Dem, der Glauben delegiert, kommt dabei eine doppelte Position zu. Er oder sie will positiv am Glauben anderer mitglauben und er oder sie will sich vom Glauben anderer distanzieren. Beides kann in der Be- obachterrolle mitunter sogar gleichzeitig geschehen. Die Person, die ihren Glauben an die virtuelle Community delegiert, die ihre Auseinandersetzung mit dem Glauben über andere Akteur*innen aushandeln lässt, könnte darin das Streitgespräch führen, die Glaubenserfahrung machen, die ihr anders Wege zum Menschen downloaded from www.vr-elibrary.de by Universitätsbibliothek Heidelberg on July, 26 2021 nicht zugänglich wären. Eine Aufgabe digitaler Seelsorge wäre demnach, diese Verhältnisse und Beziehungsstrukturen im Blick zu behalten und zu ge- stalten. Etwa in der Anteilnahme an Emotionen anderer oder im vermeintlich passiven Rezipieren gegenseitigen digitalen Trostes – ohne, dass dieser innere Prozess je durch likes oder Kommentare sichtbar geworden wäre. Ein digitales Gespräch mit einer Person, ist ein Gespräch mit vielen, die daran partizipie- ren und ihre eigenen Erfahrungen damit machen. Welchen Effekt das haben kann, lässt sich an einer Nachricht zeigen, die @theresaliebt erhalten hat: „Hallo Theresa, ich wollte dir für deine Videos danken. Ich bin selbst vor ein paar Jahren aus der Kirche ausgetreten, weil ich mich in meiner alten Gemeinde miss- For personal use only. verstanden und nicht geborgen gefühlt habe. Durch dich habe ich wieder einen Weg gefunden meinen Glauben, auf meine ganz persönliche Weise ausleben zu können. Nach einem Gespräch mit der hiesigen Pfarrerin X bin ich zum Entschluss gekommen wieder einzutreten und auch meinen Sohn evangelisch taufen zu las- sen. Vielen Dank, für mich (und bestimmt viele andere) sind deine Videos sehr inspirierend … das wollte ich einfach mal loswerden.“ Digitale Formate schaffen insofern neue Möglichkeiten der Anteilnahme: Durch das Lesen von posts, in denen anteilgenommen wird am Leben und Lebensschicksal anderer inmitten des Alltags. Dadurch geschieht auch etwas mit mir, das über das reine Beobachten anderer hinausgeht. Ein Teilen in sozialen Netzwerken wird zur Mit-Teilung, schafft ein Mit-Leiden und Mit- Fühlen. Die Distanz der digitalen Welt eröffnet die Möglichkeit, am Leben und Glauben anderer partizipieren zu können, mitunter andere (für mich) glauben lassen zu können und damit den eigenen Glauben zu transformieren, ohne dass damit gesagt ist, wie er sich dadurch verändert. Es zeigt sich aber eben auch jene Möglichkeit im Hintergrund bleiben zu können, aber in die- sem Hintergrund verweilend, neue Gedanken zu denken, neue Beziehungen zu knüpfen, neue Glaubenserfahrungen zu machen. Gerade ein Glaube, der in etablierten und internalisierten Alltagsstrukturen unangenehm empfunden wird, kann durch den Vorgang der Delegation durch andere bearbeitet und so ein neuer Zugang gefunden werden. Es zeigt sich damit eine seelsorgliche Dimension interpassiven Glaubensvollzugs, der durch distanzierte digitale Formate erst möglich wird. Es stellt sich die Frage, wie Seelsorge im digitalen Wege zum Menschen, 73. Jg., 5–18, ISSN: 0043-2040 (print), 2196-8284 (online) © 2021 Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen
Seelsorge und digitale Kommunikation 11 Raum aussehen kann, die diese Interaktionsprozesse im Blick hat und zu ge- stalten vermag? 5 Visualität und Emotionalität: Licht und Schatten der digitalen Welt Andererseits offenbaren die Praktiken digitaler Kommunikation aber Schatten- seiten, die beispielsweise im Bereich der (psychischen) Gesundheit unter- sucht worden sind: Durch die Praxis der gegenseitigen Beobachtung und des Vergleichens entstehen neue Normen der Selbstdarstellung, die ebenfalls be- Wege zum Menschen downloaded from www.vr-elibrary.de by Universitätsbibliothek Heidelberg on July, 26 2021 lastend im Blick auf die Selbstwahrnehmung sein können. Kreative befreiende Gestaltungschancen und selbstzerstörerisches Potenzial liegen also eng bei- sammen und müssen auch für die seelsorgliche Reflexion bedacht werden. Durch das Teilen von Videos und Fotos sowie anderer visueller und audi- tiver Daten sind neue Möglichkeiten der (Selbst)Mitteilung entstanden. So- ziale Medien werden in ihrer Alltäglichkeit besonders durch ihre Bindung an den Augenblick und die Gegenwart erkennbar, denn gepostet werden ver- mehrt Begebenheiten des Tages oder des Moments. Darin spielen Gefühle mit ihrer Aktualität und Vergänglichkeit eine besondere Rolle. Das Medium sozialer Interaktion setzt voraus, dass sich die Akteur*innen öffnen und etwas von ihrem Alltag preisgeben. Die visuellen Kommunikationsformen For personal use only. schaffen neue Möglichkeiten der Selbstmitteilung, sodass Bilder und Videos die Interaktion maßgeblich bestimmen. Instagram und vor allem Snapchat und TikTok basieren beinahe vollständig auf visueller Kommunikation und geschriebene Sprache rückt in den Hintergrund. Durch Visualität werden Emotionen hervorgerufen und verstärkt.16 Dabei treten ambivalente Wirkun- gen auf. Einerseits wird die Selbstdarstellung zum großen Teil auf den ge- nannten sozialen Netzwerken über Bilder wichtiger, damit auch die Wichtig- keit „sich in gutes Licht zu rücken“, was wiederum einen eigenen Typus der medial bestimmten Bildästhetik generiert.17 Müssen und können sich alle Seelsorger*innen auf sozialen Medien ähnlich selbstbewusst und medien- kompetent darstellen und damit Kontakte pflegen? Wie steht es um die Herausforderungen, die diese Kommunikationsplattformen mit sich brin- gen und welche Schwierigkeiten sind zu bedenken? Wie in anderen Kontex- ten der Interaktion sind soziale Netzwerke nicht frei von Problemen. Durch Anonymität im Netz eröffnet sich einerseits eine seelsorgliche Chance, weil 16 Vgl. die kritische soziologische Analyse, Rainer Mühlhoff/Anja Breljak/Jan Slaby, Affekt Macht Netz. Auf dem Weg zu einer Sozialtheorie der Digitalen Gesellschaft, Bielefeld 2019. 17 Diese auch künstlich geschaffene Ästhetik ist in ihrer Vielschichtigkeit auch für die qualita- tive Analyse eine Herausforderung, weshalb neue empirische Instrumente notwendig sind. Maria Schreiber/Michaela Kramer, „Verdammt schön“. Methodologische und methodische Herausforderungen der Rekonstruktion von Bildpraktiken auf Instagram, in: Zeitschrift für Qualitative Forschung 17/1–2 (2016), 81–106; Giorgia Aiello/Katy Parry, Visual communica- tion. Understanding images in media culture, Los Angeles u. a. 2020. Wege zum Menschen, 73. Jg., 5–18, ISSN: 0043-2040 (print), 2196-8284 (online) © 2021 Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen
12 Annette Haußmann, Caroline Teschmer, Christoph Wiesinger und Golde Wissner Selbstmitteilung leichter fällt, niedrigschwellige Kontaktflächen geschaffen werden und persönliche Schamgrenzen gewahrt bleiben können. Anderer- seits ist für die Seelsorger*innen mit der relativ offenen Selbstmitteilung eine nicht mehr zu trennende Vermischung zwischen Privatheit und Beruf entstanden, wie sie an anderer Stelle auch als konstitutiv für den Pfarrberuf beschrieben wird.18 Die Grenzen zwischen Seelsorge, Selbstmitteilung, Ver- kündigung und Privatleben sind fließend. Durch die Anonymität können im Netz auch Botschaften vermittelt werden, die das Gegenteil von Mit- gefühl, Trost und Anteilnahme kommunizieren: Hassbotschaften, Cyber- mobbing, Shitstorms, Bodyshaming und persönliche Angriffe sind auch Wege zum Menschen downloaded from www.vr-elibrary.de by Universitätsbibliothek Heidelberg on July, 26 2021 Phänomene des digitalen Kommunikationsraums, die besonders für Kinder und Jugendliche Leid und psychische Probleme mit sich bringen können.19 Diese Realitäten fordern wiederum auch die Seelsorge heraus und machen ihren beratenden, krisenbezogenen Aspekt, der sich an alltägliche Wider- fahrnisse anschließt, besonders bedeutsam. Durch ihre Aktivität bringen sich Seelsorger*innen auf sozialen Medien auch gesellschaftsrelevant in die Gestaltung und die Reflektion der Kommunikation auf diesen Kanälen ein. Wenn Theresa Brückner offen über die Anfeindungen spricht, die sie als Re- aktionen auf ihre Posts erlebt, schafft sie damit eine Möglichkeit, dass sich andere über diese Erfahrungen austauschen können. Wenn sich andere gegen die glitzernden Bildwelten20 wenden und etwas von ihrer alltäglichen For personal use only. auch problembehafteten Realität teilen, wird implizit Medienkritik sichtbar und dadurch digitale Kommunikation (mit-)gestaltet. Emotionen spielen eine große Rolle in Medien wie Instagram und wer- den von den Seelsorger*innen häufig adressiert und kommuniziert. Sowohl die postenden Personen als auch ihre Follower*innen gehen mit ihren Ge- fühlen ungehemmt um.21 Es ist selbstverständlich, dass Themen, Meinungen, Erfahrungen auf Instagram mit Gefühlen unterschiedlichster Couleur ein- 18 Z. B. Ulrike Wagner-Rau, Die personale Dimension im Pfarrberuf, in: Bernd Schröder (Hg.), Pfarrer oder Pfarrerin werden und sein. Herausforderungen für Beruf und theologische Bil- dung in Studium, Vikariat und Fortbildung, Leipzig 2020, 113–126. 19 Vgl. Jennifer Eickelmann, „Hate Speech“ und Verletzbarkeit im digitalen Zeitalter. Phäno- mene mediatisierter Missachtung aus Perspektive der Gender Media Studies, Bielefeld 2017; Elke Wagner, Intimisierte Öffentlichkeiten. Pöbeleien, Shitstorms und Emotionen auf Face- book, Bielefeld 2019; Konstanze Marx, Von Schafen im Wolfspelz – Shitstorms als Sympto- me einer medialen Emotionskultur, in: Stefan Hauser/Martin Luginbühl/Susanne Tienken (Hg.), Mediale Emotionskulturen, Bern/Berlin 2019, 135–154. 20 Katja Gunkel, Der Instagram-Effekt. Wie ikonische Kommunikation in den Social Media unsere visuelle Kultur prägt, Bielefeld 2018. 21 Dies lässt sich durch die Modalitäten des Mediums erklären, die Emotionalität erst hervor- bringen. Dieses Phänomen wird z. B. auch in Internetforen erkennbar, die durch Anonymi- tät und Nicknames zusätzlich zu einer emotionalen Öffnung durch kommunikative Ent- hemmungsprozesse führen und durch den Bezug auf einen gemeinsamen Gegenstand auch eine Form des „Wir-Gefühls“ generieren. Vgl. Sandra Reimann, Emotionskulturen im Netz am Beispiel der Selbsthilfeplattform, in: Stefan Hauser/Martin Luginbühl/Susanne Tienken (Hg.), Mediale Emotionskulturen, Bern/Berlin 2019, 201–218. Wege zum Menschen, 73. Jg., 5–18, ISSN: 0043-2040 (print), 2196-8284 (online) © 2021 Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen
Seelsorge und digitale Kommunikation 13 gefärbt werden. Das verstärkt zugleich die persönliche Nähe zwischen den Akteuren, aber auch zwischen dem vermeintlich passiven22 unsichtbaren Re- zipienten und Seelsorgenden. Theresa schreibt in der Zeit der Corona-Beschränkungen: „Die Zahlen der Infizierten, die Zahlen der Toten, die Bilder aus Italien und Spa- nien, die häusliche Gewalt, die geschlossenen Geschäfte, die Existenzängste … All die Nachrichten und Berichte lassen mich manchmal nachts wach liegen. Deshalb gibt es heute für Euch von mir ein Gebet […] Zeige uns, dass Du da bist. Hier ist schon einiges zerbrochen. Und ich bin mir sicher es wird noch mehr zerbrechen. Wege zum Menschen downloaded from www.vr-elibrary.de by Universitätsbibliothek Heidelberg on July, 26 2021 Bleib spürbar da. Wenn es dunkel wird. Wenn die Angst hochkriecht. Wenn die Hoffnung zerbricht. In dieser Zeit bist Du da. Bis zum Ende. Amen.“ Darauf eine der Reaktionen: „Ich gehe momentan mit meinem 14jährigen Sohn durch schwere Zeiten, der leider nicht einsieht immer das Haus zu hüten und dann will er Freunde treffen und rau- chen … neben den schulischen Anforderungen die täglichen Konflikte … manch- mal fehlt mir die Kraft und wenn ich dann so einen tollen Text lese, fühle ich mich verstanden und aufgefangen. Danke“ Vor allem fällt die Verflechtung der eigenen emotionalen Selbstöffnung mit einer pastoraltheologischen Grundierung auf, die sich mit der Spiritualität der Theolog*innen verbindet und eine Umgangsform mit den mitunter schwieri- For personal use only. gen Gefühlen eröffnet. In diesem Raum werden emotionale Reaktionen und Anknüpfungspunkte an die Lebensgeschichte der Follower*innen hervor- gerufen, die posts und stories bieten aber zugleich Trost, ein Gefühl des „ver- standen- und aufgefangen-Werdens“. Die rasante Entwicklung der medialen Kommunikation schafft für die Seel- sorge neue Herausforderungen. Denn sie hebt schärfer hervor, dass Körper- lichkeit und Gefühle nicht zu den Standardthemen der Poimenik gehören, aber dringend einer neuen Reflexion bedürfen.23 Geteilt werden in sozialen Medien nicht nur verbale Emotionsäußerungen. Durch Emojis einerseits, aber auch durch Körperlichkeit werden Gefühle transportiert. Der Körper ist zugleich Kommunikationsmittel, Ausdrucks- und Erkenntnismedium und Gegenstand von Projektion. Auffallend prä- sentieren sich die Seelsorger*innen auch durch Portraits und Videos ihrer 22 Vgl. dazu Abschnitt 4, Interpassivität. 23 Vgl. zur recht jungen Diskussion um Gefühle in der Praktischen Theologie und Poimenik: Elisabeth Naurath, Perspektiven einer Praktischen Theologie der Gefühle, in: Roderich Barth/Christopher Zarnow (Hg.), Theologie der Gefühle, Berlin/Boston 2015, 207–223; Wil- fried Engemann, Das Lebensgefühl im Blickpunkt der Seelsorge. Zum seelsorgerlichen Um- gang mit Emotionen, in: WzM 61 (2009), 271–286; Annette Haußmann, Mensch ärgre dich nicht!, in: dies./Peter Schüz/Niklas Schleicher (Hg.), Die Entdeckung der inneren Welt, Tü- bingen (im Erscheinen). Vgl. zur Körperlichkeit bzw. Leiblichkeit in der Seelsorge: Elisabeth Naurath, Seelsorge als Leibsorge, Stuttgart 2000; Christoffer H. Grundmann, Wir sind Leib! Plädoyer für eine Hermeneutik des Leibes zur anthropologischen Neuorientierung ärzt- licher, krankenpflegerischer und seelsorgerlicher Tätigkeit, in: WzM 67/4 (2015), 309–320. Wege zum Menschen, 73. Jg., 5–18, ISSN: 0043-2040 (print), 2196-8284 (online) © 2021 Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen
14 Annette Haußmann, Caroline Teschmer, Christoph Wiesinger und Golde Wissner selbst, in denen sie zu den Follower*innen sprechen, mal weinen, mal lachen, sich auch bewusst von ihren „unschönen“ Seite zeigen. Dadurch wird eine neue Facette der seelsorglichen Interaktion sichtbar. Denn Mitgefühl zeigen nicht nur die Seelsorgenden, sondern auch die Follower*innen. Es geht um ein Mitfühlen als Dynamik eines gegenseitigen Beziehungsgeschehens durch das Teilen und Mitteilen von Gefühlen. Die mediale Distanz ermöglicht zu- gleich Nähe und empathisches Einfühlen. Dadurch hat das Konzept der Inter- passivität eine gewisse Nähe zur aus der systemischen Seelsorge und Thera- pie bekannten Interpathie,24 geht jedoch noch darüber hinaus. Denn es wird nicht nur von einer Beobachtung der zwischen anderen ablaufenden Inter- Wege zum Menschen downloaded from www.vr-elibrary.de by Universitätsbibliothek Heidelberg on July, 26 2021 aktionen ausgegangen, vielmehr sind die Beobachtenden mit ihren eigenen Gefühlen, Gedanken und ihrer Lebensgeschichte zutiefst in diesen Prozess des Austauschens hineingenommen. Den Akteur*innen erfahren durch ihre Aktivität auf sozialen Kanälen Mitgefühl, Mitleiden, Trost und Aufmerksam- keit und geben selbes durch eigene Aktivität weiter an andere. Auch die Follower*innen schreiben sehr oft Aufmunterndes: Freundliche Emojis werden beispielsweise gesetzt, wenn beschrieben wird, dass eine Situa- tion als schwer empfunden wird. Gleichzeitig regen solche posts dazu an, von eigenen ähnlichen Erfahrungen zu berichten. Theresa schreibt und zeigt dazu ein Bild von sich selbst, in dem sie müde und mit verschmierter Wimpern- tusche in die Kamera blickt: For personal use only. „Nach #Beerdigungen bin ich immer wirklich kaputt. Voller Trauer, voller Hoff- nung, voller Mitgefühl, voller Erinnerungen, voller Schmerz. Ich brauche danach immer Zeit um selbst nochmal zu weinen. Denn die Tränen der Angehörigen und Freunde lassen mich nie kalt, sie berühren mich immer sehr und ich trauere mit. Das braucht danach Raum. Das gehört zu meinem Beruf dazu“ Dafür bekommt sie viel Zuspruch. Eine Person schreibt: „wow … ich mag Deins lesen … ist mir nahe … danke“. So wird aus Seelsorge sichtbar eine gefühls- bezogene Interaktion, die zeigt, dass digital kommunizierte Seelsorge keine einseitige Angelegenheit sein muss. Wenn also im digitalen Raum Emotionen eine derart zentrale Stellung einnehmen und zudem verstärkt unbewegte und bewegte emotional aufgeladene Bilder als ihre Transportgrundlage nutzen, stellt sich die Herausforderung, Emotionen im poimenischen Kontext neu theoretisch zu bedenken. 24 Unter Interpathie wird in der systemischen Seelsorge verstanden: „Seelsorgende fühlen sich auch in das hinein, was transaktionell unter den beteiligten Personen geschieht“, Christoph Morgenthaler, Systemische Seelsorge. Impulse der Familien- und Systemtherapie für die kirchliche Praxis, Stuttgart 2019, 138. Wege zum Menschen, 73. Jg., 5–18, ISSN: 0043-2040 (print), 2196-8284 (online) © 2021 Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen
Seelsorge und digitale Kommunikation 15 6 Kommunikation in Alltag und Krise: Öffentlichkeit und Seelsorgegeheimnis Es gibt gute Gründe, warum die Seelsorge im digitalen Raum bislang vor- wiegend in Form von Emails und Chats realisiert wurde.25 Das Seelsorge- geheimnis, das für die Seelsorge ein hohes Gut und auch gesetzlich relevant ist, muss bei dezidierten Seelsorgesituationen gewahrt bleiben.26 Dennoch gibt es über die cura animarum specialis, der beratenden Einzelseelsorge, die sich im Bereich der digitalen Welt als online-Beratung beschreiben lässt,27 hinaus noch weitere seelsorgliche Zusammenhänge, die ebenso bedeutsam Wege zum Menschen downloaded from www.vr-elibrary.de by Universitätsbibliothek Heidelberg on July, 26 2021 sind, aber leicht übersehen werden. In der Seelsorgetheorie ist immer auch die Breite des Alltags, die Dimension der Seelsorge in anderen Handlungs- feldern wie der Diakonie28 oder der Predigt29 als cura animarum generalis hervorgehoben worden. In solchen Kontexten ist Seelsorge ein der Öffentlich- keit zugängliches Geschehen, dass sich der Sorge um ein gegenseitiges see- lisches Wohlbefinden bemüht. Solche Überlegungen zu einem öffentlichen Sorgeverständnis artikuliert sich im diakonischen Bereich etwa in Form von sorgenden Gemeinschaften30 oder in der Spiritual Care als Sorge um das spi- rituelle Wohlbefinden.31 Eine dritte Anschlussmöglichkeit hierzu ergibt sich, betrachtet man religiöse Kommunikation in der digitalen Öffentlichkeit.32 Es scheint also nur folgerichtig, auch für den digitalen Raum zu überlegen, For personal use only. wie sich eine Form der öffentlichen, generellen Seelsorge im Spannungsfeld von Seelsorgegeheimnis und gegenseitiger Sorge vollziehen kann und wel- chen Herausforderungen, Anforderungen und Chancen sie in diesem Setting unterliegt.33 In der Spannbreite zwischen einer beratenden Einzelseelsorge und einer öffentlichen generellen Seelsorge ist es im digitalen Setting mit 25 Vgl. Norbert Ellinger, Die Zukunft der Seelsorge in einer digitalen Welt, in: Leidfaden 9/1 (2020), 39–43. 26 Evangelische Kirche in Deutschland: Kirchengesetz der Evangelischen Kirche in Deutsch- land zum Schutz des Seelsorgegeheimnisses (Seelsorgegeheimnisgesetz – SeelGG). 27 Vgl. Ellinger, Zukunft. 28 Vgl. Henning Luther, Diakonische Seelsorge, in: WzM 40/8 (1988), 475–484. 29 Z. B. Michael Klessmann, Predigt als Lebensdeutung. Pastoralpsychologische Überlegungen zu einem offenen homiletischen Problem, in: PTh 85 (1996), 425–441. 30 Vgl. Thomas Klie, Wen kümmern die Alten? Auf dem Weg in eine sorgende Gesellschaft, München 2014; auch das Projekt „Sorgende Gemeinde“ der EKD, das Seelsorge als Aspekt der gegenseitigen Sorge integriert, https://www.ekd.de/eafa/sorgende_gemeinde_werden. html (letzter Zugriff am 21.7.2020). 31 Vgl. Traugott Roser, Spiritual Care. Der Beitrag von Seelsorge zum Gesundheitswesen, Stutt- gart 2017. 32 Vgl. Kristin Merle, Religion in der Öffentlichkeit. Digitalisierung als Herausforderung für kirchliche Kommunikationskulturen, Berlin/Boston 2019; Ilona Nord/Kristin Merle (Hg.), Mediatisierung religiöser Kultur. Praktisch-theologische Standortbestimmungen im inter- disziplinären Kontext, Leipzig 2020. 33 Als Anregung könnten die Gruppenseelsorge und Gruppensupervision dienen, in deren Kontext schon immer die Frage nach dem Umgang mit dem Seelsorgegeheimnis unter Be- teiligung mehrerer Personen verhandelt wurde. Wege zum Menschen, 73. Jg., 5–18, ISSN: 0043-2040 (print), 2196-8284 (online) © 2021 Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen
16 Annette Haußmann, Caroline Teschmer, Christoph Wiesinger und Golde Wissner einer einfachen Übertragung der Gegebenheiten der kopräsenten Begegnung ins Digitale nicht getan. Gerade für den geschützten digitalen Bereich unter dem Seelsorgegeheimnis besteht noch Nachholbedarf.34 Denn sowohl in all- täglichen als auch in krisenhaften Kommunikationskontexten sollten ent- sprechende Seelsorgeoptionen zur Verfügung stehen: Dies ist bislang für ge- schützte Seelsorgeräume nur bedingt der Fall.35 7 Digitale Seelsorge: ein Ausblick mit Chancen und Herausforderungen Wege zum Menschen downloaded from www.vr-elibrary.de by Universitätsbibliothek Heidelberg on July, 26 2021 Theresa Brückner postet einen Gedanken zum Muttertag und eine Person kommentiert durch die Mitteilung sehr persönlicher Erfahrungen. In der direkten Seelsorgebegegnung würde man vermutlich dazu tendieren, auf die Äußerungen eingehen zu wollen, Begegnung ermöglichen, Lebensgeschichte erzählen lassen, Gefühle ausloten, Trost anbieten. Dass aber eine Person durch die Mitteilung von @theresaliebt in dieser Weise zu einer Darstellung eines Stücks eigener leidvoller Lebensgeschichte angeregt wurde, und dies in Ver- bindung setzt zur Situation anderer, zeigt doch: Hier geschieht Interaktion mit Seelsorgerelevanz. Eine Weitung des Seelsorgebegriffs im digitalen Raum ist notwendig, wobei nonverbale und verbale, visuelle, emotionale, symbolische, körperliche und bildliche Kommunikationsformen im Blick bleiben müssen. For personal use only. Die jeweiligen Medien bestimmen die Prinzipien der Interaktion maßgeblich mit und Möglichkeiten und Grenzen der Seelsorge müssen daher sehr diffe- renziert betrachtet werden. Auch der Inhalt der Seelsorge kann nicht voraus- gehend fixiert werden: nicht nur „das Religiöse“, das Gespräch über Sinn und Kontingenz, ist Seelsorge. Darüber hinaus kann alles, was auch Inhalt von Alltagsgesprächen ist, zur Seelsorge werden, weshalb sich eine scharfe Tren- nung von Alltags- und Krisenseelsorge gerade nicht nahelegt. Und schließlich werden Rollen, Selbstdarstellung und Selbstwahrnehmung durch Digitalisie- rung und soziale Medien fluider. Seelsorgende wechseln zwischen Öffnung ihres Alltags und Erhalt von Zuspruch zu Anteilnehmenden und spirituellen Impulsen – mitunter im Verlauf eines einzigen digitalen Gesprächsgangs. Letztlich ist für eine Gewährleistung von Seelsorgemöglichkeiten dort, wo Menschen miteinander in Kontakt treten, eine Flexibilität an Angeboten nötig. Demnach muss es keinen Ausschluss zwischen kopräsenter Begegnung und di- 34 Etwa im Rahmen der Chat- und Emailseelsorge, sowie der Krisen-Kompass-App der Tele- fonseelsorge. 35 Im Rahmen der Gemeindeseelsorge etwa kann bislang auf solche Optionen nur verwiesen werden (Telefon- und Emailseelsorge), dabei hat die stürmische Rezeption digitaler An- gebote im Verkündigungsbereich die Frage laut werden lassen, ob solche Angebote nicht auch in der Seelsorge Anklang fänden. Ein Hinweis findet sich im zügig wieder abgebrochenen Projekt eines bayerischen Pfarrers, der einen Seelsorgekanal auf Whatsapp schaltete, und so viel Zulauf erhielt, dass er dem Ansturm nicht mehr gewachsen war, vgl. Ralf Peter Reimann, Digitalisierung als Herausforderung für die seelsorgliche Kommunikation. Veränderungen in der Seelsorge durch Social Media, in: WzM 72 (2020), 216–228. Wege zum Menschen, 73. Jg., 5–18, ISSN: 0043-2040 (print), 2196-8284 (online) © 2021 Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen
Seelsorge und digitale Kommunikation 17 gitaler Welt geben: In der Online-Beratung gibt es das Paradigma des blended counseling bzw. therapy36, das von ineinander übergreifenden Kommunikations- settings ausgeht. So können etwa face-to-face Kontakte zusätzlich zu Emailbe- ratung oder Chatkontakten stattfinden. Eine Realität, die auf Kommunikation generell zutrifft: Medien ergänzen sich gegenseitig und es finden parallele und sich ergänzende Kommunikationsstränge statt. Ebenso bewegt sich Seelsorge im Spektrum der Begegnungs-, Begleitungs-, und Beratungssettings, die in- einander übergehen können, sich ergänzen und auch auf verschiedene Perso- nen verteilt sein können – ganz im Sinne einer sich gegenseitig umsorgenden Gemeinschaft.37 So vernetzen sich etwa Jugendliche gleichzeitig sowohl auf Wege zum Menschen downloaded from www.vr-elibrary.de by Universitätsbibliothek Heidelberg on July, 26 2021 Instagram, vereinbaren über WhatsApp Termine und schreiben sich, suchen in Krisen das persönliche Gespräch und brauchen beispielsweise im Fall von Suizidalität professionelle Beratung – diese Realität muss stärker auch seelsorg- lich wahrgenommen werden. Eine Perspektive auf digitale Seelsorge, an die sich in dieser Hinsicht anknüpfen ließe, liefert Wolfgang Beck: „Digitale Kommunikationsformate werden jedoch auch zum Instrument der seel- sorglichen Begleitung, wo Menschen beispielsweise existenzielle Krisenerfahrungen in Blogs literarisch verarbeiten und dabei ein Forum für Menschen mit ähnlichen Lebenserfahrungen bieten oder einfach in Familienblogs ihre Alltagserfahrungen miteinander teilen. Seelsorge fungiert hier weniger als ein professionalisiertes An- gebot als vielmehr in der Weite einer relationalen Bestimmung. Es ist ‚Seelsorge im For personal use only. Miteinander‘ […] Dabei ist zu würdigen, dass alle Menschen an- und füreinander seelsorglich wirken.“38 Die Herausforderungen und Fragen, die ein solcher Neuansatz digitaler Seelsorge mit sich bringt, sind vielfältig. Wie verhält es sich mit der Daten- speicherung und dem Datenschutz, insbesondere angesichts des Seelsorge- geheimnisses? Wie verhält es sich mit den ethischen Herausforderungen, dem Zusammenhang zu Marktinteressen und finanziellen Aspekten?39 Wie kön- nen Haupt- und Ehrenamtliche eine digitale Präsenz gewährleisten, wie lässt sich vermitteln zwischen Amt, Rolle und Person, Privatsphäre und beruflicher Tätigkeit, und wie können Seelsorgende geschützt werden vor anonymisierten Angriffen auf ihre Person durch Hassbotschaften, Cybermobbing oder Body shaming? Eine Theoriebildung, die sich aus der empirischen Beobachtung und Er- forschung medialer Praktiken und aus der Erfahrung derer speist, die im digitalen Bereich seelsorglich aktiv sind, greift bestehende kommunikative Mechanismen auf, nimmt sie wahr und reflektiert diese für die Seelsorge- 36 Emily M. Engelhardt, Lehrbuch Onlineberatung, Göttingen 2018, 127–136. 37 Vgl. den Vorschlag einer blended spiritual care von Wolfgang Greulich, Auf die Begegnung kommt es an. Klinikseelsorge und Soziale Medien, in: WzM 72/3 (2020), 229–243. 38 Wolfgang Beck, Erinnern und Deuten im Zentrum einer Theologie der Digitalität. Zur Be- deutung eines Kulturwandels für Selbstverständnis und seelsorgliche Praxis der Kirche, in: WzM 72/3 (2020), 191–202. 39 Vgl. Peter Seele/Lucas Zapf, Die Rückseite der Cloud, Berlin/Heidelberg 2017. Wege zum Menschen, 73. Jg., 5–18, ISSN: 0043-2040 (print), 2196-8284 (online) © 2021 Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen
18 Annette Haußmann, Caroline Teschmer, Christoph Wiesinger und Golde Wissner praxis. Eine fundierte Theorie der digitalen Seelsorge ist notwendig, damit eine Sensibilisierung für die Relevanz digitaler Seelsorgekommunikation stattfindet, eine Übertragung der theoretischen Erkenntnisse in die Praxis gut gelingt und Menschen dort Unterstützung und Seelsorge zukommt, wo sie gebraucht wird. Jun.-Prof. Dr. Annette Haußmann, Professur für Praktische Theologie mit dem Schwerpunkt Seelsorgetheorie, Theologische Fakultät der Ruprecht-Karls- Universität Heidelberg, Psychotherapeutin für Kognitive Verhaltenstherapie, Kisselgasse 1, 69117 Heidelberg; Wege zum Menschen downloaded from www.vr-elibrary.de by Universitätsbibliothek Heidelberg on July, 26 2021 E-Mail: annette.haussmann@ts.uni-heidelberg.de Dr. Caroline Teschmer, Vertretungsprofessorin für Religionspädagogik und Didaktik des Religionsunterrichts, Fakultät für Erziehungswissenschaft der Universität Hamburg, Von-Melle-Park 8, 20146 Hamburg; E-Mail: caroline.teschmer@uni-hamburg.de Golde Wissner, Diplom-Psychologin und Pfarrerin, wissenschaftliche Mitarbeit am EIBOR (Evangelisches Institut für Berufsorientierte Religionspädagogik) an der Universität Tübingen, Liebermeisterstraße 12, 72076 Tübingen; E-Mail: golde.wissner@uni-tuebingen.de For personal use only. Dr. Christoph Wiesinger, Akademischer Rat auf Zeit am Lehrstuhl für Prak- tische Theologie mit Schwerpunkt Religionspädagogik, Theologische Fakultät der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg, Kisselgasse 1, 69117 Heidelberg; E-Mail: christoph.wiesinger@ts.uni-heidelberg.de Wege zum Menschen, 73. Jg., 5–18, ISSN: 0043-2040 (print), 2196-8284 (online) © 2021 Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen
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